Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Die Kriminalbeamtinnen Marie und Eva ermitteln in Hamburg in einem Mordfall, der Parallelen zu einer zwanzig Jahre zurückliegenden Tat aufweist. Die beiden Kolleginnen kommen dem Mörder auf die Spur, dabei spielen Maries Eingebungen und ihre Vergangenheit eine entscheidende Rolle. Aber so sehr sie sich bemühen, der Täter ist ihnen immer einen Schritt voraus. Eine riskante Jagd beginnt...
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 258
Veröffentlichungsjahr: 2024
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Prolog
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Sieben
Acht
Neun
Zehn
Elf
Zwölf
Dreizehn
Vierzehn
Fünfzehn
Sechzehn
Siebzehn
Achtzehn
Epilog
Personenverzeichnis
Anmerkungen der Autoren
Die Autoren
Impressum
Marie war gerade mal fünf Jahre alt, als es zum ersten Mal passierte.
Es war ein wunderschöner sonniger Tag. Marie war wie immer draußen, denn sie liebte die Natur. Jede Minute versuchte sie im Freien zu verbringen. Sie hatte ein besonderes Verhältnis zu unberührten Landschaften und zur Tier- und Pflanzenwelt. Am allerliebsten war sie in dem nahe gelegenen Naturschutzgebiet unterwegs. Dort durfte sie allein hingehen, denn es war nur wenige Minuten von ihrem Zuhause entfernt. Die Gegend war flach, und bei gutem Wetter konnten ihre Eltern sie von Weitem sehen.
Die Attraktion in diesem Naturschutzgebiet war ein Baum, der den Erzählungen nach über tausend Jahre alt sein sollte. So sah er jedoch nicht aus. Im Gegenteil. Der Stamm, der aus dem Boden ragte, wirkte eher dürr. Einen so betagten Baum hätte man sich auf jeden Fall mit einem riesigen Durchmesser vorgestellt.
Maries Eltern hatten ihr erklärt, dass der sichtbare Teil des Baumes noch gar nicht so alt sei, das Wurzelwerk jedoch schon länger als tausend Jahre existierte. Vielleicht war das der Grund, warum Marie diesen Ort so liebte. Er strahlte für sie eine Art von Magie aus, sie genoss es immer sehr, wenn sie sich in der Nähe dieses Baumes aufhielt.
An diesem Tag passierte allerdings etwas Ungewöhnliches. Marie spielte draußen, verfolgte Schmetterlinge und machte deren Flügelbewegungen nach. Immer wieder lehnte sie sich dabei an den alten Baum und beobachtete die Natur. Dann geschah es. Plötzlich fand Marie sich in einer völlig anderen Umgebung wieder. Sie sah Dinge, die sie nicht zuordnen konnte. Sie hatte Angst, brachte jedoch kein Wort heraus. Sie sah ein rotes Auto, auf dem das Markenschild Subaru stand. Es wirkte alt, so einen Wagen hatte sie noch nie zuvor gesehen. Das Auto stand auf einem Parkplatz in der Nähe eines kleinen Waldstücks. Die Fahrertür öffnete sich und ein großer Mann mit einem schwarzen Hut stieg aus. Das Bild war so deutlich, dass sie den Schriftzug einer Raststätte im Außenspiegel des Fahrzeugs entziffern konnte. Langsam ging der Mann zum Kofferraum und öffnete ihn.
»Marie, ist alles gut bei dir?«, ertönte eine Stimme, die sie aus ihrer Vision herausriss. Marie ließ ihren Baum los und fing an zu schreien. Sie rannte, so schnell sie konnte, zurück zu ihrer Mutter.
»Was ist los, mein Kind, was hast du?«
»Mama, ich habe gerade etwas gesehen, ein altes rotes Auto und einen Mann mit schwarzem Hut.«
»Beruhige dich, mein Liebes, da hat dir deine Fantasie sicherlich einen Streich gespielt. Komm, wir schauen nach, da gibt es bestimmt nichts, wovor du dich fürchten musst.«
Marie ging mit ihrer Mutter zu dem Platz, an dem sie glaubte, alles gesehen zu haben.
»Siehst du, Schatz, hier ist nichts. Wahrscheinlich war es die Vogelscheuche, die dir Angst gemacht hat. Ich habe deinem Vater schon ein paarmal gesagt, dass er sie entfernen soll. Statt Vögel abzuschrecken, zieht sie die Vögel nur an.« Dabei musste sie lachen, und auch Marie hörte auf zu schluchzen und vergrub sich in den Armen ihrer Mutter.
Das war die erste übernatürliche Begegnung, die Marie hatte. Es folgten noch weitere, und immer sah sie diesen Mann mit dem schwarzen Hut. Die Visionen wurden nach und nach immer deutlicher, und irgendwann fing sie an, diese Begebenheiten aufzuzeichnen.
Natürlich glaubte ihr nach einer gewissen Zeit niemand mehr. Marie befand sich sogar zeitweise in therapeutischer Behandlung. »Das ist das Beste für Kinder in ihrem Alter«, hatte man ihren Eltern erzählt.
