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Mörderischer Wahn Im New Yorker East Village wird eine Studentin in ihrem Apartment mit dem Kopf nach unten gekreuzigt. Dem Pathologen Jenner genügt ein Blick auf das Opfer, um das Tatmuster eines Serienkillers zu vermuten. Sein Verdacht bestätigt sich, als man in Pennsylvania die verstümmelte Leiche eines anderen Mädchens findet. Und dabei bleibt es nicht, weitere bizarr zugerichtete Frauenleichen sorgen für Aufsehen. Der Killer scheint besessen von einem religiösen Wahn, denn seine Morde sind dem Märtyrertod von Heiligen nachempfunden. Am Ehrentag der Heiligen schlägt der Wahnsinnige zu. Und Jenners Freundin Ana hat bald Namenstag … Martyrium von Jonathan Hayes: Spannung pur im eBook!
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Seitenzahl: 615
Veröffentlichungsjahr: 2010
Jonathan Hayes
Martyrium
Thriller
Aus dem Amerikanischen von Christine Gaspard
Knaur e-books
Für Cricket Coleman
Egal,
ob ich etwas hinkriege oder vermassle,
stets ist sie eine nie versiegende Quelle der Liebe.
Gewalt und das Heilige sind untrennbar miteinander verbunden.
René Girard,La Violence et le Sacré, 1972
Steve Whittaker, M. D., Deputy Chief Medical Examiner, stellvertretender Chefpathologe für die Stadt New York, vervollständigte den Bericht der Spurensicherung und setzte seine schwungvolle Unterschrift darunter. Als er den Schreibtischstuhl nach hinten stieß, sah er, dass das Mosaik aus Urkunden in eindrucksvollen schwarzen Rahmen, das die Wand seines Büros schmückte, etwas aus dem Gleichmaß geraten war. Er stand stirnrunzelnd auf.
Harry musste an das Diplom der medizinischen Fakultät gestoßen sein, das größte von ihnen, als er die Papierkörbe ausgeleert hatte. Die Augen halb zusammengekniffen, streckte Whittaker den Arm aus und rückte den Rahmen gerade, bis die Worte HARVARD UNIVERSITY exakt auf der gleichen Höhe wie der Name JOHNS HOPKINS auf seinem Pathologiediplom waren. In der unteren Reihe hingen seine New Yorker Zulassung, die Urkunde von seinem forensischen Lehrauftrag und seine Vorstandsqualifikationen in etwas weniger aufwendigen Rahmen, aber ein einziger Blick auf die Wand reichte aus, um jedem Menschen zu zeigen, dass sie es mit einem forensischen Pathologen von Weltformat zu tun hatten.
Er hatte sich seine Position nicht nur durch seine fachlichen Qualifikationen erworben: Whittaker war ein politisches Tier und verdammt stolz darauf. Er hatte es bis an die Spitze der beiden großen Verbände forensischer Pathologen des Landes geschafft, war Schatzmeister der National Association of Medical Examiners gewesen und hatte die pathobiologische Abteilung der American Academy of Forensic Sciences geleitet. Man ging allgemein davon aus, dass er in ein paar Jahren Präsident der AAFS sein würde.
Bei Kongressen kehrte er nach jeder Cocktailparty und jeder Plenarsitzung in sein Hotelzimmer zurück und notierte sich alle nützlichen Informationen, die er erhalten hatte. Nicht die Informationen über die typischen Rückstandsmuster neu entwickelter Pulversorten oder Techniken zur Sicherung von Schleifspuren an gut erhaltenen Leichen, sondern vielmehr die kleinen Details, die seinen weiteren Aufstieg fördern konnten: wessen Alkoholproblem sich verschlimmert hatte, bei wessen Frau sie gerade Leukämie diagnostiziert hatten. Er betrachtete seine Begabung dafür, die Schwächen anderer zu erkennen und auszunutzen, als ein notwendiges Übel, einen Darwinschen Zug, der ihm das Überleben ermöglichte, während weniger starke Männer untergingen. Er wusste, dass dies andere Leute störte; es ging ihm immer noch nach, dass Julie ihm, als sie ihn verlassen hatte, eine Ausgabe von Machiavellis Der Fürst geschickt hatte. Es war eine kleinliche Geste gewesen und verriet, dass sie einfach nicht verstanden hatte, wie es im Leben zuging – eine Tatsache, die noch unterstrichen wurde davon, dass sie ihn wegen Jenner verlassen hatte.
Der Gedanke an Jenner reizte ihn, und er runzelte noch immer die Stirn, als das Telefon klingelte. Bezirksstaatsanwalt Klein. Es war ihre zweite Unterhaltung in weniger als drei Stunden, und Whittaker versuchte einen Ton anzuschlagen, der irgendwo zwischen Professionalität und Kollegialität lag. Er begann seine Beobachtungen vom Schauplatz darzulegen, aber Klein schnitt ihm das Wort ab; er wollte nur die Kurzversion – typisch Klein eben.
Whittaker fasste widerwillig die Ergebnisse zusammen, wobei er Klein versicherte, er würde sich persönlich um die Obduktion kümmern.
»Im Gegenteil, darum werden Sie sich nicht persönlich kümmern, zumindest nicht allein. Sie werden einen Kollegen dabeihaben. Der Vater von dem Mädchen hat irgendeinen Pathologen vor Ort angeheuert, der Typ heißt Jennings. Ich kann Ihnen sagen, Whittier, ich hab die Nase voll von diesen Arschlöchern mit Juraabschluss, die ankommen und irgendwelche Extrawürste verlangen. Der Typ tut mir leid, tut er wirklich, aber es hätte ihn nicht umgebracht, sich zu einer normalen Tageszeit zu melden.«
Whittaker drückte sich das Telefon ans Ohr und rang nach Worten. »Jennings? Meinen Sie Jenner, Mr. Klein? Dr. Edward Jenner?«
»Jennings, Jenner, irgend so was eben. Taugt er was?«
»Er hat früher mal hier gearbeitet. Ich hab ihn vor zwei Jahren gefeuert.«
»Herrgott. Unfähigkeit?«
Whittaker schwieg eine Sekunde lang. »Es war nicht so sehr Unfähigkeit als … sagen wir, er war emotional nicht für seine Arbeit geeignet. Die Identifikationen nach dem elften September waren ein bisschen zu viel für ihn.«
Klein schnaubte. »Dann sind Sie ohne ihn wahrscheinlich besser dran. Wie auch immer, er ist der von der Familie beauftragte Pathologe, wahrscheinlich ist er im Moment gerade am Schauplatz, und bei der Autopsie arbeitet er mit Ihnen zusammen. Geben Sie ihm jede Unterstützung, die er braucht, und halten Sie mich aus der Sache raus. Verstanden, Whittier?«
Whittaker hielt es für geraten, ihn nicht zu verbessern. »Verstanden, Sir.«
Sie hatten sie im East Village gefunden, an die Wand ihrer Studentenwohnung in einem Haus am Tompkins Square Park genagelt.
