Martini für drei - Suzanne Rindell - E-Book

Martini für drei E-Book

Suzanne Rindell

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Beschreibung

New York, 1958: Die Stadt ist im Aufbruch, besonders das lebendige Stadtviertel Greenwich Village mit seinen Jazzclubs und dem Geist der Beat Generation. Drei junge Menschen haben den Traum, in der aufstrebenden Verlagsbranche ihren Platz zu finden. Cliff, der Sohn eines berühmten Verlegers, ist überzeugt, der nächste große Star am Literaturhimmel zu werden. Eden träumt davon, Lektorin zu werden, wenn sich ihr nur nicht dauernd Steine in den Weg legen würden. Während Miles bereits am Ziel seiner Wünsche angekommen zu sein scheint, auf dem Weg zum umjubelten Schriftsteller. Die Wege der drei kreuzen sich auf ungeahnte Weise ...

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Seitenzahl: 785

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Zum Buch

New York, 1958: Die Stadt ist im Aufbruch, besonders das lebendige Stadtviertel Greenwich Village mit seinen Jazzclubs und dem Geist der Beat Generation. Drei junge Menschen haben den Traum, in der aufstrebenden Verlagsbranche ihren Platz zu finden. Cliff, der Sohn eines berühmten Verlegers, ist überzeugt, der nächste große Star am Literaturhimmel zu werden. Eden träumt davon, Lektorin zu werden, wenn sich ihr nur nicht dauernd Steine in den Weg legen würden. Während Miles bereits am Ziel seiner Wünsche angekommen zu sein scheint auf dem Weg zum umjubelten Schriftsteller. Die Wege der drei kreuzen sich auf ungeahnte Weise …

Zur Autorin

SUZANNE RINDELList die preisgekrönte Autorin von Die Frau an der Schreibmaschine, ihr vielgelobtes und extrem spannendes Debüt über Singlefrauen in den Roaring Twenties in New York – und den ein oder anderen Mord. Keira Knightley wird in der geplanten Verfilmung die Hauptrolle spielen. Suzanne Rindell lebt in New York.

Suzanne Rindell bei btbDie Frau an der Schreibmaschine. Roman

SUZANNE RINDELL

Martini für drei

Roman

Aus dem Amerikanischen von Ute Brammertz

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel »Three Martini Lunch« bei G. P. Putnam’s Sons, New York.

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Deutsche Erstveröffentlichung Juni 2019, btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Copyright © der Originalausgabe 2016 by Suzanne Rindell

Published by arrangement with G. P. Putnam’s Sons, an imprint of Penguin Publishing Group, a division of Penguin Random House LLC

Covergestaltung: Semper Smile nach einem Entwurf von Jenny Carrow

Covermotiv: Getty Images

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

SL · Herstellung: sc

ISBN 978-3-641-21088-5V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlag

Für Amy Einhorn und Jake Morrissey, vormals »Job-Ehefrau« und »Job-Ehemann«.

Es ist nur angemessen, dass ein Buch über das Verlagswesen Lektoren gewidmet ist.

»Niemand ist je dadurch Schriftsteller geworden, dass er es unbedingt wollte.«

F. SCOTT FITZGERALD,in einem Brief an seine Tochter und aufstrebende Schriftstellerin Scottie

CLIFF

1

Greenwich Village im Jahr ’58 war das Paradies der Verrückten. Wir zogen durch die Gegend, tranken zu viel Kaffee, rauchten zu viel Cannabis und redeten die ganze Zeit über Lyrik und Nietzsche und Bebop. Ich war mit den Typen unterwegs, die ich von der Columbia kannte – außerdem dem einen oder anderen farbigen Jazzmusiker oder Benzedrin-Süchtigen –, und zusammen bekifften wir uns und fuhren mit der Subway zum Washington Square. Man kann wohl sagen, dass ich meine Columbia-Kumpels ganz gern mochte. Es waren prima Kerle, aber wenn man es sich recht überlegte, waren sie eine Bande von Möchtegern-Poeten in Tweed, und ich wusste, dass ich mich mit der Zeit von ihnen lösen würde. Ihre Väter waren Banker und Anwälte, und sobald ihre Faszination für lyrische Manifeste abklang, würden sie sich häuslich niederlassen und ebenfalls Banker und Anwälte werden und eine hübsche Debütantin heiraten. Ehrlich gesagt vergeudete ich die Zeit an der Uni größtenteils und strengte mich nicht sehr an, da ich das Interesse verloren hatte. Mit jedem weiteren Tag reifte in mir die Überzeugung, dass die Hochschule nutzlos war, und je mehr Zeit ich südlich der 14th Street verbrachte, desto offensichtlicher wurde es, dass das Village meine wahre Ausbildung war.

Als ich endlich das Handtuch warf und meinen letzten Kurs an der Columbia hinschmiss, kam mein alter Herr in mein Apartment in Morningside Heights und schnüffelte herum. Er ähemte leise vor sich hin, fingerte an den wächsernen Blättern der Pflanzen am Fenster herum und setzte sich endlich, sodass der Wasserfleck auf dem abgelegten Louis-XVI-Sofa, das meine Großtante als zu hässlich befunden hatte, um es in ihrem eigenen Apartment zu behalten, von seinem Hinterteil verdeckt wurde. Gemeinsam tranken wir zwei Fingerbreit Bourbon pur und dann schüttelte er auf würdevolle Art meine Hand und erklärte mir, der beste Ratschlag, den er mir zu jenem Moment in meinem Leben geben könne, sei, Eigenständigkeit zu entwickeln. Sein Plan bestand hauptsächlich darin, mich vom Familienvermögen abzuschneiden und lange Reden über die überragende Qualität verdienter Freuden zu schwingen.

Sobald mein alter Herr mir die Nachricht verkündet hatte, dass ich meinen eigenen Weg würde gehen müssen, ging alles ziemlich schnell. Ich veranstaltete zwei laute Partys und bezahlte die Miete nicht, woraufhin mich der Vermieter ruckzuck vor die Tür setzte und ich mir eine neue Bleibe suchen musste.

Und so mietete ich zum Auftakt meiner Erkundung des relativen Wertes verdienter Freuden im Village ein Ein-Zimmer-Apartment ohne Warmwasser und mit Toilette auf dem Gang. Der Deckel des Spülkastens fehlte, und ich weiß noch, dass ich meinen Gangnachbarn Grauenvolles antat, indem ich eines Nachts betrunken nach Hause kam, mich übergeben musste und dabei den offenen Spülkasten mit der offenen Kloschüssel verwechselte. Doch selbst ohne meine vom Whiskey herrührenden Verschönerungen war das Haus ein Drecksloch. Es war ein richtig schäbiges Apartment, und wenn es regnete, warf die Farbe an den Wänden schlimme Blasen, doch es gefiel mir, in der Nähe der Kellercafés zu wohnen, wo die Menschen leidenschaftlich mit Worten experi­mentierten, was ich damals noch ziemlich aufregend fand. Zu jener Zeit konnte man durch die Straßen um den Washington Square laufen und irgendwo einer schmalen Treppe nach unten folgen und auf einmal stand man in einem schwarz gestrichenen Raum mit roten Glühbirnen, in dem gerade jemand vor einer Menschenmenge stand und rief, Amerika solle zur Hölle fahren, oder in dem ein anderer vielleicht die Geburt einer heiligen Kuh in Indien nachspielte. Es war alles ein bisschen hysterisch, und man wusste nie so recht, was man als Nächstes zu sehen bekam, aber nach einer Weile merkte man, dass man hauptsächlich den immer gleichen Menschen über den Weg lief.

Miles, Swish, Bobby und Pal hatte ich natürlich schon im Village gesehen und sie mich ebenfalls. Da wir alle einen Hang zur Kunst hatten, war unser Umgang recht freundschaftlich. Ich kannte ihre Gesichter, und ich wusste, wie sie hießen, doch an dem Abend, als ich so richtig auf den Plan trat, war ich in so erbärmlicher Verfassung, dass es sich ihrerseits um einen echten Gnadenakt handelte. Ich sollte meine Gedichte zum allerersten Mal in einem Laden namens Sweet Spot vorlesen. Am Nachmittag hatte mich beim Überfliegen der Seiten auf einmal die Erkenntnis getroffen, dass sie nichts taugten. Angesichts dieser Offenbarung packte mich eine solche Angst, dass sich bald mein ganzer Körper wie gelähmt anfühlte, und ich spürte, dass mir schon der üble Gestank meines bevorstehenden Misserfolgs anhaftete. Die Gedichte waren schlecht und daran ließ sich nicht rütteln. Meine ­Lösung lautete Whiskey, und als ich um sechs Uhr eine halbe Flasche weggekippt hatte, fingen die Gedichte endlich an, besser auszusehen als um drei Uhr nachmittags. In meiner törichten Verfassung entschied ich, dass das Leeren der anderen Hälfte der Flasche dazu führen würde, wenigstens noch eine gewisse lyrische Verbesserung zu erzielen. Als ich die Bühne betrat, konnte ich mich kaum noch aufrecht halten. Irgendwie gelang es mir, zwei Gedichte zu deklamieren … jedenfalls mehr oder weniger …, bevor ich hörte, wie der Holzhocker neben mir polternd zu Boden fiel, und ich spürte, wie der kalte, klebrige, schwarz gestrichene Boden wie eine anschwellende Woge bis zu meiner Hüfte und Schulter und, Sekunden später, bis zu meinem Gesicht emporstieg.