Einmal hatte Marie sogar das Gefühl, als würde sie von jemandem gerufen, dem sie folgen sollte. Dieser Jemand hatte die Gestalt eines Engels. Marie kannte sie aus Büchern. Jedoch traute sie sich nicht, dem Wesen hinterherzugehen. Sie redete sich lieber ein, dass sie all das nur träumte.
Marie notierte alles, was sie in ihren Träumen und Visionen sah, jedoch erzählte sie jetzt niemandem mehr davon. Keiner glaubte ihr. Ihre Mutter Alva allerdings entdeckte die Zeichnungen und das unverschlossene Tagebuch.
Marie hatte gewollt, dass ihre Mutter diese Niederschriften fand. Bei der Durchsicht fing Alva an zu weinen. Sie nahm das Buch und die Bilder und zeigte sie ihrem Ehemann.
»Marie hat eine lebhafte Fantasie. Sie ist ein kleines Mädchen, das sich Geschichten ausdenkt«, sagte Maries Vater zu Alva, die daraufhin erwiderte: »Da könntest du recht haben. Aber sieh nur, diese Zeichnungen, diese Notizen, es sieht alles so real aus. Vielleicht sollten wir umziehen und damit hoffentlich die Probleme hinter uns lassen.«
»Und was ist mit der Arbeit und unserem Haus?«, fragte Maries Vater.
Sie diskutierten noch sehr lange. Sie wussten nicht, dass Marie im Nebenraum alles mithören konnte.
Zum Wohl ihres Kindes fassten die Eltern schließlich den Entschluss, die gewohnte Umgebung zu verlassen. Ganz in der Nähe war ein schönes Haus frei geworden, mit einem großen Hof, mit Pferden und anderen Nutztieren. Das war immer Alvas Traum gewesen, und auch Marie war von der Idee ganz begeistert. Kurz darauf zogen sie schließlich aufs Land, wo sie zusammen einen neuen Anfang wagen wollten.
Auch das neue Zuhause war von einer überwältigenden Natur umgeben. Es war noch schöner, als Marie es sich je hätte träumen lassen. Pferde, Ponys und sogar einen Esel gab es hier. Dieser war ihr besonders ans Herz gewachsen. Obwohl diese Tiere als äußerst störrisch galten, war es ihr gelungen, ein besonderes Verhältnis zu ihrem Esel aufzubauen, sodass er all ihren Anweisungen folgte. Er ließ sich sogar von ihr reiten. Marie fühlte sich unglaublich wohl, sie war glücklich und hatte immer alle Hände voll zu tun.
Mit der Zeit stellte sich eine gewisse Normalität ein, und Marie unternahm viel mit ihren Freunden draußen in der Natur.
Alva hatte die Aufzeichnungen ihrer Tochter in einer Kiste auf dem Speicher verstaut, und Marie vergaß nach und nach, was sie bisher so sehr beschäftigt hatte. Die Visionen und Erscheinungen blieben aus, und irgendwann hatte sie diese völlig verdrängt.
Es waren genau zwanzig Jahre vergangen, seit Marie ihre ersten Visionen gehabt hatte. Heute konnte sie sich an nichts mehr erinnern. Sie war schon längst von zu Hause ausgezogen und hatte Schweden verlassen.
Marie war zweisprachig aufgewachsen. Ihr Vater Theo stammte aus Deutschland, daher besaß sie die doppelte Staatsangehörigkeit, die es ihr ermöglichte, ihre Ausbildung in Deutschland zu absolvieren. Sie hatte sich für ein duales Studium bei der Polizei entschieden, die meiste Zeit verbrachte sie dabei in Wiesbaden. Während sie ihr siebenmonatiges Praktikum bei der Länderdienststelle in Hamburg machte, verliebte sie sich in die Hansestadt.
Nach dem erfolgreichen Abschluss ihres Studiums lebte sie mittlerweile dauerhaft in Hamburg, in einer Wohngemeinschaft mit Linda und Eva.
Linda Weber, siebenundzwanzig Jahre alt, war ein verrücktes Huhn. Sie war sehr lebhaft, und ihre freundliche Art steckte alle an, die mit ihr zu tun hatten. Wo sie war, herrschte milde ausgedrückt ein gepflegtes Durcheinander. Im Prinzip war sie das genaue Gegenteil von Marie. Sie hatten sich durch eine Annonce in einer lokalen Zeitung kennengelernt, in der stand: »Suche Mitbewohnerin, die mir hilft, mein Chaos zu beseitigen«. Da wurde Marie neugierig und hatte sich bei Linda gemeldet.
Sie verstanden sich von der ersten Minute an blendend. Marie bemerkte sofort, was Linda mit Chaos meinte. Bei ihr wirkte alles etwas unaufgeräumt und durcheinander. Sie hielt halt Ordnung auf ihre Weise, aber genau das machte Linda so sympathisch.