Jenner wartete auf einer Bank im Park, einer sechs Häuserblocks langen Fläche mit Rasen, Bäumen, Pfaden und Basketballplätzen. Trotz der Kälte kickten ein paar Brasilianer auf der gepflasterten Fläche vor ihm einen Fußball herum.
Der Park wirkte viel gepflegter, als er es früher gewesen war. Obwohl sein Loft zu Fuß kaum eine Viertelstunde entfernt lag, war er überrascht, wie elegant die Gegend geworden war, seit er selbst von der beruflichen Bildfläche verschwunden war. Damals, als er in der forensischen Pathologie angefangen hatte, hätte ein weiterer Mord im Neunten Revier kaum für Überraschung gesorgt, aber alles veränderte sich so schnell.
Die Punks und Neuhippies waren aus ihren besetzten Wohnungen gedrängt und durch fröhliche junge Familien, Studenten, Fotomodelle und schicke japanische Teenager ersetzt worden, die – wie alle anderen in East Village – nach New York gekommen waren, um sich selbst neu zu erschaffen. Die Punks und Neuhippies hingen mittlerweile mürrisch an den Rändern des Parks herum, meist mit einem halstuchgeschmückten Halbpitbull-Welpen zu Füßen, der Mitgefühl erwecken sollte. Gelegentlich provozierte ein schmuddliger Anarchist, der sich noch nicht daran hatte gewöhnen können, dass sein Gebiet von McLaren-Kinderwagen und Yogamatten überrollt worden war, eine »Konfrontation« mit einem Streifenpolizisten, und unter den Straßenkids entstand eine Miniaturdemonstration, die gleich wieder dem Sonnenschein, dem hochprozentigem St.-Ides-Malzbier und dem allgemeinen Desinteresse zum Opfer fiel.
Auf der anderen Straßenseite stand ein junger, in kugelsicherer Weste und Winterjacke untersetzt wirkender Polizeibeamter an dem gelben Absperrband vor dem Haus und unterhielt sich mit einer Frau, die eine Tüte von der Wäscherei in der Hand hielt. Lieutenant Rad Garcia von der Abteilung Manhattan South Homicide, der Mordkommission, streckte den Kopf zur Haustür heraus, sagte etwas zu dem Polizisten und winkte Jenner zu sich herüber.
Jenner stand steifgliedrig auf und streckte sich. Der Ball sprang auf ihn zu; er fing ihn sauber ab und trat ihn zu einem der Brasilianer hinüber – rudimentäre Fußballkenntnisse, eine der Qualifikationen, die er sich in seinem Jahr an der University of London erworben hatte. Er überquerte die Straße; der Beamte nickte ihm zu und hob das Absperrband, um ihn durchzulassen.
377 East 7th Street war eines der hübscheren Gebäude, ein für zwei Familien errichtetes Backsteinhaus mit blauen Blumenkästen und einer niedrigen Mauer, die den winzigen zubetonierten Vorgarten von der Straße trennte.
Andrea Delore lebte – hatte gelebt – in der Wohnung im Obergeschoss. Als er die Stufen zur Haustür hinaufging, fiel Jenners Blick auf einen dunkelbraunen verschmierten Fleck unmittelbar unter dem Knauf der Haustür; es war doch bemerkenswert, dass Blut immer auffiel. Über dem Klingelknopf befand sich ein kleiner rechteckiger Rahmen, in dem in sauberen Druckbuchstaben die Namen DELORE/JONG standen. Große Flecken aus schwarzem Fingerabdruckpulver wucherten rings um den Klingelknopf und am Türrahmen; als er die Tür aufstieß, stellte Jenner fest, dass die Flecken sich an der Innenseite des Rahmens fortsetzten.
Die Luft im Hausgang war erstickend und heiß, fast klebrig vom Geruch nach Tod. Er blieb in der offenen Tür stehen und sah zurück, die Vortreppe hinunter. Hinter ihm winkte der Polizist die ersten Gaffer zur Seite. Jenner beobachtete, wie er zu der Frau mit der Wäschetüte zurückkehrte, und merkte dann, dass er auf Zeit spielte, das Betreten des Tatorts hinauszögerte.
Das Treppenhaus war lang und schmal, der vergilbte Fußboden mit einem Wabenmuster aus kleinen cremefarbenen und schwarzen Fliesen bedeckt, die Wände waren schwarz getäfelt. Es war mit betont künstlerischen, schwarz gerahmten Fotos geschmückt – Schwarz-Weiß-Aufnahmen, ein paar Nahaufnahmen von Tattoos im Tribalstil, ein paar weibliche Akte und ein paar weibliche Akte mit Tattoos im Tribalstil. Auf dem ersten Treppenabsatz entdeckte er ein russisch aussehendes Triptychon in einem vergoldeten Rahmen, das aussah, als wäre es aus einer Kirche gestohlen worden.
Lieutenant Garcia beugte sich über das Geländer des Treppenabsatzes im ersten Stock und wartete auf ihn. Schwarzes, nach hinten gekämmtes Haar, ein sauber gestutzter Schnurrbart, der Duft von Aramis, der in Wellen von ihm ausging; Garcia sah gepflegter aus und wirkte dynamischer als in Jenners Erinnerung, die Mordkommission schien ihm zuzusagen. Garcia war immer ein beliebter Polizist gewesen, ein Mann, der mit den Uniformierten trinken, mit den Verwaltungsangestellten flirten und mit den Bossen scherzen konnte. Er war schnell aufgestiegen – vom Detective zum Sergeant und jetzt zum Lieutenant; die Welle der Austritte nach dem elften September hatte ihn rasch nach oben getragen.
Er richtete sich auf, und sie schüttelten einander herzlich die Hände. »Hey, Jenner. Schön, dich zu sehen.« Er zeigte hinter sich. »Joey Roggetti vom Neunten Revier hat das Sagen da drin – bisschen ungestüm, aber im Großen und Ganzen okay. Die Dokumentation des Tatorts ist fast fertig. Whittaker hat die Leiche noch an der Wand gelassen.«
Er machte eine Pause; dann legte er Jenner die Hand auf die Schulter und sah ihm ins Gesicht. »Hör zu, das ist nicht gerade hübsch da drin. Du brauchst nicht reinzugehen – ich kann dir die Fotos vom Tatort auch vorbeibringen. Bist du sicher, dass du das machen willst?«
Jenner errötete. »Ihre Familie bezahlt mich nicht dafür, dass ich rumsitze und mir Fotos ansehe. Außerdem, es ist ja nicht so, als ob ich das noch nie gemacht hätte. Es ist schon okay, Rad.«
Er sah den Flur entlang, an Garcia vorbei. Zwei Tatortspezialisten suchten mit Pulver nach Fingerabdrücken. Der ältere der beiden, Mike Seeley, entdeckte Jenners Spiegelbild in dem ovalen Standspiegel, an dem er gerade arbeitete, drehte sich um und zeigte mit einer Kopfbewegung zur Seite.
