Marthas Widerstand - Kerry Drewery - E-Book

Marthas Widerstand E-Book

Kerry Drewery

4,5

Beschreibung

Martha ist des Mordes angeklagt und sitzt in der ersten von sieben Zellen. Sieben Tage lang stimmt das gesamte Volk darüber ab, ob sie freigesprochen oder in eine kleinere Zelle verlegt wird. Die siebte und letzte Zelle ist klaustrophobisch klein, und genauso klein sind Marthas Chancen auf einen Freispruch. Denn die Umfragen zeigen, dass der Großteil der Bevölkerung sie sterben sehen will ...
Doch was wäre, wenn Martha genau darauf spekuliert. Um dem Volk zu zeigen, dass es nicht in einer perfekten Demokratie lebt, sondern von den Machthabern perfide manipuliert wird? Ein Katz-und-Maus-Spiel beginnt, bei dem viel mehr als ein einzelnes Menschenleben auf dem Spiel steht ...


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Inhalt

Über das BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmungZitatPrologZelle 1NachrichtenPsychologische BetreuungMarthaFernsehstudioEveMarthaZelle 2Psychologische BetreuungEveMarthaEve18:30 Uhr. Death is JusticeEveMarthaZelle 3MarthaEvePsychologische BetreuungMartha18:30 Uhr. Death is JusticeEveMarthaZelle 4EveMartha18:30 Uhr. Death is JusticeMarthaEveMarthaZelle 5EveMarthaEvePsychologische Betreuung18:30 Uhr. Death is JusticeEveMarthaZelle 6MarthaDas Haus der StantonsMarthaIsaacMarthaDeath is JusticeMarthaZelle 7MarthaIsaacEveCiceroDeath is JusticeCiceroMarthaEveDeath is JusticeIsaacMarthaDeath is JusticeMarthaEveIsaacMarthaIsaacMarthaDeath is JusticeMarthaEveMarthaIsaacDeath is JusticeIsaacDeath is JusticeMarthaDeath is JusticeMarthaDeath is JusticeMarthaDeath is JusticeMarthaIsaacDeath is JusticeIsaacDeath is JusticeMarthaDeath is JusticeIsaacAuswirkungenMarthaDeath is JusticeMarthaDraußenDeath is JusticeDanksagung

Über das Buch

Martha ist des Mordes angeklagt und sitzt in der ersten von sieben Zellen. Sieben Tage lang stimmt das gesamte Volk darüber ab, ob sie freigesprochen oder in eine kleinere Zelle verlegt wird. Die siebte und letzte Zelle ist klaustrophobisch klein, und genauso klein sind Marthas Chancen auf einen Freispruch. Denn die Umfragen zeigen, dass der Großteil der Bevölkerung sie sterben sehen will … Doch was wäre, wenn Martha genau darauf spekuliert. Um dem Volk zu zeigen, dass es nicht in einer perfekten Demokratie lebt, sondern von den Machthabern perfide manipuliert wird? Ein Katz-und-Maus-Spiel beginnt, bei dem viel mehr als ein einzelnes Menschenleben auf dem Spiel steht …

Über die Autorin

Kerry Drewery ist Autorin für Kinder- und Jugendbücher. Zelle 7 ist der erste ihrer Titel, der auf Deutsch übersetzt wird. Die Geschichte über ein Justizsystem, das ad absurdum geführt wurde und eine Gesellschaft, in der eine Fernsehshow über die Urteile für Straftäter entscheidet, wird in einem zweiten Band (Seven Days) fortgesetzt, der voraussichtlich 2018 ebenfalls im ONE-Programm erscheint.

KERRY DREWERY

MARTHAS WIDERSTAND

Übersetzung aus dem Englischen von Sabine Bhose

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Für die Originalausgabe:

Copyright © Kerry Drewery 2016

Originally published in the English language as »Cell 7« by Hot Key Books,an imprint of Bonnier Zaffre Limited, London

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München unter Verwendung eines Motivs von © getty-images/Lauren Bates

Satz: Greiner & Reichel, Köln

Gesetzt aus der Adobe Caslon Pro

Druck und Einband: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-7325-4032-7

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Für Rebecca Mascull und Emma Pass,die den Weg kennen.

Es gibt eine höhere Instanz als die der Justiz und das ist diedes Gewissens. Sie steht über allen anderen.

Gandhi

Prolog

Zwei Geräusche in meinem Schädel.

Der Schuss der Waffe, der durch die Stille dröhnt.

Und meine eigene Stimme, die »Verschwinde!« ruft.

Beide hallen laut nach.

Ich spüre eine Enge in meiner Brust. Eine Hitze. Wie die Angst, die man bekommt, wenn man nachts allein unterwegs ist oder wenn sonst niemand zu Hause ist und jemand klopft an die Tür. Dieses Gefühl in der Magengrube.

Mir ist schwindelig, aber ich atme. Ich bin nicht ohnmächtig geworden. Ich lebe.

Was habe ich getan?

Diese Frage, wieder und wieder.

Immer gleich, gleich, gleich.

Die Dunkelheit ist erdrückend.

Mein Atem rasselt durch sie hindurch, mein Herz pocht wild.

Aus der Ferne höre ich Sirenen, sehe Scheinwerfer, noch schwach.

Du könntest weglaufen, denke ich.

»Das bringt nichts«, widerspreche ich laut. »Das hier ist die Chance, etwas zu tun, etwas zu verändern. Es muss einfach sein.«

Die Sirenen werden immer lauter und das Licht greller.

Jetzt biegen die Scheinwerfer um die Ecke und ertränken mich in ihrem grellweißen Licht. Ich hebe die Hand mit der Waffe und halte sie mir schützend vor die Augen. Blaulicht blitzt auf meiner Haut auf.

An, aus, an, aus, an …

Und taucht den Körper, der vor mir auf dem Boden liegt, in ein unwirkliches Licht. Man sieht das Rot, das aus ihm fließt.

Was habe ich getan?

Immer noch dieses Hallen in meinem Kopf.

»Was ich tun musste«, antworte ich. »Es war die einzige Möglichkeit, die einzige Chance.«

Die Scheinwerfer blenden ab, und dunkle Uniformen strömen aus den Autos, reden, befehlen. Ich höre nicht hin.

Ich lasse die Waffe fallen und verschränke die Hände hinter dem Kopf.

»Ich war es!«, rufe ich. »Ich habe ihn erschossen! Ich habe Jackson Paige getötet.« Ich weiß nicht, was sie antworten.

Sie legen mir Handschellen an, die so kalt sind wie ihre Herzen, und betrachten mich voller Abscheu.

Sie leben vollkommen abgeschottet auf den Avenues oder in der City, lassen sich von all dem Glanz blenden und fragen sich gar nicht, was außerhalb liegt.

In sieben Tagen werde ich sterben, weil es so sein muss, aber danach wird ihre heile Welt zerbersten, und alle werden die Wahrheit erfahren.

Zelle 1

Nachrichten

»Guten Morgen. Wir überbringen Ihnen heute die schockierende Eilmeldung, dass Jackson Paige ermordet wurde. Paige, der die Herzen der Nation mit Auftritten in Reality-TV-Shows und seiner unermüdlichen Arbeit für wohltätige Zwecke eroberte, wurde nur wenige Meter von hier auf der Crocus Street erschossen, mitten in einem Viertel, das gemeinhin ›die Wolkenkratzer‹ genannt wird. Äußerst ungewöhnlich für einen Fall wie diesen ist, dass die Täterin, die nach dem Mord am Tatort zurückblieb, ihr Verbrechen bereits gestanden hat. Die Polizei gab bekannt, dass es sich bei der Schuldigen um die sechszehnjährige Martha Honeydew handele.

