MARSCHBLUT - Marco Schreiber - E-Book
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MARSCHBLUT E-Book

Marco Schreiber

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Beschreibung

SIE GREIFT NACH DIR, DIE GRAUE STADT MIT SCHWARZER SEELE Ein toter Finanzbeamter liegt an der Bahnstrecke Heide-Büsum. War es wirklich Selbstmord? Der forschen Kommissarin Katja Greets kommen Zweifel. Zur Unterstützung schickt ihr das LKA Kiel den erfahrenen Ermittler Karsten Untiedt nach Dithmarschen. Ausgerechnet Dithmarschen! Schlimmer konnte es für Untiedt nicht kommen. Gemeinsam suchen sie nach einer heißen Spur. Aber wo? In den schlüpfrig-amourösen Abenteuern des Opfers, im staubtrockenen beruflichen Umfeld oder doch ganz woanders? Immer wieder führt sie die Suche auf die B 5 Richtung Norden nach Husum, in die graue Stadt mit schwarzer Seele. Schaffen sie es, Licht ins Dunkel am Meer zu bringen? Oder verschluckt der Blanke Hans alle Geheimnisse und reißt sie mit sich in die Tiefe der Nordsee?

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Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de© 2023 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.com EPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHISBN 978-3-8271-8452-8

Marco SchreiberMarschblutUntiedt ermittelt

Kapitel 1

Mal eben nach Weddingstedt. Natürlich geht das. Geht alles, wenn es muss. Aber ausgerechnet Dithmarschen, muss das wirklich? Muss wohl! Vielleicht eine glatte Stunde Fahrt von Kiel. Untiedt hätte lieber im Archiv Staub gewischt, als nach Norderdithmarschen zu fahren. Und das hatte er der Wischnorek auch so gesagt. Mehrfach.

„Stellen Sie sich nicht so an“, hatte sie gesagt, „ist doch nur eine kleine Routine. Abends sind Sie wieder zu Hause, und morgen können Sie dann immer noch in den Keller und Akten sortieren, versprochen.“

Am Arsch!

Direkt vor der Absperrung parkte er seinen Wagen am Straßenrand und stieg angesäuert aus. Auf dem kleinen Seitenweg, den er gehen musste, stand das Gras knöchelhoch. Mit Storchenschritten versuchte er seine Schuhe zu schonen und rutschte fast aus. Der Weg war minimal abschüssig, bot aber kaum Halt, so aufgeweicht, wie er war. Nach knapp vierzig Metern blieb er stehen und betrachtete das Szenario. Zu allem Überfluss hing feinster Nieselregen wie ein feuchter Lappen in der Luft. Mieser hätte Untiedt gar nicht drauf sein können. Trotzdem war der Anblick, der sich ihm bot, wie ein Extra-Tritt in den Magen.

„Gut 150 Meter.“ Die Bedeutung dieser Worte schaffte es nicht sofort, zu ihm durchzudringen.

„Gut 150 Meter, so weit liegt er verteilt“, wiederholte Katja Greets und trat noch ein paar Schritte näher an Untiedt heran.

Untiedt ahnte, was ihre Worte bedeuten sollten, als er entlang des Bahndammes neben dem Weg überall kleine Fähnchen mit Nummern drauf in der Erde stecken sah.

„Kein schöner Anblick“, versuchte sie es aufs Neue.

Eine Leiche ist nie ein schöner Anblick, dachte er, sagte aber nichts. Dann drehte er sich zu ihr um und musterte sie einen Moment lang. Beiger Sommermantel, mittellange braune Haare, total verdreckte Schuhe. Und obwohl der Tag erst zu dämmern begann, sahen ihre Augen schon übermüdet aus. Ihre leichte Gewichtsverlagerung vom linken aufs rechte Bein sagte ihm, dass der Moment zu lange dauerte. „Wieso ER, ist das schon sicher?“

„Sicher! Das gibt da so ein besonderes Merkmal. Wir haben dahinten …“

Untiedt wollte gar nicht so genau wissen, was er dahinten unter einer der Plastikplanen würde sehen können. Die Vorstellung reichte ihm voll und ganz aus. Er winkte ab und ging dicht an Katja Greets vorbei Richtung Bahnschienen. Der Regen der letzten Tage hatte den Boden in eine gallertartige Masse verwandelt, und der fast schwarze Schlamm drückte sich mit jedem Schritt wulstig an den Sohlen seiner ausgetretenen Segelschuhe empor. Normalerweise wurde der Grasweg zwischen Bahndamm und Wäldchen nur von einigen Spaziergängern genutzt, vermutete er. Jetzt verwandelte sich alles unter den Füßen der versammelten Polizisten und Forensiker immer mehr in klebrigen Morast. Untiedt zog seinen Mantel enger um die Schultern und ärgerte sich, ihn nicht schon beim Aussteigen ordentlich zugeknöpft zu haben. Das Leder seiner Schuhe war jetzt schon durchweicht und seine Füße nass.

Die Bimmelbahn von Heide nach Büsum hatte ganze Arbeit geleistet. Das war offensichtlich. Die Lokführerin tat ihm leid. Seiner Meinung nach verdienten Lokführer viel zu wenig, um Selbstmörder von ihren Scheiben kratzen zu müssen. Gleiches galt allerdings auch für ihn. Eigentlich verdiente niemand genug, um sich so einen Scheiß anzutun, und schon gar nicht irgendwo in der Feldmark zwischen Heide und Büsum. Hier schon gar nicht.

„Jedenfalls hat die Lokführerin nichts gesehen“, sagte ihm Katja Greets. „Im ersten Moment hat sie wohl noch geglaubt, dass sie ein Schaf erwischt hätte. Deswegen hat sie den Unfall nicht sofort gemeldet.“

Mit einem Stirnrunzeln schaute Untiedt wieder an der Fähnchenreihe entlang.

„Hat sie jedenfalls ausgesagt!“

„Habt ihr sonst irgendwas gefunden, was meine Anwesenheit hier rechtfertigt?“

Der Anblick des Toten hatte Katja Greets alleine beinahe zum Kotzen gebracht. Mehrere Stunden war sie auch schon auf den Beinen, seit mitten in der Nacht die Meldung hereingekommen war: Bahnunfall mit Personenschaden. In der Eile war sie ungeduscht in die Klamotten des Vortages geschlüpft. Schlimmer Fehler. Sagte jedenfalls ihre Nase. Da war das gallige Macho-Gehabe von diesem Untiedt genau, was sie brauchte.

„Wir haben bisher noch gar nichts Brauchbares gefunden, Untiedt!“, blaffte sie ihn an. Sie klang unfreundlicher, als sie wollte. „Und das ist ja auch der Grund, warum uns Kiel jemanden vorbeischicken sollte. Das, und weil sich vor zwei Wochen genau hier schon einer vor den Zug geschmissen hat.“ Fröstelnd schaute sie gen Himmel. Bald mussten es wenigstens die ersten Sonnenstrahlen über die Baumwipfel schaffen und diese Mischung aus Nebel und Nieselregen vertreiben. Mit Glück würde die Sonne sie sogar etwas wärmen. Noch hatte sie Kraft, aber die letzte Nacht war schon lausig kalt gewesen. Ein Vorgeschmack auf das, was kommen sollte.

Langsam schälte sich Untiedts Verstand aus seinen grauen Wolken, und Greets’ scharfer Ton half ihm dabei. Er ließ seinen Blick über das Gelände gleiten. Ein Feldweg neben dem Bahndamm. Völlig ausgefahren und zertreten. Die Bergung des Leichnams vor zwei Wochen, der zwischenzeitliche Regen und die Neugierigen, alles zusammen würde eine Unmenge an kaum zu verwertenden Spuren ergeben. „Wir wissen also noch gar nichts!“, stellte er fest und schaute sie dieses Mal dabei nur kurz an.