Als ich wieder zu Bewusstsein kam, lag ich auf einer Couch in Swishs Apartment, und die ganze Bande saß um den Küchen­tisch und unterhielt sich lautstark über Charlie Parker, während sich eine bedeutende Schallplatte von ihm auf einem Plattenteller in der Nähe meines Kopfes drehte. Ein paar Minuten später kam Pal zu mir und reichte mir einen kühlen Waschlappen für mein geprelltes Gesicht. Dann stieß Bobby einen Pfiff aus und stellte fest, ich hätte »irgendwie einen irren Stil«, und das in einem bewundernden Tonfall, der bei mir den Gedanken aufkommen ließ, die beiden Gedichte, an deren Vortrag ich mich erinnern konnte, seien doch nicht so mies gewesen, und dass es vielleicht sogar stimmte, dass ich, indem ich mich besoffen hatte, die wahrhaftigste Wahl getroffen hatte, die ein Künstler treffen konnte, wie van Gogh mit seinem Absinth. Ihnen war anzusehen, dass sie abwogen, ob ich ein Aufschneider oder ein Genie war. Und dass sie eventuell offen für die zweite Möglichkeit sein könnten, bestärkte mich und erfüllte mich mit einer Art benommenem Stolz. Dann kochte Swish Kaffee auf dem Herd und brachte mir eine Tasse. Er erklärte mir, Kaffee sei seine Religion, und er könne es nicht ausstehen, wenn seine Gäste Milch oder ­Zucker nahmen, also solle ich niemals erwarten, bei ihm etwas von dem Zeug angeboten zu bekommen. Der Kaffee war so dickflüssig, dass man einen Löffel in die Mitte der Tasse hätte stecken können und er aufrecht darin stehen geblieben wäre, ohne den Tassenrand zu berühren. Als ich Swish später besser kennenlernte, erzählte er mir, so koche man ihn auf der Straße, und wenn man seinen Kaffee einmal so getrunken habe, schmecke alles andere wie Wasser. Swishs romantische Leidenschaft für Cowboy-Kaffee muss wohl ein bisschen auf mich abgefärbt haben, denn nach dieser Nacht belächelte ich spöttisch alles, was zufälligerweise einen Cremeton oder gesüßten Geschmack aufwies.

Swishs Vorname lautete Stewart, und man hatte ihm den Spitznamen Swish gegeben, weil er es immer eilig hatte. Er war einer dieser drahtigen, nervösen Typen voll überschüssiger Energie. Nachdem ich ein paar Schlucke von Swishs Kaffee getrunken und es geschafft hatte, die Stirn noch ein wenig mehr mit dem Waschlappen zu bearbeiten, ging es mir gut genug, um mich am Küchentisch zu ihnen zu gesellen und mich in das Gespräch über Dizzy Gillespie und ­Charlie Parker einzuklinken, und auf einmal war es, als hätte ich schon immer einen Platz an dem Tisch gehabt und es nur nicht gewusst. Das fieberhafte Tempo ihres Geplauders war ansteckend. Sie unterhielten sich wie Jazzmusiker, die improvisierten, und ich hoffte, dass ein Teil davon den Weg in mein Schreiben fände. Zu fünft leerten wir eine Kanne Kaffee, zwei Schachteln Zigaretten und vierzehn Flaschen Bier und teilten das vage Bewusstsein, dass sich ein kleiner, aber fester Bund gebildet hatte.

Swish unterhielt uns mit seinen Abenteuern, wie er wie ein Hobo mit dem Zug quer durch Amerika gefahren war, und erzählte von dem Jahr, das er in der Handelsmarine verbracht hatte. Obwohl er die Highschool nie abgeschlossen hatte, war es ihm doch gelungen, seinen Geist mit vielen guten, soliden Dingen zu füttern, und im Gespräch mit Swish wurde mir klar, dass all die Kerle an der Columbia, die sich einem überlegen fühlten, weil sie auf die Exeter oder Andover gegangen waren, im Grunde voller Pferdescheiße sind, denn hier war Swish, weitaus belesener als so manch anderer, und seine Schulbildung war ihm völlig kostenlos von der öffentlichen Bücherei bereitgestellt worden. Ich hatte Angst, ich könnte Swish vielleicht gekränkt haben, denn nach einer Bemerkung meinerseits setzte er zu einem großen hitzigen Vortrag über John Locke, Michail Bakunin und Thoreau an. Doch meine Sorge, ihn gekränkt zu haben, war unbegründet, denn später wurde mir klar, dass Swish zu den Menschen gehörte, die von Natur aus streitlustig waren.

Nachdem Swish damit fertig war, auf den Anarchietheorien des alten Michail herumzureiten, erkundigte ich mich bei ihm, womit er seinen Lebensunterhalt verdiente, nachdem seine Zeit als Hobo nun vorüber war.

»Fahrradbote«, erwiderte er. »Miles hier auch.«

Ich betrachtete Miles, der nicht so ganz in die Gruppe zu passen schien. Er war ein schlanker, athletisch aussehender Neger mit scharf geschnittenen Wangenknochen, die ihn arrogant hätten wirken lassen, wären sie nicht durch seine grüblerischen Augen ausgeglichen worden. Er trug die Art Hornbrille, die damals im ganzen Village angesagt war. Er nickte, fügte aber keine weitere Erklärung hinzu, woraus ich schloss, dass das Dasein als Fahrradbote nicht seine Hauptleidenschaft war. Ich schätzte ihn eher als Jazzmusiker ein. Schließlich hatte er dazu den passenden Namen und das Aussehen.

Wie dem auch sei, das Gespräch kam auf mich und meine Ambitionen, und während ich dort am Tisch saß, mich schon ziemlich wohlfühlte und alles so vertraut wirkte, gestand ich ein, ich sei letztens zu dem Schluss gekommen, Schriftsteller zu werden. Das einzige Problem bestehe darin, dass ich, seitdem ich diese Entscheidung getroffen hätte, an einer vorübergehenden Schreibblockade leide.

»Ich sag dir, was du machst«, erklärte Swish, dessen drahtiger Körper sich vor Überzeugung anspannte. »Spring auf den nächsten Güterwagen auf und fahre so lange mit, bis du so voller Ideen bist, dass deine Finger im Schlaf zucken.«

»Tja, ich für meinen Teil glaube, es müsste mit der altmodischen Methode klappen, einfach mit jemandem ins Bett zu steigen«, warf Bobby ein. »Es ist wichtig, die Säfte in Wallung zu halten.«

»Sagt der Kerl, der so sehr damit beschäftigt ist, zwei Mädchen gleichzeitig zu vögeln, dass er es zu keinem seiner Vorsprechen schafft«, entgegnete Swish. Ich fragte sie, was sie damit meinten. Wie sich herausstellte, wollte Bobby Schauspieler werden, doch das größte Hindernis bei der Verwirklichung dieser Ambition war seine überwältigende Schönheit. Unter normalen Umständen wäre das kein Problem für einen Schauspieler, doch in Bobbys Fall hielt es ihn viel zu sehr auf Trab, um noch viel auf die Bühne zu kommen. ­Wohin er auch ging, stets wollten laut kreischende Mädchen wie auch sanft säuselnde Männer ihn ins Bett bekommen, und da Bobby immer alle glücklich machen wollte, spielte er überall mit und vergab nur ungern Körbe. Derzeit machte er im Besonderen zwei Mädchen glücklich. Ein Mädchen wohnte mit einer Mitbewohnerin drüben in der Morton Street, und die andere im Albert Hotel in der East 11th, sodass Bobby ständig von einem Ende des Village zum anderen jagte.

Bobbys Empfehlung, ich solle ein Mädchen (oder zwei oder drei) vögeln, um meine Schreibblockade zu überwinden, schien Pal in seinem Sinn für Ritterlichkeit zu kränken und verlieh ihm eine gewisse Befangenheit: Er rutschte auf seinem Stuhl herum und betrachtete eingehend das Etikett seiner Bierflasche. Er war bei Weitem das ruhigste und am schwersten zu deutende Mitglied der Gruppe. Später erfuhr ich, dass Pals richtiger Name Eugene lautete und er nach der Stadt in Oregon benannt war, in der er auf die Welt gekommen war. Auf den ersten Blick hielten ihn Leute häufig für einen sanften Riesen. Er war beinahe einen Meter neunzig groß und besaß die schläfrig-blauen Augen eines Kindes, das gerade aus dem Mittagsschlaf erwacht war, und wenn er ­Lyrik vorlas oder auch einfach nur redete, schwang in seiner Stimme immer eine Art von Ehrfurcht mit, die einem das Gefühl gab, er schenke der Welt größere Aufmerksamkeit, als man selbst das tat.