»Hey, Doc. Sie ist da drin.«
Die Wegbeschreibung wäre nicht nötig gewesen; blendend weißes Licht flutete aus einer Türöffnung wenige Schritte weiter auf der rechten Seite in den Gang heraus, und Jenner hörte das wiederholte Klicken eines Auslösers.
Das Zimmer war groß, riesig für diese Wohngegend, und hatte eine hohe Decke. Die breite Bogenöffnung des Eingangs erinnerte Jenner an eine Bühne; der theatralische Aspekt wurde noch verstärkt von den beiden hellen Lampen, die die Spurensicherungsspezialisten aufgebaut hatten.
Zuerst konnte er die Leiche hinter all den Polizeibeamten nicht sehen. Ein fleischiger Mann Mitte dreißig in einem olivgrünen Anzug, dem die Krawatte lose um den dicken Hals hing, sprach mit zwei Tatortspezialisten und einem uniformierten Polizisten – Joey Roggetti, vermutete Jenner. Sie standen in einem Halbkreis vor der Leiche, hell angestrahlt von den Scheinwerfern; die Szene erinnerte Jenner an eine von diesen lebensgroßen Weihnachtskrippen. Die Reihe öffnete sich, als er auf sie zuging, und Jenner sah die Leiche des Mädchens.
Er spürte, wie Garcia ihn beobachtete, als er näher kam; die Anspannung breitete sich mit jedem Schritt weiter in seiner Brust aus, der Geruch ihres Blutes verdichtete sich in seiner Nase. Es war lange her.
Aber als er nähertrat, spürte er keinen Unterschied, keine dramatische Veränderung. Kein Blut, das ihm in den Ohren rauschte; das Herz trommelte nicht in seiner Brust, wie es das vor einem Panikanfall getan hatte.
Bedeutete das, dass endlich wieder alles in Ordnung war mit ihm? Er war fast ein Jahr lang außer Betrieb gewesen, Monate, die er auf dem Sofa verbracht hatte, während er darauf wartete, dass er sich wieder normal fühlen würde, Wochen, in denen er im Fernsehen Jerry Springer verfolgt hatte, während sein Kater an dem Eisbehälter auf seiner Brust herumkratzte. Und jetzt war er wieder da, und er hatte sich absolut nicht verändert. Der Geruch nach Blut, der Qualm von dem verbrannten Staub, der von den Lampen aufstieg, Herrgott, sogar die Art, wie er gerade angekommen und in das gottverdammte Haus eingelassen worden war, es war alles wie früher.
Und als er die Leiche sah, betraf der kleine Schauer des Abscheus, der durch ihn hindurchging, nicht das Mädchen; er betraf ihn selbst. Er spürte, wie er sich abkapselte wie ein Parasit, dessen Ausscheidungen eine Schutzhülle um ihn herum bilden, wenn er sich ins Fleisch gräbt. Das Mädchen löste keinerlei Gefühle in ihm aus; sie war einfach eine Leiche, kein Mädchen mehr. Ein Fall.
Der Mann hatte sie kopfüber an die Wand genagelt und dann die Lampen im Zimmer so arrangiert, dass sie sie beleuchteten. Ein weißes Sofa war an eine Stelle gegenüber gezogen worden, ein bequemer Sitzplatz, von dem aus er sein Werk bewundern konnte; der Stoff wies dort, wo er gesessen hatte, Blutspuren auf.
Und dann war da noch etwas Seltsames: Vor ihrem festgenagelten, ausgestreckten linken Arm pumpte ein stumm geschalteter Fernseher einen Schwall schnell geschnittener Bilder ins Zimmer; in der Ecke trieb das MTV-Logo. Hatte er sie dort aufgehängt und sich dann einfach hingesetzt, um fernzusehen?
Jenner sah sie an, wie sie dort hing wie eine Wachsfigur aus dem Horrorkabinett, nackt, Arme und Beine gespreizt, kopfüber, der Körper ein bleiches, blutverschmiertes X. Fabrikneu glänzende Bolzen nagelten ihre Füße an die Wand. Rote Striemen liefen kreuz und quer über den Körper, wo die Haut in Bogenlinien aufgerissen war.
Er musste sie dort herunterholen – schnell herunterholen. Sie hatte schon lang genug dort gehangen – angestarrt, ausgestellt, verletzlich. Tot.
Er wandte sich an Detective Roggetti, murmelte seinen Namen und fragte nach Handschuhen.
»Sorry, Doc. Ich könnte die Uniformierten draußen fragen, die haben vielleicht welche.«
Detective Seeley rief: »Wir haben welche, Doc. Größe L, stimmt’s?«
Jenner nickte und fing das Päckchen auf, das Seeley in seine Richtung warf. Er sah sich nach einem Platz um, wo er seinen Mantel ablegen konnte; Roggetti sagte: »Geben Sie ihn einfach her, ich halte ihn.«
Jenner, mittlerweile in Hemdsärmeln, riss die Packung auf und zog die Handschuhe über: dicke Gummihandschuhe Größe neuneinhalb, strukturierte Finger, leuchtendes Küchen- und Geschirrspülgelb. Ganz gleich, wie oft er dieses Ritual schon absolviert hatte, die Handschuhe kamen ihm immer seltsam fehl am Platz vor, ein irritierendes Aufblitzen gutgelaunter Normalität mitten im Schlachthaus.
Er sah wieder zu ihr hin, ohne zu merken, dass die Ermittler ihn beobachteten. Sie hatte stark aus Mund und Nase geblutet, aber es gab keine offensichtliche schwere Verletzung. Der Körper drohte von der Wand herunterzurutschen; Kopf und Hals waren am Boden abgeknickt. An der weißen Wand befanden sich in der Nähe ihrer Beine und des Oberkörpers gebogene Spritzer trocknenden Blutes, Tropfen, die von dem Gegenstand gespritzt waren, den er verwendet hatte, um sie zu peitschen – was das auch immer gewesen war.
Zwei Bolzen hielten ihren linken Fuß an der Wand fest, ein weiterer durchbohrte den rechten Fuß, dicht an einem kleinen tätowierten Ankh-Zeichen.
Jenner drehte sich um. »Hey, Mikey – gibt es hier Müllsäcke?«
Seeley wühlte unter dem Spülbecken herum, holte eine große schwarze Schachtel heraus und reichte sie ihm. Jenner musterte kurz den Boden und versuchte ein Muster in den Blutflecken zu erkennen. Er sah nichts als Pfützen, Ergebnis der Blutung aus Nase und Mund, schlimmer als üblich, weil er sie kopfüber festgenagelt hatte.