Katja Greets nickte. „Nichts. Nur, dass er tot ist. Kein Handy, kein Portemonnaie, keine Schlüssel, kein Abschiedsbrief, nichts!“

Nichts. Fünf, sechs Mal rollte Untiedt dieses „Nichts“ in seinem Geiste hin und her. Nichts. Tatsächlich war da nichts, wo er jetzt sofort hätte ansetzen können. Nichts, was sofort Klarheit herstellte. Ziellos ging er ein paar Schritte, und langsam kroch in ihm der Gedanke empor, dass dieses Nichts die Rechtfertigung für seine Anwesenheit hier war. Er würde nicht abends wieder in seiner Wohnung sein. Er würde hierbleiben müssen. Vielleicht zwei Tage, vielleicht drei. Wenn’s ganz bescheiden laufen sollte ... Aber so weit mochte er nicht denken.

Vor sich hin grantelnd hatte er nicht registriert, dass eine weitere Person, die eben noch bei einem der Fähnchen gehockt hatte, gemeinsam mit Katja Greets in seinem Rücken an ihn herangetreten war und ihn ansprach.

„Was?“ Aus seinen trüben Gedanken gerissen, drehte Untiedt sich abrupt um. Plötzlich war sein Gesicht nur wenige Zentimeter von Katja Greets’ Gesicht entfernt. Der hünenhafte Mann hinter ihr in weißer Schutzkleidung machte Anstalten, sich zwischen die beiden zu schieben, als Katja Greets ihn ruhig, aber bestimmt beiseitezog.

„Lass gut sein, Holger!“, sagte sie und schob den Mann ein Stück zurück.

Ein Gegenstand wechselte vom Hünen zu ihr. Er beugte sich zu ihr, und sie flüsterte dem Riesen etwas ins Ohr.

Was da zwischen den beiden gesprochen wurde, verstand Untiedt nicht. Den abweisenden Blick des Hünen schon. Es war ihm egal, der Typ war ihm egal. Der Hüne ging.

„Wir haben doch etwas. Eine kleine Herrenhandtasche“, sagte Katja Greets. Untiedt zog sich seine Latexhandschuhe an und nahm ihr das Täschchen aus den Händen, noch ehe sie daraus ein abgewetztes Lederportemonnaie herausfischen konnte.

Mit, „Guck doch mal, ob da noch mehr drin ist!“, nahm er das Portemonnaie an sich und drückte ihr die Tasche wieder vor die Brust. Auf dem schlammigen Boden verlor sie kurzzeitig den festen Stand. Sie musste einen Ausfallschritt machen, um nicht zu fallen. Fassungslos starrte sie ihn mit offenem Mund an. Nun war sie es, die ihn musterte, und sein leichter Bauchansatz in Kombination mit seinen blonden, vollen und strähnigen Haaren ließ ihr erstes Urteil auch nicht gerade milder ausfallen: ungehobelter Fatzke!

Ihre abschätzigen Blicke bemerkte Untiedt gar nicht. Konzentriert untersuchte er die Geldbörse. „Bingo! Ein Personalausweis mit Adresse in Heide. Hier!“ Er hielt Katja Greets das Lederportemonnaie hin. „Dein Buddy von der KTU soll sich das angucken und mich direkt benachrichtigen, wenn er was herausfindet. Ich hol mir eben einen Kaffee, und dann treffen wir uns an meinem Wagen.“

Ihren genervten Blick konnte und wollte Katja Greets nicht verbergen. Aber auf Untiedt schien das keinerlei Eindruck zu machen. In den letzten Minuten hatte sie das Gefühl gehabt, dass er sie teilweise überhaupt nicht registrierte. Immerhin hatten sie nun schon einmal einen Namen. „Thoralf Hemke“, murmelte sie, „und eine Meldeadresse haben wir jetzt auch. Helgoländer.“ Vorsichtig stapfte sie ein paar Meter durch den weichgetretenen Boden hinüber zu Holger Jungbier, der die Kapuze seines Schutzanzuges mittlerweile abgestreift hatte. Neben ihm, mit seiner gut liegenden dunkelbraunen, welligen Haarpracht, wurde sie sich sofort ihrer mangelnden Morgentoilette schmerzlich bewusst.

„Aus welchem Schaufenster ist der Wicht denn geflohen?“, fragte er sie.

„Wie, Holger? Is’ Untiedt nicht dein Typ? Zu klein? Zu schick?“ Katja Greets hielt ihrem Kollegen von der KTU das Täschchen und das Lederportemonnaie mit dem Personalausweis hin.

„Zu Arschloch!“, sagte Holger Jungbier und schaute in die Richtung, in der Untiedt gerade verschwand. „Zeig mal her.“ Er nahm ihr Ausweis und Portemonnaie aus der Hand und betrachtete das Passbild genau.

„Dauert das lange?“, fragte sie und nickte mit dem Kopf in Richtung der Leichenteile.

„Kann eigentlich nicht so lange dauern, bis ich dir sagen kann, ob die Person auf dem Ausweis der Tote ist.“ Jungbier verstaute die Fundstücke in einer Plastik-­Zip-Tüte. „Was’ das eigentlich für ein Typ. Was macht der hier?“

„Untiedt heißt der. Karsten Untiedt. Vom LKA. Das war meine Idee.“

„Diesen Stenz da zu holen?“

„Jetzt nicht unbedingt Untiedt. Den kenn’ ich ja auch nicht. Nee, irgendwen aus Kiel. Ich hatte sofort so ein komisches Gefühl. Schon gleich, als ich hier ankam. Ein Zweiter, der vor den Zug springt, und nichts weiter zu finden. Kein Auto, kein Fahrrad. Das wollte ich nicht verbocken“, sagte sie und schaute hoch in Jungbiers Gesicht. Der reagierte aber nicht und schaute Untiedt weiter hinterher. Also setzte Katja Greets ihre Erklärung fort: „Das hab’ ich dem Alten gleich noch in der Nacht gesagt. Der hat das auch so gesehen und in Kiel angerufen. Die wollten dann gucken, ob sie so kurzfristig noch was Vorzeigbares an die Westküste schicken können.“

Jetzt schaute Jungbier zu ihr hinunter und nickte. „Hat ja nicht so gut geklappt! Dann mal viel Spaß mit dem Typen. Wir haben hier noch ein bisschen Arbeit vor uns. Sobald ich was Neues hab, meld’ ich mich bei dir.“ Mit der Rechten streifte Jungbier leicht ihren Unterarm und wandte sich ansonsten grußlos von ihr ab.

Das Gefälle von der Straße zu ihr war nur leicht. Unter normalen Umständen hätte sie es vielleicht nicht einmal bemerkt. Aber mittlerweile war der Untergrund so tief ausgetreten, dass sie mit jedem Schritt seitlich wegschmierte. Es kostete sie einige Mühe, zum Plattenweg hochzugehen. Ihre Jeans starrte inzwischen vor Dreck und klebte an den Oberschenkeln. Die Schuhe konnte sie wegschmeißen.

Kapitel 2

„Kann man hier irgendwo einen vernünftigen Kaffee bekommen?“ Missmutig saß Untiedt hinter dem Steuer seines Dienst-Passats und hatte zugesehen, wie seine Heider Kollegin sich durch den Morast gekämpft hatte. Noch bevor Katja Greets richtig auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte, startete er den Motor und warf eine Kladde mit einer Liste von bereits gefundenen Gegenständen und Kleidungsstücken auf den Rücksitz.