»Wie sieht’s aus, Miles?«, setzte Swish das Gespräch fort. »Was hilft deiner Meinung nach gegen eine Schreibblockade?«

Ich wusste nicht, warum Swish die Frage an Miles richtete. Es machte mich nervös, dass Bobby, nachdem ich meinen Studienabbruch an der Columbia erwähnt hatte, herausgerutscht war, dass Miles kommenden Juni an eben dieser Einrichtung seinen Abschluss machen werde. Die Gläser von Miles’ Brille blendeten uns, als er überrascht aufblickte.

»Tja«, sagte er nach reiflicher Überlegung, »Lesen hilft wohl immer. Es heißt, um irgendetwas Gutes zu schreiben, sollte man viel mehr lesen, als man schreibt.«

»Oh, da bin ich mir gar nicht so sicher«, sagte ich. Auf einmal war ich in gereizter, eigensinniger Laune. Die Art, wie er sich mit solcher Autorität zu dem Thema geäußert hatte, brachte mich irgendwie auf. »Das Wichtigste, was ein Schriftsteller tun muss, ist, seinen eigenen Ideen treu zu bleiben und zu schreiben. Ich lese keine Bücher von anderen, wenn ich zu schreiben versuche, ich lese nur immer wieder meine eigenen Sachen, und ich denke, so machen es die echten literarischen Größen.«

Darauf erwiderte Miles nichts, sondern nickte nur mit verkniffenem Mund. Es war ein höfliches Nicken, und ich spürte, dass sich dahinter eine Meinungsdifferenz verbarg, und auf einmal stieg Ärger in mir auf.

»Wie dem auch sei, Kumpels, ich glaube, ich habe euch einen falschen Eindruck von mir vermittelt, denn so sehr stecke ich eigentlich gar nicht fest«, erklärte ich, da ich entschied, dass es Zeit für einen Themawechsel war. »Ich habe stapelweise Zeug geschrieben, und mir kommen ständig neue Ideen.«

Das stimmte größtenteils, und je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr begann ich zu erwägen, dass es sich vielleicht gar nicht um eine Schreibblockade handelte, sondern eher um die Erkenntnis, dass sich meine Energie erst anstauen musste, um eine kritische Masse zu erreichen. Damals sprach gerade jeder in der Gegend von einem berühmten Hipster, der einen ganzen Roman in drei Wochen mit nichts als Kaffee und Bennies geschrieben habe, und der alle Ideen in sich angestaut habe, bis es nur so aus ihm herausgeströmt sei. Das Ergebnis sei von einem richtigen Verleger veröffentlicht worden, und ich dachte mir, vielleicht könnte diese Vorgehensweise auch für mich funktionieren. Wenn ich nur die nervöse Energie meiner Generation in mir aufsog und sie in mir ansammelte, bis sie oben überlief, war ich mir sicher, dass es schließlich zu einer großen Flut kommen würde. Swish, Bobby und Pal schienen alle Teil dieses Prozesses zu sein, und ich war sehr froh, dass sie mich in die Gruppe aufgenommen hatten. Selbst Miles taugte zu etwas, denn er spornte einen an wie ein Rivale, bessere Arbeit zu leisten. Vielleicht lag es an der Mischung aus Whiskey und Kaffee und Bier und Bennies, aber auf einmal hatte ich dieses Hochgefühl, das einen befällt, wenn man merkt, dass man sich inmitten eines wichtigen Nervenzentrums befindet. Ich schloss die Augen und spürte den Puls des Village durch meine Adern donnern, und auf einmal war ich sehr zuversichtlich, was all die Dinge betraf, deren Verwirklichung mir vorherbestimmt war.

2

Im Rückblick lässt sich sagen, dass New York in den Fünfzigerjahren ein einzigartiger Ort war. Wenn man damals in Manhattan wohnte, erlebte man diese Einzigartigkeit in den Farben und Aromen der Stadt, die schärfer umrissen und unter­schiedlicher waren, als sie es in anderen Städten oder zu anderen Zeiten waren. Wenn man mich fragt, war das wohl dem Krieg geschuldet. Die ganze Energie der Kriegsanstrengungen floss nun in die Herstellung von Neonschildern, glänzend verchromten Stoßstangen und bunten Plastikartikeln – eine breite Angebotspalette knalliger Resopaltöne, die keine Wünsche offenließ. Alles war im Sonderangebot, die Leute hatten das nötige Kleingeld in den Taschen, und zu allem Überfluss schwirrte ständig die Atombombe in unseren Hinterköpfen herum, ihr grellweißes Aufblitzen und der Schatten ihrer Pilzwolke tauchten unsere ganze Umgebung in ein imaginäres, aber doch brisantes Licht.

Kurz nachdem die Leute mich in Swishs Apartment wiederbelebt hatten, verbrachte ich regelmäßig Zeit mit der Gang, und schon bald fand ich heraus, dass Miles ebenfalls Schriftsteller war. Ich hätte es schon die ganze Zeit über wissen sollen, denn alle, die jung und hip waren und damals in New York lebten, wollten immer nur das eine, und das war, Schriftsteller zu werden. Jahre später wollten sie Folkmusiker oder auch Töpfer werden, seltsam geformte Tonvasen modellieren, aber im Jahr ’58 war Schreiben das große Ziel, und besonders legte man es darauf an, etwas Wahreres und Reineres als alles Vorangegangene zu Papier zu bringen.

Es gab viele unterschiedliche Meinungen darüber, was es brauchte, um ein guter Schriftsteller zu werden. Die Menschen in der Stadt wollten immer raus und nach Westen ziehen, und die Menschen draußen im Westen wollten immer in die Stadt hinein. Jeder hatte ständig das Gefühl, draußen zu stehen und nach drinnen zu starren, doch in Wahrheit neigte die Hipster-Szene einfach nur dazu, alles umzukrempeln, während es einzig und allein darum ging, dass wir alle gemeinsam Außenseiter waren.

Ich hatte schon immer gelegentlich probeweise vor mich hin geschrieben, aber ernsthaft versuchte ich es erst, als ich von der Columbia abging, mir der Geldhahn zugedreht wurde und ich ins Village zog, und darin lag vielleicht eine gewisse Ironie, denn mein alter Herr war Lektor in einem großen Verlag. Er hatte selbst Schriftsteller werden wollen, hatte allerdings eine andere Richtung eingeschlagen und war stattdessen Lektor geworden, auch wenn er es den Leuten, die zum Abendessen kamen, nie so erzählte. Wenn Leute zum Abendessen kamen, erzählte er hauptsächlich Witze über Schriftsteller. Wie sich herausstellte, lassen sich über Schriftsteller reichlich Witze erzählen.

Ich hegte meinem alten Herrn gegenüber viele komische Gefühle. Einerseits gab es da eine ziemlich lausige Geschichte, in die er in Brooklyn verwickelt war und von der er glaubte, ich wüsste nicht Bescheid. Doch andererseits war er einer dieser legendären Männer, zu denen man einfach unwillkürlich aufsehen muss. Er hatte eine magnetische Persönlichkeit. Damals war mein alter Herr der König der sogenannten Drei-Martini-Lunches. Das bedeutete, dass mein Vater in schummrigen Steakhäusern in ganz Manhattan bei Gin und Austern kühne, impulsive Deals schloss. So machte man das zu jener Zeit. Das Verlagswesen war ein Ort für rücksichtslose Männer voller Lebenshunger. Sicher, die schüchternen Typen in Tweed überlebten ganz gut in dem Geschäft, aber es waren die redseligen Bonvivants, die wirklich gediehen und der Welt ihren Stempel aufdrückten. Die Lunches waren lang, Spesenkonten waren großzügig bemessen, und die Martinis befeuerten häufig enorme Mengen an Schmeicheleien und Lob. Natürlich befeuerte all dieser Alkohol auch Kränkungen, und der Arbeitstag war eigentlich erst zu Ende, wenn ­jemand von Norman Mailer beleidigt worden war oder auf die eine oder andere Weise die guten alten Boxhandschuhe hervorgeholt hatte.

Ich war mit Leib und Seele Schriftsteller, und mein alter Herr war mit Leib und Seele Lektor, und man könnte meinen, wir beide hätten eine bombige Kombination abgegeben, doch mein großes Problem bestand darin, dass mein alter Herr und ich unsere Querelen hatten, und ich hatte ihm eigentlich nichts von meinen neuesten Ambitionen erzählt. Er hatte sich schon immer enttäuscht über meine glanzlosen schulischen Leistungen geäußert, und da ich die Uni nun hingeschmissen hatte und meine ganze Zeit im Village verbrachte, hielt er mich für einen jazzverrückten Trunkenbold. Seine Vorstellung von gutem Jazz war Glenn Miller, und es war seine persönliche Überzeugung, dass man, wenn man irgendetwas anderes hörte, ein Rauschgiftsüchtiger oder dergleichen war.