Die sechsundzwanzigjährige Eva Stöwer komplettierte das Wohn-Trio rein zufällig. Sie arbeitete zusammen mit Marie bei der Mordkommission, oder wie es offiziell heißt, im Fachkommissariat Tötungsdelikte/Todesermittlungen. Eva ähnelte Marie, jedoch war sie etwas launischer. Sie hatte oft Stress mit ihrem Freund und drohte ihm jedes Mal mit Trennung, wenn sie sich stritten. Dann weinte sie sich immer bei Marie aus. Oft saßen die beiden nächtelang in der gemeinsamen Wohnung von Marie und Linda, bis sie dann schließlich die Idee hatten, alle zusammen in ein übergroßes Apartment zu ziehen. Seitdem waren die drei unzertrennlich. Sie unternahmen in ihrer Freizeit alles zusammen, so auch heute.
Marie war zunächst für ein paar Stunden ins Präsidium gefahren, um ein wenig Schreibarbeit zu erledigen, ihr Schreibtisch drohte überzuquellen. »Geschafft!« Voller Vorfreude kam sie nach Hause.
Sie musste ins zweite Obergeschoss, wo sie mit ihren Freundinnen das Loft bewohnte. Sie führte den Schlüssel ins Schlüsselloch und drehte ihn langsam um. Sie gab der Tür einen Schubs und diese öffnete sich mit einem lauten Knarren. »Das muss ich unbedingt mal in Ordnung bringen lassen«, dachte Marie bei sich. Es war bemerkenswert ruhig, offenbar war niemand zu Hause.
»Hallo, ist jemand da?«, rief Marie in die Wohnung hinein. Sie erhielt jedoch keine Antwort.
Im Flur hingen Bilder, die Linda gemalt hatte. Linda liebte Kunst. Ein Bild zeigte eine Rose, die sich in den schönsten Aquarelltönen präsentierte. Auch ein paar Skulpturen hatte sie gefertigt, die den Korridor aufwerteten. Marie ging auf die Küchentür zu und gab ihr einen leichten Stoß.
Als die Tür bereits halb offen stand, kam plötzlich Linda auf Marie zugerannt. Sie hatte eine Trillerpfeife in der Hand und für eine erwachsene Frau einen durchaus albernen Hut auf dem Kopf. Hinter ihr tauchte Eva auf, ähnlich gekleidet und ebenfalls mit einer Trillerpfeife bewaffnet.
»Happy birthday to you, happy birthday to you, happy birthday, liebe Marie, happy birthday to you!” Erklang es wie aus einem Mund. Im Anschluss an dieses kleine Ständchen wurde dann noch mit voller Kraft in die Trillerpfeifen geblasen, ein ohrenbetäubender Lärm ertönte.
Linda sprang Marie direkt in die Arme, drückte ihr einen Kuss auf die linke Wange und fing an zu kichern. »Alles Liebe zum Geburtstag, Marie.« Wobei Marie mit dem Gleichgewicht zu kämpfen hatte, denn Linda umklammerte sie mit ihrem ganzen Körper.
Eva war etwas zurückhaltender, aber auch sie ließ ihrer Freude, dem Geburtstagskind gratulieren zu können, freien Lauf. Sie war nah am Wasser gebaut, und es kullerten ein paar Tränen der Rührung.
Da Eva keine Chance hatte, Marie allein in den Arm zu nehmen, umarmte sie schließlich alle beide. »Ich habe euch so lieb«, sagte sie, und schließlich passierte das, was passieren musste. Marie verlor das Gleichgewicht und alle machten Bekanntschaft mit dem Küchenboden. Das Gelächter war riesengroß.
»Heute Abend gehen wir aus«, sagte Linda.
Bis dahin war es allerdings noch etwas hin. Sie unterhielten sich ausgelassen den ganzen Nachmittag und hatten dabei sehr viel Spaß. Dann wurde es Zeit sich aufzuhübschen.
Es war bereits acht Uhr am Abend, als sie den Flur entlangliefen und die Haustür öffneten, die sich wieder mit ihrem Knarren bemerkbar machte.
Sie gingen zur Tiefgarage, wo Marie ihren roten VW Käfer abgestellt hatte. Sie liebte diesen alten Wagen, der ihr stets treu war und sie nie im Stich ließ. Er sprang immer sofort an und brachte Marie sicher von A nach B.
Marie drehte den Schlüssel im Zündschloss. Der alte Boxermotor im Heck des Käfers erwachte sofort zum Leben. Hin und wieder merkte man dem Auto sein Alter an. Irgendetwas klapperte, jedoch hatte Marie diese Stelle am Wagen einfach nicht finden können. Sie machte dann einfach die Musik etwas lauter, und das Klappern war nicht mehr zu hören. Am Armaturenbrett links neben dem Lenkrad hatte Marie einen Marienkäfer aus Plüsch angebracht, er sollte ihr Glück bringen.
Marie legte den ersten Gang ein und fuhr langsam aus der Tiefgarage. Linda war an diesem Abend gut drauf und sang lautstark zur Musik mit. Auch Eva stimmte mit ein, alle drei waren sehr gut gelaunt. Marie war, wie gesagt, etwas zurückhaltender. Sie bevorzugte es, zuzuhören und nicht unbedingt zu singen.