»Seid ihr Leute hier fertig?«
Seeley nickte. »Fotos, Proben, kurz nach Spuren abgecheckt – die Methode weiße Handschuhe, Doc. Whittaker hat rumgezickt, weil wir noch nicht fertig waren, als er aufgetaucht ist. Er hat nicht warten wollen, bis wir sie runtergenommen haben. Sie gehört Ihnen.«
Jenner nickte, faltete einen Plastiksack auseinander und legte ihn vor dem Mädchen auf den Boden, um sich vor Blut zu schützen, das unsichtbar in den Teppich gesickert sein mochte. Er kniete auf dem Müllsack und machte sich ans Werk. Er arbeitete mühelos und fast gedankenlos – erfahrene Hände, die sich geschmeidig bewegten, methodisch über den Körper glitten, nach gebrochenen Rippen tasteten, vorsichtig die Brüste bewegten, um versteckte Wunden ausschließen zu können.
Er fand eine Reihe von drei identischen, länglichen Flecken an einem Arm, Klebstoffreste etwa so groß wie Pokerchips, und wartete, bis Seeley sie fotografiert hatte. Er war ruhig. Er war okay. Er konnte dies tun.
Er drehte behutsam ihren Kopf zur Seite, um den Hals freizulegen. Er schob ihre Lippe nach unten; die Innenfläche war offen und verfärbt, die Zähne waren intakt. Er sah sich ihre Augen an; die leuchtend blaugrüne Iris hob sich kräftig gegen das blutunterlaufene Weiß der Augäpfel ab. Ihr Gesicht war purpurn von gestautem Blut, mit zahllosen winzigen roten Punkten auf der Haut; durch Strangulieren konnte man die Blutgefäße auf diese Art zum Platzen bringen, aber es konnte auch die Position des Körpers nach Eintritt des Todes gewesen sein. Es gab keinerlei Spuren am Hals, und sie hing kopfüber; positionsbedingte Asphyxie, Atemstillstand, lag durchaus im Rahmen des Möglichen.
Er hob ihr Haar an, das ihm nass über den Handrücken hing, auf beiden Seiten wie ein Vorhang, und sah, dass das linke Ohrläppchen blutig und eingerissen war, wahrscheinlich von einem herausgerissenen Ohrring. Auch das rechte war eingerissen – vermutlich absichtlich.
Er hatte zwei Bolzen durch jedes Handgelenk geschlagen und die kleineren Knochen dabei zerdrückt. Ihre gelbe Magilla-Gorilla-Armbanduhr lief noch.
»Hat jemand eine Taschenlampe?«
Er nahm Garcias Maglite, beugte sich vor und richtete den Lichtstrahl auf ihren Mund und die Wangen. Auf den Wangen sah er schwache Spuren aus weißlichgrauen Partikeln, wahrscheinlich von einem Knebel aus Klebeband. Was hatte er mit ihren Händen gemacht? War sie bei Bewusstsein gewesen, als er sie festgenagelt hatte?
Er stand auf. »Ich muss sie da runternehmen. Kann jemand helfen?«
Rad Garcia trat vor. »Machen wir’s.«
Sie gingen beide vor ihr auf die Knie und stützten ungeschickt Kopf und Schultern ab, während Seeley an den schon gelockerten Bolzen in den Fußknöcheln zog. Sie gingen langsam vor, zogen sie von der Wand weg, so dass sie nicht fiel; in der Hitze der Lampen spürte Jenner, wie ihm das Hemd am Körper klebte. Als die Knöchelbolzen sich lösten, kippte der Körper nach vorn, und Jenner drückte ihre nackte Hüfte gegen die Wand, während Seeley sich bemühte, die Waden zu umfassen.
»Vorsichtig …«
Seeley nahm die Beine, und sie ließen sie vorsichtig auf den Teppich gleiten und legten sie ab. Garcia und Seeley standen auf, beide etwas außer Atem; Jenner ging neben der Leiche in die Hocke und drehte sie auf die Seite; er konnte am Rücken keine Verletzungen sehen.
Er stand wieder auf, den Blick noch auf das Mädchen auf dem Teppich gerichtet, und sah dann zu der Wand, an der sie gehangen hatte. Er wandte sich an Seeley. »Mike, sind Sie fertig mit den anderen Räumen?«
»Wir haben uns mal kurz umgesehen, haben nichts Ungewöhnliches entdeckt. Die Show scheint hier drin stattgefunden zu haben, Doc. Aber sehen Sie nur nach, wenn Sie wollen.«
Jenner ging den schmalen dunklen Flur entlang zum Badezimmer. Unterwegs warf er einen Blick durch die erste Tür, der Küche gegenüber. Ein studentisches Schlafzimmer mit ungemachtem Bett, die weißen Wände mit ungerahmten Bleistiftskizzen geschmückt. Ein halb ausgepackter Koffer stand auf dem kleinen Schreibtisch; der Stuhl dahinter war gegen die Heizung unter dem Fenster geschoben. Neben dem Koffer lagen ein rosa iPod-Mini mit wirren Ohrhörerkabeln, ein Schlüsselbund, Zigarettenpapier und verstreute braune Tabakkrümel.
Er ging zum zweiten Schlafzimmer, dessen Tür weit offen stand. Das Licht im Flur war nicht eingeschaltet und ging auch nicht an, als er auf den Schalter drückte, also öffnete Jenner die Badezimmertür und schaltete dort das Licht ein.
Er beugte sich eine Sekunde lang vor und zog die Tür dann vorsichtig zu sich her.
»Hast du was gefunden?«
Jenner drehte sich zu Garcia um und murmelte: »Du kannst denen von der Spurensicherung mal sagen, dass man bei eingeschaltetem Licht immer mehr sieht, okay? Sag ihnen, das hier ist keine CSI-Episode, es ist ein gottverdammter Mordschauplatz.«
Er zeigte auf den Türrahmen. »Das Schließblech ist abgerissen. Sieh dir mal die Tür um das Schloss herum an; das Ding ist eingetreten worden.«
Er sank auf die Knie und sah sich um. »Rad, sag Mike, er soll herkommen und eine Kamera, eine Pinzette und einen Umschlag mitbringen.«
»Was hast du gefunden?«
Jenner schaltete das Maglite ein. »Hier ist ein Haarbüschel. Blond und lang – gehört nicht dem Opfer.«
»Was glaubst du – der Mörder oder die Mitbewohnerin?«
»Na ja, am Ende sind noch die Haarwurzeln dran, also ist es ausgerissen worden. Ich nehme an, es könnte dem Mörder gehören, aber nach dem Wohnzimmer zu urteilen hatte er alles unter Kontrolle.« Er richtete sich auf und musterte die Haare genauer. »Und diese Haare sind blondiert, die Wurzeln sind viel dunkler.«
Er wandte sich wieder an Rad. »Ich glaube, wir haben ein zweites Opfer.«
Seeleys Assistent erschien am Ende des Flurs. »Lieutenant, der Bezirksstaatsanwalt ist da.«
Jenner folgte Garcia zurück ins Wohnzimmer, wo Assistant District Attorney Madeleine Silver, die stellvertretende Bezirksstaatsanwältin, zwischen den beiden Lampen stand und auf die Leiche hinunterstarrte.