Honeydew wurde am Tatort verhaftet und, getreu dem Gesetz der Sieben Tage der Gerechtigkeit, heute Morgen in die Zelle 1 des Todestraktes überführt. Wir haben es hier mit einem Präzedenzfall zu tun, denn Honeydew ist mit sechzehn Jahren nicht nur das erste minderjährige Mädchen, dem die Todesstrafe droht, sondern auch das erste, dem der Prozess unter dem einzigartigen Stimmen-für-Alle-System unseres Landes gemacht wird. Unser System ist das demokratischste Rechtssystem der Welt, in dem Sie, liebe Zuschauer, über das Schicksal der Beschuldigten entscheiden.

Wir werden Honeydews mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit letzten sieben Tage auf jeden Fall sehr genau mitverfolgen. Sie können sich auf den Portalen aller üblichen sozialen Netzwerke auf dem Laufenden halten und natürlich auch auf unserem 24-Stunden-Sender Auge um Auge. In unserer Show Death is Justice – die jeden Abend ab 18:30 Uhr ausgestrahlt wird – werden wir alle Details dieser wirklich abscheulichen Tat analysieren und das Leben der Beschuldigten durchleuchten. Wir werden nach einer Antwort auf die Frage suchen, wie es dazu kommen konnte, dass dieses junge Mädchen zu einer herzlosen Killerin wurde.

Ihr Geständnis mag ihr bereits einen Platz auf dem elektrischen Stuhl gesichert haben, wenn das Wahlergebnis in sieben Tagen verifiziert und bekanntgegeben wird. Dennoch, liebe Zuschauer, sollten Sie sich diese einmalige Chance nicht entgehen lassen, Ihre Stimme in einem historischen Präzedenzfall abgeben zu können.

Ich bin Joshua Decker und gebe jetzt zurück zu Kristina ins Studio.«

Psychologische Betreuung

Martha sitzt im Halbdunkel an einem Tisch in der Mitte des Raumes. Ihre langen Haare wurden bis auf die Kopfhaut abgeschoren, und sie trägt einen weißen Gefängnisoverall.

Sie blickt kurz auf und sieht dem Sekundenzeiger der überdimensionalen Wanduhr dabei zu, wie er auf 9:05 Uhr springt, bläst die Wangen auf, seufzt tief, wendet sich ab und sieht aus dem vergitterten Fenster nach draußen. Auf einem Baum, dessen Blätter in herbstlichen Orange- und Rottönen schillern, sitzt ein Spatz, öffnet den Schnabel und schließt ihn dann wieder. Martha weiß, wie sein Gesang klingen sollte, doch sie kann sein Zwitschern nicht hören.

Die Fesseln an ihren Hand- und Fußgelenken rasseln, als sie auf ihrem Stuhl hin und her rutscht. Jetzt sieht sie die Frau mittleren Alters an, die ihr gegenübersitzt. Sie hat dünne blonde Haare und wässrig blaue Augen.

»Hat dir der Wärter gesagt, wer ich bin?«, erkundigt sich die Frau, deren warme Stimme sich sanft an die Kälte des Raumes schmiegt.

Martha schüttelt den Kopf.

»Ich bin Eve Stanton. Ich wurde dir als psychologische Betreuerin zugeteilt.«

»Ich brauche keine Betreuerin.«

»Vielleicht wirst du es zu schätzen wissen, jemanden zu haben, mit dem du sprechen kannst, wenn deine …« Sie verstummt und fährt mit dem Daumen über ihre abgekauten Fingernägel, während sie nach den richtigen Worten sucht.

»… meine Hinrichtung bevorsteht?«, führt Martha den Satz zu Ende und starrt Eve feindselig an. »Ich weiß, dass ich sterben werde. Ich bin’s ja gewesen. Ich habe ihn getötet.«

Eves Blick wankt, und sie sieht weg. »Das behauptest du jedenfalls«, murmelt sie.

»Warum sollte ich lügen?«

»Genau. Warum würde irgendjemand über so etwas lügen?«

»Genau.«

Beide verstummen.

Die Uhr tickt.

Der Spatz fliegt vom Baum.

»Warum habe ich überhaupt eine Betreuerin?«, will Martha wissen. »Weil ich minderjährig bin?«

»Nein«, antwortet Eve. »Alle Gefangenen werden psychisch betreut.«

»Warum?«

Eve verschränkt ihre Finger miteinander. »Manche Leute sind nicht mit der Todesstrafe einverstanden, insbesondere nicht für Minderjährige. Das hier ist eine … eine Art Zugeständnis für sie. Etwas, auf das die Regierung hinweisen kann, nach dem Motto ›seht nur, was für nette Sachen wir hier zulassen‹.« Sie lächelt gequält. »Ein flüchtiger Eindruck von Menschlichkeit, von der manche glauben, dass wir sie verloren haben.«

»Menschlichkeit? Ist es das, was wir verloren haben?«, fragt Martha und fährt mit den Fingern über die Stoppeln auf ihrem Schädel. »Was glauben Sie?«

Eve bemerkt die Angespanntheit im Gesicht des Mädchens und die Sorge, die man ihr an den Augen ablesen kann. Nichts davon passt mit dem zusammen, was sie sagt oder mit dem Verhalten, das sie an den Tag legt. »Es ist ganz egal, was ich denke«, antwortet Eve. »So ist das Gesetz.«

»Was? Auge um Auge?«, fragt Martha.

»Glaubst du nicht daran?«

»Glauben Sie etwa daran?«, schießt Martha zurück.

Eve lächelt schief. »Ich habe dich zuerst gefragt.«

»Na und? Was ich denke, interessiert doch keinen! Sagen Sie es mir. Sind Sie damit einverstanden, dass darüber abgestimmt wird, ob Menschen leben oder sterben? Keine Gerichte. Keine Zeugen. Keine Beweise … keine Geschworenen … nichts.«

»Bedeutet das ganze System, dass die Öffentlichkeit das Recht darauf hat abzustimmen, nicht, dass jeder im Prinzip ein Geschworener ist? Dass alle am Ergebnis beteiligt sind?«

Martha verdreht die Augen. »Beantworten Sie eigentlich jede Frage mit einer Gegenfrage?«

Eve reagiert nicht.

»Sie sind genau wie der Rest aus der City«, ereifert sich Martha und sieht weg. »Und die, die auf den Avenues rund um die City leben. Nein, Sie sind sogar schlimmer, weil Sie auch noch denken, dass Sie etwas Gutes tun, obwohl das ganz und gar nicht stimmt. Egal, jedenfalls können Gesetze geändert werden, oder etwa nicht?«

»Ich lebe nicht in der City und auch nicht auf den Avenues. Nicht so ganz. Ich wohne eher am Stadtrand.«

»Ja? Na ja, ist das Gleiche. Sie kommen jedenfalls nicht aus den Kratzern, oder?«

»Stimmt.«

»Wie ich gesagt habe – Sie sind genau wie der Rest von denen.«

Martha streckt die Beine von sich, soweit es die Fesseln zulassen, und überkreuzt die Arme vor der Brust.

»Wie oft kommen Sie mich besuchen?«, will sie wissen.

»Jeden Tag«, antwortet Eve. »Abgesehen vom siebten Tag.«

»Dem siebten Tag? Meinem letzten Tag?«

»Deinem möglicherweise letzten Tag.«

»Was ist mit anderen Besuchern?«

»Nicht erlaubt«, erwidert Eve.

»Was? Niemand?«

»Nein, niemand«, antwortet Eve.

Draußen landet der Spatz wieder im Baum. Er hält jetzt einen Wurm im Schnabel. Martha beobachtet ihn einen Augenblick lang und beugt sich dann vor.

»Was ist mit einer Nachricht?«, flüstert sie. »Können Sie jemandem eine Nachricht von mir geben?«

»Das darf ich nicht«, antwortet Eve. »Tut mir leid.«

»Aber niemand würde davon erfahren.« Martha sieht sich in dem Raum um. »Hier sind keine Kameras. Niemand würde es mitbekommen.«

»Ich kann das nicht …«

Draußen fährt ein Windstoß durch die Äste des Baumes und lässt sie gegen das Fenster schlagen. Der Spatz wippt auf seinem Ast auf und ab.

»An wen wäre diese Nachricht denn?«, will Eve wissen.