„Bist du so diensteifrig, oder kannst du es einfach nicht abwarten, wieder nach Kiel zu kommen?“ Greets hatte knapp die Füße im Wagen, da knirschte schon der Sand auf dem Plattenweg unter den Reifen. „Dass da einer von euch zur Unterstützung kommen sollte, war zwar meine Idee, Untiedt, aber dass es nun ausgerechnet dich trifft, dafür kann ich nichts. Wenn du also mies drauf bist, weil dir der Urlaub gestrichen wurde oder weiß der Geier was, lass es nicht an mir aus, klar? Im Moment können wir sowieso nur die Adresse überprüfen. Es besteht also kein Grund zur Eile.“

Untiedt wusste, dass seine Kollegin recht hatte. Das änderte aber nichts an diesem zugeschnürten Gefühl in seiner Magengegend. Er hoffte, dass ein Kaffee zumindest ein bisschen helfen würde. „Kaffee?“

„Ich dachte, du wolltest dir von den Kollegen einen holen. Die haben doch da eine kleine Versorgungsstation aufgebaut.“

„War leer.“ Viel zu schnell jagte Untiedt die Alte Weddingstedter Landstraße an dem kleinen Wäldchen, den Kreistannen, vorbei. Am Ende der Geraden bog er ohne zu blinken links ab und schoss geradewegs auf einen eigentlich gesperrten Sandweg zu.

„Rechts!“, schrie Katja Greets.

Untiedt riss das Lenkrad herum und ging vom Gas.

„Am Ende wieder rechts, über die Bahnschienen, dann siehst du den Bäcker schon.“ Katja Greets löste langsam ihren verkrampften Griff von der Autotür. Sie war reichlich angefressen. „Leck mich, Untiedt! Wenn du dich umbringen willst, mach das“, sagte sie, „aber da muss ich nicht unbedingt dabei sein!“ Sie kannte Untiedt noch keine Stunde, und er ging ihr jetzt schon gegen den Strich.

„Schon gut.“ Dass er viel zu hoch drehte, fiel Untiedt selbst auf. Er nahm sich vor, sich ab jetzt zusammenzureißen und das Beste aus der Situation zu machen. Schließlich hatte diese Katja Greets recht. Es war nicht ihre Schuld, dass er in diesem grausigen Heide sein musste, und fürs Wetter konnte sie auch nichts. Es wurde Zeit, sich ins Schicksal zu fügen. Zeit, sich auf die Arbeit zu konzentrieren.

„Der Kaffee geht auf mich, Greets.“ Mit zwei Pott Kaffee kam Karsten Untiedt zu seiner Kollegin an den Stehtisch der Bäckerei zurück. „Ich bin Karsten, moin. Beim Du sind wir ja schon so irgendwie.“

„Moin Karsten. Katja.“ Katja Greets nahm zögerlich Untiedts Hand. Sie beschloss, ihren Ärger erst einmal runterzuschlucken und Untiedt die Chance für einen zweiten Start zu geben, auch wenn ihr das reichlich schwerfiel. „Das Du hast du vorhin ja schon festgelegt. Ist mir aber ganz recht. Und, was denkst du?“

„Zum Toten von der Bahn?“

Katja Greets nickte und nahm abwartend einen Schluck heißen Kaffee.

„Ich befürchte, du liegst richtig.“

„Das beruhigt mich. Aber geht’s auch etwas genauer?“

„Die Auffinde-Situation! Ich finde nicht, dass die für einen Selbstmord spricht.“ Untiedt pustete in seinen Kaffee. Als seine Kollegin nichts sagte, fuhr er fort: „Wie ist er nach Weddinghusen an den Bahndamm gekommen?“

„Zu Fuß!“

„Okay. Nehmen wir mal an, der Tote ist dieser …“ Untiedt kramte in seinem Gedächtnis.

„Hemke. Thoralf Hemke!“, sagte Katja Greets, nachdem sie Untiedt einen Moment zappeln ließ.

„Wenn das also der Hemke war und der tatsächlich aus Heide kommt, läuft der dann bis Weddinghusen, um sich umzubringen?“

„Na ja, die Helgoländer Straße ist jetzt nicht so weit weg. Vielleicht drei, vier Kilometer.“

Da hat die Greets recht, dachte Untiedt, vielleicht war es sogar noch dichter. „Trotzdem, Katja. Wie war das Wetter in der Nacht?“

„Es hat geregnet. Es regnet seit fast zwei Tagen, aber diese Nacht war echt die Härte.“ Sie guckte an sich herunter, und tatsächlich fing sie an zu frösteln, als sie realisierte, wie nass ihre Klamotten eigentlich waren.

„Selbst wenn du dich umbringen willst, latschst du da noch drei Kilometer durch den Regen, wenn die Bahnschienen fast die ganze Zeit parallel zu deinem Weg verlaufen?“

„Das ist ziemlich dünn, oder?“ Katja Greets war tatsächlich etwas erleichtert gewesen, dass ihr Kollege vom LKA ihre Einschätzung teilte. Aber wirklich überzeugend war das hier nicht gewesen. Immerhin hatte sie für eine etwas größere Welle im Heider Kommissariat gesorgt und von jetzt auf gleich auch das LKA in Trab gebracht. Andererseits wurde ihr allmählich bewusst, was es bedeutete, wenn sich ihre Vermutungen bestätigen sollten. Ein gewaltiger Aufriss, noch mehr Kollegen aus Kiel, Überstunden ohne Ende. Trotzdem, irgendwie wollte sie auch die große Action, und sie wusste, dass sie sich dafür schämen sollte. Tat sie aber nicht.

„Verdammt dünn“, gab Untiedt zu. „Wir sollten abwarten, was uns in der Wohnung des Toten erwartet. Vielleicht liegen da ja ein Abschiedsbrief und der Pyjama gefaltet auf dem gemachten Bett ...“ Plötzlich war da dieser kleine Funke Hoffnung, dass diese Chose bald vorbei sein könnte.

Katja Greets’ Handy klingelte. Sie ging sofort ran. „Nein, noch nicht ... Bist du sicher, Holger? Okay. Ja, Helgoländer, wissen wir schon. Gute Idee. Hab’ ich vorhin vergessen. Mach das bitte. Ja, wir sind ganz in der Nähe. Jo, danke, Holger.“ Das Handy glitt zurück in ihre Manteltasche. „Das war Holger Jungbier von der KTU. Den hast du grade eben kennengelernt. Er meint, er ist sich fast sicher, dass der Tote tatsächlich auch der Besitzer des Personalausweises ist. Er fotografiert den Ausweis ab und schickt mir das.“

Wie zur Bestätigung meldete sich ein ‚Pling‘ aus der Manteltasche.

„Fast sicher? Muss reichen! Das ging verdammt schnell.“ In einer fließenden Bewegung nahm Untiedt seinen fast vollen Kaffeebecher, drehte sich um und ließ ihn mit einen vernehmbaren ‚Platsch‘ in den Mülleimer wandern. Greets hastete ihm hinterher Richtung Auto. Als sich der Wagen abrupt in Bewegung setzte, verteilte sich ihr Kaffee großzügig über ihrem Mantel und hinterließ einen dunklen Fleck auf ihrer Jeans, was deftige Flüche zur Folge hatte. Der winzige Anflug von Sympathie für diesen Untiedt war wie weggeblasen.

