MARSCHNACHT - Marco Schreiber - E-Book
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MARSCHNACHT E-Book

Marco Schreiber

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Beschreibung

Zwölf wunderbar erholsame Tage in Dithmarschen liegen hinter Hauptkommissar Karsten Untiedt. Doch die Planungen für sein letztes freies Wochenende werden jäh über den Haufen geworfen. Als ob die Eider ihre grausige Fracht wieder loswerden will, spuckt der Fluss eine fürchterlich entstellte Frauenleiche aus – im Schlick bei Wollersum, nur wenige Kilometer von seinem Ferienhaus entfernt. Zum zweiten Mal verstärkt er das Team der Heider Kriminalpolizei um Katja Greets. Ein Wiedersehen, auf das sich nicht alle freuen. Wohl kaum die besten Voraussetzungen, um in Büsum, Tönning und Husum schmutzige Wäsche zu durchwühlen oder den Fall aufzuklären. Untiedt lässt jedoch der Gedanke nicht los, warum Maja Stöver auf so eine brutale Art und Weise sterben musste. Er setzt alles daran, um ihren Mörder zu finden.

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Für Gerda

Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über https://www.dnb.de© 2024 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von123rf.com EPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-9768-9

Marco SchreiberMARSCHNACHTUntiedt ermittelt

„Do wat du wullt, de Lüüt snack doch!“

Marschnacht

Komplett außergewöhnlich war es nicht, dass sich nachts um zwölf bei Sturm mit Windstärke neun Nachtschwärmer auf das Eidersperrwerk verirrten. Aber wer so etwas tat, tickte nach Meinung von Hartwig Widderich ziemlich unsauber, auch wenn er zugeben musste, dass es natürlich ein atemberaubendes Spektakel war, das sich einem hier bot. Also interessierten ihn die beiden Gestalten, die sich mit dem Rücken zu ihm durch das krisselige Schwarz-weiß-Bild seines veralteten Überwachungsmonitors Richtung Grasdeich bewegten, auch nicht sonderlich. Vielmehr verlangte Fiete Johannsen nach seiner Aufmerksamkeit. Der Krabbenfischer war mit seiner Schleusung in die Sicherheit der abgesperrten Eidermündung am Abend ziemlich spät dran gewesen. Lange hatte er sich mit einigen Reparaturen aufgehalten und zum Schluss seinen Kutter gegen den Sturm gesichert.

Was sich da auf der Nordsee zusammenbraute, war schon heftig und in der vom Wetterdienst erwarteten Stärke allemal ungewöhnlich für Mitte April. In Kombination mit dem auflaufenden Wasser der Flut drückte der Sturm die Nordsee im wahrsten Sinne des Wortes gewaltig gegen die Deiche, und so wie Widderich, der kurz vor der Rente stand, wussten nur noch die Alten, welche Gefahr das für die Menschen hier ohne das Eidersperrwerk bedeutet hätte. Nun standen die meterhohen Stahltore nur leicht geöffnet und kontrollierten, wie viel Wasser in die Eider flussaufwärts drücken durfte. Dabei veranstaltete die Flut in jeder einzelnen Kammer dieser Wehranlage ein infernalisches Tosen, das schier endlos gespeist wurde durch den mörderischen Druck, mit dem sich die Nordsee unter den Wehrtoren hindurchpresste und sich dann direkt dahinter weiß schäumend meterhoch verwirbelte wie in einer gigantischen Waschtrommel, wieder und wieder wie irre gegen Stahl und Beton klatschend. Hier tobten die wilden Pferde, die Nordseewellen, schnaufend, wiehernd, unkontrollierbar umeinander tanzend, mit unfassbarer Kraft auf alles und sich selbst einschlagend, nur um dann scheinbar friedlich auf der seeabgewandten Seite landeinwärts zu fließen. Widderich war mächtig stolz auf „sein“ Eidersperrwerk. Umso schmerzlicher war der Gruß über Funk von Krabbenfischer Fiete Johannsen. „Bald nur noch im Roten Hahn, Hartwig. Das erste Bier geht auf mich!“

Noch eine Woche, dann war er endgültig von der Brücke verschwunden. „Ruhestand. Schiet ok!“ Wahrscheinlich waren Johannsen und er Freunde. Abschließende Gedanken darüber hatte Hartwig Widderich sich nie gemacht. Warum auch? Jedenfalls frotzelten sie noch eine Weile hin und her. Der Fischer baute so seine Anspannung ab, denn auch ein alter Seebär wie Johannsen war froh, wenn er wieder sicher im Hafen war und vor so einem heftigen Sturm alles fest vertäut hatte, und Widderich half das durch seine letzte Nachtschicht.

Am Fenster stehend zu den Liegeplätzen hinter der Schleuse gewandt, schaute er zu Johannsens Boot hinüber. Nachdem mit einem gut vernehmbaren Knacken der letzte Funkspruch gesendet worden war, erloschen nach und nach die Lichter auf dem Schiff. Davon, was derweil auf der anderen Seite seines Turmes, auf dem Sperrwerk, passierte, bekam er nichts mit. Er sah nicht, dass die beiden Personen, die Widderich für ein Paar gehalten hatte, wild mit den Armen fuchtelten, während sie sich anschrien und dann an der letzten Sperrwerkkammer stehen blieben und erschöpft Atem holten. Er sah nicht den überraschten Gesichtsausdruck der Frau, als der deutlich größere Mann sich plötzlich bückte, von hinten mit seinem rechten Unterarm ihren Oberschenkel umschloss und sie mit dem linken Arm am Rumpf packte. Er hörte auch nicht das ungläubige Kreischen, als sie merkte, dass sie ruckartig hochgehoben und kopflinks über die niedrige Brüstung geschoben wurde. Auch der Name, den sie rief, als ihre zappelnden Beine mehrfach auf das Metallgeländer schlugen und sie sich dann um hundertachtzig Grad in der Luft drehte, wurde vom Sturm verschluckt. Nur der Mann sah die im Schreck weit aufgerissenen Augen der Frau, und nur er hörte ihre jetzt panischen Schreie aus dem Getöse heraus. Aber sein Herz war in diesem Moment kalt wie Eis. Und deswegen rannte er auch nicht sofort weg, sondern schaute zu, als die Frau sich vergeblich auf den nassen Beton zu pressen versuchte. Er fühlte sich seltsam ungerührt bei dem Anblick, wie sie erst langsam an der eleganten Rundung der Wehrkammer hinabglitt. Reglos ließ er den letzten Augenblick verstreichen, an dem er ihre ausgestreckten Arme noch hätte greifen können, und betrachtete, wie sie unweigerlich und dann immer schneller ins dunkle Herz des Eidersperrwerks abrutschte. Oben spülte schon der Regen die zehn blutigen Spuren weg, die ihre Fingerkuppen für nur kurze Zeit auf dem rauen Beton hinterlassen hatten. Unten stampfte und trampelte die Nordsee wie im Wahn, peitschte zornig Gischt nach oben, als könnte sie die wenigen Sekunden nicht abwarten, um den zierlichen Körper endlich zu zermalmen.

Im gleichen Augenblick, in dem die Frau in der brodelnden schwarzen Kammer der Wehranlage verschwand, machte sich in dem Mann eine ruhige Leere breit. Wie in eine Blase gehüllt, ging er gemessenen Schrittes zum Parkplatz, nass bis auf die Haut, doch eigentümlich unverbunden mit dem soeben Erlebten.

1

Das weiße Feinripp-Unterhemd klebte klatschnass auf seiner Haut, und er konnte nicht umhin, einem Schweißtropfen nachzufühlen, der sich am unteren Ende seines Rückens immer tiefer in Regionen vorwagte, wo die Sonne nie hinschien. Unter normalen Umständen hätte Karsten Untiedt sich einfach gekratzt, und der Tropfen wäre Geschichte gewesen. Nun saß er aber Gerda und Herbert Schlömer am wackeligen Gartentisch gegenüber und trank kaltes, wässriges Orangensaftetwas und Kaffee.