»Wieso interessiert Sie das? Sie haben doch gerade gesagt, dass sie es nicht machen wollen.«

»Deine Mutter ist …«

»Sie haben meine Akte gelesen?« Die Fesseln an Marthas Handgelenken klirren gegeneinander, als sie sich über den Tisch beugt und auf den Hefter tippt. »Dann wissen Sie, dass meine Mutter tot ist.«

Eve lehnt sich langsam zurück und holt tief Luft. »Ich weiß, dass deine Mutter tot ist, und das tut mir sehr leid. Ich frage mich nur, da deine Mutter nicht mehr unter uns ist und dein Vater euch verlassen hat, bevor du auf die Welt kamst, wem du eine Nachricht schicken würdest? Wem würdest du eine Botschaft übermitteln wollen?«

»Ich habe Freunde.«

»Ach ja?« Eve nimmt den Hefter vom Tisch und schlägt ihn auf. »Hier steht aber, und ich zitiere: ›Martha war nie besonders beliebt in der Schule. Sie tat sich schwer, Freundschaften zu schließen und nahm eine Außenseiterrolle ein, ohne je den Versuch unternommen zu haben, sich ihren Altersgenossen anzuschließen‹.«

»So sind Lehrer nun mal. Sie konnten mich nie leiden.«

Eve hebt einen Finger und fährt fort: »›… obwohl sie eine sehr intelligente Schülerin war und viel hätte erreichen können, wenn sie ihrem Studium etwas mehr Zeit gewidmet hätte‹.«

»›Wenn sie ihrem Studium etwas mehr Zeit gewidmet hätte?‹« Martha schnauft verächtlich. »Mit anderen Worten, wenn sie nur etwas mehr Bock auf Schule gehabt hätte?«

»Nein, ich glaube, damit ist gemeint, wenn sie die Gelegenheit dazu gehabt hätte.«

Sie starren einander an.

Die Uhr tickt.

Die Äste des Baumes kratzen gegen das Fenster.

»Ich musste die Schule schmeißen«, flüstert Martha. »Ich musste die Miete zahlen, verstehen Sie?«

Eve nickt.

»Wenn nicht … wenn sie plötzlich Fragen gestellt hätten … ich wollte nicht …« Ihr Atem stockt, und sie schnappt nach Luft.

»Das Jugendamt hat übersehen, dass du ein Waisenkind bist, weil du weiterhin die Miete gezahlt hast?«

»Muss wohl so gewesen sein. Sonst hätten sie mir die Wohnung weggenommen und mich in eines dieser Pflegeheime gesteckt, mit den anderen Waisenkindern. Das konnte ich nicht …« Mit einer Hand fährt sie sich über die Stirn und wendet sich von Eve ab.

Eve schiebt Martha eine Box mit Papiertaschentüchern zu. »Das kann ich gut verstehen.«

Martha starrt sie aus tränenverschleierten Augen an. Sie schnieft laut und fegt die Box mit einer Hand vom Tisch.

»Einen Scheißdreck verstehen Sie. Sie können es ja versuchen, aber sie werden es nie wirklich kapieren.«

Minuten verstreichen in absoluter Stille.

Die Box liegt immer noch auf dem Boden.

»Es gab da jemanden«, flüstert Martha.

»Eine Freundin? Wie heißt sie?«, erkundigt sich Eve.

Martha sieht kurz zu Eve hinüber. »Er«, korrigiert sie. »Es war ein er, ein Freund. Ein Junge.« Sie schnieft wieder.

»Wie heißt er?«, fragt Eve.

Martha dreht sich wieder Eve zu. »Ist das hier vertraulich?«, flüstert sie. »Wie beim Arzt?«

Eve nickt. »Selbstverständlich.«

»Wenn ich Ihnen jetzt was verrate, dann werden Sie nicht zu den Zeitungen rennen oder zu dieser Death is Justice-Sendung gehen und denen alles erzählen?«

»Nein«, wispert Eve.

»Oder es irgendwo aufschreiben?«

»Nein«, antwortet Eve. »Versprochen.«

Martha lehnt sich ein wenig weiter vor und muss schlucken. »Er … ich habe ihn kennengelernt … nachdem meine Mutter getötet wurde … er …«

Plötzlich wird die Metalltür des Raumes aufgestoßen und kracht gegen die Wand.

Martha wirbelt erschrocken herum. Ein Gefängniswärter kommt in den Raum gestiefelt. Sein Bauch hängt schwabbelnd über der Uniformhose, und die Knöpfe seines blauen Hemdes sind zum Zerreißen gespannt. In der rechten Hand hält er einen Schlagstock bereit.

Eve sieht den Wärter empört an. »Ich habe gesagt, dass ich rufe, wenn wir fertig sind!«

Er zuckt mit den Schultern. »Dachte, ich hättse gehört.«

»Nein …«, antwortet Eve.

Marthas Augen suchen den Raum ab. »Sind hier etwa doch Kameras?«, fragt sie. Der Gefängniswärter kommt auf sie zu. »Wird das hier aufgenommen? Wird das etwa im Fernsehen gezeigt?« Ihre Stimme wird immer lauter. »Ich dachte, das hier ist vertraulich.« Der Stuhl kratzt über den Boden, als sie aufspringt, und die Fesseln rasseln aneinander, als sie verzweifelt die Hände hebt.

»Sie haben gesagt …«, beginnt sie und beugt sich zu Eve vor.

Aber der Gefängniswärter bekommt ihre Ketten zu fassen und reißt sie zurück. Sie fällt vor seinen Füßen zu Boden. Er türmt sich vor ihr auf, droht ihr mit dem Schlagstock und grinst dabei höhnisch.

»Stopp!«, ruft Eve.

»Mach schon!«, brüllt Martha. »Schlag mich! Schlag ein wehrloses Mädchen, wenn du glaubst, dass du Manns genug dazu bist!«

Der Wärter grinst sie widerlich an.

»Aufhören!«, ruft Eve.

»Das hier is ne Mörderin«, antwortet der Wärter. »Ein Tier. Sollte auch wie eins behandelt werden.«

Martha tritt nach ihm, aber er reißt sie zur Seite und sie knallt mit Kopf und Schulter gegen den Türrahmen.

»Martha«, beginnt Eve. »Hier drin ist alles vertraulich, du hast mein Wort.«

Der Wärter schnauft verächtlich. »Ja, es sei denn, ich hör was, dann …«

Martha stemmt sich mit aller Kraft gegen den Wärter. Für einen Augenblick bringt ihn das aus dem Gleichgewicht, und er stolpert nach vorn. Aber dann zieht er wieder an ihren Ketten und hebt den Schlagstock noch höher.

»Schluss jetzt!« Eve stürzt vor, zieht ihr Handy aus der Tasche und richtet es auf den Wärter. »Möchten Sie das vielleicht in den Zeitungen sehen?«, fragt sie. »Oder im Fernsehen? Sollen die Zuschauer mal mitbekommen, wie es wirklich hier drin zugeht?«

Er starrt sie an. »Das würdense nicht wagen.«

»Wollen Sie es drauf ankommen lassen?«, zischt sie.

»Verdammte Weicheier.« Er lässt den Schlagstock sinken und fuchtelt mit dem Zeigefinger vor Eves Gesicht herum. »Leute wie Sie sind schuld, dass unser Land so lang den Bach runtergegangen is. Mörder, die wegen irgendeinem Formfehler freigesprochen wurden, Kinderschänder, die wieder auf freien Fuß sind, weil es nich genug Beweise gab.

Beste Idee, die wir je hatten, alle Gerichte abzuschaffen – das war keine Gerechtigkeit. Das hier–«, er deutet auf die Zellen und den Flur, »das is Gerechtigkeit. Tod is Gerechtigkeit und für Sie und ihre blödsinnigen Weicheier-Ideen gibt’s keinen Platz in unserm System.«

Er schüttelt den Kopf. Auf seiner Stirn perlen Schweißtropfen.