Sie schüttelte den Kopf und sagte: »Wow. Dieses Stück Scheiße hat sich wirklich an ihr ausgetobt …« Sie drehte sich um, nickte Garcia grimmig zu und entdeckte dann Jenner, dem sie ein sanftes Lächeln schenkte. »Hi, Dr. Jenner!«
»Ms. Silver.«
Sie war mittelgroß und Anfang vierzig – eine kurvige Frau mit fedrig geschnittenem Haar und der warmen Ausstrahlung eines Menschen, der andere gern in den Arm nimmt wie eine Kindergärtnerin oder die Vertrauenslehrerin einer Grundschule. Junge Strafverteidiger, die ihr zum ersten Mal begegneten, warfen einen Blick auf die Perlen und das edelsteinbesetzte Armband und schrieben sie als eine gut situierte Ehefrau ab, die auf ihrem Posten als stellvertretende Bezirksstaatsanwältin Wasser trat, bis ihr Ehemann sich die Position eines Partners in seiner Sozietät gesichert hatte und sie nach Scarsdale zogen. Aber im Gerichtssaal verschwanden die Perlen zusammen mit den Samthandschuhen, und wenn der Verteidiger töricht genug war, seine Kehle sehen zu lassen, riss sie sie ihm heraus und spuckte sie ihm auf die zweifarbigen Oxfordschuhe. Nach ihrem ersten Prozess, von dem erzählt wurde, dass sie einen Vergewaltiger im Zeugenstand zum Heulen gebracht hatte, hatte Mike Merino, ein Kollege bei der Bezirksstaatsanwaltschaft, sie Mad Dog getauft, und der Name war hängengeblieben; sie fuhr einen Honda-Minivan, auf dessen Nummernschild MADDOG stand.
Sie legte Jenner behutsam die Hand auf den Arm, sah ihm mit sanften braunen Augen ins Gesicht und fragte: »Wie geht es Ihnen?«
Wusste denn wirklich jeder Bescheid? Jenner trat zurück und murmelte seine Standardantwort, derzufolge eine Menge Leute an den Folgen vom elften September zu kauen gehabt hatten.
Sie ließ seinen Arm los und fragte: »Sie arbeiten für ihre Angehörigen?«
Er nickte – gut, ein Themenwechsel. »Ja. Der Onkel ihrer Mitbewohnerin ist ein guter Freund von mir.«
Ihre Augen wurden schmal. »Wissen Sie, ich war noch nie zusammen mit einem privaten Forensiker an einem Mordschauplatz.«
Er zuckte die Schultern. »Yeah. Für mich ist es auch das erste Mal. Ihr Dad ist Jurist in Boston und hat gute Beziehungen, und er hat ein paar Fäden gezogen.«
Sie schnaubte. »Er ist nicht einfach irgendein Jurist, Jenner. Juristischer Berater für den Staat Massachusetts. Bezirksstaatsanwalt Klein hat mich höchstpersönlich angerufen, damit ich herkomme. An einem Sonntag!«
Sie strich sich das Haar glatt. »Und was halten Sie vom Schauplatz?«
Er sah auf die Leiche hinunter. »Ich habe keinerlei Hintergrund. Können Sie mir aushelfen?«
Ihre Besorgnis um ihn war verflogen. »Na ja, Doc, wissen tun wir Folgendes: Das Opfer studiert Jura drüben am Hutchins College, teilt sich die Wohnung mit der Nichte Ihres Freundes. Sie könnten ein Paar sein, die beiden Frauen, die unter ihnen wohnen, wissen es nicht genau. Sie glauben es, sind sich aber nicht sicher. Aber sie sind ein Paar, okay?«
»Die Frauen ein Stockwerk tiefer?«
»Ja, ihnen gehört das Haus«, fuhr sie fort. »Jedenfalls, sie waren in ihrem Haus draußen in Woodstock und haben sich gestritten. Margaret fährt also gegen vier Uhr morgens zurück in die Stadt, stellt das Auto in der Garage ab und geht zu Fuß nach Hause. Sie ist todmüde, aber sie kann nicht schlafen, weil der Fernseher oben so laut aufgedreht ist. Also versucht sie das tote Mädchen, Andrea, anzurufen – keiner nimmt ab.
Sie versucht wieder zu schlafen – hoffnungslos, der Fernseher dröhnt immer noch. Sie ruft wieder an, wieder keine Reaktion. Jetzt ist sie wirklich sauer, also geht sie rauf und klopft an. Immer noch nichts. Sie fängt an, Angst zu bekommen, holt den Hauptschlüssel und schließt auf.
Sie sagt, sie hätte sofort gewusst, dass irgendwas Grundlegendes nicht stimmt, wegen dem Geruch – anscheinend hat sie’s mit Gerüchen, sie macht Duftkerzen und so weiter –, also ist sie wieder nach unten gerannt und hat die 911 angerufen.«
Jenner nickte. »Was gibt es im Hinblick auf den Zeitpunkt des Todes?«
Sie gestikulierte zur Küche hin. »Briefkasten leer, geöffnete Briefe auf dem Küchentisch, keine Nachrichten auf dem Anrufbeantworter. Oh, und das Telefon ist tot – das Kabel ist in der Küche gekappt worden. Der Körper ist noch ziemlich frisch, und die Lichter waren eingeschaltet. Leichenstarre ist komplett, wir gehen von gestern spät nachts aus, spätestens sehr früh heute Morgen.«
Sie machte eine Pause und wartete auf eine Reaktion. Jenner zeigte keine.