Über das Ziel ihrer Fahrt hatten sie sich bisher keine Gedanken gemacht. Sie fuhren erst einmal in Richtung Zentrum.
Marie war glücklich, in Gedanken schwelgend bugsierte sie ihren Oldtimer durch den Hamburger Abendverkehr. Solche Freunde hatte sie sich immer gewünscht, als sie noch ihre Ausbildung zur Kriminalkommissarin absolvierte.
Mit ihren gerade mal einen Meter neunundfünfzig hatte sie es nicht immer leicht gehabt. Um zum Studium zugelassen zu werden, musste sie ein wenig mogeln, denn als Einstellungskriterium für den Polizeidienst galt eine Mindestkörpergröße von einem Meter sechzig. Aber schließlich hatte sie es doch geschafft und sich durch ihren Ehrgeiz dahin gebracht, wo sie heute stand.
Nach erfolgreichem Abschluss ihres dualen Studiums beim Bundeskriminalamt durfte sich Marie nun »Bachelor of Arts« nennen und startete ihre Berufskarriere als Kriminalkommissarin auf Probe beim LKA in Hamburg im Bereich Deliktorientierte Ermittlungen. Sie hatte sich sehr schnell und erfolgreich eingearbeitet, so dass sie sich bereits in einem Beamtenverhältnis auf Lebenszeit befand und nun offiziell den Titel »Kriminalkommissarin« trug.
Zum Fachkommissariat gehörten neben ihrer Freundin Eva noch Peter Sander, Thomas Petersen und Gerald Schmitt, zwischen vierundzwanzig und dreißig Jahre alt. Eine junge Truppe, deren Altersdurchschnitt nur durch ihren Chef, Kriminalhauptkommissar Hermann Lüders, mit seinen zweiundfünfzig Lenzen etwas ramponiert wurde.
Aber das alles war an diesem Abend nicht wichtig. Heute ging es darum, Maries Geburtstag ordentlich zu feiern. Die drei hatten sich dazu entschlossen, zu ihrer Lieblingsdiskothek »DAS APEX« zu fahren, hier hatten sie schon viele Nächte gemeinsam zugebracht. Als sie auf dem Parkplatz des Lokals ausstiegen, waren zumindest zwei der drei jungen Frauen heiser.
Bereits beim Betreten der Diskothek bewegte sich Linda rhythmisch zur Musik. Die tiefen Bässe ließen die Körper der drei Besucherinnen regelrecht vibrieren. Nach kurzer Zeit befanden sich alle drei auf der Tanzfläche. Linda ließ es an diesen Abend richtig krachen. Marie wollte nichts trinken, zumindest nichts Alkoholisches. Somit stand auch fest, wer zurückfahren würde.
Sie feierten ausgelassen bis in die Nacht hinein. Es war schon weit nach Tageswechsel, als sie beschlossen, nach Hause zurückzukehren. Marie setzte sich hinters Steuer ihres roten Käfers. Linda hatte einige Probleme, die Beifahrertür aufzubekommen, aber schließlich schaffte sie es, kippte die Rückenlehne des Beifahrersitzes nach vorn und ließ sich der Länge nach auf die Rückbank fallen. Man hörte nur noch »Von mir aus können wir«, und dann war Funkstille. Eva krabbelte zu Linda nach hinten. Dann fuhren sie los.
Auf den Straßen war nicht mehr viel los. Linda hatte bereits die Augen geschlossen. Ihr Kopf lag mittlerweile auf Evas Schultern, die ebenfalls damit zu kämpfen hatte, nicht einzuschlafen. An einer Ampelkreuzung musste Marie halten.
Die Ampel wechselte gerade von Orange auf Rot. Marie wollte geradeaus fahren und schaute nur kurz hinüber zur Linksabbiegerspur. Dort sah sie ein älteres Auto, wahrscheinlich noch betagter als ihr eigenes.
Das Fahrzeug war ebenfalls rot. Die Farbe schien jedoch über die Jahre sehr verblasst.
Irgendetwas fesselte Maries Aufmerksamkeit, sie wusste jedoch nicht, was es war. Gebannt sah sie wieder nach links, konnte den Fahrer aber nicht erkennen, dazu war es einfach zu dunkel. Als jedoch das Auto neben ihr anfuhr, um nach links abzubiegen, schreckte Marie zusammen.
Sie war fest davon überzeugt, auf dem Rücksitz jemanden gesehen zu haben, der ihr ein Handzeichen gab. Es sah aus wie eine Lichtgestalt, wie ein Engel. Was war das nur? Was hatte das zu bedeuten?
Vor lauter Aufregung würgte Marie beim Anfahren den Motor ab. Linda und Eva machten einen kleinen Satz in Richtung Vordersitze.
»Was ist passiert, sind wir schon da?«, fragte Linda.