„Nu se to, dat du doar nich Wuddel schlogen deihst, Kaschi. Wi heppt hüüt noch anneres to don.“ Schwungvoll erhob sich Herbert Schlömer von seiner Bank, holte sein gebügeltes und akkurat gefaltetes Taschentuch aus der Hosentasche, schnäuzte sich und schaute auffordernd zu Karsten rüber. „Een Fuhln verdrächt dat Geschäft, aber dat möt ja ni wi ween.“

„Teuf mol, Herbert, de Jung is ja nu ok keene veertich mehr.“

Gerdas Einwand war leider nur allzu richtig, dachte Untiedt, trotzdem traf ihn ihre Fürsorge hart angesichts der Tatsache, dass ihr Herbert vor wenigen Tagen einundachtzig geworden war. Aber im Gegensatz zu Karsten Untiedt hatte Herbert Schlömer sein Leben lang immer körperlich gearbeitet, und auch jetzt noch war der Kerl drahtig und augenscheinlich besser in Schuss als er selbst. „Ich eile, Herbert, ich eile“, sagte er und hievte sich mit einem leisen Stöhnen aus dem etwas zu niedrigen Gartenstuhl.

Gut drei Jahre nach dem Tod seines Vaters hatte er sich dazu entschlossen, das kleine, bescheidene Häuschen, das gemeinsam mit einer Handvoll ebenso unprätentiöser Häuser an einer schnurgeraden Straße irgendwo im Nirgendwo der nördlichen Dithmarscher Köge stand, zu entrümpeln und als Wochenendhäuschen herzurichten. „Wo nimmst du eigentlich die Energie her, Herbert? Wir asten hier schon den ganzen Vormittag herum, und du springst mir immer noch um die Beine wie ein junges Reh.“

Herbert machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ach Junge, wenn ich in meinem Alter erst einmal stehen bleibe und aufhöre, mich zu rühren, dann komme ich nie wieder in Gang. Besser immer weiterarbeiten, sonst kannst du auch gleich den Deckel draufnageln. Und nu hör auf zu sabbeln und pack an!“ Gemeinsam schleppten sie noch zwei weitere Stunden Türblätter, zerlegte Schränke, eine grauenhafte, aber gut erhaltene Sofagarnitur aus den 80ern, Holzpaneele und jede Menge Kram an die Straße.

Blinzelnd schaute Untiedt zum Himmel und stemmte die Hände in die Hüfte. „Nicht, dass es nächste Woche noch regnet.“

„Wieso dat denn, büst bang, dat de Kladderadatsch hier an de Stroot natt ward? Dünnersdag is Sperrmüll. De holen dat Schiet wech, ob dat nun natt is oder nich. Und ganz ehrlich, Kaschi, de Lüüt ut Polen und sonst wo, de mit eern Kastenwogen de Stroot ob un dol düsen doht, de wulln den dorsen Schiet ok nich hebben. Lot man, min Jung, dat is allns in Ordnung, dat de Mist wechkummt. Mog di man nich allto veel Gedanken.“ Damit klopfte der alte Schlömer Untiedt auf die Schulter, setzte sich auf eine Sessellehne und wischte sich mit seinem Taschentuch die Stirn. Schuldbewusst und doch irgendwie erleichtert stellte Untiedt fest, dass sein einundachtzigjähriger Nachbar nun auch Erschöpfungssymptome zeigte. Allerdings hatte Herbert auch schon die Straße fertiggefegt, als Untiedt selbst noch in seiner Küche beim Frühstückskaffee gesessen hatte.

„Hebbt jem dat nun endlich torecht?“, rief Gerda Schlömer leicht vorwurfsvoll die Auffahrt runter und schaute demonstrativ auf ihre Armbanduhr. Ihr Mann Herbert lüftete auch sogleich seinen Hintern und tät-schelte Untiedt zweimal freundschaftlich die Schulter. „Denn komm man Essen fassen.“

Nach dem zweiten üppigen Teller Bratkartoffeln ließ sich Untiedt erschöpft in den Stuhl zurückfallen. „Deine Bratkartoffeln sind die Wucht, Gerda!“, schnaufte er anerkennend und spülte mit einem großen Schluck kalten Bieres nach. „Noch eines?“, fragte Herbert und stand, ohne die Antwort abzuwarten, mit den leeren Flaschen in der Hand auf.

„Nicht für mich, Herbert. Danke!“

„Du kannst auch ein alkoholfreies von mir haben“, sagte Herbert Schlömer nun auf Hochdeutsch. Amtssprache! Schon vor Jahrzehnten hatte er aufgehört, Alkohol zu trinken. „Für Gerda!“, sagte er, wenn man ihn nach seinen Gründen fragte. Das musste reichen, und insgeheim hatte Untiedt sich über sich selbst geärgert, als er Herbert einmal beiläufig und unbedacht danach gefragt hatte. Wenn er selbst jetzt ein Bier trank und dann gleich danach nach Kiel fuhr, war es nicht er, der sich rechtfertigen musste. Aber jemand, der aus welchen Gründen auch immer nichts trank, musste das ständig tun.

„Na gut, Herbert. Jetzt stehst du ja schon. Ein bleifreies nehme ich noch, aber dann muss ich mich langsam fertig machen. Montag ist wieder Arbeit angesagt.“

„Nun hast du das ja aber auch gut gehabt, Karsten“, sagte Gerda, und Untiedt verstand sofort, was sie meinte. Fast zwei Wochen hatte er hier verbracht, und die ganze Zeit über hatten sie über zwanzig Grad und Sonnenschein gehabt. Absolut außergewöhnlich für Ende April, sollte man meinen, aber tatsächlich war das in den vergangenen Jahren öfter vorgekommen. Zumindest vorerst wäre Dithmarschen ein Gewinner der Klimaerwärmung, hatte er zu seinen alten Nachbarn gesagt. „Aber nur, wenn uns der Laden nicht von hinten vollläuft“, war Gerdas Antwort darauf gewesen. Sie hatte den harten Frühjahrssturm nicht vergessen, an den sich die Schönwetterperiode direkt angeschlossen hatte. Zwar hatte Untiedt in dem Moment nicht verstanden, was Gerda damit meinte, dass ihnen der Laden von hinten zuliefe, doch weil er an dem Grill-abend, als sie das gesagt hatte, gerade aufgestanden war, um noch ein Fläschchen Portwein für Gerda zu holen, sie trank nämlich im Unterschied zu ihrem Mann durchaus gerne mal einen Schluck, hatte er nicht weiter nachgefragt.

„Ja, das waren wirklich erholsame zwei Wochen, auch wenn das Haus jetzt eine einzige Baustelle ist. Ich finde das im Übrigen super nett von euch, dass ihr das mit den Handwerkern regelt. Von Kiel aus könnte ich das gar nicht bewerkstelligen.“

„Das ist doch selbstverständlich, min Jung. Und für Herbert ist das nur gut, wenn er was um die Ohren hat. Sonst tigert der mir nur im Haushalt vor den Füßen rum“, sagte Gerda und schielte ums Eck, um zu gucken, ob ihr Mann mit den Bierbuddeln schon wieder zurückkam.

„Also ist das für dich gut, wenn Herbert was zu tun bekommt“, lachte Untiedt.

„Nun werd’ mal nicht unverschämt, Karsten, und iss lieber deinen Brathering.“ Mit diesen spitzen Worten schob sie Untiedt noch den letzten Fisch auf den Teller und fing an, das übrige Geschirr zusammenzustellen. Obwohl er wusste, dass sie ihre Empörung nur spielte, schaffte sie es trotzdem, ihn zu verunsichern. Seit gut acht Monaten verbrachte er wieder mehr Zeit in Dithmarschen, nachdem er lange Jahre die Heimat seiner Jugend, so gut es eben ging, gemieden hatte. In dieser kurzen Spanne war ihm das alte Ehepaar, das er eigentlich schon länger kannte, ans Herz gewachsen, und auch sie freuten sich über die Belebung ihrer Nachbarschaft. Darüber hinaus waren die beiden ihm eine unschätzbare Hilfe. Gerade jetzt, wo er das kleine Haus von Grund auf modernisieren lassen wollte.

„Vielen Dank noch mal für deine Hilfe, Herbert. Ohne dich hätte ich die Bude ganz sicher nicht so schnell leer räumen können“, sagte Untiedt, als Herbert mit zwei kalt perlenden Flaschen alkoholfreien Bieres zurückkam. Gerda brachte unterdessen das schmutzige Geschirr ins Haus. Untiedt durfte nicht helfen.

„Mach da mal nicht so viel Gewese von, Kaschi. Ich bin ja froh, wenn Gerda mich nicht immer bei die Büx bekommt. Haushaltsauflösung ist die reinste Entspannung verglichen mit dem Unsinn, den sie andauernd mit mir vorhat.“ Just in dem Moment kam seine Frau wieder zurück, und Herbert schaffte es noch so gerade eben, Untiedt verschwörerisch zuzuzwinkern. Gemeinsam stießen sie auf Gerdas Bratkartoffeln an und hielten ein kurzes Pläuschchen. Dann verabschiedete sich Untiedt, ließ zur Sicherheit noch einmal seine dienstliche Telefonnummer da, die die beiden Alten sowieso schon hatten, und verschwand durch das Tor im Gartenzaun auf seine Seite.