»Wir haben keine Waffe gefunden.« Sie zögerte eine Sekunde lang. »Und ich weiß nicht, was mit der Nichte Ihres Freundes ist …« Sie warf einen Blick in ihr Notizbuch. »Ana de Jong. Wir wissen nicht, ob sie hier war, ob sie ein Opfer ist, eine Zeugin, eine Komplizin, was auch immer. Niemand weiß, wo sie steckt.«
Jenner schüttelte den Kopf. »Die Chancen stehen gut, dass sie ein weiteres Opfer ist. Die Badezimmertür ist eingetreten worden, und ich habe ein Büschel langes, gebleichtes blondes Haar gefunden.«
»Herrgott. Ich hatte gehofft, sie wäre nicht zu Hause gewesen.« Ihr Blick glitt hinunter zu den Verletzungen an dem Körper vor ihren Füßen. »O Gott. Wenn er sie hat, dann hoffe ich beinahe, sie ist schon tot – der Himmel weiß, was er alles mit ihr anstellen könnte, wenn er irgendwo seine Ruhe hat.«
Sie gingen den Flur entlang zum Badezimmer, wo Seeley gerade den Türrahmen fotografierte. Sie fragte: »Was können Sie mir über Ana sagen?«
»Nichts – vor heute Morgen hatte ich nie auch nur von ihr gehört. Der Vater des Opfers hat mich um halb sieben aus dem Bett geholt. Douggie Pyke – das ist mein Freund – hatte ihm meinen Namen genannt. Und jetzt erreiche ich Douggie nicht; er arbeitet irgendwo in Afrika, und seine Satellitennummer funktioniert nicht.«
Sie schüttelte den Kopf. »Das muss eine schwierige Unterhaltung gewesen sein, die mit ihrem Vater.«
»Er kam mir ziemlich tough vor. Er hat mir erzählt, seine Tochter wäre ermordet worden und dass Douggie ihm gesagt hätte, ich wäre gut. Und er hat gesagt, er wüsste über meine Honorarforderungen Bescheid, und gefragt, ob ich gleich anfangen könnte. Und das war alles – die ganze Unterhaltung hat höchstens fünf Minuten gedauert.«
Mike Seeley, der mit einer Handlupe in der Tür stand, unterbrach sie. »Jenner, was halten Sie davon? Da ist ein bisschen verspritztes Blut an der Tür hier, nur ganz wenig. Es ist komisch, es ist, als wäre halb getrocknetes Blut hierher übertragen worden.«
Jenner kniff die Augen zusammen und sagte: »Yeah, ich weiß, was Sie meinen. Glauben Sie, das Blut war schon halb trocken, als er die Tür eingetreten hat?«
Er musterte die Tür. In der Nähe der Klinke waren kleine Vertiefungen zu sehen, aber der Schaden war gering. »Und warum ist die nicht stärker beschädigt, Mike?«
Seeley zuckte die Schultern. »Es ist ziemlich miese Qualität, Doc. Vielleicht hat sie nachgegeben, statt wirklich auseinanderzufallen …«
»Meinen Sie, er könnte es barfuß getan haben? Normalerweise findet man in der Nähe der Stelle, wo die Oberfläche gesplittert ist, ein paar Schuhabdrücke, aber hier sehe ich keine.«
Seeley legte den Kopf schief und studierte nachdenklich die Tür. »Yeah, hab ich mich auch gefragt. Wissen Sie was, wir nehmen die Spuren an der gesamten Oberfläche ab und sehen mal, ob wir einen Fußabdruck finden.«
Madeleine Silver fragte: »Würde ein Fußabdruck irgendwas nützen? Ich meine, ich weiß schon, im Krankenhaus machen sie Abdrücke von Babyfüßen, aber …«
Jenner schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich nicht. Aber manchmal kann man so jemanden identifizieren – Piloten und Flugzeugcrews lassen zum Beispiel Fußabdrücke machen, für den Fall eines Absturzes. Zumindest bekommen wir die Größe seines Fußes – und damit eine Vorstellung davon, ob er groß oder klein ist.«
»Ich verstehe.« Sie kritzelte etwas in ihr Notizbuch und schob es dann in ihre Handtasche. Sie gingen zurück in Richtung Wohnzimmer. Sie schwieg einen Augenblick; Jenner ahnte, was kommen würde.
»Also … ich hatte gedacht, Sie hätten der Forensik den Rücken gekehrt.«
»Weitgehend. Ich habe für eine Versicherungsgesellschaft medizinische Unterlagen ausgewertet; nicht gerade aufregend, aber immerhin können meine Katze und ich davon leben. Und vor Ort will ich nicht mehr arbeiten.«
Sie lächelte ihm zu und drückte seinen Arm. »Und trotzdem sind Sie hier …«
»Wenn’s nicht Douggies Nichte wäre, hätte ich nein gesagt.« Er fragte sie, ob sie schon mit Whittaker gesprochen hatte.
»Er nimmt an, sie ist wahrscheinlich erwürgt worden, nach den blutunterlaufenen Augäpfeln zu urteilen. Kein offensichtlicher Hinweis auf sexuellen Missbrauch, aber sie ist nackt, insofern …«
Jenner stimmte zu, dass es nach einem Erstickungstod aussah, glaubte aber nicht, dass sie erwürgt worden war; in jedem Fall würde die Obduktion diese Frage klären. Sie zögerte und fragte ihn dann, ob er es für möglich hielt, dass ihre Mitbewohnerin sie umgebracht hatte, entweder allein oder mit Hilfe von Komplizen.
»Ist sie das auf den Fotos im Treppenhaus?«, fragte er. »Ana? Das blonde Mädchen?«
Silver nickte. »Die Frau im Erdgeschoss hat sie identifiziert. Sie sieht ziemlich durchtrainiert aus …«
»Na ja, sie mag kräftig sein, aber ich bezweifle, dass ein Mensch von ihrer Größe und ihrem Gewicht diesen Körper so an die Wand gekriegt hätte, ganz sicher nicht allein.« Er schüttelte den Kopf. »Aber sehen Sie sich das Opfer an, die Art, wie der Körper präsentiert wurde, nackt ausgebreitet? Das war ein Mann.«
»Ja, ich bin Ihrer Meinung«, sagte Madeleine Silver mit einem nachdrücklichen Nicken. »Ich möchte einfach nur alle Möglichkeiten im Auge behalten.«
»Na ja, und außerdem sind da noch diese Haare. Ich glaube, sie ist ein zweites Opfer. Ich glaube, er hat sie mitgenommen.«
»Herrgott, ich will gar nicht daran denken.« Sie sah sich um. »Wo ist Garcia?«
Jenner sagte: »Ich glaube, er wollte den Chief anrufen, ihm Bescheid sagen, dass wir es wahrscheinlich mit einer Entführung zu tun haben.«
Sie fluchte und wandte sich ab, um ihrerseits zu telefonieren.
Sein Rücken verkrampfte sich; er richtete sich auf und streckte sich. Er merkte, wie müde er war. Er war nach drei Uhr nachts ins Bett gegangen und vor dem Morgengrauen wieder geweckt worden. Jetzt war es fast zehn Uhr vormittags, und er hätte eine Dusche und ein wenig Schlaf brauchen können.
Er hatte genug. Er würde Garcia und Seeley später anrufen und um ein Update bitten, vielleicht noch einmal zurückkommen, um sich den Rest der Wohnung anzusehen, wenn sie mit der Tatort-Dokumentation fertig waren. Und er nahm an, wenn der Bezirksstaatsanwalt jetzt schon nachfragte, dann bedeutete das, dass Whittaker die Autopsie noch an diesem Nachmittag machen würde.
Herrgott! Whittaker …
Er berührte Silvers Schulter, und sie nickte ihm zu, als er zur Tür ging. Er stellte sich in aller Form Roggetti vor und ließ sich dessen Karte geben, bevor er die Wohnung verließ. Es war nichts als eine höfliche Geste – offiziell war Roggetti der Chefermittler, aber Garcia würde das Sagen haben.
Auf dem Treppenabsatz blickte er nach unten und rief dann zu Seeley zurück: »Mike – habt ihr diesen rosa Matsch hier gesehen?«
»Danke, Doc, wir haben ihn schon aufgenommen; ich hab keinen Schuhabdruck drin finden können.«
Rad Garcia ging an Jenner vorbei, die Hand über das Mikrophon seines Handys gelegt.