»Ich weiß, wie ich stimmen werd, und zwar mehr als nur einmal.«

Er zieht Martha an den Ketten hoch. »Is mir egal, wie teuer das wird. Wenn’s sein muss, geb ich mein ganzes Monatsgehalt dafür aus, dasste brätst, Mädchen. Wenn es nach mir ginge, würdeste schon morgen aufm Stuhl sitzen.«

Er wickelt die Ketten um seine Faust und zieht sie dicht zu sich heran. »Wie konnteste das nur machen?«, faucht er. »Wie konnteste nur Jackson Paige umbringen? Der Mann hat keiner Fliege was getan. Denk mal an all die Leute, den er geholfen hat. Alles, was er für wohltätige Zwecke gemacht hat. Mit der Kohle, die der gehabt hat, hätt’er einfach abhauen können. Is er aber nicht. Er is hiergeblieben und hat Gesindel wie dir geholfen. Er war ein Vorbild!«

»Der war ein scheißverdammter Lügner!«, zischt Martha.

Der Wärter versetzt ihr einen Kopfstoß und lässt im selben Moment die Fesseln los. Martha kracht rücklinks gegen die Wand und sackt zu Boden.

Eve erstarrt vor Schreck.

»Na, habense das schön aufgenommen, auf Ihrem Handy? Alles gut mitbekommen, ja? Das is mir nämlich scheißegal. Könnense ruhig an die Zeitungen verkaufen. Die werden es auf die Titelseite bringen, und ich werde als Held gefeiert.« Er bläht die Wangen auf und grinst. »Die werden mir Geld geben, damit ich’s noch mal mache.«

Er lacht so laut, dass sein ganzer Körper dabei schwabbelt. Mit steinharter Miene kommt Martha wieder auf die Beine. Sie verengt die Augen zu Schlitzen, mustert den Wärter abfällig und spuckt ihm dann mitten ins Gesicht.

Bevor er überhaupt reagieren kann, bekommt Eve Martha zu fassen und zieht sie aus dem Betreuungsraum in den Korridor.

»Beruhigen Sie sich jetzt erst mal!«, ruft sie dem Wärter zu. »Ich regele das hier. Ich kümmere mich um sie.«

Auf dem Flur befinden sich sechs Metalltüren, alle abgeschlossen, abgesehen von kleinen Sichtfenstern. Aus manchen starren anonyme Augenpaare. Die siebte Tür befindet sich am Ende des Flurs. Sie liegt geschlossen und still da.

»Was haste gemacht, Mädel?«, erkundigt sich eine tiefe Männerstimme, die aus einer der Zellen kommt.

»Ihm in seine dumme Fresse gespuckt«, antwortet Martha.

Der Mann lacht laut. »Damit haste mir gerade den Tag gerettet«, erwidert er. »Kommste aus den Kratzern?«

»Komm jetzt«, redet Eve dazwischen. »Du darfst mit niemandem sprechen. Der Wärter kommt jede Minute wieder raus.«

»Klar doch«, antwortet Martha der tiefen Stimme.

»Mhm. Wieso biste hier drin? Was kann ein Mädchen in deinem Alter angestellt haben, das so schlimm ist?«

»Ich hab Jackson Paige erschossen«, erwidert Martha.

»Ohne Scheiß?«

»Ohne Scheiß.«

»Mädel, jetzt haste mein Jahr gerettet! Alle Macht den Kratzern!«, sagt er und streckt seine geballte Faust durch das Sichtfenster. An seiner Handkante prangt ein Rosen-Tattoo.

»Komm jetzt«, sagt Eve erneut, doch ehe sie Martha wegziehen kann, sprintet Martha zu der Zellentür und legt ihre Hand auf die Faust des Mannes.

Sie blickt in die Zelle hinein. »Was haben Sie gemacht?«, flüstert sie.

Dunkle Augen schauen sie durchdringend an. »Das Einzige, was ich je falsch gemacht habe, war, am falschen Ort auf die Welt gekommen zu sein.«

»Martha, los jetzt. Komm schnell.«

»Viel Glück«, raunt Martha dem Mann noch zu und läuft dann zu Eve zurück.

Eve zieht an der schweren Zellentür. »Das hättest du nicht machen …«, beginnt sie. »Dieser Wärter, der …«

»Was für einen Unterschied macht das schon?«, entgegnet Martha und betritt die Zelle.

»Er wird dir das Leben zur Hölle machen«, erwidert Eve.

»Was davon noch übrig ist, meinen Sie?« Martha zuckt mit den Schultern. »Was hier drin passiert, zählt nicht. Aber was da draußen passiert, das zählt.«

Martha

Der Wärter folgt mir nicht in die Zelle. Ich frage mich, ob Eve ihn wohl daran gehindert hat.

Kann ich ihr vertrauen?

Die Zelle ist klein. Und es ist kalt hier drin. Die Wände sind schneeweiß, ohne einen einzigen Fleck irgendwo. Hoch oben an der Außenwand befindet sich ein vergittertes Fenster – ich glaube nicht, dass es sich öffnen lässt – und auf der gegenüberliegenden Seite ist die weiße Metalltür, die jetzt abgeschlossen ist. Das Sichtfenster ist auch zu. Ich fühle mich, als hätte man mich in eine Kiste gesperrt. Falls auf dem Flur ein Feuer ausbräche, würde ich hier drin wie ein Hähnchen im Ofen braten.

Tatsächlich ist alles in der Zelle weiß – die Pritsche an der Wand ist weiß, genau wie das Laken und das Kopfkissen, und es gibt eine weiße Toilette und ein weißes Waschbecken in einer Ecke.

Aber das war’s.

Keine Regale, kein Schreibtisch, keine Lampen, kein Schrank (was sollte ich auch mit einem Schrank anfangen?), keine Bücher, keine Stifte … nichts. Wieso bräuchte ich auch überhaupt irgendwas?

Das einzig Überflüssige hier drin ist eine Wanduhr, die hoch über der Tür hängt und die Sekunden wegtickt, die noch von meinem Leben übrig sind. Und die ist auch weiß, mit Neonzeigern.

In dieser Zelle gibt es nichts. Keinerlei Reize. Fast so, als hätten meine Augen auf gedämpft umgeschaltet oder als hätte ich irgendeine komische Form der Farbenblindheit, bei der ich gar keine Farben mehr erkennen kann.

Dieser Gefängnisoverall, in den sie mich gesteckt haben, ist auch blendend weiß, und selbst meine braunen Haare sind jetzt verschwunden. Abgeschoren und in irgendeinen Mülleimer geworfen.

Mir kommt es vor, als hätte ich die Hälfte von mir verloren. Meine Haare waren ein Teil von mir, genau wie meine Klamotten.

Aber was habe ich denn erwartet? Schließlich ist das ein Gefängnis, mein Gott. Ich bin im Todestrakt, es war doch schon vorher klar, dass das hier nicht einfach wird!

Hier drin ist alles dermaßen grell, dass mir die Augen wehtun und ich Kopfschmerzen bekomme. Keine Ahnung, woher das Licht kommt – jedenfalls baumelt keine Glühbirne von der Decke und es gibt auch keine Neonleisten. Ich habe das Gefühl, dass es vielleicht von rechts oben kommt, wo die Wand auf die Decke trifft, aber …

Leuchten die Wände etwa?

Ist das vielleicht irgendeine Spezialfarbe, die Licht abgibt?

Ist das alles Teil einer Folter, die sie sich ausgedacht haben?

Ich würde mich am liebsten auf die Pritsche legen, die Augen schließen und von hier wegschweben, aber selbst wenn ich die Augen zumache, ist es immer noch zu hell. Kann mir kaum vorstellen, dass ich hier viel Schlaf bekommen werde, und ich nehme an, dass sie das so wollen.

Folter? Klar, sieht ganz danach aus.

Vielleicht haben sie herausgefunden, dass man am besten mit der Situation klarkommt, wenn man einfach alles verschläft. Und das wollen sie ja nicht, dass man klarkommt. Sie wollen, dass man leidet.