Doch ob mein alter Herr mir nun helfen würde oder nicht, ich war entschlossen, den Durchbruch als Schriftsteller zu schaffen. Manchmal war es tatsächlich befriedigender, mir vorzustellen, Schriftsteller zu werden, ohne dass mein alter Herr auch nur Wind davon bekam. Ich hatte zwei Kurzgeschichten geschrieben, die in meinen Augen sehr gut waren, und es war nur logisch, dass ich im Laufe der Zeit einen Roman schreiben würde, der ebenfalls gut wäre. Ich dachte viel darüber nach, wie es wäre, wenn ich erst einmal den Durchbruch geschafft hätte, über die großartigen Rezensionen, die ich in der Times und der Herald Tribune zu meinem Roman bekäme, die Preise, die mir wahrscheinlich verliehen werden würden, und wie mich sämtliche Zeitungsleute bei Martinis im 21 Club interviewen wollten. Doch das Problem war, dass ich manchmal so sehr damit beschäftigt war, in Gedanken imaginäre Entwürfe der guten Rezensionen zu verfassen, die ich bestimmt bekommen würde, dass das Schreiben des eigent­lichen Romans behindert wurde.

An Tagen, an denen es mir schwerfiel, auf die Schreibmaschine einzuhämmern, begann ich, mir kleine Besorgungen vorzunehmen, die ich an den Abenden erledigte und die gewöhnlich einschlossen, nach unten in die Cafés zu gehen, um Swish und Bobby und Pal etwas Wichtiges zu erzählen, das ich an dem Tag über das Schreiben und das Dasein und die Existenz entdeckt hatte. Nachdem ich diese Nachricht überbracht hatte, war es selbstverständlich notwendig, zu bleiben und gemeinsam ein Bier zu trinken und auf den Umstand anzustoßen, dass wir zum Philosophendasein geboren waren und deshalb verstanden, was es bedeutete, wirklich zu sein. Manchmal war Miles da und manchmal war er es nicht, und mir fiel der Unterschied nicht immer auf, weil er so reserviert war und sich nur peripher im Umfeld unserer Gruppe aufhielt.

Doch Miles war eines Nachmittags da, als ich zum Schreiben in ein Café ging. Ich hatte entschieden, dass mein ­lausiges Einzimmerapartment zum Teil an meiner Schreibblockade schuld war und dass ich versuchen sollte, in einem Café zu schreiben. Schließlich hatte Hemingway das in Paris ebenfalls getan, und wenn die Methode für Hemingway funktioniert hatte, dann war sie ja wohl auch gut genug für mich. Das Café, auf das meine Wahl zufälligerweise fiel, war an dem Tag sehr belebt, und die Tische waren bei meinem Eintreffen alle besetzt, aber ich erspähte Miles an einem gemütlichen Tisch in der anderen Ecke des Raumes, und ­gerade als ich ihn bemerkte, blickte er auf und sah mich ebenfalls.

»Elender Tag da draußen«, sagte ich im Hinblick auf den Regen.

»Ja.«

Miles und ich hatten nie Zeit zu zweit verbracht, und nun, da wir allein waren, herrschte natürlich eine gewisse Verlegenheit zwischen uns, und es dämmerte uns beiden, wie wenig wir eigentlich voneinander wussten. Ich beäugte die Gegenstände auf dem Tisch, um vielleicht Mutmaßungen ­darüber anstellen zu können, was er vor meinem Eintreten getrieben hatte.

»Schreibst du auch etwas?«, fragte ich beim Anblick des Notizbuches und der verräterischen Tintenflecke auf Daumen und Zeigefinger.

»Ich spiele nur herum«, antwortete Miles, aber mir war klar, dass das gelogen war, denn aus dem Notizbuch ragten ein paar maschinengeschriebene Seiten, was bedeutete, dass Miles an dem, woran auch immer er gerade arbeitete, genug lag, um sich die Mühe zu machen, es abzutippen.

»Wie ich sehe, besitzt du eine Schreibmaschine.« Ich deutete auf die Blätter.

»Die Bücherei besitzt eine.« Er sah verlegen aus. Ich wusste nicht zu sagen, ob die Verlegenheit daher rührte, dass er zu arm war, um eine Schreibmaschine zu besitzen, oder daher, dass er das Schreiben offensichtlich ernster nahm, als er hatte zugeben wollen.

»Und verlangen sie eine Gebühr dafür?«, fragte ich, um Konversation zu betreiben.

Er nickte. »Zehn Cent die halbe Stunde. Ist nicht so wild. Ich habe mir mittlerweile beigebracht, recht schnell zu tippen.«

»Das ist großartig«, erwiderte ich. »Sag mal, macht es dir etwas aus, wenn ich mich zu dir setze und selbst ein bisschen herumprobiere?«, kam ich endlich auf den Punkt.

»Natürlich nicht«, erwiderte Miles und schob auf dem Tisch eine Kaffeetasse und ein paar Papiere aus dem Weg. Er hatte eine sehr höfliche, förmliche Art an sich, und es war schwer zu sagen, ob es ihm eigentlich doch etwas ausmachte. Aber ob es ihm nun etwas ausmachte oder nicht, tat nichts zur Sache, denn er hatte schließlich Ja gesagt, und ich musste schreiben, und es gab wirklich keine anderen Tische, und ich würde mich nicht nach einem anderen Café umsehen, denn zu dem Zeitpunkt schüttete es längst wie aus Kübeln. Ich zog mein Notizbuch und meinen Füllfederhalter hervor und machte mich an die Arbeit, indem ich die dünnen blauen Linien anstarrte, die über das weiße Papier verliefen. Ungefähr zehn Minuten verstrichen, und ich hatte die leere Seite mittlerweile eingehend studiert. Dann fing meine Nase an zu jucken, und mein Knie wippte unter dem Tisch. Ich blickte zu Miles auf und beobachtete, wie er fieberhaft in sein Notizbuch kritzelte. Ich war neugierig, was einen solchen Sturzbach bei ihm bewirkt hatte. Er war so ins Schreiben vertieft, dass er mein Starren nicht bemerkte. Schließlich fragte ich ihn, woran er arbeitete. Als ich ihn das erste Mal fragte, hörte er mich nicht, also räusperte ich mich und fragte erneut, diesmal lauter. Er zuckte zusammen, als hätte ich ihn aus einer Trance geweckt, und blinzelte mich an.

»Es ist eine Kurzgeschichte, schätze ich mal …«, antwortete er. Das war neu für mich, denn wie schon gesagt, hatte keiner sich die Mühe gemacht, mir zu sagen, dass Miles überhaupt schrieb, geschweige denn Prosa. Sein Studium an der Columbia zusammen mit seiner Schreiberei weckten allmählich eine gewisse Unruhe in mir, weil wir so vieles gemeinsam hatten. Etwas an Miles erfüllte mich mit Unbehagen.

»Ich weiß nicht, ob sie überhaupt etwas taugt«, sagte er.

»Na, warum lässt du mich nicht einen Blick darauf werfen?«, überrumpelte ich ihn und griff nach dem Notizbuch, bevor er sich widersetzen konnte. »Ich weiß, was gute Prosa ist. Mein alter Herr ist Lektor bei Bonwright.« Bei diesen Worten weiteten sich seine Augen, und ich wusste, dass ich ihn kurzzeitig zum Schweigen gebracht hatte. Ich klappte das Notizbuch auf und ließ den Blick über die ordentliche Kursivschrift auf der Seite schweifen.

Es war nicht schlecht. Miles schrieb eigentlich ganz passabel – abgesehen von dem Umstand, dass sein Ton sehr gewählt und etwas altmodisch war, was wahrscheinlich daran lag, dass er ein gebildeter Neger war. Alle gebildeten Neger, die ich je gekannt hatte, waren immer ein wenig steif und nahmen ihre Ausbildung meiner Meinung nach etwas zu ernst. Aber insgesamt war ersichtlich, dass er mit Wörtern umgehen konnte, und es war gar nicht übel. Ich musste zugeben, dass mir die Geschichte ganz gut gefiel. Sie handelte von zwei Jungen an der Kriegsfront, die feststellen, dass sie Halbbrüder sind, doch sie sind Rivalen und mögen sich nicht. Als sie so richtig schlimm in der Bredouille stecken, hat der eine die Möglichkeit, den anderen sterben zu lassen, ohne für den Tod zur Rechenschaft gezogen zu werden, aber er zögert.

»Wir wirst du es ausgehen lassen?«, fragte ich, als ich an die Stelle kam, wo seine Handschrift endete. Miles zuckte mit den Schultern.

»Vielleicht einfach so«, sagte er. »Interessiert hat mich das Zögern.«

Ich schüttelte den Kopf. »Er sollte durchaus zögern«, sagte ich. »Und dann wider besseres Wissen beschließen, seinen Bruder zu retten. Aber sobald er das tut, erschießt ihn der andere Kerl, dieser Widerling, mit der Waffe des toten Deutschen.« Miles betrachtete mich mit hochgezogenen Augenbrauen. Ich sah, dass mein Vorschlag unerwartet kam.