Wenige Augenblicke später stieg sie vor den grässlichen Mietskasernen in der Helgoländer Straße aus, und ihr fiel auf, dass Untiedt den Weg ohne ihre Hilfe und ohne Navi gefahren war. Ein leichter Nieselregen setzte wieder ein und würde recht schnell dem, was von ihrer Frisur noch übrig war, den Rest geben.

„Schau nach, ob du einen Hausmeister zu fassen bekommst. Ich geh schon zum anderen Block.“ Noch bevor sie irgendetwas entgegnen konnte, war Untiedt zum Nachbargebäude entschwunden, und sie sah wieder mit geballter Faust in der Tasche ihrem neuen Kollegen in seinem abgewetzten parkaartigen Mantel hinterher. Die Handy-Nummer des Hausmeisters war im Eingangsbereich des Mietshauses leicht zu finden. Zu ihrer Erleichterung nahm fast sofort jemand ab, und eine unangenehme Männerstimme plärrte ihr entgegen. Immerhin versprach der Hausmeister, in wenigen Minuten da zu sein. Das Warten verbrachte Katja Greets damit, ihren Mantel irgendwie von Kaffeeflecken zu befreien, was sich als unmöglich erwies und dazu führte, dass sie leise vor sich hin schimpfte. Das erste Mal, seit sie diesem Untiedt begegnet war, kam sie etwas zur Ruhe, und ihr wurde klar, dass nicht nur der Kaffeefleck sie verbiesterte. Die ganze Art und Weise, wie dieser Untiedt mit ihr umsprang, nervte sie. Schon als Polizeischülerin hatte sie es gehasst, wie eine Polizeischülerin behandelt zu werden. Aber jetzt so einfach von ihm hier stehen gelassen zu werden, war definitiv nicht nach ihrem Geschmack. Immerhin kam der Hausmeister wie versprochen quasi sofort.

„Ein Thoralf Hemke wohnt hier, da bin ich mir ziemlich sicher“, sagte er auf ihre Nachfrage hin. Aber wer das von den ganzen Mietern sein sollte, wüsste er nicht zu sagen.

„Kennen Sie den hier?“ Katja Greets zog ihr Handy aus der Tasche und zeigte das Ausweisfoto.

„Ja, ja schon. Der wohnt hier.“ Mehr, als dass der junge Mann von dem Foto nur selten grüßte, konnte Katja Greets aber nicht in Erfahrung bringen. Der Hausmeister versicherte aber, dass er alles aus seinen Unterlagen heraussuchen würde, was es zu Thoralf Hemke und dessen Wohnung zu finden gab.

Die Treppen in den vierten Stock zeigten Katja Greets auf, wie müde sie mittlerweile war. Oben angekommen fühlte sie eine unangenehme feuchtwarme Nässe unter den Achseln, und ein Zupfen am Kragen ihres Rollis verriet ihr, dass sie mittlerweile auch so roch, wie sie sich fühlte. Umso mehr bereitete es ihr eine Genugtuung, dass ihr Kollege Untiedt wartend auf dem Treppenabsatz neben der Wohnungstür saß und sich mit einem Papiertaschentuch den verkrusteten Schlamm von seinen braunen Halbschuhen pulte. Erst als der Hausmeister seinen Schlüsselbund aus der Jacke kramte, sprang Untiedt auf und hielt ihn mit ausgestrecktem Arm von der Wohnungstür fern. „Frau Kriminaloberkommissarin Greets, erklären Sie dem Herrn bitte, dass wir hier ermitteln und er unten am Eingang auf uns warten muss.“

Katja Greets rollte mit den Augen. „Sie haben den Herrn Kriminalhauptkommissar Untiedt gehört.“ Sie nahm den Schlüsselbund an sich und wartete, bis der Hausmeister sichtlich enttäuscht und beleidigt abzog. „Haben wir die Hierarchien jetzt geklärt, Herr Kriminal­hauptkommissar, oder brauchen Sie noch eine besondere Huldigung?“, sagte sie und machte keinerlei Anstalten, mit ihrem Ärger hinter dem Berg zu halten.

„Mein Gott, Katja!“, sagte Untiedt und reichte ihr ein Paar Latex-Handschuhe. „Die Hauptsache ist doch, dass der Typ uns hier nicht um die Füße läuft und seine neugierige Nase in die Wohnung steckt.“ Vorsichtig öffnete er die Wohnungstür und vermied, irgendetwas zu berühren.

Genauso vorsichtig schloss Katja Greets die Tür hinter sich und ließ ihren Blick durch die Wohnung schweifen. Eine von drei Türen im Flur stand halb offen, und etwas Licht fiel in den Flur. Jacken hingen an der Wand, drei Paar Schuhe standen in Reih und Glied. Nichts Auffälliges. Untiedt hielt sich links, sie schob rechts die Tür zum Bad auf. Wie sie erwartet hatte: Das Waschbecken stumpf von Zahnpasta-Resten, der Spiegel voll Sprenkel. Ungepflegt, aber nicht völlig versifft. Die Toilette sah sogar sauber aus, nur die Abdeckung des Spülkastens hing schräg an der Wand. „Untiedt!“ Katja Greets fotografierte die lose Spülabdeckung und nahm sie von der Wand.

„Hast du was?“ Erwartungsvoll schaute Untiedt ihr über die Schulter.

Katja Greets hielt ihm die Abdeckung entgegen. „Die war nur angedrückt. Vielleicht hat da jemand was gesucht?“ Mit einem Kopfnicken forderte Untiedt sie auf, mitzukommen. Wortlos standen beide in einem größeren Zimmer mit Bett, Sitzecke und Schreibtisch. Auf den ersten Blick war nichts ungewöhnlich. Auch dieses Zimmer spiegelte den extensiven Pflegeaufwand eines jungen, allein wohnenden Mannes wider. Keine Pflanzen, eine dünne Staubschicht auf allen Oberflächen. Zwei Bilder an den Wänden, eines schief. Ein Pullover, zerknüllt. Socken auf dem Sofa. Eine riesige Tennistasche. Ein kleiner silberner Koffer. Kein Fernseher, mittlerweile normal. Kein Laptop oder Computer. Auffällig war ein knallroter rollbarer Werkstattschrank. Obendrauf eine Lampe für Bastler und ein Minimotor. In den Schubladen ein heilloses Chaos aus Kabeln, kleinen merkwürdigen Bauteilen und Werkzeug. Sowie eine Fernbedienung. „Modellbauer!“, stellte Katja Greets fest. Dann wanderte das Interesse der beiden Ermittler weiter. Sie schauten sich an, und wie auf ein geheimes Zeichen hin gingen beide zum kleinen Schreibtisch.

„Hier hat etwas gestanden, jede Wette.“ Mit latexbewehrtem Finger strich Katja Greets über die Arbeitsplatte, und es wurde deutlich sichtbar, wo vor Kurzem noch etwas gestanden haben musste. Untiedt bückte sich. Er brachte ein Ladekabel zum Vorschein.

„Prüfaufkleber!“, sagte Untiedt. Katja Greets wusste, was das bedeutete. Alle elektrischen Geräte in öffentlichen Gebäuden mussten im Zwei-Jahres-Rhythmus überprüft werden. „Vielleicht hat Hemke in einer Behörde gearbeitet.“

„Oder er hat da was mitgehen lassen. Einen Laptop beispielsweise.“

„Wenn du einen Laptop klaust, Katja, machst du dir dann die Mühe und lässt auch das Ladekabel mitgehen?“

„Ist das ’ne Prüfungsfrage?“, fragte sie gereizt zurück, wartete eine Antwort aber nicht ab. „Wahrscheinlich nicht“, sagte sie, „höchstens, wenn ich eine ganze Tasche mitnehme.“ Automatisch blickte sie sich suchend im Zimmer um. Vergeblich. Nichts, das wie eine Laptoptasche aussah. Vielleicht hatte hier jemand etwas gesucht, vielleicht auch nicht. Holger Jungbiers Kollegen von der Kriminaltechnik würden das sicher noch herausfinden. Mechanisch griff sie in ihren Mantel und zückte das Handy.