Aber ich könnte die letzte Woche meines Lebens auch nicht einfach verschlafen, oder? Die letzten sieben Tage, an denen ich noch atmen und leben kann. Jetzt schon nicht mehr volle sieben Tage. Wie viele Stunden bleiben mir noch? Wie viele Minuten? Wie viele Sekunden? Ich will es gar nicht wissen. Aber was soll ich sonst hier drin machen, außer zu schlafen oder in Erinnerungen zu schwelgen?

Ich lege mich hin, schließe die Augen und ziehe mir das Laken über den Kopf, damit es etwas dunkler wird, aber alles wirkt noch greller. Warum wollen die mich jetzt noch foltern, wenn ich sowieso bald sterben werde?

Ich vergrabe meinen Kopf in der Matratze, presse die Augen zusammen und konzentriere mich auf die Dunkelheit, die tief in ihnen liegt. Und dann versuche ich, ganz fest an dich zu denken. Wir lernten uns in der Dunkelheit kennen. Du hattest dich, genau wie ich, in den Schatten versteckt, hattest die Straße beobachtet, den alten Autos dabei zugesehen, wie sie über den zerplatzten Asphalt jagten, und den Gestank der Auspuffe eingeatmet. Anders als ich, warst du nicht jeden Abend dort, und manchmal bist du nicht lange geblieben, aber ich musste immer dahin, verstehst du? Konnte nie einschlafen, bis ich ihr eine gute Nacht gewünscht hatte. Verdammt, daran will ich mich nicht erinnern. Ich vermisse sie, vermisse dich. Hasse es, dass ich es tue. Will nicht schwach sein.

Als ich die Waffe aufhob, dachte ich an sie. Aber ich tat es nicht nur für sie. An diesem Abend sagte ich dir, dass du verschwinden sollst, für alle anderen, die gerettet werden können, für die Gerechtigkeit.

Du wolltest das System zu Fall bringen – zu Beginn wollte ich eigentlich nur einen Mann stürzen.

Übrigens nicht umbringen, obwohl genau das passiert ist, sondern ihn als die Person entlarven, die er wirklich war.

Am Ende meiner sieben Tage werden alle, die ihn wie einen Helden verehrt haben, wissen, was er getan hat, und ich werde meinen Teil dazu beigetragen haben. Ich werde in Frieden ruhen und mit mir auch endlich all die anderen.

Wir haben alle unsere Rollen zu spielen, du und ich, dadurch bestimmt, wo wir aufgewachsen sind. Du kannst den Kämpfer geben, während ich die Märtyrerin bin.

Schließlich ist das alles, was ein Mädchen wie ich aus den Kratzern tun kann. Ich bin nicht schlau genug oder selbstbewusst genug, habe nicht genügend Geld und hatte nicht einmal eine Zukunft, ehe ich hier gelandet bin. Wir dachten, wir könnten vielleicht zusammen sein, aber das war Blödsinn.

Wenn du mich wirklich liebst, lässt du mich jetzt los.

Fernsehstudio

18:30 Uhr. Die Sendung – Death is Justice – beginnt.

Auf einem dunkelblauen Bildschirm tanzen weiße Flecken, die wie statisch aufgeladen summen und knistern. Ein überdimensionales Auge mit einer eisblauen Iris erscheint auf der Mitte des Bildschirms. Es blinzelt, und die Wörter ›Auge um Auge‹ drehen sich im Kreis um die schwarze Pupille.

MÄNNLICHE STIMME: Auge um Auge Productions präsentiert …

Die Wörter halten an, und das statisch aufgeladene Knistern erklingt erneut. Jetzt laufen die Buchstaben spitz zu, das Auge füllt sich langsam mit blutroter Farbe und schließt sich schließlich.

MÄNNLICHE STIMME: … Death is Justice … mit Ihrer Gastgeberin …

Die Scheinwerfer im Fernsehstudio gehen an und erhellen ein protziges Set. Ihr Licht spiegelt sich auf dem glitzernden Fußboden, und rechts von der Bühne befindet sich ein überdimensionaler Bildschirm, auf dem das Auge-Logo zu sehen ist. Die Wörter drehen sich langsam im Kreis, und das Auge blinzelt. Auf der linken Seite befindet sich ein sanft geschwungener Hochglanz-Tresen, hinter dem glitzernde Barhocker stehen, die auf das Publikum im Studio ausgerichtet sind, das jedoch im Schatten sitzt und nicht zu sehen ist.

MÄNNLICHE STIMME: … Kristina Albright!

Scheinwerfer richten sich auf die Stelle links von der Bühne aus, an der Kristina steht. Sie ist groß und schlank, ihre blonden Haare umrahmen ihr perfekt geschminktes Gesicht, und ihr Kameralächeln entblößt perlweiße Zähne. Ihr rotes Kleid liegt eng an und passt perfekt zu Lippenstift und Schuhen.

KRISTINA: Hallo zusammen und willkommen zu Death is Justice!

Im Studio ertönt Applaus. Kristina lächelt und nickt dem Studiopublikum zu.

KRISTINA: Mein Name ist Kristina Albright, und wir haben heute Abend besonders aufregende Neuigkeiten für Sie.

Kristinas hochhackige Schuhe klacken über den Boden, während sie das Studio zu dem Bildschirm auf der rechten Seite durchquert. Das Auge auf dem Bildschirm wird durch ein Foto ersetzt, auf dem ein gut aussehender, lächelnder Mann mit einer hübschen Frau und einem Jungen im Teenageralter abgebildet ist.

KRISTINA: Gestern Nacht erfuhren wir in einer Eilmeldung von der entsetzlichen Nachricht, dass der bekannte Multimillionär Jackson Paige einem gewaltsamen Tod zum Opfer fiel.

Nun ist ein Foto von demselben Mann zu sehen, der triumphierend die Arme in die Luft reckt, während ihm eine Menschenmenge zujubelt.

KRISTINA: Jackson hat sich im letzten Jahrzehnt mit Auftritten in Reality-TV-Shows einen Platz in den Herzen von Millionen erobert. Er stammte aus der unterprivilegierten Gegend, die allgemein als ›die Wolkenkratzer‹ bekannt ist, benannt nach den Hochhäusern, die dort errichtet wurden, um der Wohnungsnot entgegenzuwirken …

Auf dem Bildschirm erscheint eine Panorama-Aufnahme der Wolkenkratzer-Gegend: Man sieht ein Dutzend Betontürme, die sich in den gräulichen Himmel recken, einen ausgehungerten streunenden Hund, leere Fast-Food-Verpackungen in dreckigen Rinnsteinen und einen kleinen Junge, der eine Zigarette raucht und eine Dose Bier in der anderen Hand hält.

KRISTINA: Er investierte seine Gewinne klug, arbeitete hart und befreite sich von seiner Armut. Dadurch wurde er zu einem Vorbild für uns alle …

Das Grau der Wolkenkratzer verschwindet vom Bildschirm und wird jetzt durch ein Foto einer großen weißen Villa ersetzt. Der saftig grüne Rasen davor ist von einem hohen gusseisernen Zaun umringt. Gelbe, rosa- und orangefarbene Blumen wachsen aus großen Töpfen und füllen die Beete. Auf der Auffahrt glänzt ein roter Sportwagen in der Sonne. Ein lächelnder Mann – Jackson – posiert daneben.

KRISTINA: … mit seinen öffentlichen Auftritten, seinem unermüdlichen Engagement für wohltätige Zwecke und natürlich nicht zu vergessen …

Bilder von Jackson blitzen hintereinander auf: er, lächelnd, auf einem roten Teppich, ein Foto von ihm im Smoking während einer Rede, ein anderes, auf dem er einen übergroßen Check an ein Gruppe Krankenschwestern übergibt.

KRISTINA: … die selbstlose Adoption eines kleinen Jungen, der während eines tragischen Unfalls seine Eltern verlor.