»Das wäre wohl … eine gewichtige Aussage.«

»Genau.« Ich kam mir großmütig vor, weil ich ihm meine überlegene Kreativität zur Verfügung stellte. »Es hat keinen Sinn zu schreiben, wenn man damit keine Aussage macht.« Miles betrachtete mich, und ihm war anzusehen, dass er es nicht so schreiben würde, wie ich es vorgeschlagen hatte, was ein Fehler war. Es war eine gute Wendung, und ich hatte ihm damit ein hübsches Geschenk gemacht, und es war schrecklich ärgerlich, dass er das wunderbare Geschenk, das ich ihm gerade überreicht hatte, nicht annehmen würde.

»Tja, wie dem auch sei«, sagte ich, »lass es enden, wie du willst.«

Ich reichte ihm das Notizbuch zurück und versuchte, mich wieder an die Arbeit zu machen. Miles saß einen Moment da und sah mich mit argwöhnischer Miene an. Dann widmete er sich wieder seiner eigenen Arbeit. Wir schwiegen beide, und auf einmal kamen die Wörter, und ich stellte fest, dass ich schreiben konnte, und mehrere Minuten lang stammte das einzige Geräusch, das an unserem Tisch zu hören war, vom Kratzen unserer sich duellierenden Füllfederhalter.

Doch es nutzte nichts. Ich hatte Miles mit seinem Plot weitergeholfen, und jetzt bekam ich ihn nicht aus dem Kopf. Zwar war ich flüssig ins Schreiben geraten, aber schon bald wurde mir klar, dass ich nur seine Geschichte noch einmal schrieb, allerdings besser. Was mich während des Schreibens wirklich ärgerte, war, dass es eigentlich von Anfang an meine Geschichte hätte sein sollen. Man sollte immer über Dinge schreiben, von denen man eine Ahnung hat, und ich war eine regelrechte Autorität in Sachen unliebsame Verwandte, doch das konnte Miles natürlich nicht wissen. Da er nun angefangen hatte, diese Geschichte zu schreiben, konnte ich nicht hergehen und etwas Ähnliches verfassen, selbst wenn er das Ende bestimmt verpfuschen würde.

»Wie ist dir überhaupt die Idee zu der Geschichte gekommen?«, fragte ich in meiner Verärgerung darüber, dass sie mir nicht zuerst eingefallen war. Miles blickte auf.

»Ich habe versucht, mich an ein paar Geschichten meines Vaters über die Schlacht an der Marne zu erinnern. Deshalb habe ich den Schauplatz gewählt. Und die Idee mit den Brüdern und der ganze Rest« – er zuckte mit den Achseln – »kam einfach aus meiner Einbildungskraft. Wie schon gesagt, ich bin mir nicht sicher, ob sie etwas taugt. Gewöhnlich weiß ich das bei meinem eigenen Werk erst mehrere Fassungen und ein paar Monate später.«

»Na ja, sie hat Potenzial. Ich würde es mir nicht zu sehr zu Herzen nehmen«, sagte ich. »Du scheinst mir jemand zu sein, der viel Arbeit hineinsteckt, und das ist doch alles, was zählt, nicht wahr?«

Miles sah mich an, ohne etwas zu sagen.

»Also, ich habe Durst«, sagte ich. »Warum bestellen wir uns nicht etwas Stärkeres als Kaffee?«

Nach kurzem Widerstand erkannte er, dass ich ein Nein nicht akzeptieren würde. Wir verbrachten den Nachmittag damit, zu trinken und über den Pulitzer und den Nobelpreis und die Unterschiede zwischen französischen und russischen Schriftstellern zu reden, und ehrlich gesagt fand ich es ganz vergnüglich, mich mit Miles zu unterhalten. Ich beschloss, dass es in Ordnung wäre, wenn wir uns wieder einmal allein über den Weg laufen sollten, solange ich ihm nicht dabei zusehen musste, wie er emsig in sein Notizbuch kritzelte und die Art Geschichten schrieb – allerdings mit völlig falschem Ende –, die ich hätte schreiben sollen.

3

Nach dem Tag im Café mit Miles beschloss ich zu versuchen, meine Schriftstellerei in Gang zu bringen, indem ich auf eine Sauftour ging und jede einzelne Party besuchte, die es gab. Dahinter steckte die Idee, dass ich ein junger Kerl war und Erfahrungen sammeln sollte, und wenn ich mir erst einmal eine Reihe wilder Geschichten einverleibt hätte, würde das Schreiben nur so aus mir heraussprudeln. Dies hatte, abgesehen von der offensichtlichen, eine unglückselige Nebenwirkung, denn zusätzlich zu Katern bescherte es mir auch die Bekanntschaft mit einem gewissen Mr. Rusty Morrisdale.

Rusty Morrisdale war der Assistent eines sehr wichtigen und bekannten Literaturagenten, dem vor dem Krieg nachgesagt worden war, eine Handvoll Schriftsteller sehr berühmt gemacht zu haben. Rustys Chef war ziemlich alt; keiner wusste genau, wie alt der berühmte Agent war, und genau wie um die Karriere des Mannes rankten sich auch um sein Alter zahlreiche Legenden. Ich werde seinen Namen an dieser Stelle nicht nennen, aber wer das Verlagswesen auch nur ein klein wenig kennt, wird genau wissen, wen ich meine. Laut den meisten Leuten in der Branche war man kein bedeutender Schriftsteller, wenn man nicht von diesem Literaturagenten entdeckt, gesalbt und den besten Lektoren vorgestellt worden war. Wie dem auch sei, so sagte man eben, und hier war Rusty, der persönliche Sekretär dieses Mannes.

Anfangs muss es wohl an Bobby gelegen haben, dass Rusty vorbeischaute. Rusty war ein dürrer, junger Dandy mit einem Rattengesicht, der seinen Spitznamen seinem rostfarbenen Haar verdankte. Ich erwähnte bereits, dass Bobby auf eine Art schön war, die sogar Männern ins Auge fiel, die auf Mädchen standen, und Rusty war überhaupt nicht die Art Mann, die auf Mädchen stand, und von daher war es noch wahrscheinlicher, dass ihn Bobbys Schönheit beeindruckte. Bobby hatte etwas Dümmliches und typisch Amerikanisches an sich, und dennoch war es schwierig, ihm und seinem schiefen Grinsen zu widerstehen. Er war ein sonnengebräunter, schlaksiger Junge, der aussah, als hätte er die eine Hälfte seiner Jugend damit verbracht, auf einer Farm zu arbeiten und in die Sonntagsschule zu gehen, und die andere Hälfte, Eier aus Hühnerställen zu stehlen und sich wegen Bagatelldelikten vor der Polizei zu verstecken. Er hatte den Bus von Utah nach New York genommen und setzte alles daran, Leute kennenzulernen, mit deren Hilfe sich vielleicht ein Teil der schmierigen Salt-Lake-Schmutzschicht von der Haut schrubben ließ. Bobby hatte hohe intellektuelle Ambitionen und wollte immer über wichtige Bücher reden, aber wenn man tatsächlich mit ihm ins Gespräch kam, stellte man fest, dass er im Gegensatz zu Swish gar nicht so viele wichtige Bücher gelesen, sondern vielmehr nur ihre Umschläge gesehen und bewundert hatte. Ich schätze mal, Rusty hatte Bobby aus der Ferne gesehen und hatte die glänzende und durch und durch unoriginelle Idee gehabt, dass es schön sein könnte, ihn ins Bett zu bekommen, und nachdem er Bobby ein wenig nähergekommen war und sich mit ihm unterhalten hatte, hatte dieses Verlangen sowohl an Ausmaß als auch an Heftigkeit noch zugenommen.

Als mich ein Kerl namens Rex Taylor, mit dem ich an der Columbia recht gut befreundet gewesen war, zu einer Party bei sich einlud, nahm ich Bobby mit. Er hatte kürzlich mit seinen beiden Mädchen Schluss gemacht und war bereit, sich zu amüsieren. Es war immer klug, Bobby mitzunehmen, wenn man auf eine Party ging, weil sich die hübschesten Miezen um Bobby scharten, und wenn man neben ihm stand, war es, als würden sie sich auch um einen selbst scharen. Eigentlich sollte er an dem Abend etwas mit Rusty trinken gehen, doch er sagte ihm ab mit der Begründung, dass er mit mir die Party besuchen würde. Aber dann hatte Bobby wohl ein schlechtes Gewissen, Rusty einfach so hängen zu lassen, und so schlug er ihm schließlich vor mitzukommen, wenn er wolle, und natür­lich wollte Rusty. Es war eine Bottleparty, und als Rusty sich mit uns in meinem Apartment traf, kreuzte er mit sechs Flaschen achtzehnjährigem Scotch auf, sodass wir beschlossen, es sei vielleicht doch ganz in Ordnung, wenn er mit von der Partie war. Damals wusste ich nicht, wer Rusty war oder für wen er arbeitete, aber ich fand, dass es passte, denn für mich war jeder in Ordnung, der irgendwo mit sechs Flaschen achtzehnjährigem Scotch auftauchte, also liehen wir ihm ein Hemd und halfen ihm, die Hosenbeine hochzuklemmen, damit sie zu unseren passten, und machten uns dann im Pulk auf die Suche nach der Party.