Währenddessen inspizierte Untiedt den silbernen Koffer. Mehr als Jetons und Poker-Karten war aber nicht zu finden. Katja Greets fischte noch ein paar Fotos aus einem Ordner. Wenig später übernahmen die Kollegen von der Schutzpolizei. Mit fast leeren Händen zogen sie und Untiedt ab.

Kapitel 3

Über Michels, den Leiter des Polizei-Bezirksreviers Heide, mochte Katja Greets nicht klagen. Sie hatte ihn nur als fairen und umsichtigen Chef kennengelernt. Trotzdem hätte sie sich eine andere Lösung gewünscht, als dass man Untiedt einfach mit zu ihr ins Büro setzte. Klar, das Heider Revier war ein Sanierungsfall, auch wenn es von außen vielleicht noch nicht so aussah. Aber sie war schließlich keine Touristin, die über den Heider Marktplatz schlenderte und sich an dem recht gelungenen Spät-80er-Backsteintrumm erfreute. Sie musste hier arbeiten, und ihr Büro war schon für eine Person zu eng. Aber noch hatten sie ‚nur‘ einen Selbstmord zu untersuchen, obwohl vieles schon jetzt auf ein Tötungsdelikt hindeutete.

„Weißt du schon, wo du heute Nacht bleibst?“ Sofort bereute sie die Frage, die sich für Karsten Untiedt wie eine Einladung anhören musste, was sie aber ganz sicher nicht sein sollte.

„Ich werde mich in Lunden einquartieren, ist ja jetzt schon klar, dass das hier länger dauert. Trotzdem, danke für das Angebot.“ Ohne hochzuschauen, richtete Untiedt weiter seinen Computer ein.

Katja Greets wusste nicht, was sie mehr ärgerte, dass Untiedt ihre Frage tatsächlich für eine Einladung gehalten hatte oder die Art und Weise, wie er anscheinend gleichgültig über die vermeintliche Einladung hinwegging. Sie beschloss, sich nichts anmerken zu lassen. „Eine Freundin von mir leitet in Lunden die Polizeistation. Ich glaube, der Lindenhof hat gute Zimmer. Aber wieso nimmst du dir nichts in Heide?“

Zu einer Antwort kam es nicht. Sabine Lüders, ehrgeizige Polizeikommissaranwärterin, platzte in Katja Greets’ Büro und wedelte mit einem Notizblock. „Die Eltern von Thoralf leben in Heide, und er arbeitete beim Finanzamt!“ Erwartungsvoll blickte PKA Lüders zuerst ihre Vorgesetzte und dann den LKA-Mann aus Kiel an. Anstatt eines Lobes oder eines anerkennenden Schulterklopfens erntete sie aber nur ratlose Blicke. Untiedt starrte die junge Frau mit flachsblonden schulterlangen Haaren an. Richtig, dachte er, morgens am Bahndamm hatte er sie schon gesehen. Kaffee ist alle, hatte sie gesagt. Lüders ließ sich von dem stieren Blick nicht irritieren. Mit leichtem Vorwurf in der Stimme wiederholte sie: „Thoralf Hemke! Eltern in Heide, Lessingstraße!“

Jetzt fiel der Groschen. Der Tote hatte einen Namen, Thoralf Hemke. So stand es ja auch im Personalausweis. Aber noch war aus „dem Fall“ in Katja Greets’ Vorstellungen kein Mensch geworden. Und Karsten Untiedt war es offensichtlich ähnlich ergangen. Das würde sich jetzt schnell ändern. Ändern müssen, wenn sie alles verstehen wollten. „Oh, klasse, Sabine.“ Ein Blick zu Untiedt reichte. Sein kaum merkliches Nicken zeigte ihr, dass er den gleichen Gedanken dachte: Eine gute Gelegenheit für die Anwärterin, sich auszuzeichnen. „Morgen machen wir genau da weiter. Bist du so gut und bereitest die Befragung im Finanzamt vor? Zuerst schauen Untiedt und ich bei seinen Eltern vorbei, Lessingstraße sagst du?“ Lüders nickte. „Dann nehmen wir uns das Finanzamt vor. Wir sollten ...“

Ein lauter Knall unterbrach Katja Greets’ Redefluss. Untiedt war aufgestanden und hatte dabei seinen Stuhl umgeschmissen. Offensichtlich hatte es an seinem provisorischen Arbeitsplatz noch nicht für einen ordentlichen Bürostuhl mit Rollen gereicht. Er ging geradewegs zu Sabine Lüders, nahm ihr den Notizblock aus der Hand und riss das oberste Blatt heraus. „Ich schlage vor, Frau Lüders legt dir morgen um 8 Uhr eine Planung auf den Tisch?“

„Du hast Untiedt gehört, Sabine! Morgen um acht. Schaffst du das?“ Der Kerl hat sich gerade in die Führung meiner Anwärterin eingemischt, schoss es ihr durch den Kopf, doch Sabine Lüders’ freudestrahlender Anblick besänftigte sie.

„Ja klar, Katja. Um acht. Ich mach mich dann an die Arbeit.“ Mit breitem Lächeln verschwand Sabine Lüders wieder aus dem jetzt viel zu engen Büro, und Karsten Untiedt beugte sich über die Schulter seiner Kollegin. Ein saurer Geruch zog ihm in die Nase, und er hoffte inständig, dass er selbst nicht so ausdünstete. Vor ihr lag die Handvoll Fotos, die sie aus Thoralf Hemkes Wohnung mitgenommen hatte.

„Soll ich das übernehmen?“, fragte Katja Greets und tippte auf ein Foto, das den wahrscheinlichen Toten mit einem älteren Ehepaar zeigte.

„Sieht nach Abi-Feier aus“, stellte Untiedt fest. Er nahm das Foto in die Hand und betrachtete es eine Weile, wobei er es etwas drehte. So als könnte er den Blickwinkel des Betrachters verändern, dachte Katja Greets und fragte sich, was Untiedt auf dem Bild entdeckt haben mochte oder zumindest suchte. „Ich mach das schon mit den Eltern“, sagte Untiedt und gab das Foto seiner Kollegin zurück.

„Ist vorm WHG aufgenommen worden“, bestätigte sie die Vermutung ihres Kollegen mit der Abitur-Feier und legte das Foto beiseite. Hinter ihrem Rücken blitzten Untiedts Augen kurz auf. „Also vorm Werner-Heisenberg-Gymnasium!“, erklärte sie und drehte sich zu ihm um. „Kannst du sehen, wenn du hier vom Parkplatz fährst. Vielleicht kommt es dir deswegen bekannt vor.“

Untiedt ging nicht weiter darauf ein, sondern lenkte Katja Greets’ Aufmerksamkeit auf ein anderes Bild. „Wer ist die hier? Eine Freundin? Seine Freundin?“

Jetzt nahm sie das Bild in die Hand, konnte aber nichts Konkretes darauf erkennen. Zwei Personen, in etwa gleich alt, vor einem absolut nichtssagenden Hintergrund. Das Foto hätte überall aufgenommen worden sein können. Schlichter roter Backstein, graue Fugen. Das war alles. „Ganz hübsch!“, stellte Katja Greets fest und drehte das Bild automatisch in Untiedts Richtung.