Im Haus angekommen, beschlich ihn ein komisches Gefühl, und er schaute noch einmal durch alle Räume. Es roch immer noch nach altem Mann. Und was man vor wenigen Stunden mit gutem Willen so gerade eben als Achtziger-Charme hätte durchgehen lassen können, sah jetzt schlicht traurig aus und schrie nach Sanierung. Einzig ein Sekretär war übrig geblieben. Ein Möbelstück, das dereinst nur durch Zufall den Brand auf dem Hof seiner Eltern überlebt und das sein Vater in dieses Häuschen gerettet hatte.

Zeit für eine Dusche, beschloss Untiedt, nahm frische Wäsche aus seiner Reisetasche und ging ins Bad. Unter der Duschbrause hörte er das Klingeln seines Handys nicht, und deshalb machte er sich in aller Ruhe fertig für die Rückfahrt nach Kiel, zufrieden mit sich und dem vollbrachten Tagwerk. Gerade stopfte er die gebrauchte Wäsche in einen Seesack, da klingelte das Handy erneut. Wischnoreks Nummer.

„Mensch Karsten, wo treibst du dich rum? Ich hab’ schon versucht, dich auf Festnetz anzurufen.“

„Hallo Margit“, zwang Untiedt sich, seine Chefin zu duzen. Nach einem Seminar für Führungskräfte hatte sie vor wenigen Monaten allen ihr direkt unterstellten Kommissaren das Du angeboten. Eine Geste, auf die Untiedt gut hätte verzichten können. Vielleicht war er einfach zu steif, aber eine gewisse dienstliche Distanz war ihm immer recht gewesen. Doch als Einziger in der gesamten Abteilung das Du abzulehnen, hatte er sich auch nicht getraut. Nun also Margit. „Ich bin im Koog. Was gibt es denn, was nicht bis Montag hätte warten können?“

„Wo bist du?“

„Im Koog. In Dithmarschen, mein Häuschen. Ich hab’ Ihnen … dir davon erzählt.“ Untiedt merkte, wie seine Zufriedenheit eine Delle bekam und langsam einer leicht gereizten Stimmung wich.

„Oh, das ist gut, Karsten. Dann kannst du dich gleich mal in Heide bei Michels melden. Du kennst ihn doch noch?“

Natürlich kannte er den Leiter der Kriminalpolizeidienststelle Heide noch. Es war vielleicht ein gutes halbes Jahr her, dass er mit dem Team seiner Heider Kollegin Katja Greets einen aufreibenden Fall gelöst hatte. Und der Michels war in seinen Augen ein absolut guter Leiter des Heider Kriminalkommissariats.

„Und was soll ich mit Michels besprechen? Immerhin scheint es ja wichtig zu sein, wenn du mich vor meinem letzten freien Wochenende anrufst.“

Es entstand eine kurze Pause, die Untiedt nicht zu deuten wusste. Schließlich fragte er nach: „Margit, bist du noch dran?“

„Lass dir das am besten von den Heidern erklären. Ich hab’ grad keine Zeit. Ist ja auch mein Wochenende, das vor der Tür steht, Karsten. Da muss ich verdammt noch mal auch an mich denken. Ich arbeite einfach zu viel. Wenn Fragen sein sollten, melde dich am Montag bei mir. Tschüss Karsten.“ Und klick!

Leicht konsterniert oder doch eher ziemlich verdaddert schaute Untiedt auf das Display seines Handys, als könnte er dort eine Erklärung für dieses merkwürdige Telefonat finden. Unschlüssig, was er nun machen sollte, drehte er sich im Wohnzimmer des kleinen Hauses einmal um sich selbst, sah die vergilbte Tapete und die alten Spinnenweben, die hinter den jetzt rausgeschmissenen Möbeln zum Vorschein gekommen waren, aber eine Idee, was er von dem Telefonat mit der Wischnorek halten sollte, fand er in der Leere des Häuschens nicht. Also setzte er sich im Schneidersitz auf den abgewetzten Teppich und durchforstete seine Kontaktliste im Handy nach der Nummer von Michels.

2

„Moin Karsten, wir warten schon auf dich. Macht auch nichts, wenn du ein bisschen schneller hier sein kannst.“

„Katja, bist du das?“ Untiedt war sich sicher, Michels’ Nummer gewählt zu haben. Aber die Stimme am anderen Ende der Leitung war definitiv eine Frauenstimme. Eine recht unterkühlte Frauenstimme, die er kannte.

„Natürlich bin ich das. Wer denn sonst?“ Jetzt war es Katja Greets, die leicht irritiert schien.

„Hallo Katja, hier ist Karsten …“

„Moin Karsten, so weit waren wir schon. Sag mal, hast du getrunken? Ich hab’ dich hier schon vor ein paar Stunden erwartet.“

Untiedts Urlaubserholung löste sich gerade in rekordverdächtiger Geschwindigkeit in Wohlgefallen auf. Irgendetwas lief da also schon länger hinter seinem Rücken, und mindestens die Wischnorek hatte es nicht für nötig gehalten, ihn ins Bild zu setzen. Offenbar hatte sie vor wenigen Minuten nicht einmal den Schneid gehabt, ihm zu sagen, was eigentlich los war, und das auf Michels abgewälzt. Da konnte also nur irgendeine Sauerei dahinterstecken, vermutete er, und die liebe Margit hatte nicht den Anstand, ihm persönlich zu sagen, was vor sich ging.

„Eigentlich habe ich Michels’ Nummer gewählt, Katja. Und dann bist du auf einmal am Apparat. Und du erzählst mir dann, dass ihr auf mich wartet. Kannst du mir das bitte einmal erklären?“

„Du hast echt keine Ahnung, oder?“

„Kein Stück.“ Untiedts Stimmung schwankte mittlerweile zwischen Wut und Ratlosigkeit, und das konnte Katja Greets gut heraushören.

„Ok, Kurzform, Karsten. Michels ist längerfristig krank. Vermutlich hast du seine Büronummer gewählt …“

Untiedt brummte zustimmend.

„… und bis klar ist, wer endgültig für ihn die Vertretung übernimmt, gehen Anrufe an ihn auf mein Handy. Außerdem haben wir auch sonst massiven Personalmangel, und das LKA, sprich die Wischnorek, hat zugesagt, uns auf noch unbestimmte Dauer jemanden zu schicken. Dich! Und damit nicht genug, Karsten, hat auch noch die Eider in Wollersum eine Leiche ans Ufer gespült.“ Katja Greets holte Luft.

So langsam dämmerte Untiedt, was da abgelaufen war, und er hätte kotzen können. Nicht, weil er jetzt mit dem Heider Ermittlungsteam arbeiten sollte. Die Truppe war absolut in Ordnung. Jedenfalls hatte er sie so in Erinnerung. Aber dass er einfach übergangen worden war, dass die Wischnorek es nicht einmal für nötig hielt, mit ihm zu sprechen, und zwar rechtzeitig, das schnürte ihm den Magen zu und zeigte, dass er mit seinem sonstigen Gefühl richtig lag. In Kiel stand er auf dem Abstellgleis. Wischnorek wollte ihn loswerden. So viel war klar. Aber einen Grund dafür kannte er nicht. Vermutlich gab es nicht einmal einen. Er war kein Kalle Blomquist und kein Columbo. Geschenkt. Aber er machte seine Sache ordentlich, war er sich sicher. Er hatte sich nichts zuschulden kommen lassen und somit eigentlich auch keinen Grund, sich tiefere Gedanken zu machen. Die Dinge waren, wie sie waren. Trotzdem wusste er, dass die Ruhe und der Schlaf, die er in den letzten beiden Wochen zurückgewonnen hatte, erst einmal weggeblasen waren und er sich ganz sicher wieder etliche Nächte mit der müßigen Frage ruinieren würde, warum die Wischnorek ihn derart gefressen hatte. „Und du bist jetzt in Wollersum?“, fragte Untiedt und versuchte seine Gedanken wieder auf die Füße zu stellen.

3

Zumindest würde er Katja Greets frisch geduscht unter die Augen treten, nachdem sie sich monatelang nicht gesehen hatten. Angesichts des für ihn aufwühlenden Telefonats kam ihm dieser befriedigende Gedanke recht töricht vor, doch so war es. Er wollte einen guten neuen ersten Eindruck hinterlassen.