»Nein«, gab Marie zur Antwort. »Ich habe den falschen Gang erwischt.«
Ein eiskalter Schauer lief ihr über den Rücken. Sofort redete sie sich ein, nichts Außergewöhnliches gesehen zu haben, und hatte auch gleich eine plausible Ausrede für dieses Ereignis griffbereit: Es musste die Reflektion der Ampelanlage in der Scheibe des benachbarten Autos gewesen sein. Eine andere Erklärung konnte es nicht geben. Für den Moment gab sich Marie damit zufrieden.
»Alles gut«, sagte sie zu Linda und Eva. »Wir sind bald da.«
Zu Hause angekommen hatten Eva und Marie alle Hände voll zu tun, um Linda ins Apartment zu schaffen. Das klappte auch mehr oder weniger gut. Sie halfen Linda aus ihren Klamotten und legten sie in ihr Bett. Es dauerte nur Sekunden, da schlief sie auch schon wieder tief und fest. Marie setzte sich noch ein wenig zu Eva in die Küche, wo sie den Tag Revue passieren ließen. In dieser Nacht schlief Marie nicht besonders gut, sie hatte ein beklemmendes Gefühl. Und dieses Gefühl kam ihr irgendwie bekannt vor, sie konnte es nur nicht einordnen. Immer wieder musste sie an das Ereignis an der Kreuzung denken: Was hatte sie dort gesehen? Oder hatte sie sich die Szene etwa nur eingebildet?
Als Marie aufwachte, fühlte sie sich wie gerädert, so als hätte sie gar keinen Schlaf gehabt. Es fiel ihr schwer, die Augen zu öffnen, das Licht blendete sie. Die ersten Sonnenstrahlen fielen durchs Fenster. Marie schlief immer ohne Verdunkelung, dabei fand sie ihren natürlichen Rhythmus. So stand sie fast immer zur gleichen Zeit auf, ganz ohne Wecker.
Von ihren Mitbewohnerinnen war noch nichts zu hören, wahrscheinlich schliefen beide noch, es waren ja schließlich ein anstrengender Abend und eine lange Nacht gewesen.
Marie erhob sich mühsam und schlich sich ins Bad. Nachdem sie sich frisch gemacht hatte, ging sie in die Küche und kochte Kaffee. Das blieb nicht unbemerkt. Angezogen vom Kaffeeduft, der sich in der ganzen Obergeschosswohnung breit machte, kam auch Eva in die Küche.
Sie hatte die Zahnbürste noch in der Hand und murmelte irgendetwas. Marie vermutete, dass auch sie einen Kaffee wollte.
Als sich beide zutrauten, es mit dem neuen Tag aufnehmen zu können, beschlossen sie, im nahe gelegenen Park ein paar Runden joggen zu gehen. Aus Erfahrung wussten beide, dass Linda noch ein wenig Erholung brauchen würde. Ohne sie zu wecken verließen Marie und Eva das Haus, schließlich mussten ja alle drei heute nicht arbeiten.
Nach dem ersten Aufwärmen joggten die beiden langsam los. Sie mussten ein kleines Stück durch die Stadt laufen. Dann folgte ein weiteres Teilstück, das direkt an der Hauptstraße lag, und schließlich konnten sie in den Stadtpark abbiegen.
Gegenüber vom Park befand sich ein Waldstück mit einem kleinen Parkplatz davor. Dieser bot den Besuchern die Möglichkeit, ihre Fahrzeuge abzustellen, denn viele Menschen kamen von weiter her, um im wunderschönen Stadtpark spazieren zu gehen oder zu joggen.
Marie und Eva waren mittlerweile gut in Form. Vor einiger Zeit hatten sie die Runden, die sie liefen, gezählt, aber mit zunehmender Kondition wurde die Strecke länger und länger, und das Zählen fiel immer schwerer. Deshalb hatte sich Eva eine Sportuhr zugelegt, auf die sie sehr stolz war. Neben allerlei anderen Funktionen übernahm diese seitdem die Streckenaufzeichnung.
»Wie viele Runden noch?«, fragte Marie.
Eva schaute auf ihr Handgelenk. »Noch vier!«
Marie bereute bereits den Kaffee, vielleicht hätte sie vor dem Laufen doch besser zu einem isotonischen Getränk gegriffen.
»Geschafft«, gab sie nach einiger Zeit erschöpft von sich. Beide wurden langsamer, blieben stehen und machten noch ein paar Dehnübungen.
»Lass uns zurückgehen.«
Gemeinsam machten sie sich auf den Heimweg. Wieder liefen sie an der Hauptstraße entlang. Marie warf noch einen Blick zurück. Zum Parkplatz. Dieser kam ihr schon irgendwie bekannt vor, als sie das erste Mal hier vorbeikommen war. Er weckte Erinnerungen, so als wäre sie bereits Jahre zuvor an diesem Ort gewesen. Auf diesem Parkplatz stand noch ein altes Werbeschild, das bereits sehr in die Jahre gekommen war. Die Schrift war kaum zu erkennen, nur eine Abbildung deutete noch auf eine Raststätte hin. Es musste viele Jahre her sein, denn ein Rasthaus gab es hier schon lange nicht mehr.