„Die Frau? Ich hab’ mir abgewöhnt, in solchen Kategorien zu denken. Was heißt schon hübsch? Aber ja, vielleicht.“ Untiedt ging wieder auf seine Seite des Schreibtisches, hob den Stuhl auf und nahm seine Jacke von der Lehne. Das Bild mit den Eltern blieb auf Katja Greets’ Schreibtisch. Der Rest verschwand wieder im Umschlag und dann in ihrer Schublade. „Mir reicht’s für heute“, sagte Untiedt. „Wir sehen uns morgen früh.“

„Tschüss“, rief Katja Greets ihrem neuen Kollegen hinterher und wunderte sich, dass sie mit ihm gerne noch auf einen Absacker in den Schumacher Ort, Heides Kneipenviertel, gegangen wäre. Und das, obwohl dieser Typ ihr die meiste Zeit des Tages gehörig auf den Zeiger gegangen war. Stattdessen nahm sie ihr Handy und tippte eine Nachricht an Holger Jungbier. Vielleicht saß der schon bei seiner Familie auf dem Sofa. Vielleicht auch nicht ...

Kapitel 4

Kein Wind, keine Wellen, beste Sicht. Ideales Wetter zum Arbeiten, aber nicht, um schnell mal was über Bord gehen zu lassen. „Sach bloß, du willst den wegschmeißen. Geht der nich mehr? Mein Schwager kricht den bestimmt wieder hin. Zeich ma!“

Selbstverständlich musste Friedjof mitbekommen, wie er den Laptop aus der Tonne zog. „Lass gut sein. Mein Nachbar hat Ärger mit seiner Ollen. Die hat rausgefunden, dass er da jede Menge Schweinkram auf’m Rechner hat. Der muss nu wech!“

„Der kleine Dicke?“ Friedjof grinste breit und dreckig. „Du spinnst doch, das gucken wir uns gleich an. Is doch eh grad nix zu tun. Gib schon her!“

Mit zwei schnellen Schritten war Friedjof bei Hannes, und seine wettergegerbte Pranke schloss sich wie eine Schraubzwinge um den schwarzen Klapprechner. Schweinkram war natürlich genau das verkehrte Stichwort, das war Hannes in dem Moment klar, als er es ausgesprochen hatte. Aber wenn er im Denken schneller wäre, müsste er nicht für Friedjof bei jedem Schietwetter die Knochen hinhalten. Nun ging es darum, die Kuh schnell vom Eis zu bekommen, also den fuck Laptop zu versenken. „Das willst du gar nicht sehen“, versuchte es Hannes, und Friedjof ließ tatsächlich los.

„Kinderpornos?“, schrie Friedjof, „die Sau zeig ich an, und dann schlag ich ihn tot!“

Jetzt hatte Friedjof zwar seine Schraubstockhände nicht mehr an dem Gerät, sah aber plötzlich extrem bedrohlich aus und war es vermutlich auch, wie Hannes befürchtete. „Nein Mann, der is ganz normal. Aber er hat seine Nachbarin gepimpert, hat er gesagt. Und das ist auf Video drauf, und das muss weg, bevor seine Frau das spitzkricht.“ Und im hohen Bogen flog das vermaledeite Ding in die schmutzig graubraune Nordsee.

Friedjof guckte hinterher, fing erst an zu glucksen und prustete dann laut los. Verständnislos schaute Hannes seinen Chef an. Der brauchte etwas, um sich wieder einzukriegen, legte dann aber väterlich seinen baumdicken Arm um Hannes. „Du wohnst doch in einer Sackgasse, Hannes, oder?“, begann Friedjof in seinem besten Hochdeutsch.

„Jo, ganz am Ende“, bestätigte Hannes, der tatsächlich besonders stolz auf diese gute Lage war.

„Und vor dir wohnt der kleine Dicke, der mit den Klobürsten-Hunden und dem Laptop?“

Wieder konnte Hannes nur bestätigen: „Jo, Yorkshire-­Terrier.“

Friedjof biss sich auf die Lippen und lief rot an, als er sich zusammenriss, um nicht wieder lauthals loszulachen. „Und vor dem Typen mit den Kötern wohnt die alte Diercks, richtig?“

„Richtig.“ Verwirrung machte sich in Hannes’ Schädel breit.

„Mensch Hannes, die is’ doch nu bald über 90!“ Voller Erwartung blickte Friedjof in Hannes’ völlig verdaddertes Gesicht. Der rallte immer noch nichts. „Hannes, ich glaub nicht, dass der mit der alten Diercks was hatte. Die Nachbarin auf dem Video, Hannes, das ist deine Moni. Der vögelt deine Moni und drückt dir den Laptop in die Hand, damit du ihn verschwinden lässt!“ Friedjof war nicht mehr zu halten. Schreiend, weinend, wiehernd vor Lachen schleppte er sich in die Kajüte. „Du bist echt das dämlichste Schaf auf’m Deich, Hannes!“

Hannes dachte über Friedjofs Erklärung nach und musste erkennen, dass das recht schlüssig war. Lumpige 100 € hatte er für die Entsorgung bekommen, und nun durfte er sich für den Rest seines Lebens diese Geschichte anhören, die er zu allem Überfluss auch noch selbst erfunden hatte. Und Friedjof sagen, dass er sich den Scheiß nur ausgedacht hatte, um ein paar Kröten dazuzuverdienen, konnte er auch nicht. Wenn Friedjof merken würde, dass er auf seinem Kutter krumme Dinger auf eigene Rechnung machte; oh Mann, der würde ihn in der Nordsee ersäufen wie einen jungen Hund. Immerhin konnte er ihn bitten, die Schnauze zu halten. Und das würde Friedjof auch tun. Auf seine Art war sein Chef ein anständiger Kerl ... und ’ne Pottsau.

Kapitel 5

Gemächlich rollte Katja Greets auf den Parkplatz des Heider Polizeireviers. In täglicher Routine sicherte sie ihr Fahrrad mit dem besten Schloss, das man für Geld im Zubehörhandel bekommen konnte. Und wie jeden Morgen, wenn sie ihr Fahrrad abschloss, dachte sie daran, dass ihr Lieblingsrennrad tatsächlich vor zwei Jahren vom Gelände der Polizei weggeklaut worden war. Und weil sie sich sicher war, dass ein ehemaliger Kollege jetzt im Besitz ihres Rades war, murmelte sie wie so häufig das Wort ‚schäbig‘ hinterher. An diesem Morgen meinte sie aber schon zum wiederholten Male nicht den Fahrraddieb. Das mit Holger musste aufhören. Wie viele Male hatte sie diesen Gedanken in den letzten Wochen schon gedacht. Wenn sie ihn doch nur aus ihrer Kontaktliste streichen könnte ... Aber natürlich ging das nicht. Dafür hatten sie viel zu oft dienstlich miteinander zu tun. Viel zu oft!