Wollersum war von seinem Häuschen aus gesehen quasi um die Ecke. Bei kleineren Radtouren machte er hier öfter halt. Ein bisschen ärgerte es ihn, dass auf dieser improvisierten Parkwiese direkt an der Eider, die früher einmal ein richtiger kleiner Hafen und dann zumindest noch eine Fährstation gewesen war, immer drei, vier Wohnmobile standen, die über Nacht oder nur stundenweise sein Idyll störten. Die Jugendlichen, die auf dem Deich ein Picknick machten oder im Sommer den Holzsteg zum Badevergnügen nutzten, störten ihn hingegen nicht. Sie gehörten einfach hierher, es war ihr Platz und alle anderen nur Gäste. So sah er das jedenfalls. Vielleicht, weil er in seiner Jugend selbst oft genug hier gewesen war und Nachmittage und ganze Nächte am Eiderdeich verbracht hatte. Aber in irgendeinem Internetforum hatte es angefangen. Wollersum wurde zum Geheimtipp erklärt. Und damit war das Ende des echten Geheimtipps besiegelt gewesen. An einem abgelegenen Ort den Sonnenuntergang über der Eider zu erleben oder im Frühjahr oder Herbst Tausenden Nonnengänsen nah zu sein schien genug Wohnmobilisten und Durchreisende anzulocken. So kam es, dass es seit wenigen Jahren gelegentlich eng wurde, in der Idylle. Immer häufiger büßte Wollersum seinen Charme sogar ganz ein, wenn schwedische Motorradtouristen ihr Zelt aufschlugen und Dänen, Hamburger und Ruhrpottler sich beim Morgenkaffee mürrisch anschauten, weil ihnen der Internetblog doch eigentlich ein einsames Camperglück versprochen hatte, das sie nun teilen mussten.

Diesen merkwürdigen Gedanken hing Untiedt nach, als er zunächst auf einspurigen Straßen und dann auf Plattenwegen unter den alten Schlafdeichen quer durch die Marsch fuhr. Und wie jedes Mal, wenn er auf diesen Wegen unterwegs war, versuchte er sich vorzustellen, dass diese Deiche noch bis 1973 die Marschebenen vor Überschwemmungen geschützt hatten. Deiche, die jetzt scheinbar mitten im Land standen und jeden Touristen enttäuschten, der dahinter das Meer vermutete.

Als Katja Greets sah, wie ein goldener, alter Granada am Flatterband, das den Deichdurchbruch absperrte, schaukelnd zum Stehen kam, wusste sie, dass Karsten Untiedt in wenigen Augenblicken bei ihr sein würde. Ein Kollege in Uniform wies Untiedt einen Parkplatz auf dem unfassbar gepflegten Reiterhof hinter dem Deich zu und schützte so die Spurenlage auf dem Parkplatz, auch wenn Holger Jungbier von der KTU ihr schon gesagt hatte, dass hier mit allergrößter Wahrscheinlichkeit nichts zu finden sein würde.

Bereits seit einer halben Stunde hatte sie nichts Sinnvolles mehr zu tun gehabt. Im Grunde genommen hätte sie sich mit Untiedt auch auf dem Revier treffen können. Aber da er nun schon einmal fast vor Ort war, sollte er sich auch selbst einen Überblick verschaffen können, hatte sie entschieden.

Er war noch gar nicht unter dem Absperrungsband hindurchgeschlüpft, das freundlicherweise ein Kollege für ihn etwas anhob, da konnte er schon Katja Greets unter den erstaunlich wenigen Menschen hier am Leichenfundort ausmachen. In seinen Augen war sie eine durchaus sportlich attraktive Frau, an der die Jeans und das olivgrüne T-Shirt wie sorgfältig ausgewählte Kleidung wirkten. Wohingegen er, auch in Jeans und T-Shirt, immer etwas schnodderig angezogen schien. Das war ihm selbst absolut bewusst, es störte ihn sogar, aber er konnte einfach nichts dagegen tun.

Auch sie hatte ihn erkannt und kam ihm trampelig stapfend entgegen. Ein ziemlich irritierender Anblick, denn diese Grobmotorik passte überhaupt nicht zu ihr. Ein zweiter Blick offenbarte ihm, dass sie in Gummistiefeln steckte, die mit Sicherheit etliche Nummern zu groß für sie waren. „Moin Karsten!“, schmetterte sie ihm in ihrer jovialen Art entgegen und streckte die Hand aus. Untiedt nahm sie an und begrüßte Katja Greets ebenfalls, wobei er sich daran erinnerte, dass sie sich bei ihrer letzten Begegnung zur Verabschiedung umarmt hatten. Aber das war wohl schon ein paar Tage zu lange her, als dass sie sich jetzt zur Begrüßung um den Hals fielen, und vielleicht wäre das auch der Situation nicht angemessen gewesen. Jedenfalls war die Art der Begrüßung etwas, was sich in Untiedts Gedanken verhakte.

„Dann klär mich mal auf, Katja!“

„Was meinst du?“, fragte sie, „warum du hier bist, oder was wir hier gefunden haben?“

Untiedt grinste freudlos. „Was wir hier haben! Das andere kann warten, auch wenn ich absolut keine Ahnung habe, was da überhaupt los ist.“

„Ich auch nicht, Karsten“, sagte sie, legte eine Hand zwischen seine Schulterblätter und schob ihn mit sanftem Druck Richtung Eiderufer. „Du hast gut Farbe bekommen“, stellte sie zusammenhangslos fest, was Untiedt ein Grummeln entlockte, das mit gutem Willen ‚kann sein‘ heißen konnte. Am mit Steinen befestigten Ufersaum hockten drei Personen in weißen Ganzkörper-Anzügen um ein undefinierbares Bündel herum, und wenn er selbst einen direkten Blick auf dieses Bündel, das vermutlich die Leiche war, erhaschen wollte, blieb nur noch ein Platz unterhalb der Befestigung im unappetitlich weich aussehenden Morast übrig, was auch Katjas Gummistiefel erklärte. Unschlüssig blieb Untiedt stehen, schaute abwechselnd auf seine etwas ausgetretenen ledernen Segelschuhe und Katjas Gummistiefel, was diese bemerkte. Ohne ein Wort zu sagen, zog sie die Stiefel aus und reichte sie Untiedt. Als er ihre knallig rot lackierten Fußnägel sah, brach ein glucksender Lacher aus ihm heraus, den er sofort wieder einfing. Nie im Leben hätte er auch nur einen Euro darauf gewettet, dass Katja Greets lackierte Fußnägel haben könnte, und dann zog sie hier auf der mit Schafsköteln garnierten Wiese fein pedikürte Füßchen aus völlig verschlammten übergroßen Gummistiefeln.

Obwohl sie sich etwas beleidigt fühlte, ignorierte Katja Greets Untiedts Ausbruch. Holger Jungbier allerdings, der an der Leiche hockte, drehte sich zu ihnen um und richtete sich auf, seine Einmeterfünfundneunzig bewusst in Positur bringend. Betont langsam hob er seinen Arm und drehte sein Handgelenk so, dass es aussah, als wollte er auf die Uhr schauen. „Untiedt! Schön, dass Sie es heute noch einrichten konnten. Nehmen Sie ruhig meine Gummistiefel. Katja und ich haben keinen Fußpilz. Ich gehe mal davon aus, bei Ihnen ist das ebenso, oder?“

Ach richtig, dachte Untiedt, nicht alle in dem Heider Team waren ihm sympathisch. Es würde ihm immer ein Rätsel bleiben, wieso Katja Greets mit diesem Typen eine Affäre gehabt hatte. Aber was Frauen so alles in Männern sahen, würde er ohnehin nie verstehen. Also zuckte er mit den Mundwinkeln, brachte dem leitenden Forensiker ein unterkühltes „Jungbier“ als Gruß entgegen und zog widerwillig seine Schuhe aus und die Gummistiefel, die auch ihm noch zu groß waren, an. Unbeholfen stakste er los, als Katja Greets ihm hinter seinem Rücken noch ein „Achtung“ nachrufen wollte. Sie wurde aber jäh vom Klingeln ihres Handys unterbrochen. Es blieb beim guten Willen.