Als Marie ihren Blick gerade abwenden wollte, nahm sie wieder diese Lichtgestalt wahr, die sie bereits in der Nacht zuvor gesehen hatte. Marie blieb wie angewurzelt stehen und stieß einen kleinen Schrei aus. Auch Eva hielt an.
»Was hast du, geht es dir nicht gut?«
Marie wusste in diesem Augenblick nicht, was sie sagen sollte. Blitzschnell ließ sie sich eine Ausrede einfallen.
»Mir ist nicht ganz wohl. Ich glaube, ich habe zu wenig getrunken, wir sollten uns auf den Rückweg machen.«
»Okay, sei aber vorsichtig, ich möchte dich in einem Stück zurückbringen, sonst macht Linda mir die Hölle heiß.«
Zu Hause angekommen ließ Marie sich ein Bad ein. Sie trank eine Flasche Wasser fast in einem Zug leer. Natürlich konnte sie sich nicht erklären, was da soeben passiert war. Drehte sie langsam durch? Niemand würde ihr diese Geschichte glauben. Daher entschloss sie sich, erst einmal alles für sich zu behalten. Normalerweise war Marie sehr direkt und mutig und hatte vor nichts und niemandem Angst. Konnte sie allerdings etwas nicht einordnen, wie es eben der Fall war, so brachte sie das schon ein wenig aus dem Gleichgewicht.
Der Sonntag neigte sich langsam dem Ende zu. Marie war sehr still und nachdenklich, die Ereignisse ließen sie nicht los. Sie hatte auch gar nicht die Möglichkeit etwas zu sagen, denn Linda hatte sich erholt und war nun zur Höchstform aufgelaufen. Sie erzählte ohne Unterlass und schwärmte immer noch vom vorherigen Tag, an dem die drei doch so viel Spaß gehabt hatten. Aber auch ihr fiel auf, dass Marie sehr ruhig war und nicht wirklich gut aussah.
»Sag mal, hast du einen Geist gesehen, oder was ist mit dir los?«, fragte Linda in einer etwas verzerrten Tonlage, denn ihre Stimme hatte sich von der gestrigen Feier noch nicht ganz erholt.
»Wie recht du doch hast!«, dachte Marie bei sich, antwortete jedoch: »Nein, natürlich nicht. Ich bin nur etwas müde, und morgen ist ein anstrengender Tag. Ich glaube, ich geh langsam zu Bett.«
»Hervorragende Idee«, stimmte Eva ihrer Freundin zu. »Ich denke, ich verschwinde dann auch mal, morgen müssen wir wieder fit sein.«
»Was ist denn bloß mit euch? Werdet ihr langsam alt? Nun lasst mich doch noch nicht allein«, forderte Linda.
Doch Marie und Eva hatten ihren Entschluss gefasst.
Eva wünschte allen eine gute Nacht und verabschiedete sich. »Wir sehen uns morgen, Liebes«, sagte Marie zu Linda und ging ebenfalls zu Bett.
Nach diesen Vorkommnissen schlief Marie sehr unruhig und träumte davon, wie sie als Kind immer mit ihrem besten Freund, dem uralten Baum, ihre Zeit verbracht hatte. Sie hatte sich ein kleines Baumhaus gebaut. Baumhaus war eigentlich nicht das richtige Wort, es glich eher einer Palette aus Holz. Aber es war ihr eigenes kleines Reich, wohin sie sich zurückziehen konnte, um die Natur zu genießen und in Büchern zu schmökern.
Sie träumte davon, wie sie sich an diesem Baum abstützte und plötzlich eine Vision gehabt hatte. Sie sah ein altes rotes Auto. Im Rückspiegel des Autos konnte sie sogar ein Reklameschild erkennen.
Marie riss die Augen auf, es war drei Uhr morgens, viel zu früh, um die anderen zu wecken.
Marie konnte sich nicht mehr an alle Details erinnern, aber sie wusste, dass ihr Traum etwas mit den aktuellen Geschehnissen zu tun haben musste. Die Bilder wurden ihr nun immer vertrauter, und sie ahnte bereits, dass die Parallelen zu ihrer Vergangenheit kein Zufall sein konnten. Was, wenn sie sich das alles gar nicht eingebildet hatte? Was, wenn alles genauso passiert war, wie sie es damals gesehen hatte?
Nein, das konnte nicht sein. Gleich am selben Tag würde sie sich Hilfe holen, nahm sie sich fest vor. Sie wusste nur noch nicht, wen sie fragen sollte, und was sie überhaupt sagen sollte. Nach einer Weile schlief Marie wieder ein. Diesmal träumte sie nichts weiter. Die restliche Nacht verlief dementsprechend ruhig.
Marie und Eva fuhren zusammen ins Kommissariat. Sie arbeiteten im Team und beschäftigten sich mit den unterschiedlichsten Fällen. Derzeit befassten sie sich mit einem Tötungsdelikt, das Ähnlichkeiten mit einem Fall aufwies, der schon zwanzig Jahre zurücklag.