Während sie ihre Hose zurechtzupfte und ihren Gefühlskater kraulte, bemerkte sie ein Kieler Kennzeichen auf dem Besucherplatz. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass nicht etwa sie spät dran, sondern Untiedt reichlich früh war. Aber das reichte. Augenblicklich fühlte sie sich gehetzt und hastete durch die Flure des Reviers. Dass schon mehr Kolleginnen und Kollegen als um diese Uhrzeit üblich ihren Dienst aufgenommen hatten, verunsicherte sie zusätzlich. Beinahe im Laufschritt stürmte sie in ihr Büro und sah, wie Untiedt gerade einen Stoß Papier auf ihren Arbeitsplatz legte. Natürlich hatte Sabine Lüders die Befragung im Finanzamt mit Feuereifer vorbereitet. Und natürlich war es eine gute Idee von Untiedt, der Lüders als Anwärterin die Aufgabe zu übertragen. Schließlich war das keine große Sache und hatte trotzdem einen guten Übungseffekt. Aber dass Untiedt sich so aktiv einmischte, wie sie mit ihrer Anwärterin umging, hatte sie schon gestern gestört. Und nun hatte er nichts Besseres zu tun, als Lüders’ Planung Korrektur zu lesen. Noch im Mantel nahm ihr Blutdruck gefährlich zu. Der Ärger wollte gerade aus ihr herausplatzen, als Untiedt ihr ins Wort fiel, ehe sie auch nur eines ausgesprochen hatte.

„Jetzt ist es offiziell!“ Untiedt setzte sich auf die Schreibtischecke. „Wir ermitteln in einem Tötungsdelikt. Du lagst mit deiner Einschätzung goldrichtig. Vom ersten Augenblick an. Guten Morgen, übrigens. Dein Spezi von der KTU ...“

„Holger“, ergänzte Katja Greets mechanisch.

„Genau, der Jungbier rief an. Die Rechtsmedizin hat einen Eschensplitter am Kopf des Toten gefunden. Die Rekonstruktion des Schädels läuft, aber klar ist jetzt schon, dass er erschlagen wurde. Die Wischnorek und dein Chef ...“, Untiedt stockte.

„Michels!“

„Richtig, die haben die Zuständigkeiten abgesegnet.“

Katja Greets wollte sich schütteln und schreien, verharrte aber regungslos. Was ging hier eigentlich ab, wenn sie nicht da war? Alles schien an ihr vorbeizulaufen. Schlagartig schossen ihr Erinnerungsbilder aus ihrer Jugend in den Kopf. Katja am Rande des Volleyballfeldes, und die Trainerin wechselt eine Spielerin nach der anderen ein, nur sie bleibt außen vor. Genau so fühlte sie sich. Ausgebootet. Wieso hatte Holger ihr nichts gesagt? Gestern Abend erst ... aber das ließ sich vielleicht erklären. Und welche Zuständigkeiten? „Verdammt, wer ist diese Wischnorek?“, platzte es aus Katja Greets heraus.

Untiedt schaute sie fassungslos an. Weder hatte er mit einem solchen Ausbruch gerechnet, noch ergab es für ihn irgendeinen Sinn, als erste Frage die nach seiner Vorgesetzten zu stellen und dann in dem Ton. „Kommst du klar, Katja? Seit einer halben Stunde steppt hier der Papst, und du hast nichts anderes zu tun, als mich anzuschreien?“ Untiedt stand auf, ging aus dem Büro, kam nach wenigen Augenblicken mit zwei dampfenden Kaffeebechern zurück, stellte einen vor Katja Greets’ auf den Schreibtisch und schloss die Bürotür. Dann zeigte Untiedt mit offen ausgestreckter Hand auf Katja Greets’ Bürostuhl. Eine Einladung, sich zu setzten. Sie blieb stehen. Er setzte sich. „Was stinkt dir? Bin ich es?“

„Du kommst gestern hier an, und heute übernimmst du meinen Laden. Klar finde ich das scheiße!“ Jetzt setzte sie sich doch.

„Ist das wegen der Lüders, Katja? Ernsthaft? Kein Problem. Da hab’ ich dich gestern wohl falsch verstanden. Mein Fehler. Mach mit ihr, wie du willst. Ich misch mich da nicht mehr ein. Ist da noch mehr? Dann hau es jetzt raus!“ Untiedt ließ sich in die Lehne seines Bürostuhls fallen. Automatisch verschränkte er die Arme hinter seinem Kopf und schlug die Beine übereinander. Die Cobra, schoss es ihm durch den Kopf. Sofort nahm er die Arme wieder herunter. Bloß nicht provozieren, dachte er. So dünnhäutig, wie seine Kollegin ihm gerade vorkam, musste er auf alles achten. Besonders auf die Körpersprache.

So etwas Ähnliches hätte sie auch gesagt, dachte Katja Greets, dritte Stunde im Seminar für Konfliktgespräche: Deeskalieren. Jetzt hätte sie die Chance, Untiedt klarzumachen, dass sie keine Lust hatte, hinter ihm her zu trotten wie das dumme Mädchen. Stattdessen sagte sie: „Leck mich, Untiedt!“, stand auf und ging zu Michels. Er sollte ihr sagen, wie die Dinge jetzt laufen. ER war ihr Chef.

„Kriminalhauptkommissar Untiedt und du, ihr bildet für diesen Fall ein Ermittlungsteam“, sagte Michels, „die Leitung übernimmt nominell das LKA in Kiel, aber alle Berichte gehen über meinen Tisch.“ Katja Greets konnte man mit ihren vierzig Jahren durchaus als erfahrene Beamtin bezeichnen, aber an der Aufklärung eines Tötungsdeliktes hatte sie nach Michels’ Wissen noch nicht federführend mitgewirkt. Da war die Anspannung, die sie hier in seinem Büro an den Tag legte, verständlich. Und jetzt, wo sich ihre Intuition bewahrheitet hatte, nämlich dass hier tatsächlich ein Tötungsdelikt vorlag, war er froh, dass Kiel sich eingeklinkt hatte und dieser Untiedt jetzt hier war.

„Was heißt das, muss ich jetzt zwei Herren dienen?“ Anders als sonst hatte Michels’ väterliche Art nicht die beruhigende Wirkung auf Katja Greets. Vielmehr stemmte sie die Hände in die Hüften und machte gar nicht erst den Versuch, entspannt zu wirken.

Michels dämmerte langsam, dass er die Lage falsch eingeschätzt hatte. Darum ging es ihr also. Für ihn hatte Untiedt mit seinem Auftreten Zielstrebigkeit vermittelt. Katja fühlte sich dadurch anscheinend in ihrer Position bedroht. Nicht ganz ungefährlich, wenn beide erfolgreich zusammenarbeiten sollten. „Berichte gehen an mich, Katja, Weisungen kommen von mir. Ansonsten organisierst du die Arbeit in deinem Team selbstständig, so wie immer. Und nein, du dienst nicht zwei Herren, wie du es ausdrückst. Du sollst bloß alles dafür tun, dass wir den Fall aufklären. Gemeinsam, Katja! Mit Untiedt!“

Kapitel 6

Lessingstraße sagte Untiedt nichts. Nach einem Blick aufs Navi war aber klar, dass er Richtung Meldorf musste und dann rechts ab. Er schaltete das Navi wieder aus. Die Stimme nervte. Wenigstens schien die Sonne. Zwar nur durch schwere graue Wolken, dafür leuchteten alle Farben unter den Strahlen umso intensiver. Das und nach dem Stunk mit der Greets allein im Auto zu sein tat gut. Der Anlass dafür nicht. Eltern erklären zu müssen, dass ihr Kind tot ist, war so ziemlich das Unangenehmste, was der Beruf für ihn bereithielt. Und Kind blieb Kind, auch wenn es wie Thoralf Hemke schon Mitte zwanzig war. Er bog in eine total ruhige Wohngegend ein. Fünfziger- oder Sechzigerjahre Reihenhaussiedlung. Backstein, Gehweg vor dem Haus, langes handtuchbreites Grundstück dahinter. Hier konnte man Hühner halten und Kartoffeln pflanzen. Machte aber niemand mehr. Er hielt direkt an der Straße, direkt am Jägerzaun. Bevor er ausstieg, atmete er zweimal tief durch. An jeder Hausscheibe blieb er länger als nötig stehen, um nach dem Türschild zu gucken. Neben der Haustür der vorletzten Scheibe las er ‚Familie Hemke‘. Untiedt klingelte, zeigte seine Marke, und das Ehepaar Hemke, das gemeinsam im Türrahmen stand, bat ihn ins Wohnzimmer. Gemütlich, einfach, austauschbar.