Dicht an den Leichenfledderern, wie er sie in Gedanken nannte, in ihren Ganzkörperkondomen vorbei über die klobigen Steine der Uferbefestigung hinwegkletternd, versuchte er nun möglichst unfallfrei zu der Stelle zu gelangen, von der aus er einen Blick auf die tote Person werfen konnte. Schließlich gelang es ihm. Der Schlamm schloss sich zäh um seine Beine, sobald er ruhig stand, und Jungbier erbarmte sich, ein paar erklärende Worte an ihn zu richten: „Die Tote ist vermutlich mittleren Alters, in den Einmetersechzigern groß gewesen, blond, sehr wahrscheinlich sportlich, jedenfalls schlank …“

Weiter kam Jungbier nicht. Flatsch! „Hrrrch, scheiße verdammt, chrrt!“, hustete, krächzte und spuckte Untiedt.

Erst allmählich hatte Untiedts Gehirn aus dem grausigen Anblick, der sich ihm bot, ein Bild zusammengesetzt. Als dann im gleichen Moment auch noch eine Brise den Leichengeruch zu ihm herübergeweht hatte, drehte sich augenblicklich sein Magen um, und Gerdas Bratkartoffeln samt Brathering pressten sich mit aller Vehemenz zurück in seine Speiseröhre. Reflexartig hatte er sich abgewandt, war aber im Schlamm hängen geblieben, hatte das Gleichgewicht verloren und war mit verdrehten Beinen der Länge nach in den Schlick geklatscht. Diese plötzliche Machtlosigkeit über seinen Körper überdeckte zwar den Brechreiz, trotzdem musste Untiedt ein paar Bröckchen und sauren Schleim ausspucken, und er brauchte zusätzlich ein paar Sekunden, um sich zu sammeln. Zu all seinem Unglück musste er schnell feststellen, dass es ihm mit seinen im Schlick gefangenen Füßen und ohne festen Grund, auf dem er sich hätte abstützen können, unmöglich war, alleine wieder auf die Beine zu kommen. Freundlicherweise machte sich aber sofort eine der verhüllten Forensikerinnen daran, ihm zu helfen. Dankbar nahm Untiedt ihre ausgestreckte Hand und wunderte sich gleichzeitig, dass nicht einmal ein hämisches Grinsen auf Jungbiers Rasierwasserwerbungsgesicht zu sehen war. Als ob sie seine Gedanken erraten hätte, raunte die zierliche, aber beherzt zupackende kleine Kriminaltechnikerin ihm zu: „Ist Holger vorhin auch passiert.“ Ein Blick auf Jungbier und dessen zumindest bis zu den Knöcheln strahlendweißen Aufzug irritierte ihn. Aber nur kurz. Natürlich hatte dieser einfach ein neues weißes Überziehdings aus seinem Köfferchen hervorzaubern können, und er sah wieder aus, als sei nichts gewesen. Ein Umstand, der ihm verwehrt bleiben würde, wie Untiedt feststellte. Resigniert schaute er an sich hinunter und musste erkennen, dass er mit seinen matschigen Händen den Zustand seiner Kleidung keinesfalls entscheidend verbessern konnte. Also versuchte er, so gut es ging, Haltung zu bewahren und sich die Erklärungen weiter anzuhören und so zu tun, als sei nichts geschehen.

„Der Anblick hat uns alle schockiert“, sagte Jungbier, und obwohl der Satz in Untiedts Ohren doppeldeutig klang, war klar, dass nur die Tote gemeint sein konnte. Vorsichtig ging Untiedt in die Hocke und nahm den Leichnam, oder besser das, was von ihm übrig war, in Augenschein. „Die Tote muss schon eine ganze Weile im Wasser gelegen haben.“

„Können …“, Untiedt räusperte sich, „können Sie ‚eine ganze Weile‘ noch etwas eingrenzen?“

Jungbier schüttelte den Kopf. „Mehrere Tage. Natürlich werden wir das noch präzisieren, aber aus der ersten Betrachtung heraus geht das nicht.“

Untiedt nickte in Erwartung genau dieser Antwort.

„Das hier sind Bisswunden“, fuhr Jungbier fort und zeigte auf markante Stellen an Armen und Beinen der Leiche. „Die sind aller Wahrscheinlichkeit nach post mortem zugefügt worden und in dem Fall logischerweise keine Todesursache. Femke …“, und dabei zeigte er auf die Frau, die Untiedt so freundlich aufgeholfen hatte, „… hat schon den Verdacht geäußert, dass es sich dabei um Seehundbisse handeln könnte.“

„Ich hab’ vorhin vorsorglich schon einmal eine Bekannte von der Uni Hannover angerufen. Die versucht nachher vorbeizukommen, um sich das mal anzusehen“, schaltete sich Femke Oberländer ein. „Und wenn sie es nicht schafft, kommt sie später zu uns ins Institut.“

„Aus Hannover?“, fragte Untiedt etwas ungläubig, und endlich erkannte er die junge Frau wieder. Früher hatte er sie nur in normaler Kleidung gesehen, und aus ihrem weißen Schutzoverall guckte zudem lediglich ihr Gesichtsoval hervor. Ein hübsches Gesicht. Aber so ganz ohne Haare und auch noch merkwürdig eingerahmt, hatte es zuvor irgendwie fremd gewirkte.

„Aus Büsum“, stellte Femke Oberhauser klar, „die Uni Hannover ist da mit ihrem Forschungsinstitut für maritime Fauna ansässig. Das ist ein wirklich großer Laden. Den kennt hier bloß kaum einer, und logischerweise kennen die sich mit allem aus, was es hier in der Gegend so an Getier gibt.“

„Danke, Femke“, sagte Jungbier und stellte damit klar, dass er nun wieder das Wort und die ungeteilte Aufmerksamkeit einforderte. „Auffällig ist, und das erklärt die Unförmigkeit der Leiche viel mehr als der lange Verbleib im Wasser, dass etliche Gliedmaßen gebrochen, gequetscht, ja teilweise buchstäblich zertrümmert worden sind.“

Der Anblick der Toten setzte Untiedt immer noch zu, aber die Erklärungen halfen ihm, eine Distanz aufzubauen. Nachdem er den ersten Schock überwunden hatte, konnte er jetzt tatsächlich seine Aufmerksamkeit auf Details richten. „Habt ihr schon irgendeine Idee, was denn nun die eigentliche Todesursache ist?“, fragte er an Femke Oberhauser gerichtet, um ihr zu verstehen zu geben, dass er sie wiedererkannte, und weniger, um Holger Jungbier zu verärgern.

Diese schaute auch prompt kurz zu ihrem Chef, ehe sie antwortete: „Eindeutig nein. Wir haben hier eine Unzahl an denkbaren Ursachen. Schiffsschrauben, alles ist möglich. Jede Menge stumpfe Verletzungen. Der Körper scheint wie durch die Mangel gedreht. So etwas hat von uns hier noch niemand gesehen.“

„Nicht zuletzt ist Ertrinken eine mögliche Ursache“, schaltete sich Jungbier wieder dazwischen.

Untiedt hatte genug gesehen, und dass sie sich hier nicht am Tatort befanden, war allemal klar geworden. „Was glauben Sie, wann …“

„Sobald wie möglich, Untiedt. Wie Sie ja selbst sehen, gibt es hier reichlich Arbeit für uns. Erst einmal müssen wir den Leichnam bergen, bevor die Flut wieder ihren Höchststand erreicht.“ Damit wandte Jungbier sich leicht von Untiedt ab und seiner Kollegin zu. Die Audienz ist also beendet, dachte Untiedt. Zeit, mit Katja zu sprechen. Mühsam kämpfte er sich die wenigen Meter bis zum festen Ufer zurück, strauchelte abermals, griff dabei noch einmal fluchend in den graubraunen Schlamm und erspähte seine Kollegin in einiger Entfernung am Deichdurchbruch mit einer Jugendlichen sitzend.

„Hauptkommissar Untiedt, hallo“, stellte er sich dem etwa 15-jährigen Mädchen vor.

Wortlos wurde er von oben bis unten gemustert, was Untiedt angesichts seines komplett verschlammten Auftritts auch nicht weiter wunderte. „Hallo“, kam schließlich doch noch fast tonlos eine Antwort aus dem Mädchen heraus.

Gerade als Untiedt nachhaken wollte, um den Namen des Mädchens zu erfragen, klinkte sich Katja Greets ein. „Das ist Melissa. Sie wohnt hier in dem Jugendheim. Melissa hat uns angerufen, richtig?“

Melissa schaute sie an und nickte. Dann nahm sie einen Zug von der Zigarette.