»Ich muss mit Madeleine reden.«
Jenner nickte. »Sie sagt Bezirksstaatsanwalt Klein Bescheid, glaube ich.«
Sie gaben sich die Hand, und Jenner ging zur Treppe.
»Yo, Jenner.«
Er drehte sich wieder zu dem Ermittler um.
»Schön, dass du wieder da bist.«
Draußen hatte sich eine kleine Menschenmenge an der Absperrung gesammelt, und er entdeckte die Antenne des Kleinlasters von Channel 6 Mobile News, die einen halben Häuserblock weiter in die kahlen Äste hinaufragte. Er bückte sich unter dem Absperrband hindurch und nickte dem Polizisten dort zu, bevor er sich einen Weg zwischen den Neugierigen hindurch bahnte. Als er an der Avenue A ein Taxi heranwinkte, bog gerade das Auto von der Leichenhalle in die 7th Street ein. Keine zehn Minuten später war er zu Hause.
Jenner wohnte im obersten Stock einer umgebauten Glühbirnenfabrik an der Crosby Street, zwischen dem eigentlichen SoHo und Little Italy. Er hatte das Loft vor einigen Jahren mit dem Geld gekauft, das er von seinem Großvater geerbt hatte. Es war noch genug übrig, um von den Zinsen die laufenden Kosten bestreiten zu können; jetzt, da er weniger arbeitete und damit auch weniger Steuern zahlte, hatte er festgestellt, dass sich mit den sporadischen Einkünften das Leben durchaus meistern ließ, solange er sparsam war. Und es war ja nicht so, dass er viel ausgegangen wäre oder etwas in dieser Art.
Das Loft war eine gute Investition gewesen; die Gegend war beliebt geworden, und der Wert der Wohnung war steil nach oben gegangen. Im Sommer war die Fassade gereinigt worden, und an sonnigen Tagen leuchteten die Backsteine in einem tiefen Rotgold.
Er zahlte und stieg aus dem Taxi, während er das Wechselgeld in die Jackentasche schob. Als er die Haustür aufschloss, fiel sein Blick auf Julies Namen, der immer noch neben seinem über der Klingel stand; er vergaß ständig, Pete zu bitten, er sollte ihn entfernen.
Broschüren von Schnellrestaurants und Autowerkstätten bedeckten den Fußboden im Foyer. Er drückte auf den Fahrstuhlknopf und hörte als Antwort das Knarren der Maschine.
Er fuhr nach oben und starrte blicklos auf die Wirbel im Muster des abgetretenen grauen Linoleumbelags hinunter. Im sechsten Stock kam der Aufzug mit einem Ruck zum Stehen. Taubengraues Licht sickerte durch das Oberlicht im Gang herein. Jun Saitos Wohnungstür gegenüber stand offen, und in der Tür stand Jun, schwankte zu den Klängen von Santo and Johnnys »Sleep Walk« und trank ein Bier. Als er Jenner sah, schob er sich die graue Kangol-Kappe aus dem Gesicht und stellte sich etwas gerader hin.
»Jenner? Ich habe gedacht, ich hätte dich schon vor einer halben Stunde reinkommen hören.«
Jenner schüttelte den Kopf. »Zu viele Red Stripes, mein Freund …«
Juns Freundin Kimi erschien hinter ihm in der Tür und sagte etwas auf Japanisch, dann entdeckte auch sie Jenner. »Hi, Jenner. Sag Jun, es ist Zeit zum Schlafengehen.«
»Jun, geh schlafen.«
Kimi zog Jun kichernd in die Wohnung; als Jenner seine eigene Wohnungstür hinter sich schloss, hörte er sie rufen: »’Nacht, Jenner!«
In seinem Loft waren alle Vorhänge geschlossen, und die geheizte Luft ließ den großen Raum wie eine Schutzhülle wirken. Am anderen Ende bildete die kleine Noguchi-Lampe auf dem Nachttisch eine warme Insel aus goldenem Licht. Sein Bademantel lag auf dem Fußboden neben dem Bett, und sein Notizblock lag offen neben dem Telefon; Andrea Delores’ Adresse war auf die erste Seite gekrakelt.
Er warf den Mantel über den Holzstuhl am Schreibtisch und zog sich im Badezimmer aus. Als er die Armbanduhr abnahm, stellte er fest, dass es bereits Viertel nach zehn Uhr vormittags war. Er fluchte über den Schlafmangel und stellte sich unter die Dusche.
Er trocknete sich ab, zog Schlafanzughose und ein T-Shirt an und putzte sich die Zähne. Er schaltete das Badezimmerlicht aus und ging zu seinem Bett hinüber. Er war erschöpft, aber er wusste nicht, ob er jetzt schlafen konnte – der Raum war dunkel, aber er war wach und aufgedreht. Er sollte Douggie anrufen, ihm erzählen, wie die Dinge standen. Scheiße. Er setzte sich aufs Bett.
Und stand sehr schnell wieder auf: In der Ecke des Raums, halb verborgen von den langen Vorhängen, stand Ana de Jong.
Sie hielt einen schmuddligen rosa Regenmantel über dem Sweatshirt zusammen. Jeans und weiße Sportschuhe. Sie war gebräunt und blond, eine Spur stupsnasig, mit hellblauen Augen; sie sah aus, als käme sie geradewegs von einer Farm in Iowa – bis auf die Blutflecken auf ihrem Hosenbein und den Schuhen.
Sie sagte: »Dr. Jenner. Mein Name ist Ana de Jong …«
Er hatte sie von den Treppenhausfotos her erkannt. Offenbar hatte er sich im Hinblick auf ein zweites Opfer geirrt.
»Wie sind Sie hier reingekommen?«
Sie begann zu zittern. »Bitte … Mein Onkel … Er hat gesagt, ich soll herkommen … Er hatte die Schlüssel zu Ihrem Loft in seinem Atelier unten …«
Er selbst, Douggie und Jun hatten jeweils die Schlüssel für die Wohnungen der anderen. »Er hat Ihnen gesagt, Sie sollen in mein Loft gehen? Wann war das?«
Sie begann zu weinen – langsame, rauhe Schluchzer, die ihren Körper durchschüttelten, und als sie sich vorbeugte, fiel der Regenmantel auseinander, und er sah das Blut, das ihr Sweatshirt verschmierte.
»Sie sind verletzt – was ist passiert?«
»Ich … hab mich geschnitten … Als ich über eine Mauer geklettert bin.«
Sie fiel auf die Knie, das Gesicht in den Händen verborgen; auch ihre Finger waren blutig.
Er sagte: »Ich rufe die 911 – ich will, dass Sie in ein Krankenhaus gehen, und ich muss der Polizei sagen, dass Sie am Leben sind.«
Sie schüttelte heftig den Kopf. »Nein! Keine Polizei!« Sie biss sich auf die Lippen; ihre Augen füllten sich wieder mit Tränen. »Bitte … Sie dürfen die Polizei nicht anrufen.« Sie legte sich den Arm über den Bauch. »Es sind bloß Schnitte – wirklich, bloß Schnitte … es ist nicht so schlimm, wie es aussieht.«
Das Blut auf ihren Kleidern schien weitgehend getrocknet zu sein. Er stand da und wartete darauf, dass sie aufhörte zu schluchzen.