Rex wohnte, ohne Miete zu zahlen, in einem schicken Brownstone-Haus in der West 74th Street. Seinen Eltern gehörte das Haus, und offensichtlich dachte sein alter Herr anders über den Wert verdienter Freuden als meiner. Die Taylors waren alter Geldadel, und ihr Vermögen glitt mühelos von einer Generation zur nächsten. Meine Familie gehörte auch zum alten Geldadel, allerdings nur mütter­licherseits. Das bedeutete, dass mein alter Herr ein Aufsteiger war. Er hatte diese Art an sich, wie es bei vielen Menschen vorkommt, die arm aufgewachsen sind und später im Leben zu Geld kommen, nämlich einmal verschwenderisch zu sein und dann wieder ein großer Geizkragen. Er konnte sich nicht durchringen, wenn es darum ging, mir Geld zu geben, und meiner Meinung nach lag das teilweise an der Geschichte draußen in Bensonhurst. So oder so war es ärgerlich, denn es bedeutete, dass er eine unzuverlässige Einkommensquelle war. Wenn er großzügig gestimmt war, nachdem er viele Martinis beim Lunch oder aber viele Gläser Wein beim Dinner getrunken hatte, fiel ihm manchmal wieder ein, dass ihm von vielen Menschen Gutes widerfahren war, und dann wurde er nachgiebiger und steckte mir hier und da fünfzig Mäuse zu, aber ich musste immer darum bitten.

Bobby, Rusty und ich fuhren gemeinsam mit der Subway vom Village nach Norden, jeder zwei Flaschen Scotch in der Hand. Bobby hatte den Einfall, eine seiner Flaschen zu öffnen, und wir ließen sie im Zug reihum gehen, sodass unser Atem von dem heißen, karamellisierten Duft nach Malt-Whisky und Eiche auflebte, während Mittelstands-Geschäftsleute mit ihren Zeitungen und Regenschirmen die Stirn runzelten und empörte Mütter von uns wegeilten und ihre Kinder fester an der Hand nahmen. In der 42nd Street stieg ein waschechter Indianer ein, der einen perlenbesetzten Gürtel und ein Stirnband voller Federn und lange schwarze Zöpfe und all diesen Schnickschnack trug. Bobby, dem von dem Scotch schon warm und freundlich zumute war, hielt dem Indianer die geöffnete Flasche entgegen und sagte: »Kleiner Schluck Feuerwasser gefällig, Häuptling?« Bobby konnte so grässlich sein, wie er wollte, irgendwie wirkte es trotzdem charmant. Niemand schlug Bobby je etwas ab, und genauso wenig tat es dieser Indianer. Er betrachtete Bobby mit schwarzäugigem ­Starren, nickte dann ernst und trank einen ordentlichen Schluck aus der Flasche, bevor er sie Bobby zurückreichte. Dann wischte er sich mit dem Handrücken über den Mund und starrte wieder völlig stoisch und düster geradeaus, und mich beschlich das Gefühl, dass wir eben an einer Art unbehaglicher Friedenspfeifen-Zeremonie teilgenommen hatten, wie es die Helden in den Western immer tun. An der 72nd Street stiegen wir aus, und der Indianer blieb sitzen. Es war mir ein wenig peinlich, als sich Bobby auf den Bahnsteig stellte, die Hand hob und mit tiefer Stimme »HOW« sagte, denn ich bezweifle, dass das dem Indianer gefiel, andererseits bekam er es vielleicht ständig zu hören und war daran gewöhnt. Dann schlossen sich die Subway-Türen, und der ­Indianer glitt außer Sicht, und wir kehrten an die Oberfläche zurück, wo es nach nassem Laub roch, weil wir uns so nah am Central Park befanden. Wir gingen ein paar Blocks in westlicher Richtung, bis ich endlich Rex’ Brownstone-Haus wiedererkannte.

In Rex’ Bude war ich erst einmal gewesen, und zwar anlässlich einer anderen Party, auch wenn viel von jener Nacht in meiner miesen, alkoholgeschwängerten Erinnerung verloren gegangen war. Doch selbst wenn ich vergessen hätte, wie das Brownstone-Haus aussah, hätten wir es dank der bunten Weihnachtslichter, die wie hundert winzige Feuerwerkskörper in jedem Fenster blinkten, und der lateinamerikanischen Jazzklänge, die auf die offene Straße wehten, trotzdem erkannt. Bei der Musik handelte es sich um eine Art Bossa Nova: der Klang eines Xylophons, das eifrig bearbeitet wurde, ein paar freche Akkorde auf dem Klavier, entspanntes Bongo-Getrommel und die ganze Zeit das monotone Schütteln von Rasseln, mit dem hier und da eingefügten, angsterfüllten Stoß einer Trompete oder eines Saxophons. Es klang gleichzeitig fiebrig und entspannt.

Drinnen suchten wir Rex, um ihm die sechs Flaschen Scotch, aus denen zu dem Zeitpunkt fünfeinviertel Flaschen Scotch geworden waren, überreichen zu können.

»Rex!«, rief ich.

Der Plattenspieler war auf volle Lautstärke gedreht, und Rex war im Wohnzimmer und bastelte daran herum, um zu sehen, ob er ihn noch lauter bekäme. Wir riefen ihm zur Begrüßung zu, und Rusty meldete sich schnell zu Wort und heimste die Lorbeeren für den mitgebrachten Alkohol ein. Später fand ich heraus, dass Rusty gar nicht für den Scotch bezahlt hatte, sondern ihn bei einer Lieferung hatte mitgehen lassen, die für die Bar seines Arbeitgebers bestimmt gewesen war. Er war sehr stolz, als er mir und Bobby die Geschichte von dem Scotch-Klau erzählte, denn er prahlte damit, dass der berühmte Literaturagent ihm so sehr vertraute, dass er, als Rusty dem Lieferanten die Schuld gab, noch nicht einmal mit der Wimper zuckte, sondern nur nach dem Telefon griff und den Lieferanten auf der Stelle feuern ließ. Rusty vermied es zu erwähnen, dass es sich um dieselben sechs ­Flaschen handelte, die er »großzügigerweise« auf Rex’ Party mitgebracht hatte, aber die Rechnung ging auf, und wenn man Rusty einmal besser kennengelernt hatte, konnte man sich nur schwer vorstellen, dass er für irgendetwas bezahlte, ganz zu schweigen von sechs Flaschen sehr teurem Scotch, und so brauchte man kein Genie zu sein, um dahinterzukommen.

»Fühlt euch wie zu Hause, Leute!«

Rex hatte eine achtlose Großzügigkeit an sich und kümmerte sich eigentlich nie darum, wer wofür zahlte. Auf einmal wurde der Plattenspieler lauter, und Rex lächelte uns zu. Wir stellten ihm noch ein paar Fragen, doch er lächelte nur immer weiter, schüttelte den Kopf, als verstünde er aufgrund der Musik und des vorherrschenden Chaos’ nicht, was wir sagten, und winkte schließlich nur mit dem Arm in Richtung eines Tisches voller Flaschen mit jeder Art von Alkohol. Das Winken gab uns zu verstehen, dass wir unsere Flaschen entweder dort abstellen konnten, wenn wir wollten, oder sie auch für uns behalten. Es war ihm nicht wichtig, was wir taten, solange wir uns amüsierten und Rex’ unverdiente Freuden genossen.

Es dauerte nicht lange, bis wir von Mädchen umringt waren, die größtenteils, während sie aneinander vorbeidrängten, keinen Hehl daraus machten, dass das ganze Aufhebens Bobby galt. Eine schlanke und drahtige Brünette mit dickem schwarzem Augen-Make-up stieß einen Schrei des Wiedererkennens aus und warf die Arme um Bobby, um ihn zur Begrüßung zu umarmen, blieb dann einfach an seinem Hals hängen, als wäre ihr Körper eine Art durchnässter Schal, der dort verknotet und vergessen worden war. Ein zweites Mädchen – eine mollige gefärbte Blondine, die irgendwie ganz hübsch war, aber eine Schweinchennase hatte – stand seitlich, berührte Bobbys Schulter und versuchte ernsthaft, eine Unterhaltung zu führen, während er lächelnd nickte und sich bemühte, mit einem Ohr zuzuhören. Seine ungeteilte Aufmerksamkeit erregte schließlich ein scheues Mädchen mit karamell­farbener Haut, die in einer Ecke stand und die Bobby mit großer Wahrscheinlichkeit noch vor Ende der Nacht ­vögeln würde. Ich warf Rusty einen Blick zu und bemerkte, dass sich seine Kieferpartie verspannte. Ihm war bereits anzusehen, dass er sich auf eine Art in Bobbys Schönheit verliebt hatte, die ihn egoistisch und gemein werden ließ. Er beobachtete das farbige Mädchen mit purem Hass in den Augen, und ich konnte nur erahnen, mit welch hässlichen Schimpfwörtern er sie in dem Moment wahrscheinlich in Gedanken bedachte.