„Das hast du richtig gemacht, Melissa“, sagte sie weiter und wandte sich dann Untiedt zu. „Außerdem hat sie bewusst den anderen Heimkindern nichts gesagt und dafür gesorgt, dass niemand ans Ufer zu der Leiche gegangen ist.“

Untiedt, der nach dem abschätzigen Blick des Mädchens immer noch mit dem Zustand seiner Kleidung beschäftigt war, verstand zunächst nicht, was die Bemerkung seiner Kollegin bei ihm bewirken sollte. Als diese ihm zusätzlich aber noch einen eindringlichen Blick zuwarf, machte es Klick. „Oh, sehr umsichtig, Melissa“, lobte er, was aber nur mit einem leisen „Pfft“ quittiert wurde. Obendrein zog sich Melissa, die etwas höher auf der Betonschräge des Deichdurchbruches saß, ihren schwarzen Iron-Maiden-Pullover über die angezogenen Knie und umschloss sie mit den Armen. Untiedt durchzuckte es wie ein Blitz. Er kannte dieses Motiv, schaute zur Toten, guckte auf die zusammengekauerte Melissa und wusste, dass er heute Nacht aus einem anderen, einem alten Grund nicht würde schlafen können. Natürlich würde er Wischnorek die Schuld an seiner Schlaflosigkeit geben, aber ihm war jetzt schon klar, dass es diesmal nicht ihre Schuld gewesen sein würde, wenn er morgen früh mit geröteten Augen und völlig fertig aus seinem Bett gekrochen käme. Ein eiserner Ring zog sich um seine Brust.

Etwas an der Reaktion ihres Kollegen kam Katja Greets merkwürdig vor, merkwürdig bekannt. Es gab nichts, was dieses junge Mädchen im Augenblick noch zu ihren Ermittlungen hätte beitragen können. Sie waren hier jetzt also endgültig fertig. Und von dem Reiterhof her sah sie auch schon ihre Kollegin vom psychologischen Dienst zu sich herüberkommen. Deshalb verabschiedete sie sich mit ein paar weiteren freundlichen Worten von Melissa und übergab sie in die Obhut der Psychologin, was angesichts dessen, was Melissa zu sehen bekommen hatte, sicher das Beste war. Und so wie es aussah, würde sie sich ein wenig um Untiedt kümmern müssen.

4

Katja Greets hatte Untiedt eine Mülltüte organisiert. Die reichte sie ihm, während sie ihm erklärte, dass sie veranlasst hatte, den Wasserstand der Eider mithilfe des Eidersperrwerks zu manipulieren, also niedrig zu halten.

„Und das machen die einfach so?“, fragte Untiedt nach.

„Das war interessanterweise gar kein Problem. Die schließen das Wehr einfach ein Stück weit, und schon drückt nicht mehr so viel Wasser in die Eider. Außerdem lässt es das Wetter gerade zu. Das hat uns auf alle Fälle eine Menge Zeit geschenkt.“

Katja Greets’ Ausführungen folgend, stopfte Untiedt seine verdreckte und modrig müffelnde Kleidung in die Tüte und ließ sie schließlich in der Kofferraumschlucht seines Granadas verschwinden. Ein paar Kolleginnen und Kollegen von der Schutzpolizei hatten ihm belustigt zugeschaut, wie er sich aus seinen Klamotten schälte, und so eine große Blonde von der hiesigen Polizeistation konnte sich eine flapsige Bemerkung nicht verkneifen. Aus irgendeinem Grund musste Untiedt aber über sich selbst mitlachen, und die ganze unwirkliche Situation, in der er sich so plötzlich befand, verlor für einen Moment an Schärfe. Aber nur kurz, denn der innere moralische Kompass aller verbot das Lachen in wenigen Metern Entfernung zu einem fast zombiehaft entstellten Leichnam.

Bei all dem Ärger der letzten Stunden war Untiedt dankbar für die ungewöhnlich warme zweite Aprilhälfte. Jetzt saß er nur mit Unterhose bekleidet hinterm Steuer, lenkte sein wackeliges Ford-Dickschiff durch den Koog, und sein freier Oberkörper erregte bei den anderen Verkehrsteilnehmern keinerlei Aufmerksamkeit. Nicht, dass seine spärlich behaarte und käsig weiße Brustpartie jemals irgendwo bei irgendwem besondere Reaktionen hervorgerufen hätte. Er war bei der Fahrt nach Hause einfach nur froh, nicht noch mehr demütigende Momente erleben zu müssen.

Der Anflug von innerem Frieden, den er in den letzten Tagen in der Nachbarschaft von Gerda und Herbert gefunden hatte, war schon jetzt Geschichte. Seine Augen hefteten sich an den alten Schlafdeich, der zu seiner Rechten an ihm vorüberzog, und eine uralte, nie beantwortete Frage kam in ihm hoch: Sind die Riefen im Deich Trampelpfade der Schafe, oder scheint nach ewigen Zeiten die innere Struktur des Deiches nach außen durch?

Als Teenager, in der Zeit, als er hier in der Marsch aufgewachsen war, hatte er Kilometer um Kilometer mit dem Rad fahren können. Immer unter den alten Deichen entlang und immer mit der Frage nach ihrer Struktur. Doch nie hatte er jemanden danach gefragt. Vielleicht, weil er nie daran gedacht hatte, wenn er den Deich nicht sah. Und wenn er den Deich neben sich hatte, war er in der Regel allein oder abgelenkt. Am Deich entlangfahren, egal ob mit dem Fahrrad oder mit dem Granada, hieß Dinge im Kopf sortieren wollen. Untiedt ging vom Gas, obwohl er ohnehin schon langsam fuhr. Einen Hinweis, warum die alten Deiche aussahen, wie sie aussahen, hatte er erhalten. Es war in einem Naturfilm gewesen. Vermutlich mit diesem tauchenden Franzosen, dessen Namen er sich nicht merken konnte. Jedenfalls ging es um Walhaie. Seitdem wusste er, dass Schlafdeiche aussehen wie die Körper von Walhaien. Deswegen war er sich auch jetzt wieder beinahe sicher, dass es eine innere Struktur sein musste, die nach außen drückte. Auf jedem Deich, auch auf den modernen, konnte man Schaftrails sehen. Aber nicht in dieser Regelmäßigkeit und Parallelität über Kilometer hinweg. Er würde das Geheimnis der Schlafdeiche schon noch lüften, nahm er sich vor. Irgendwann.

Der Deich, der seine aufkommende innere Unruhe geradegezogen hatte, lief nun in einen anderen Deich aus, und die Straße floss wieder verloren in eine weite Marschebene ohne echte Haltepunkte für Auge und Geist. Vor nicht einmal zweieinhalb Stunden war er bestens gelaunt, zufrieden und satt unter die Dusche gestiegen. Und gleich, wenn er, was eigentlich ein aussichtsloses Unterfangen war, sich an Gerda vorbei in sein Häuschen geschlichen haben würde, würde er wieder duschen müssen. Den verkrusteten Morast sah er schon im Ausguss verschwinden. Aber der übrige Dreck, Wischnoreks Attacke gegen ihn, das schrecklich entstellte Bild der Leiche, seine Erinnerungen, die würde er nicht so einfach mit Seife wegbekommen.

Schließlich hatte er es doch an Gerdas wachsamen Augen vorbei ins Haus und unter die Dusche geschafft, und ein frisches T-Shirt samt Strümpfen und einigermaßen akzeptabler Jeans konnte er auch noch aus seinem Koffer kramen. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass noch viel vom Tag übrig war, viel mehr, als seine letzten bleiernen Gedanken ihn glauben machen wollten.

Als er von der Auffahrt wieder auf die Straße rollte, meinte er Gerda in ihrem Küchenfenster gesehen zu haben, aber immerhin würde er ihr seine weitere unfreiwillige Anwesenheit hier im Koog frühestens heute Abend, wahrscheinlicher noch erst am nächsten Tag erklären müssen.

Auf dem Heider Revier hatte man ihn bereits erwartet. Der Kollege, der den Einlass besetzte, begrüßte ihn mit Namen, übergab ihm einen Transponder für den rückwärtigen Eingang und zwei Schlüssel, deren Empfang er mit seiner Unterschrift quittierte. Untiedt konnte sich an das Gesicht des Kollegen nicht erinnern. Wenige Schritte, und er fühlte sich, als wäre er niemals weg gewesen. Schnurstracks marschierte er den Flur entlang zu Katja Greets’ Büro, das für ihre damaligen gemeinsamen Ermittlungen auch seines gewesen war. Zu seiner Überraschung war das Büro verschlossen. Sein neuer Schlüssel passte. Der Schreibtisch war untypisch aufgeräumt und bis auf das übliche Büromaterial leer. Auch war für ihn noch nichts hinzugestellt worden, was ihn, angesichts dessen, dass er offensichtlich erwartet wurde, doch verwunderte. Vor nicht einmal einem Jahr hatte man einfach einen zweiten Schreibtisch mit in dieses kleine Zimmer gestellt, und an und für sich war das sogar hilfreich gewesen, dass er und Katja Greets gute Ermittlungsarbeit hatten leisten können.