Ein Schwarzweißfoto wird eingeblendet. Jackson drückt einen ungefähr sechsjährigen weinenden Jungen an seine Brust. Ihm stehen Tränen in den Augen, seine Stirn ist gerunzelt, und die Mundwinkel zeigen nach unten. Die Hochhäuser der Kratzer im Hintergrund sind verschwommen und unscharf, aber auf dem von Rissen durchzogenen Bürgersteig sieht man gerade noch den einzigen Farbfleck auf dem Foto – ein rotes Rinnsal.

Kristina presst ihre Handflächen gegeneinander und hält sie sich vor den Mund, als betete sie. Im Studio herrscht absolute Stille. Sie hebt den Kopf, blinzelt ein paarmal und sieht dann wieder in die Kamera.

KRISTINA (MITSANFTER STIMME): Aber später mehr zu Jackson Paige. Lassen Sie uns nun über Tat und Täterin sprechen. Was für eine Person ist in der Lage, ein derart grauenhaftes Verbrechen zu begehen? Wir schalten jetzt live zu unserem Reporter vor Ort Joshua Decker. Josh?

Sie wendet sich dem Bildschirm zu, an dessen Oberkante sich ein blaues Banner befindet. In der linken Ecke blinkt ein kleines Auge-Logo auf, und in der Mitte glitzern die Worte »Joshua Decker – Reporter vor Ort«, während am unteren Rand des Bildschirmes ein Nachrichtenticker ankündigt: ›Zelle 1 – Teen-Mörderin – Martha Honeydew‹.

In der Mitte des Bildschirmes ist Joshua zu sehen. Er hat seinen schwarzen Mantelkragen schützend gegen den Wind hochgeschlagen. Die Hand, die das Mikrophon hält, steckt in einem Lederhandschuh. Seine Augen strahlen und funkeln trotz der Novemberkälte.

JOSHUA: Ja, Kristina, hallo. Ich hoffe, ich komme gegen den heulenden Wind an und du kannst mich gut hören. Es ist ziemlich kalt hier draußen in den Kratzern. Ich freue mich wirklich darauf, bald wieder nach Hause zu kommen. Dann gibt’s ein heißes Bad und ein Glas Wein, so viel ist schon mal klar.

Er zwinkert in die Kamera. Sofort beginnt im Studio ein aufgeregtes Gemurmel weiblicher Stimmen.

JOSHUA: Ich befinde mich hier ungefähr hundert Meter von dem Ort entfernt, an dem die Tat begangen wurde. Er liegt – für alle Zuschauer, die noch nie in dieser Gegend waren – in der Nähe des Bahnhofs, mit Anschluss an die City und die umliegenden Avenues, und wird passenderweise Unterführung genannt.

Er deutet mit einer Hand in die Luft. Die Kamera schwenkt weg und zeigt die Unterseite einer großen Unterführung, dunkel und feucht glänzend, mit zerbrochenen Geländern und halb zertrümmerten Pollern, die dazu dienen sollten, Autofahrer daran zu hindern, eine Abkürzung zu nehmen. Dahinter erstreckt sich eine schmalere Straße, gefolgt von einer heruntergekommenen Einkaufsstraße. Die Geschäfte stehen allesamt leer, ihre Fenster sind eingeschlagen oder mit Brettern zugenagelt. Gerade noch erkennbar im Hintergrund sind die Reihen der Hochhäuser mit stecknadelkopfgroßen Lichtern in einigen Fenstern.

JOSHUA: Auf dieser Seite hier, weg vom Bahnhof, befindet sich eine Gegend, die von Drogendealern und Obdachlosen frequentiert wird.

KRISTINA: Erzähl uns, was vor Ort gerade passiert, Joshua. Was sagen die Anwohner über die Mörderin?

Die Kamera schwenkt zurück auf Joshua.

JOSHUA: Nun, Kristina, die Sache ist die, sie sagen gar nichts. Niemand hier will mit mir sprechen. Für die Bewohner der Kratzer ist es, als wäre gar nichts geschehen. Ganz anders als für den Rest der Bevölkerung, wie du sicher hier überall sehen kannst.

Die Kamera folgt Joshua, der die Straße entlanggeht, und schwenkt aus, als er anhält, um auf Blumen, Kuscheltiere, Fotos, handgeschriebene Zettel und brennende Kerzen zu deuten, die sich auf dem Bürgersteig angesammelt haben. Eine Frau kniet gerade auf dem Boden und legt einen weiteren Strauß Blumen nieder. Zwei Männer klopfen einander schluchzend auf die Schultern.

JOSHUA: Das hier ist die Stelle, an der Jackson niedergeschossen wurde. Den Leuten, die an den Tatort gekommen sind, steht die Trauer ins Gesicht geschrieben. Seit heute Morgen reißt der Besucherstrom nicht mehr ab. Zahlreiche Teenager haben sich von ihren Eltern auf dem Weg zur Schule hierherbringen lassen. Einige Ärzte haben auf dem Weg zu ihren Praxen einen Umweg gemacht, und Krankenschwestern haben sich nach ihrer Nachtschicht hier versammelt, um Paige die letzte Ehre zu erweisen. Die meisten Trauernden sind so sehr von ihrem Schmerz übermannt, dass sie nichts vor laufender Kamera sagen können und selbst wenn sie es könnten, wären sie nicht in der Lage, ihren Schock und ihre Trauer in Worte zu fassen.

Aber … versuch einmal, die Ladenbesitzer in dieser Gegend nach ihrer Meinung zu fragen, oder die jungen Mütter, die ihre Kinder zur Schule bringen, die Teenager, die an den Straßenecken herumlungern, die Leute, die Schlange stehen, um ihre Sozialhilfe abzuholen … niemand will etwas sagen.

KRISTINA: Das ist sehr merkwürdig.

JOSHUA: Das ist es allerdings. Die Reihen sind geschlossen, wie es scheint. Nichtsdestotrotz hat meine Wenigkeit es geschafft, einen Exklusivbeitrag für unsere Zuschauer zu ergattern …

Er grinst schief und legt seinen Kopf kokettierend zur Seite.

KRISTINA (DAS STUDIOPUBLIKUMANLÄCHELND): Ich werde gar nicht erst fragen, wie er an einen Exklusivbeitrag gekommen ist, aber ich nehme stark an, es hat etwas mit seinem legendären Charme zu tun!

Das Publikum lacht auf.

JOSHUA (MITEINEM AUGENZWINKERN): Also, Kristina, wir haben eine Videoaufnahme, die nur einen Augenblick nach der Tat aufgezeichnet wurde. Ich denke, sie spricht für sich selbst.

Der Bildschirm teilt sich in zwei Hälften, und auf der rechten Seite ist eine verwackelte Videoaufnahme zu sehen.

JOSHUA: Dieses Filmmaterial stammt von einer Helmkamera der Polizei. Zunächst hatte man angenommen, dass der Alarm von einer Überwachungsanlage ausgelöst worden sei, aber es scheint, dass die Kameras in der Gegend zur Tatzeit nicht funktionierten.

Auf der Videoaufnahme sieht man Straßen im Halbdunkel, die auf die Kamera zufliegen. Der Regen und die Windschutzscheibe verdecken alle Details. Die Hochhäuser im Hintergrund recken sich wie Grabsteine in den Abendhimmel, und die Straßen fließen wie schwarze Flüsse um sie herum. Das blinkende Blaulicht der Polizeiautos spiegelt sich auf den nassen Straßen und den Metallrollläden der Gebäude wider, und Sirenen heulen wütend auf.

Jetzt reduziert sich das Tempo, und die Schweinwerfer biegen ab. Die Gegend unter der Unterführung ist in ein grelles Licht getaucht. Der Wagen hält an. Mitten im Lichtkegel steht Martha. Ihre langen Haare kleben nass am Kopf, und ihre Augen sind weit aufgerissen. Sie hält sich die Arme vors Gesicht, in einer Hand hat sie eine Waffe.

Das Bild wackelt, während es sich von dem Auto wegbewegt. Direkt vor der Kamera sind jetzt zwei ausgestreckte Arme zu sehen. Die Hände umklammern eine Pistole, die auf Martha gerichtet ist.