Als seinerzeit ein Jogger in einem nahe gelegenen Waldstück menschliche Überreste entdeckt hatte, wurde eine große Suchaktion gestartet. Die Leichenteile schienen von ein und derselben Person zu stammen. Es handelte sich um eine Frau Anfang zwanzig, so der forensische Befund. Anhand der Vermisstenanzeigen und mithilfe eines Zahnabgleichs wurde die Person dann als Barbara Schönfeld, zweiundzwanzig Jahre, eindeutig identifiziert. Auch Kleidungsstücke konnten sichergestellt werden.
Damals war die Technik allerdings noch nicht so weit, die forensische DNA-Analytik steckte noch in den Kinderschuhen. Die DNA-Analysedatei war gerade eingerichtet worden. Sie enthielt sowohl die genetischen Fingerabdrücke von bekannten Personen, die sogenannten Personendatensätze, als auch Spurendatensätze, also Tatortspuren, die von unbekannten Personen stammten.
Da aber in dem vorliegenden Fall kein sichtbares Material wie Hautschuppen, Haare oder Ähnliches gefunden worden war, das zum Vergleich benötigt wurde, gab es keinen Spurendatensatz und so konnte der Fall nie aufgeklärt werden. Schließlich wurde die Akte geschlossen und alle Beweismittel landeten in der Asservatenkammer.
Brauchte man seinerzeit Blutspuren in der Größe einer Euromünze, so reichten heute mikroskopisch kleine Partikel. Deshalb wurden die damaligen Kleidungstücke, die trotz der vielen Jahre noch recht gut erhalten waren, wieder hervorgeholt und mit den neuesten Verfahren untersucht. Mit Erfolg. Nach all der Zeit konnten genetische Spuren sichergestellt werden. Diese stammten von einer männlichen Person. In der Datenbank war sie jedoch leider nicht registriert.
In ihrem aktuellen Fall wurden identische Spuren sichergestellt, abermals in einem nahen Waldstück. Dazu hatte die Polizei einen groß angelegten Speicheltest durchgeführt, an dem sich alle männlichen Bürger mit Wohnsitz in der näheren Umgebung beteiligen sollten. Dieser brachte allerdings keine Übereinstimmung.
Direkte Augenzeugen konnten trotz mehrfacher Aufrufe nicht ausfindig gemacht werden. Einige Passanten machten Aussagen, die sich jedoch nach genauerer Prüfung größtenteils widersprachen. Marie und Eva waren all diesen Hinweisen nachgegangen, leider ohne Ergebnis. An diesem Tag fuhren sie wieder zu dem Waldstück, wo die Kleidungsstücke gefunden worden waren.
Das letzte Opfer konnte man problemlos identifizieren. Es handelte sich um die vierundzwanzig jährige Sandra Langen. Sie kam aus der näheren Umgebung. Der Fall gab Rätsel auf, welche ohne Weiteres nicht zu lösen waren. Marie und Eva gingen noch einmal alles ab, in der Hoffnung, doch noch etwas zu entdecken, aber die Chancen waren sehr gering, denn schließlich wurde bereits das gesamte Areal genauestens durchkämmt.
»Hast du Peter heute im Büro gesehen? Er trug wieder mal sein Hawaii-Hemd, ich glaube, er hält sich für Magnum.«
»Ja genau, das denk ich auch jedes Mal, wenn ich seine farbenprächtigen Hemden sehe. Man muss schon Mut haben, so etwas anzuziehen!«
»Passt zu seinem Ego, fehlt nur noch der entsprechende Sportwagen«, sagte Eva, und beide fingen an zu kichern.
Abgesehen von seinem Mode-Tick war Kriminalkommissar Peter Sander einer ihrer Lieblingskollegen. Mit seinen dreißig Jahren war er nach ihrem Chef der Älteste im Team und unterstützte die beiden stets mit seiner Erfahrung und besonnenen Art.
»Gerald ist allerdings auch nicht viel besser. Er hat zwar einen guten Geschmack, was Kleidung betrifft, jedoch mischt er sich ständig in unsere Ermittlungen ein«, seufzte Marie.
Damit hatte sie nicht ganz unrecht. Marie und Eva teilten sich zu zweit ein kleines Büro. An der Tür hing ein Schild mit der Aufschrift »Betreten auf eigene Gefahr«, dieses galt besonders für Gerald als versteckter Hinweis auf dessen Neugier.
Immer wieder steckte er seine Nase in Angelegenheiten, die ihn nichts angingen. Kriminalmeister Gerald Schmitt war mit seinen vierundzwanzig Jahren der Jüngste der Truppe. Er hatte einen guten Draht zu seinem Vorgesetzten, und man musste aufpassen, was man erzählte. Es bestand die Gefahr, dass alles ungefiltert nach oben gelangte. Deshalb zählte er nicht gerade zu den beliebtesten Kollegen, und Marie vermutete, dass er wusste, wie sie über ihn dachten.