Ohne sich weiter darüber lange Gedanken zu machen, ging er zum Büro des Kommissariatsleiters. Die Tür stand einen Spalt breit offen. In einer Bewegung klopfte Untiedt an, öffnete die Tür ganz und trat ein. Dass Michels krank war, hatte er mitbekommen, nur war es nicht wirklich in seinem Oberstübchen angekommen. Deswegen war er überrascht, als da nicht Michels, sondern Katja Greets hinter dessen Schreibtisch auf dessen Stuhl saß. „Das ging ja schnell, Karsten“, begrüßte ihn seine Kollegin zum zweiten Mal heute, „hat am Eingang alles geklappt, hast du deine Schlüssel bekommen?“

Untiedt nickte, und noch ehe er etwas sagen konnte, bat Katja Greets ihn, am Besprechungstisch Platz zu nehmen. Etliche Fragen schwirrten ihm gleichzeitig durchs Gehirn, aber er war viel zu überrascht und verwirrt, als dass er sie hätte halbwegs sortieren, geschweige denn in eine sinnvolle Reihenfolge bringen können. Das stand ihm auch deutlich ins Gesicht geschrieben, sodass Katja Greets, als beide saßen, eine Erklärung versuchte. „Michels fällt länger aus. Ehrlich gesagt, ist es sogar ziemlich unwahrscheinlich, dass er überhaupt zurückkommt. Aber behalte das bitte vorerst für dich.“

„Was ist denn mit ihm, ist er krank?“, wollte Untiedt wissen.

„Krebs. Die Bauchspeicheldrüse. Ich habe ihn gestern erst besucht. Er redet zwar davon, dass er so bald wie möglich wiederkommen will, aber seine Frau hat mich beiseitegenommen. Sie ist regelrecht zusammengebrochen, als sie mir gesagt hat, wie es um ihn steht.“ Nun war es Katja, der man ansah, wie es ihr mit dieser Nachricht ging.

Untiedt wusste, dass Michels für Katja Greets mehr war als nur ihr Chef. Er war ihr Mentor und so etwas wie ein väterlicher Freund. Untiedt konnte sich spontan an einige Szenen erinnern, in denen ihm das besondere Verhältnis der beiden aufgefallen war. Mitfühlend griff er über den Tisch und legte seine Hand auf ihren Unterarm. Sie ließ es einen kurzen Moment zu, dann straffte sie sich, zog ihren Arm unter seiner Hand weg und sagte: „Ich hab’ jetzt vorerst sein Büro bezogen. Dann kannst du in meines, solange du zu uns abgeordnet bist.“ Untiedt wollte zu einer Frage ansetzen, aber Katja Greets kam ihm zuvor. Sie griff nach einer Akte, die vorbereitet auf dem Tisch lag, und schob sie zu ihm hinüber. „Hier, das könnte passen. Maja Stöver.“

Untiedt zog die Akte näher zu sich heran, las den Namen, den seine Kollegin ihm gerade genannt hatte, selbst noch einmal und schlug sie auf. Es war der Ausdruck einer Vermisstenanzeige. Halblaut murmelte er den Namen: „Maja Stöver, 29 Jahre alt, 1,66 groß …“

„Oder klein.“

Untiedt blickte kurz zu Katja Greets hinüber, ohne den Kopf zu heben, dann las er weiter: „… 51 Kilo schwer … oder leicht, blond, grüne Augen, sportlich, ein Tattoo auf der Oberschenkelinnenseite … in Form einer Schnecke?“

„Wenn unsere Tote aus Wollersum die vermisste Maja Stöver ist, sollte das doch von Holger leicht herauszufinden sein.“

„Ja, schon“, sagte Untiedt, „aber wer lässt sich eine Schnecke auf die Innenseite des Oberschenkels tätowieren?“

„Das ist doch erst einmal völlig egal, Karsten. Wichtig ist, dass Maja Stöver seit zehn Tagen vermisst wird und alles, was Holger uns bis jetzt über die Leiche gesagt hat, zu ihr passt.“

„Er hat gesagt, dass es sich um eine Frau handelt und sie schon eine Weile im Wasser gelegen hat“, entgegnete Untiedt mit der Nase in der Akte und überflog den Text der Anzeige. Sie war offenbar von einer Freundin aufgegeben worden. Verwandte schien die junge Frau nicht zu haben. Nicht einmal ein Vater oder eine Mutter hatten kontaktiert werden können. Nur eine Vermieterin machte Druck. Sie wollte Maja Stövers Wohnung räumen lassen und weitervermieten, was natürlich völlig absurd war, bei einer Person, die erst so kurz vermisst wurde. Die Vermieterin hatte in den letzten Tagen mehrfach angerufen. Untiedt klappte die Akte zu und legte sie beiseite. „Aber du hast selbstverständlich recht. Das ist naheliegend und lässt sich sicher schnell überprüfen. Die nächste Frage lautet, wie die Tote ums Leben gekommen ist. Vielleicht war es ein Unfall. Ein Suizid ist auch möglich.“

„Eins nach dem anderen, Karsten. Lass uns erst einmal endgültig klären, ob die Vermisste und die Tote ein und dieselbe Person sind. Dann sehen wir weiter.“ Damit griff Katja Greets über den Tisch und zog die Akte wieder zu sich heran. „Was macht dein Häuschen?“, fragte sie beiläufig.

„Dem Häuschen geht es gut. Oder besser: Dem Häuschen geht es an den Kragen.“

„Was soll das denn bedeuten?“

Die Formulierung hatte offenbar ihr Interesse geweckt, und Untiedt fiel dadurch auf, dass Katja Greets’ vorherige Frage bloßer Smalltalk gewesen war. Er beschloss, darüber hinwegzugehen und das Spiel weiter mitzuspielen. „Ich hab’ die Hütte komplett leer geräumt. In der nächsten Woche kommen die Handwerker, hoffentlich, und reißen die alten Leitungen raus.“

„In der Küche?“

„Nein, im ganzen Haus. Fast alle Wasserleitungen, alle Stromkabel. Ich lass den Kasten auf links krempeln. Da kommt alles neu. Wasser, Elektrik, Dämmung. Bis aufs Dach. Das hat mein alter Herr noch machen lassen. Das ist gedämmt und hält. Aber Photovoltaik kommt noch drauf, wenn ich denn ein paar Sonnenpaneele und das nötige Zubehör ergattern kann.“ Ein Hauch von Stolz schlich sich in Untiedts Stimme, als er die geplanten Maßnahmen aufzählte, und nur allzu gerne hätte er Katja auch von seinen Plänen für die neue Einrichtung und den Wintergarten erzählt, der noch dazukommen sollte. Dummerweise hatte sie die Gabe, jemanden mit wenigen Worten ins Hier und Jetzt zurückholen zu können.

„Und wo wohnst du dann die nächsten Wochen?“

Überrumpelt schaute Untiedt seine Kollegin an. Die Frage war ebenso naheliegend wie aus dem Stegreif für ihn unmöglich zu beantworten. „Da hab’ ich mir noch gar keine Gedanken drüber gemacht“, sagte er wahrheitsgemäß. Das Haus war jetzt schon vollkommen leer, und binnen Wochenfrist würde es in eine einzige Baustelle verwandelt worden sein. Zudem war er bis vor drei Stunden noch davon ausgegangen, ab morgen wieder ganz normal in Kiel zu arbeiten und entsprechend auch in seiner Kieler Wohnung zu schlafen. Über das Wochenende würde es noch gehen, aber dann …

Augenblicklich bereute Katja Greets ihre Frage. Die Ratlosigkeit stand ihrem Kollegen ins Gesicht geschrieben. Für sie sah er regelrecht hilfesuchend aus. „Also zu mir kannst du nicht“, fing sie an und merkte, wie hart und abweisend sie klang.