Die Nachricht vom Tode ihres Sohnes nahmen beide scheinbar sehr gefasst auf. Wahrscheinlich standen sie schlichtweg unter Schock, vermutete Untiedt. Auf seine Bitte hin zeigte Herr Hemke ihm das ehemalige Kinderzimmer des Toten. Es sah gleichsam unbewohnt und auf eine Wiederkehr seines jahrelangen Bewohners wartend aus. Untiedt brauchte gar nicht zu fragen, um zu wissen, dass dieses Zimmer seit Jahren niemand mehr betreten hatte. Er tat es trotzdem und behielt recht. Private Dinge des Toten, die von Belang waren, gab es auch sonst bei den alten Hemkes nicht mehr zu finden. Lediglich eine kleine Truhe mit Jugenderinnerungen kramte Herr Hemke aus einer Abseite hervor. Wenigstens bestätigten ihm auch die Eltern, dass Thoralf beim Finanzamt gearbeitet hatte und die Frau auf dem Foto seine Freundin war.

„Eigentlich hat er sie nur einmal mitgebracht“, erzählte Thoralfs Mutter, „ausgestiegen ist sie, aus ihrem Auto. Hübsches Mädchen.“ Dann versiegten ihre Worte.

„Können Sie mir vielleicht sagen, wie sie heißt?“, wollte Untiedt wissen.

„Selina!“

Untiedt hörte eine leichte Verbitterung aus den Worten des Vaters heraus. „Und weiter?“

Weiter wusste er nicht. „Selina, mehr hat sie nicht gesagt. Dann hat Thoralf sie auch schon wieder am Arm genommen und ist gegangen. Er hätte sie uns ja nicht einmal vorgestellt, wenn sie nicht ausgestiegen wäre.“

Außer dass sie ein ‚schickes‘ Auto fuhr, war nichts weiter über die junge Frau zu erfahren. Auch der Anlass des Besuches war unspektakulär. Vor ungefähr zwei Wochen hatte Thoralf seinen Eltern deren Steuerunterlagen zurückgebracht.

„Das ist seine Welt“, sagte Thoralfs Mutter, „viel reden tut er ja nicht. Aber wenn das um diesen Kram geht, ist er nicht zu bremsen.“

Ein bisschen Stolz klang mit, als sie das erzählte, und Untiedt notierte sich, dass das Verhältnis zwischen Thoralf Hemke und seinen Eltern zwar kühl, aber keineswegs gestört war. Nur dass er ihnen seine Freundinnen nicht vorstellen mochte, das nahmen sie ihm übel. Als er ging, ließ er dem Ehepaar Hemke die Nummer der psychologischen Beratungsstelle da und legte ihnen dringend ans Herz, diese auch in Anspruch zu nehmen. Außerdem sollten sie auf jeden Fall ihn kontaktieren, wenn noch etwas wäre, ob wichtig oder unwichtig.

Die Befragung von Hemkes Eltern hatte länger gedauert als erwartet. Also war die Aktion im Finanzamt schon in vollem Gange, als er eintraf. Vom Deckblatt aus Lüders’ Planung wusste er, dass fünf Kolleginnen oder Kollegen die Befragungen durchführten. Katja Greets, Lüders selbst, und die anderen drei Namen sagten ihm nichts. Sinnigerweise hatte Katja Greets Sabine Lüders angewiesen, einen Fragenkatalog zu erarbeiten, was die Auswertung und Vergleichbarkeit der Aussagen erleichtern würde.

Er versuchte gar nicht erst, beim Finanzamt zu parken. Direkt unter der Stadtbrücke fand sich immer etwas, und nach dem deprimierenden Besuch bei den Hemkes waren ihm die paar Schritte Fußmarsch ganz recht. Schon dem Pförtner war anzumerken, dass der Auftritt seiner Kollegen Eindruck hinterlassen hatte. Er wurde gleich durchgelassen und in den zweiten Stock komplimentiert. Eine ähnlich freundliche Behandlung hätte er sich gewünscht, wenn er selbst mit seiner Steuererklärung mal wieder spät dran war.

Er fand Katja Greets sofort und war nicht überrascht, sie mitten in der Befragung von Hemkes Vorgesetzten zu finden.

„Grob gesagt bearbeitet Hemke GbRs im Raum Heide.“

Greets runzelte fragend die Stirn, und die Finanzbeamtin mittleren Alters, deren Namen Untiedt noch nicht mitbekommen hatte, klärte sie ohne weitere Aufforderung auf. Wahrscheinlich war sie es gewohnt, dass Nicht-Finanzbeamte wenig bis gar nichts von dem verstanden, was sie tagein, tagaus beschäftigte. „Das sind vor allem kleine Betriebe mit wenig Umsatz. Die brauchen in der Regel nur eine Einnahmeüberschussrechnung zu erstellen und können auf eine doppelte Buchführung verzichten. Kleine Friseurläden beispielsweise oder ein Hausmeisterservice, Dönerbuden, so was halt.“

Katja Greets hörte aufmerksam zu, was Untiedt schwer beeindruckte. Ihn erschöpften schon die ersten paar Sätze Beamtendeutsch, und sein Blick blieb matt an den Entenschuhen mit Kreppsohle kleben, die hervorragend zu der groben Cordhose der Finanzbeamtin passten. Seine Gedanken schweiften ab. Die alten Hemkes taten ihm leid. Sabine Lüders klopfte an und kam ohne abzuwarten ins Zimmer. Sie nickte Untiedt kurz zu und flüsterte Katja Greets etwas ins Ohr.

„Hatte Hemke mal etwas mit Bauernhöfen zu tun?“, wollte Greets wissen. Lüders blieb hinter ihr stehen. Die Finanzbeamtin bejahte.

„Das ist auch manchmal echt heikel“, fuhr sie fort, „es kommt öfter vor, dass unsere Kunden ungern Zeit mit ihren Steuerangelegenheiten verbringen oder schlichtweg damit überfordert sind. Dann laufen schnell mal hohe Steuerschulden auf.“

Während vor Untiedts geistigem Auge Bilder von verzweifelten Gesichtern erschienen, fragte Katja Greets: „Und wie schlimm kann das werden?“

„Ganze Betriebe können dabei hopsgehen. Besonders schlimm ist das tatsächlich bei landwirtschaftlichen Betrieben. Da ist das ja viel mehr als ‚nur’ die wirtschaftliche Existenz. Oft sitzen da Familien seit Generationen auf einer Hofstelle, gefühlt schon immer. Die haben Stammbäume wie Adelsfamilien und sind da auch nicht minder stolz drauf. Und wenn so jemand seinen Hof verliert ...“ Betroffen von ihren eigenen Worten strich die Beamtin ihre Cordhose glatt.

Wieder flüsterte Sabine Lüders ihrer Vorgesetzten etwas ins Ohr.

„So wie bei Broder Evers?“, fragte Katja Greets. Untiedt horchte auf.