Marie und Eva nahmen ihre Ermittlungen sehr ernst. Jedem noch so kleinen Hinweis gingen sie nach, protokollierten diesen und hefteten ihn an ihre Pinnwand. Dort sammelten sich dem aktuellen Fall zugeordnete Informationen, Fotos der Opfer und Fundstücke. Auch Bilder von Verdächtigen und deren Beziehungen zu anderen Menschen, und somit auch zu potenziellen Tatverdächtigen, waren zu finden.
»Was meinst du, haben wir beim letzten Mal etwas übersehen?«, fragte Eva.
»Das kann man nicht mit Gewissheit sagen, man darf die Hoffnung niemals aufgeben«, gab Marie zur Antwort. Sie liefen nebeneinanderher.
»Bis zum großen Baum da vorne, dann drehen wir wieder um«, schlug Marie vor. Eva nickte.
Am Baum angekommen hatte Marie plötzlich ein sehr unbehagliches Gefühl. Sie musste sich kurz abstützen und suchte an dem kräftigen Stamm etwas Halt. In diesem Moment sah sie sich plötzlich als kleines Kind, das sich ebenfalls an einem Baum klammerte. Maries Erinnerungen an ihre Kindheit kamen Stück für Stück zurück. Alles war nur verdrängt, nichts war wirklich vergessen.
Sie sah nun alles klar vor sich, es hing irgendwie alles zusammen. Marie zitterte und verspürte das Bedürfnis, sich hinzusetzen und sich ein wenig auszuruhen.
»Marie, ich mach mir Sorgen. Du solltest dir ein paar Tage Auszeit nehmen«, meinte Eva. »Mir ist gestern schon aufgefallen, dass es dir nicht besonders gut geht.«
»Vielleicht hast du recht«, sagte Marie. »Ich denke, ich werde mir wirklich ein paar freie Tage gönnen. Schließlich haben wir Oktober, und ich habe noch nicht einmal meinen Sommerurlaub genommen.«
»Dafür ist es nun wohl ein wenig spät«, sagte Eva. »Geht’s dir etwas besser? Dann komm, Süße, wir machen uns auf den Rückweg.«
*
Die Stunden vergingen, und die Dämmerung hatte bereits eingesetzt. Alle drei, Marie, Linda und Eva, ließen beim gemeinsamen Abendbrot den Tag Revue passieren, bevor sie sich zu Bett begaben. Beim Abendessen teilte Marie den anderen mit, dass sie sich ein paar Tage Auszeit gönnen und ihre Eltern besuchen würde. Schließlich hatte sie sie wegen der vielen Arbeit lange nicht gesehen.
Hinzu kam auch noch die Distanz. Ihre Eltern lebten immer noch in Skandinavien. Ihr Vater kam gebürtig aus Deutschland, und er freute sich, dass Marie in seiner alten Heimat Wurzeln geschlagen hatte. Er war sehr stolz auf seine Tochter. Auch er hatte die Zeit, in der es Marie als Kind offensichtlich nicht so leicht hatte, nahezu vergessen.
Maries Eltern wussten noch nichts von ihrem Plan. Es war nun schon die dritte Nacht in Folge, in der sie nicht schlafen konnte. Sie dachte über viele Sachen nach. Bilder ihrer Kindheit gingen ihr durch den Kopf. Wie in einem offenen Buch sah sie nun all das vor sich, was sie als kleines Mädchen erlebt hatte.
Immer mehr Details traten zum Vorschein. Alles hing irgendwie zusammen. Sie erinnerte sich, Bilder gemalt zu haben, Bilder von Visionen, die sie als Kind gehabt hatte. In der Hoffnung, diese zu finden, wollte sie unbedingt zu ihren Eltern. Sie nahm sich dabei fest vor, ihnen nichts davon zu erzählen. Sie wurde ja schon einmal falsch verstanden. Nein, offiziell würde sie ihre Eltern einfach nur besuchen, um sich zu erholen und mit ihnen ein paar schöne Tage zu verbringen.
Marie konnte die Augen nicht mehr aufhalten und schlief schließlich doch noch ein. Gleich am nächsten Morgen würde sie sich um einen Flug bemühen.
Eva brachte ihre Freundin zum Flughafen. Marie hatte sich für einen Linienflug entschieden, denn Billigfliegern vertraute sie irgendwie nicht. Sie hatte bereits online eingecheckt und das Ticket war auf dem Handy griffbereit. Sie reiste nur mit Handgepäck, denn sie hatte nicht vor, allzu lange bei ihren Eltern zu bleiben. »Nur das Nötigste mitnehmen«, hatte sie sich beim Packen vorgenommen.
»Ich sollte jetzt los«, sagte Marie. Das Gate würde in weniger als dreißig Minuten öffnen. »Ich muss ja noch durch die Sicherheitskontrolle und dann zum Gate. Hab vielen Dank, meine Liebe, wir sehen uns bald wieder.«
»Ja, pass gut auf dich auf, Marie. Und bring mir etwas Schönes mit!« Mit diesen Worten verabschiedete sich Eva. Auf dem Weg zum Ausgang drehte sie sich noch einmal um und winkte Marie zu.