Untiedt hob abwehrend die Hände. „Nein, nein, alles gut! Ich hatte gar nicht vor …“

Hektisch um eine Abschwächung ihrer so harsch vorgetragenen Worte bemüht, unterbrach Katja Greets ihren Kollegen. „Nicht, dass du mich falsch verstehst. Holger hat sich mit seiner Frau gestritten, und vielleicht dauert das noch eine Weile …“

Untiedt klappte die Kinnlade herunter. „Willst du mir erzählen, dass Jungbier bei dir eingezogen ist?“, war es nun er, der ihr ins Wort fiel. An das Theater aus dem letzten Herbst konnte er sich bestens erinnern. Katja Greets, die er damals neu kennengelernt hatte und die, wie er fand, als Frau echt was hermachte, hatte eine Affäre mit diesem Jungbierheini: verheiratet und eine oder zwei Töchter. Daran konnte er sich nicht mehr genau erinnern. Außerdem hatte dieser Schürzenjäger gleichzeitig etwas mit seiner Assistentin am Laufen gehabt. Die hatte er doch gerade erst gesehen, fiel ihm auf. In Gedanken rechnete er nach, und ohne Katjas Antwort abzuwarten, fragte er gleich hinterher: „Sag mal, wieso ist diese Femke Oberhauser da heute eigentlich in Wollersum herumgeturnt? Müsste die jetzt nicht …?“ Er vollendete seine Frage nicht. Stattdessen formte er mit den Händen einen Schwangerenbauch.

Katja Greets vermied den Augenkontakt. „Femke hat ihr Kind verloren. Ist im fünften Monat abgegangen“, sagte sie und versteifte sich plötzlich. „Verdammt, was geht dich das eigentlich an. Du hast dich seit dem Hemke-Fall nicht ein einziges Mal gemeldet, und jetzt plusterst du dich hier auf!“

Katja war explosionsartig richtig laut geworden, und das Letzte, was er heute beim Aufwachen vorgehabt hatte, war, sich mit seiner Ex- und Jetzt-wieder-Ermittlungspartnerin zu streiten. Dummerweise stimmte, was sie sagte. Er hatte sich nach der gemeinsamen Abschlussfeier ihres Teams damals nicht wieder gemeldet. Jetzt damit zu kommen, dass ‚Kontakthalten‘ nicht so sein Ding sei, wäre sachlich sicherlich richtig gewesen, aber ihm war klar, dass er das auf keinen Fall bringen konnte. Sowieso kam er zu dem Schluss, dass er im Augenblick nichts hätte sagen können, was auch nur halbwegs richtig gewesen wäre. Stattdessen stand er auf. „Ich fahre noch zu der Vermieterin. Wenn die mich in die Wohnung lässt, hole ich noch Material für einen DNA-Abgleich.“ Er ging zwei Schritte, blieb kurz vor Katja Greets stehen und drehte die Akte zu sich. Dann notierte er sich Namen und Adressen der Vermissten und der Vermieterin.

„Mach das!“, sagte Katja Greets betont patzig, während er schrieb. Sie wartete, bis Untiedt ihr Büro verlassen hatte. Dann stand sie auf und setzte sich wieder an ihren Schreibtisch. Ihr Bildschirm war mittlerweile schwarz. Sie tippte wahllos eine Taste des Keyboards, und der Computer forderte EKHK Michels auf, sein Passwort einzugeben. Es war sein Bildschirm, sein Schreibtisch, sein Büro. Und sie würde ihn vertreten, bis …? Ja, bis wann? Und dann? Sie gab den Code ein, den sie von ihrem Chef erhalten hatte, und öffnete entschlossen wieder ihre Word-Datei. Es wurde verdammt noch mal Zeit, dass die IT-Abteilung endlich jemanden schickte, der ihren Arbeitsplatz datenschutzkonform einrichtete.

Zuletzt hatte sie unsortiert die Stationen ihrer bisherigen Tätigkeiten und Aufgaben zusammengetragen. Hier machte sie weiter. Erste Kriminalhauptkommissarin Greets klang doch eigentlich ganz gut, dachte sie.

5

Ein Stockwerk tiefer schlug eine Tür zu. Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Als sie sich vor fünfzehn Minuten ins Gebäude geschlichen hatte, war sie ähnlich aufgeregt gewesen wie jetzt. Doch nirgends war auch nur eine Menschenseele gewesen. In absoluter Stille hatte sie ihr Vorhaben umsetzen können, und nun war sie schon wieder auf dem Weg nach draußen. Dumm nur, dass sie genau die Tür nehmen musste, durch die gerade jemand das Gebäude betreten hatte. Ihre Gedanken rasten. Für den Wachdienst war es zu früh. Die Belegschaft war an diesem Mittwoch bereits vor über einer Stunde in den Feierabend gegangen, und Martin, Alexander und Auge mussten auf dem Weg zum Altherrentraining sein. Mittwochs und freitags waren die Männer zum Fußball. Deswegen hatte sie sich, verdammt noch mal, den Mittwoch ausgesucht.

Ihre gehetzten Blicke scannten die Umgebung. Gab es hier irgendwo ein geeignetes Versteck? Angst stieg in ihr auf, und aus dem tristen Treppenaufgang hallten drohend Schritte zu ihr hoch. Schritte, die sie kannte. Sie wollte schreien, zwang sich aber mit aller Macht, gegen die aufkommende Panik zu kämpfen. Sie würde keinen Unterschlupf mehr finden, und das Risiko, von ihm entdeckt zu werden, war viel zu groß. Was hätte sie da noch sagen können? „Reiß dich zusammen, Daniela!“, zischte sie. Dann öffnete sich die Tür zum Flur, in dem sie stand.

„Hallo Alexander“, begrüßte sie ihren Schwager, der vor Schreck leicht zusammenzuckte, sich aber sofort wieder fasste. Ihr lief es kalt den Rücken runter.

„Daniela, meine Hübsche, was machst du denn hier, so fern der Heimat?“

„Das Gleiche kann ich dich auch fragen, mein Lieblingsschwager“, sagte sie so leicht dahin, wie es ihr möglich war. Dabei bemerkte sie, dass sein Blick nicht, wie sonst üblich, viel zu lange auf ihrer Oberweite verweilte, sondern gleich bis zu der Tasche in ihrer Rechten hinabglitt. „Aber ich vermute, du hast es im Rücken, wenn ich dich da so gebeugt stehen sehe. Dann hättest du doch Martin auch mit deinen Fußballschuhen aushelfen können!“ Dabei hob sie die Tasche etwas an.

„Und die treu sorgende Ehefrau fährt extra von Reinsbüttel nach Husum, um ihrem geliebten Gatten die Sporttasche zu holen?“

Alexanders Worte durchbohrten sie regelrecht. Es war offensichtlich, dass er ihr kein Wort glaubte.

„Nicht doch, Alexander. Das würde ich nie tun. Nicht für Martin oder für sonst wen, das weißt du doch. Aber ich war sowieso in Husum bei meiner Frauenärztin.“

„Ach Dani“, sagte er und ging ganz dicht an sie heran. Die Rechte legte er ihr sanft auf den Hinterkopf, die Linke fasste ihr nur Zentimeter über den Schritt. „Wofür soll das denn gut sein?“ hauchte er ihr ins Ohr.

Schlagartig versteifte sich ihr ganzer Körper, und sie musste all ihre Willenskraft aufbieten, sich aus dieser Starre zu befreien. „Du bist ein Schwein, Alex!“, keifte sie ihn an und wand sich aus seinen Händen. „Einfach nur widerlich!“, spie sie aus und marschierte mit energischen Schritten Richtung Flurtür. Alexanders Lachen traf sie kalt im Rücken. Aber darauf reagierte sie nicht. Sie wollte nur raus, weg von ihm. Doch ehe die Tür hinter ihr zufiel, hörte sie, wie Alexander sich in Trab setzte. Er kam ihr hinterher, so schnell es sein Rücken zuließ. Rennen oder stehen bleiben? Gegen jeden Instinkt entschied sie sich zu bleiben und drehte sich zu ihm um. „Hast du noch eine Demütigung für mich vergessen?“, blitzte sie ihn an.

„Nicht so garstig, kleine Stute.“ Er griente breit. „Wo du schon einmal hier bist, kannst du doch eben noch eine Unterschrift leisten. Oder ich muss nachher noch bei euch vorbeigucken.“

Es war nicht schwierig für sie, diese Worte, die gleichermaßen Anspielung und Drohung waren, zu verstehen. Nur mit größtem Widerwillen folgte sie ihm in sein Büro. Minuten vorher war sie noch allein in dem Raum gewesen, und jetzt überlegte sie fieberhaft, ob irgendetwas in diesem Moment sie verraten könnte. Aber Alexander war nichts anzumerken. Er ging zu seinem Schreibtisch und zog ein vorbereitetes Papier aus einer Ablage. Sie trat bis an die Arbeitsplatte heran, stellte die Tasche ab und unterschrieb. „War’s das?“, fragte sie. Dann wandte sie sich zum Gehen.

„Halt!“, rief er ihr hart hinterher.