Vom Dach von Rex’ Brownstone hatte man eine schöne Aussicht, und später am Abend landeten Rex, Rusty, ich und auch Bobby und sein farbiges Mädchen dort oben. Wir standen dort zu dritt, tranken, redeten und warfen Zigarettenstummel vom Dach, während Bobby zärtlich mit seinem Mädchen herumknutschte, bis er sie in einer Ecke gegen den Dachsims gedrückt hatte. Bobby war schon immer ein Mann steten Fortschritts gewesen und schließlich hatte er den Rock der Farbigen hoch genug geschoben, um den Großteil ihrer karamellfarbenen Pobacken zu entblößen, und nicht lange danach begann er, sich gegen sie zu drücken, und man hörte, wie langsam ein Reißverschluss geöffnet wurde. Wir bewegten uns auf die andere Seite des Daches, um Bobby etwas Privatsphäre zu gönnen, damit er tun konnte, was er mit dem Mädchen tun wollte. Mir war es gelungen, die kleine dralle Blondine für mich aufs Dach zu holen, doch als ich dann mit ihr alleine war, redete sie in einem fort über den Jungen, mit dem sie ging, sodass es mich schließlich langweilte, und ich aufgab und zu dem Schluss kam, dass es doch gar keine so schlechte Idee war, mit Rex und Rusty auf dem Dach Zigaretten zu rauchen. Es war ein schöner Abend im Freien, eine dieser etwas surrealen Aufschubnächte vor dem Winter, wenn man feststellt, dass man seinen Mantel kaum braucht, und wir rauchten schweigend und sahen hoch in den leeren Raum über New York, wo eigentlich die Sterne hätten sein sollen. Wir versuchten, uns zu entspannen, und es wurde viel geseufzt, aber es gestaltete sich schwierig. Das ­höhnische Grinsen in Rustys Gesicht machte deutlich, dass er sich über Bobby und das farbige Mädchen ärgerte, und sein Groll schwelte auf eine Art, die die Luft um uns drei erfüllte. Dann sagte endlich jemand etwas. Es war Rusty, der mich fragte, was ich von Beruf mache.

»Cliff hier wird Schriftsteller werden. Ein bedeutender«, antwortete Rex für mich, und in seiner Stimme hörte ich den Stolz, den er für seinen Freund empfand, und wand mich sofort vor Verlegenheit.

»Stimmt das?«, fragte Rusty.

»Das ist wohl der Plan«, sagte ich, ohne zu merken, dass sich der Groll in Rustys Grinsen verzogen hatte, und er auf einmal ganz munter und wachsam war, seine Augen so klar und scharf wie die eines Habichts. Er betrachtete mich, musterte mich von Kopf bis Fuß mit scheinbar frisch gewecktem Interesse. Ich hatte keine Ahnung, warum ich ihn auf einmal so sehr interessierte. Er verengte lächelnd die Augen zu Schlitzen, und als ich ihn wieder ansah, fiel mir auf, dass es sich bei dem Gesichtsausdruck um das machiavellistische ­Lächeln eines winzigen Tyrannen handelte. Das Stöhnen von Bobbys farbigem Mädchen wurde lauter, driftete von der anderen Seite des Daches zu uns herüber, und wir taten unser Bestes, nicht darauf zu achten. Dann räusperte Rusty sich, sah mir in die Augen und erklärte mir in dieser absichtlich langsamen, überdeutlichen Sprechweise, die er an sich hatte, was er von Beruf war und für wen er arbeitete. Er hielt inne und wartete mit sicherer Gewissheit darauf, dass die Informationen mich umhauen würden. Die Gier musste mir im Gesicht gestanden haben, denn das Lächeln des winzigen Tyrannen wurde breiter, seine Augen verengten sich in wachsender Selbstgefälligkeit, und mir wurde klar, dass er genau wusste, wie sicher er mich von da an am Haken hatte.

Rex mischte sich wieder in die Unterhaltung, wechselte das Thema, und wir sprachen liebenswürdig wie eh und je über Baseball und den Kommunismus und berieten, ob beides jemals gleichzeitig in einer einzelnen Kultur existieren könnte. Es war ein gutes Gespräch und insgesamt wirklich bedeutsam, aber wenn ich die Sache einmal grundlegend durchdenke, wird mir klar, dass der ganze Ärger mit Rusty im Grunde an dem Abend auf dem Dach seinen Anfang nahm. Er wusste, dass er mich am Haken hatte, und ich wusste, dass er mich am Haken hatte, und der Einzige, der es nicht wusste, war Rex, weil Rex keinerlei Interesse daran hatte, wer was schrieb oder veröffentlichte oder wie es dazu kam. Rex’ einziges Interesse galt der Frage, ob die Kubaner jemals wirklich eine Baseball-Liga haben würden, die so gut wie die der Amerikaner war.

4

Sobald ich die Sache mit Rustys Chef herausgefunden hatte, hielt ich im Village die Augen nach Rusty auf. Neben ihm gab es noch eine Handvoll junger Verlagstypen, die in der Hipsterszene herumliefen. Von den anderen Village-Leuten unterschieden sie sich dadurch, dass sie Rollkragenpullover und Jacketts und Brillen trugen und eher etwas von Bücherwürmern an sich hatten. Sie trafen voller Optimismus aus ganz Amerika in Greyhoundbussen in New York ein, junge Allein­stehende, die gewillt waren, in schrecklichen Apartments zu leben und für Peanuts zu arbeiten, solange Manhattan sie mit seinen grellen Lichtern und dem Sirenengesang der Taxihupen blendete. Die Mehrheit der Verlagsleute bestand aus jungen Männern, aber es arbeiteten auch ein paar Frauen in der Verlagswelt, vor allem als Schreibkräfte und Sekretärinnen. Sie kamen in die Stadt, nachdem sie einen Abschluss am Vassar oder am Mount Holyoke gemacht hatten oder aber an irgend­einem Frauen-College im Mittleren Westen, dessen Namen man zwei Minuten, nachdem er gefallen war, gleich wieder vergaß. Im Allgemeinen versuchten sie, sich wie die braven Mädchen zu betragen, als die man sie erzogen hatte, und beschränkten sich auf Hotels für Frauen in Uptown, sodass die Wahrscheinlichkeit, sie im Village zu sehen, nicht so groß war wie bei den Kerlen. Diese Mädchen warteten größtenteils darauf, ihren zukünftigen Ehemännern zu begegnen. Sobald das geschah, war es ihr Schicksal, sofort zu kündigen und in die Vororte zurückzukehren, aus denen sie stammten, um Bridgepartys zu veranstalten und einander Geschichten von dem verrückten Jahr zu erzählen, als sie als alleinstehende Mädels in der Stadt gewohnt hatten.

Aber da war ein Mädchen, das Swish irgendwann regelmäßig mitbrachte, und das war Eden. Kennengelernt hatte er Eden, als er eine Abkürzung durch den Central Park nahm und mit dem Fahrrad sehr schnell durch einen Teil fuhr, in dem Fahrräder eigentlich nicht erlaubt waren und wo Eden auf einer Parkbank saß und ein Buch las. Als er zwischen einem Schnauzer und einer alten Dame auswich, schrie Eden ihm hinterher, langsamer zu fahren. Wie schon gesagt, Swish war immer in Eile, aber er war nie zu sehr in Eile, um nicht mit einem willigen Kontrahenten eine große Debatte über seine »verdammten gottgegebenen Rechte«, wie er sie gern nannte, vom Zaun zu brechen. Meinungsverschiedenheiten fand er aufregend, und Streiten war für Swish wie der Liebesakt: Er tat es voller Leidenschaft und Energie, und im Grunde war es seine Art, sein Gegenüber in all seiner Unterschiedlichkeit zu lieben. Als Eden ihn anschrie, machte Swish kehrt, und laut Eden hatte er bereits ein freudiges Grinsen im Gesicht, als er wie wild zu ihr zurückradelte. Laut Swish wurde sein Grinsen breiter, als er sah, dass es sich bei ihrem Buch um Der Geheimagent von Joseph Conrad handelte, denn es gab nur weniges, was Swish mehr liebte als ein Buch, das sich um eine Gruppe von Anarchisten drehte. Beim Anblick des Buches wusste er auf der Stelle, dass er sie ins Village zu Pals erster Lyriklesung einladen musste.

Ich glaube, ich hielt nicht viel von Eden, als ich damals ihre Bekanntschaft machte, und auch wenn Swish sie gleich richtig zu deuten schien, warf ich nur einen Blick auf ihre dunklen, zu einem ordentlichen Pferdeschwanz gebundenen Haare und ihre Twinsets und ging davon aus, dass sie sich nur ein bisschen die Zeit vertreiben wollte und wir sie nie wieder zu Gesicht bekämen, sobald ihr irgendein netter Fondsverkäufer einen Heiratsantrag gemacht hatte.