POLIZIST (HINTERDER KAMERA): Waffe fallenlassen und Hände über den Kopf!

Sie beugt sich vor und lässt die Pistole auf den Boden fallen. Die Kamera wackelt und kommt näher an Martha heran. Sie verschränkt die Hände hinter dem Kopf. Die Kamera zoomt auf Marthas Gesicht, das jetzt den ganzen Bildschirm einnimmt.

MARTHA: Ich war es! Ich habe ihn erschossen! Ich habe Jackson Paige getötet!

Auf der rechten Seite des Studiobildschirms sieht man Marthas Gesicht in einer Großaufnahme, während Joshua auf der linken Seite seufzt und langsam mit dem Kopf schüttelt.

KRISTINA (MITVERHALTENER STIMME): Vielen Dank, Joshua. Wir freuen uns darauf, morgen wieder von dir zu hören.

Für einen Augenblick senkt Kristina ihren Kopf, dann sieht sie wieder in die Kamera.

KRISTINA: Martha Honeydew mag so süß aussehen, wie ihr Name klingt, aber ist sie in Wirklichkeit eine kaltblütige Mörderin, die uns eine der berühmtesten und beliebtesten Persönlichkeiten unserer Zeit geraubt hat? Sie sagt selbst, dass es so ist.

MARTHA (TONAUFNAHME): Ich war es! Ich habe ihn erschossen! Ich habe Jackson Paige getötet!

KRISTINA: Ihre eigenen Worte, lieber Zuschauer. Mit der Tatwaffe in der Hand.

Jetzt wird das Wort ›MÖRDERIN‹ in roten Großbuchstaben diagonal über Marthas Gesicht gestempelt, das immer noch den Bildschirm ausfüllt. Kristina blickt in die Kamera und schlendert dann zu dem geschwungenen Tresen hinüber, der noch im Halbdunkel liegt.

KRISTINA: Ein eindeutiger Fall also. Martha ist der erste weibliche Teenager im Todestrakt, und es sieht ganz so aus, als ob sie auch der erste weibliche Teenager sein wird, der hingerichtet wird. Denn warum sollten Sie, liebe Wähler, an ihren eigenen Worten zweifeln?

Die Nahaufnahme von Marthas Gesicht wird ausgeblendet, und das augenförmige Logo der Sendung erscheint wieder.

Kristina lässt sich auf dem Hocker an einem Ende des Tresens nieder und drapiert ihre langen Beine adrett übereinander. Die Scheinwerfer leuchten den Tresen aus, und man sieht einen dürren Mann, der auf einem Hocker links von Kristina sitzt. Er hat die Schultern so weit hochgezogen, dass sein Kopf winzig wirkt. Seine Haare stehen wirr ab.

KRISTINA: Bevor wir uns einem weiteren Insassen des Todestraktes widmen, wenden wir unsere Aufmerksamkeit einen Moment der Frage zu, was die Promi-Killerin Martha Honeydew in diesem Augenblick tut und wie sie sich fühlt.

Sie schenkt dem Mann ein Lächeln.

KRISTINA: Gus, willkommen.

Er sieht auf und erwidert ihr Lächeln kurz, während seine Augen das Publikum absuchen. Nervös fährt er mit einem Finger über die Innenseite seines Hemdkragens und zieht dann an den Ärmeln seines Jacketts.

KRISTINA: Vor fünf Jahren waren Sie einer dieser Leute. Eingesperrt für ein Verbrechen, für das Sie von der Öffentlichkeit freigesprochen wurden. Sie wissen sicher am besten, wie Martha sich heute Abend fühlt. Was geht ihr wohl gerade durch den Kopf?

GUS (KAUMHÖRBAR): Also, ja, wie Sie schon gesagt haben, hatte man mich beschuldigt, einen Mord begangen zu haben …

Seine tiefe Stimme zittert vor Nervosität.

KRISTINA: Entschuldigen Sie bitte, Gus. Könnten Sie etwas lauter sprechen?

Sein ganzer Körper bebt, als er tief Luft holt.

GUS (JETZTETWASLAUTER): Ja … also … ähm … vor fünf Jahren wurde ich beschuldigt, jemanden umgebracht zu haben, aber … aber dank der Wahl der Zuschauer …

Er blickt jetzt direkt in die Kamera, sein breites Grinsen unbeholfen. Das Studiopublikum applaudiert.

GUS: … wurde ich freigesprochen.

KRISTINA: Und wie war das, Gus? Wie war die erste Nacht in der Zelle? Wie wird sich die Gefangene fühlen, die dort die letzten Tage ihres Lebens verbringen wird?

GUS: Also, zunächst, damit die Zuschauer Bescheid wissen, wurde sie zwar gestern verhaftet, angeklagt und in das System aufgenommen und so weiter, aber sie ist erst heute Morgen im Todestrakt angekommen und deshalb, wie Sie schon erwähnt haben, ist heute ihr erster Tag. Tag eins – Zelle 1. Bis zum Tagesanbruch, genau gesagt. Bei Sonnenaufgang wechselt man die Zelle.

KRISTINA: Und wie genau sieht es in Zelle 1 aus?

Gus’ Finger fahren wieder über die Innenseite seines Hemdkragens, der jetzt schweißgebadet ist. Er sieht zu Boden und runzelt die Stirn.

KRISTINA: Gus, wir verstehen natürlich alle, wie schwer das hier für Sie ist und dass wir viel von Ihnen verlangen, sich an diese Zeit zurückerinnern zu müssen. Aber ich bin mir sicher, Sie wissen, wie wichtig es für uns als Wähler ist, die Situation ganzheitlich zu erfassen. Ich habe schon oft vorgeschlagen, dass Videokameras in den Zellen den Wählern ein umfassenderes Bild der Beschuldigten geben würden.

Sie wendet sich dem Studiopublikum zu.

KRISTINA (NICKEND): Finden Sie nicht auch?

Das Publikum johlt und applaudiert.

KRISTINA: Gus? Zelle 1. Erzählen Sie es uns.

GUS: Ähm … also … es war …

Er sieht auf und betrachtet das Publikum, setzt sich aufrecht hin, fasst mit einer Hand an sein rechtes Ohr und holt tief Luft.

GUS: … einfach. Es gab ein Bett und … ähm … einen Spülstein und … eine Toilette …

KRISTINA: Die Toilette ist in dem Raum, in dem man auch schläft?

Wieder fasst er sich ans Ohr und lacht gekünstelt.

GUS: Ähm … nein … nein, es gibt ein Badezimmer. Das habe ich damit gemeint. Das ist auch kein Spülstein, sondern ein richtiges Waschbecken – und eine Toilette, in dem Badezimmer. Und eine Dusche.

Er schluckt und atmet tief durch.

GUS: In der Zelle … da gibt es Bücher, massenhaft Bücher, und einen Fernseher … ähm … Bilder an den Wänden …

Er knetet seine Hände.

KRISTINA: Also, unter dem Gefängnisaufenthalt eines Kriminellen stellt man sich aber eigentlich etwas Anderes vor, Gus.

GUS (LEISE): Das stimmt wohl …

KRISTINA: Das hört sich ja fast so an, als wird Martha ganz und gar nicht das Gefühl haben, bestraft zu werden. Als Nächstes erzählen Sie mir noch, dass die Zellentüren nicht abgeschlossen werden!

Gus fasst sich wieder ans Ohr, blickt kurz in die Kamera und sieht dann wieder Kristina an.

GUS: Das werden sie nicht.

Kristina lehnt sich mit aufgerissenem Mund zurück und zuckt demonstrativ mit den Schultern.

GUS: Und … sie … die Gefangenen … sie können miteinander reden.

Kristina gibt ein lautes missbilligendes Geräusch von sich.

KRISTINA (DER KAMERAZUGEWANDT): Lassen Sie uns einen Augenblick darüber nachdenken, liebe Wähler, ja? Diese junge Frau hat gesagt, dass sie die Tat begangen hat. Sie hat gestanden, einen Mann kaltblütig über den Haufen geschossen zu haben und hat zugesehen, wie sein Leben langsam verebbt ist. Das hat sie freimütig zugegeben und dabei keinerlei Reue gezeigt. Und jetzt macht sie es sich in ihrer Zelle gemütlich, sieht fern, unterhält sich … und lässt sich das Essen schmecken … Gus, was bekommt sie zu essen?

GUS (MURMELND): Heute Fish-und-Chips, und zum Nachtisch Karamellpudding mit Vanillesoße.

KRISTINA: Nun, die Gerechtigkeit, liebe Zuschauer, liegt wie immer in Ihrer Hand. Lassen Sie uns nun einen kurzen Blick auf die Telefonnummern und Infos zum Voting werfen. Unten am Bildschirmrand sehen Sie jetzt die Nummern eingeblendet, die Sie wählen müssen, wenn Sie über Martha abstimmen möchten. Wählen Sie 0909 87 97 77 und fügen dann bitte die 7 für ›schuldig‹ hinzu oder eine 0 für ›nicht schuldig‹. Sie können natürlich auch per SMS abstimmen. Senden Sie STERBEN oder LEBEN an 7997. Oder besuchen Sie unsere Webseite www.augeumaugeproductions.com, klicken Sie den ›Martha Honeydew Teen-Killer‹-Tab an, und treffen Sie Ihre Entscheidung. Anrufe werden nach den üblichen Gebühren abgerechnet, SMS kosten 5 Pfund, zuzüglich aller Standardgebühren Ihres Anbieters, das Online-Voting kostet ebenfalls 5 Pfund, zuzüglich einer einmaligen Registrierungsgebühr von 20 Pfund. Die Allgemeinen Geschäftsbedingungen finden Sie auf unserer Webseite.

Ein blaues Band mit allen Informationen in silberner Schrift fließt am unteren Rand des Bildschirms entlang.

KRISTINA: Gus, es war wie immer faszinierend, mit Ihnen zu plaudern. Es gibt noch so viel, worüber wir uns unterhalten könnten: das Motiv, eine schwere Kindheit, abwesender Vater, tote Mutter. Aber wir haben ja noch sieben Tage Zeit für weitere anregende Gespräche.

GUS (NUSCHELND): Nicht zu vergessen die psychologische Betreuerin.

KRISTINA: Eine psychologische Betreuerin? Erklären Sie uns das bitte.

GUS (LANGSAM, WIEAUSWENDIGGELERNT): Die psychologische Betreuerin heißt Eve Stanton. Sie ist die einzige Betreuerin, die noch nie an dieser Sendung teilgenommen hat. Gibt nie Interviews. Behält ihre Meinung immer für sich.

KRISTINA: Da weisen Sie auf etwas Wichtiges hin, Gus.

Die Studiokamera ist ausschließlich auf Kristina gerichtet.

KRISTINA: Und ein interessantes Thema ist das obendrein, mit dem wir uns für Sie, liebe Zuschauer, in den nächsten sieben Tagen genauer beschäftigen werden. Es gibt viel zu diskutieren, und wir werden keinen Aspekt auslassen. Bleiben Sie dran. Nach einem kurzen Spot unseres Sponsors Cyber Secure geht es gleich mit dem Angeklagten weiter, der seine letzten Stunden in Zelle 7 verbringt. Welches Urteil erwartet ihn? Leben? Oder Tod? Und welches Urteil wird unsere neueste Insassin des Todestraktes erhalten – die Teen-Mörderin Martha Honeydew?

Die Schweinwerfer im Studio werden heruntergefahren. Gus reißt sich den Ohrstöpsel aus dem Ohr und stürmt aus dem Studio.

Eve

»Was guckst du dir an, Mum?«

Eve nimmt ihre Brille ab und reibt sich die Augen. Ein Lächeln flackert über ihr Gesicht, als sie ihrem Sohn dabei zusieht, wie er in die Wohnküche trabt, sein Laptop auf dem Tisch deponiert und dann den Inhalt des Kühlschranks begutachtet.

Reflexartig sucht sie die Papiere zusammen, die vor ihr auf dem Tisch ausgebreitet liegen, dreht manche um oder steckt sie zurück in Ordner, um Fotos und Namen zu verbergen.

»Eigentlich nichts«, murmelt sie. »Er läuft einfach so.«

Max wirft einen Blick auf den Fernseher, der in der Ecke steht.

»Death is Justice?« Er zieht sich die Knöpfe seines Kopfhörers aus den Ohren, und ein lauter Heavy-Metal-Gitarrensound dröhnt aus ihnen hervor. »Das guckst du doch sonst nie!«

Er schnappt sich eine Saftflasche und lässt sich ihr gegenüber am Tisch nieder. Er schraubt den Deckel der Flasche ab und sieht ihr dabei zu, wie sie ihre Papiere zusammensucht.

»Bist du die psychologische Betreuerin? Für dieses Mädchen? Die, die Jackson Paige umgebracht hat?«

»Wer sagt denn, dass sie ihn umgebracht …?«

»Krass, das stimmt also, oder?«

»Außerdem weißt du doch gar nicht, ob sie …« Sie schließt die Augen, stützt die Ellenbogen auf den Tisch und legt den Kopf in die Hände.

Einen Augenblick lang beobachtet er sie. Dann nimmt er die Fernbedienung und schaltet den Fernseher aus.

»Guck dir das nicht an«, murmelt er. Er steht auf, schenkt eine Tasse Kaffee aus der Maschine ein und stellt sie vor Eve hin. »Das ist Schrott. Und außerdem manipulieren die einen.«

»Max …«

»Jedes Kind weiß das, aber keiner sagt was. Das ist der absolute Bullshit und keine Gerechtigkeit.«

Sie zuckt sichtlich zusammen.

Er nimmt einen Schluck Saft. »Hast du was gegessen?«

»Noch nicht«, nuschelt sie. »Aber … Frühstück … ein Brot zum Mittag.«

Er schüttelt den Kopf. »Komm.« Am Ellenbogen führt er sie zum Sofa.

»Du musst dich nicht um mich kümmern«, protestiert sie.

»Wer soll es denn sonst? Setz dich.«

Sie sinkt in die Kissen, und er nimmt ihre Beine hoch und legt sie auf die Sitzfläche.

»Bleib, wo du bist. Ich mach dir was zu essen.«

Als Max mit einer Schüssel Nudeln zurückkehrt, schläft Eve fest. Er breitet eine Decke über ihr aus, dreht das Licht runter und zieht sich in die Küchenzeile zurück. Er setzt sich an den Tisch, nimmt eine Gabelvoll in den Mund und starrt auf die Akten und Papiere vor sich.

Während er kaut, schielt er kurz zu Eve hinüber. Sie liegt mit dem Kopf gegen das Sofa gekuschelt und atmet tief. Er legt die Gabel auf den Tisch und dreht das erste Blatt Papier um.

Martha

Irgendwas hat mich aufgeweckt. Muss wohl eingenickt sein. Das grelle Licht brennt mir in den Augen, als ich sie aufschlage. Ich höre Stimmen. Jemand singt oder betet, jemand weint.

Ob wohl alle Zellen besetzt sind? Sieben Zellen und sieben Inhaftierte, die darauf warten hingerichtet zu werden?

Kann ich mir nicht vorstellen. Ich habe gehört, die sind nie ganz voll. Die Todesstrafe bewirkt so was, sagen die Leute. Sie führt dazu, dass sich die Menschen zusammenreißen. Bloße Gerüchte über zukünftige Todestrakte in Birmingham, Manchester und weiteren Städten reichen schon zur Abschreckung aus.

Die Beschuldigten werden einfach von überall hierher verfrachtet, nach London. Und wenn man niemanden in der Nähe hat, der einem etwas bedeutet? Keine Familie? Was zum Teufel macht das schon? Man verdient ja sowieso keinen Besuch. Ein Gefangener verliert alle Rechte, sobald er in Verdacht gerät.