»Hey, Cliff!«, rief Swish mir an dem Abend zu, als ich ins San Remo spazierte. »Hier drüben!« Er stand mit Eden an der Bar. Das San Remo war eine von Swishs Lieblingskneipen, da es dort immer lebhafte Diskussionen gab und sich an jedem beliebigen Tag jemand fand, der gewillt war, einen in ein Gespräch über Politik oder Kunst oder Philosophie zu verwickeln. Swish stellte uns einander vor, und ich schüttelte Eden die Hand. Edens Begrüßung fand ich genauso zugeknöpft und langweilig wie ihre Twinsets.

Eden war sehr zierlich und hatte elfenhafte Gesichtszüge. Später sagten die Leute, sie sähe ein bisschen wie Audrey Hepburn aus, aber das war erst, nachdem sie sich die Haare hatte sehr kurz schneiden lassen. Als ich Eden einige Zeit später wieder über den Weg lief, sah ich sofort, dass sie sich mit der Frisur neu erfunden hatte. Sie hatte vorher schon nett ausgesehen, aber danach machte sie wirklich was her, denn das, was schließlich jeden an Eden faszinierte, war ihr Stil. Mit ihrem dunklen Haar und dem hoch oben an der Stirn sehr präzise geschnittenen Pony wurde sie zu einer dieser cool aussehenden Miezen, die in Oberteilen mit Bateau-Ausschnitt und schwarzen Caprihosen im Village herumliefen und mit einem geheimnisvoll reservierten, gleichgültigen Blick den Shimmy zu Jazzmusik tanzten.

Doch bei unserer ersten Begegnung war es noch nicht so weit. An dem Tag, an dem ich Eden kennenlernte, hatte sie sich noch nicht verwandelt, ihr Pferdeschwanz wippte hoch über ihrem Kopf, und ihr Sears-Roebuck-Pulli hing plump und eintönig an ihrem schmalen Körper herab. Sie sah wie jedes andere Mädchen aus, das man vielleicht in Des Moines oder Wichita oder wo auch immer auf der Straße zu Gesicht bekam.

»Wir haben uns gerade über den Sputnik unterhalten«, sagte Swish, um mich an dem Gespräch teilhaben zu lassen. Der Sputnik war damals eines von Swishs Lieblingsgesprächsthemen, denn er hatte ein Faible für Verschwörungstheorien. Erst im Januar hatte man verkündet, der Satellit sei verbrannt, als er aus dem Orbit gestürzt und wieder in die Erdatmosphäre eingetreten sei. Die Physiker sagten, das wäre zu erwarten gewesen, doch Swish bestand darauf, es sei der Beweis, dass es ihn gar nicht erst gegeben habe und die ganze Sache ein Trick sei. Ich hatte schon reichlich von diesen Theo­rien zu hören bekommen, denn Swish schaffte es immer, jemanden für eine Diskussion über das Thema zu gewinnen: Jung und Alt, Liberale und Konservative. Die Raumfahrt entwickelte sich zum großen Gleichmacher unserer Generation.

»Ich meine, komm schon«, spann Swish jetzt seinen Argumentationsfaden vor Eden fort. »Dieser Chruschtschow ist ein verrückter Hund! Verrückt genug, dass niemand ihn auf die Probe stellt, aber es ist in seinen Augen zu sehen. Das Ganze war eine große Theaterinszenierung.«

»Glaubst du wirklich?«, fragte Eden. Ihre Miene verriet mir, dass sie sich weniger Sorgen um Chruschtschows Zurechnungsfähigkeit machte als um die von Swish. Diese Wirkung hatte Swish häufig auf Leute, besonders auf Mädchen, und das war wirklich schade, denn er sprach einfach mit zu viel Inbrunst und Aufrichtigkeit und war unter seinem drahtigen, paranoid wirkenden Äußeren im Grunde ein schlauer und anständiger Kerl.

»Darauf kannst du wetten!«, erwiderte Swish. »Diese Regierungen wollen nur ihr Volk irgendwie kontrollieren, die Leute unter dem Deckmantel des Patriotismus einer Gehirnwäsche unterziehen und sie dazu bringen, sich zu fügen, ihre Steuern zu zahlen und nie nachzufragen, wohin ihr Geld fließt, während sie immer nur noch mehr Raketen bauen. Richtig, Cliff? Du stimmst mir doch zu, oder?«

Ich war das schon früher mit ihm durchgegangen und hatte das Thema allmählich satt, daher beschloss ich, ehrlich zu sein. »Ich weiß nicht, Swish. Ich weiß nichts von irgendwelchen Raketen und vielleicht hätte ich in einer anderen Zeit leben sollen, denn ich finde die Sowjets weder auf die eine noch die andere Art sonderlich spannend. Die russischen Dichter hingegen … na, das wäre ein Gespräch, bei dem ich gern meinen Senf dazugeben würde …«

Daraufhin wirbelte Eden herum, und ihre Augen blitzten auf. »Du magst russische Dichtung?«

»Tja, also ich mag natürlich Puschkin«, nannte ich den einen Dichter, den jeder kannte, damit sie sich nicht zu dumm vorkam. »Und du?«

»O ja«, sagte sie. »Und auch Zwetajewa und Achmatowa und Pasternak.«

Das überraschte mich. Sie war viel gescheiter, als ich erwartet hatte, und ich fragte mich, ob sie nicht gerade eine Art Satz auf Russisch gesagt hatte.

»Sprich leiser«, sagte ich scherzhaft, »zu viel davon, und sie verhaften uns noch wegen kommunistischer Gedanken.« Ich entschied, dass es Zeit für einen weiteren Themawechsel war, und fragte: »Was machst du gleich noch mal hier in der Stadt?«

»Oh. Ich bin Sekretärin bei Torchon & Lyle.«

»Wirklich? Was du nicht sagst!«

Torchon & Lyle war einer der großen Verlage in Midtown. Der einzige noch größere war Bonwright, wo mein alter Herr arbeitete. In Wirklichkeit war ich gar nicht so überrascht, doch ihr war anzusehen, dass sie Eindruck schinden wollte, also spielte ich mit.

»Gefällt es dir dort?«

»Ich finde es toll!« Sie nickte so heftig, dass ich dachte, ihr Kopf könnte sich vom Hals lösen. »Deshalb bin ich nach New York gekommen – mein Ziel ist es, eines Tages Lektorin zu werden.«

Eden war intelligent genug, um die verblüffte Miene zu registrieren, die über mein Gesicht huschte.

»Du glaubst nicht, dass ich eine gute Lektorin abgeben würde?«

»Doch, tue ich schon. Du wirkst sehr zielstrebig auf mich. Das ist klasse. Ich dachte, die meisten Mädchen warten bloß auf einen Kerl.«

»Na ja, ich warte ja auch auf einen Kerl«, sagte Eden. »Auf meinen Chef. Der mir sagt, ich werde befördert.«

Ich betrachtete ihr Gesicht genauer.

»Wie heißt du noch mal?«, fragte ich.

»Eden.« Sie streckte mir die Hand entgegen. »Eden Katz.«

»Na, dann werde ich die Augen offen halten nach Eden Katz, dem zukünftigen Star der Verlagswelt«, sagte ich. Wir lächelten uns an. Sie war wirklich ziemlich attraktiv, wenn man sie einmal genauer betrachtete. Doch bevor ich weitere Möglichkeiten erwägen konnte, mischte Swish sich wieder ein und legte Eden eine Hand auf die Schulter, um allen ins Gedächtnis zu rufen, wer sie mitgebracht hatte, denn es ­ärgerte ihn, dass wir es geschafft hatten, das Gespräch so lange vom Thema Sputnik abzulenken.

EDEN

5

Zu Beginn meiner Anstellung bei Torchon & Lyle ging ich auf so viele Firmenfeiern wie möglich. Ehrlich gesagt hoffte ich, einen Blick auf die ganzen berühmten Literaten werfen zu können, die der Verlag veröffentlicht. Natürlich war ich nur als Sekretärin angestellt, aber das war nicht wichtig, denn selbst die rangniedrigste Sekretärin im Schreibbüro hatte eine Dauereinladung zu den Partys. Ich fand das damals sehr großzügig, aber jetzt begreife ich, dass es weniger eine Frage der Großzügigkeit als der Praktikabilität war: Sekretärinnen sind gut, wenn man einen Raum mit jugendlichen Menschen füllen möchte, und eine Sekretärin kann man zur Not bitten mitzuhelfen, wenn sich herausstellen sollte, dass der Partyservice hier und da eine zusätzliche lächelnde Kellnerin benötigt, die mit einem Tablett voller Getränke herumläuft. Das passierte mir ein paarmal, und jedes Mal merkte ich, dass es eine beachtliche Leistung war, bei einer Verlagsparty für Speisen und Getränke zu sorgen, und noch beachtlicher, dafür zu sorgen, dass die Gläser der Verlagsleute immer gefüllt waren.