Als sie es nicht tat, sagte er: »Es tut mir leid. Bitte weinen Sie nicht.«
Sie richtete sich auf und schniefte.
Er schwieg eine Sekunde lang und fragte sie dann, ob sie einen Anwalt brauchte.
Sie sah ihn mit großen Augen an und sagte: »Einen Anwalt? Wozu sollte ich einen Anwalt brauchen?«
»Ich weiß, was mit Ihrer Mitbewohnerin passiert ist. Und jetzt stehen Sie hier, sind mit Blut bedeckt und wollen mich nicht bei der Polizei anrufen lassen.« Er setzte sich auf die Bettkante. »Ich denke, Sie sollten vielleicht mit einem Anwalt reden …«
»Nein, nein, Sie haben das ganz falsch verstanden! Sie wissen über Andie Bescheid? Ist sie …« Ihre Stimme verklang, als sie das Wort mit den Lippen formte.
Jetzt log sie ihn an – wie konnte sie aus der Wohnung gekommen sein, ohne zu wissen, dass ihre Freundin tot war? Sie manipulierte ihn – es reichte. Er stand auf, griff nach dem Telefon und wählte Garcias Nummer.
»Wen rufen Sie an?«
»Den Ermittler, der die Untersuchungen im Fall Ihrer toten Freundin leitet.«
»Bitte nicht …« Sie packte ihn am Arm. »Bitte, Dr. Jenner. Mein Onkel hat gesagt, Sie wären sein Freund und Sie würden mir helfen.«
Voicemail. Jenner hinterließ Garcia eine Nachricht, in der er ihn bat, ihn zurückzurufen.
»Hören Sie, dies ist Ihre Entscheidung, nicht meine: Sie können gehen, wenn Sie wollen. Aber wenn Sie hierbleiben wollen, dann müssen Sie mit Lieutenant Garcia reden.«
Sie stand zitternd vor ihm und drehte an dem blutigen Ärmelbund ihres Sweatshirts herum. Als er nach unten sah, bemerkte er, dass ihre Jeans mit kleinen Kritzeleien bedeckt waren, Herzchen und kleinen Figürchen. Als sie ihn ansah, erinnerte ihr Blick Jenner an eine automatische Kamera, die zu fokussieren versucht, obwohl ihre Batterien fast leer sind.
Er schüttelte den Kopf.
»Kommen Sie in die Küche und setzen Sie sich – Sie sehen erschöpft aus.«
Sie fragte, ob sie zuerst in sein Bad durfte. Er wartete am Küchentisch. Als er sie im Bad heftig weinen hörte, stand er auf, drehte die Wasserhähne auf und lärmte im Spülbecken mit Töpfen und Pfannen herum. Nach einer Viertelstunde ging die Badezimmertür auf, und sie kam herüber in den Küchenbereich. Er zeigte auf einen Stuhl, und sie setzte sich, die Hände vorsichtig auf den Bauch gelegt.
»Es tut weh?«
Sie nickte.
»Ich sollte es mir ansehen. Wollen Sie etwas Wasser?«
Sie schüttelte den Kopf und sprang dann auf, als die Haustürklingel summte. Jenner nahm den Hörer ab, und Rads Gesicht erschien auf dem Monitor. »Hey, Jenner, lassen Sie mich rein – ich habe was für Sie.«
Jenner drückte auf den Türknopf und wandte sich wieder an das Mädchen.
»Miss de Jong, Lieutenant Garcia ist ein guter Mann. Er wird Ihnen gegenüber fair sein. Wenn Sie nichts Falsches getan haben, erzählen Sie ihm, was passiert ist, und ich kann Ihnen versprechen, dass er Ihnen helfen wird.«
Sie rieb sich müde die Augen. »Kennen Sie ihn?«
»Seit etwa zehn Jahren.«
»Wie sieht er aus?«
»Wie er aussieht?« Jenner zwinkerte verblüfft.
Sie meinte es ernst.
»Südamerikanischer Abstammung, Anfang vierzig. Durchschnittlich groß, Bauchansatz. Schwarzes Haar und Schnurrbart. Warum?«
»Und Sie vertrauen ihm?«
»Würde ihm mein Leben anvertrauen.« Das stimmte.
Sie stand vor ihm, die Arme um den Körper gelegt, und sagte: »Mir bleibt nicht viel anderes übrig.«
»Ich kenne auch ein paar gute Verteidiger.«
»Ich brauche keinen Anwalt. Ich brauche jemanden, dem ich trauen kann.«
Sie verschwand wieder im Bad. Jenner zuckte die Schultern und öffnete die Wohnungstür, um auf Rad zu warten.
Garcia kam herein, den Mantel über einem Arm und einen Pappbecher mit Kaffee in der anderen Hand.
»Also, wir haben eine Entwicklung: Anscheinend ist heute Morgen ein 911-Anruf eingegangen. Der Streifenwagen ist zur 311B gefahren, hat nichts gefunden und es als falschen Alarm gemeldet. Der ursprüngliche Anruf war aus einer Telefonzelle an der Avenue B gekommen, sie konnten also nichts weiter machen.«
Garcia schnüffelte um die Küchentheke herum. »Hast du brauchbaren Kaffee da, Jenner?«
Jenner schüttelte den Kopf. »Eigentlich wollte ich gerade wieder ins Bett gehen.«
»Warum hast du mich dann anger …«
Seine Stimme verklang, als er über Jenners Schulter starrte und Ana de Jong in der Badezimmertür stehen sah.
Jenner stellte sie einander vor. Garcia nickte vorsichtig. »Alles okay mit Ihnen? Wissen Sie, wir haben nach Ihnen gesucht …«
Sie kam herüber, blieb neben dem Küchentisch stehen. »Ich habe mich versteckt.«
»Warum?«
»Weil ich nicht sterben wollte.«
Rad schüttelte den Kopf und ließ sich schwerfällig in Jenners Sessel fallen. »Was soll das heißen? Wo haben Sie gesteckt?«
»In einem Waschsalon drüben an der Avenue B und dann unten im Loft meines Onkels.«
Er beobachtete sie aufmerksam. »Waren Sie in der Wohnung, als Ihre Mitbewohnerin …«
Sie nickte; ihre Augen füllten sich wieder mit Tränen.
»Warum haben Sie nicht die Polizei angerufen?«
»Habe ich. Das war ich, der Anruf von dem öffentlichen Telefon bei dem Waschsalon.«
Garcia winkte Jenner zu sich herüber, fort vom Küchenbereich. Er sprach leise. »Ich glaube, hier könnte ein besserer Ort für die Vernehmung sein als drüben auf dem Revier.«
Er warf einen Blick zu Ana den Jong hinüber und wandte sich dann wieder an Jenner. »Was da auch passiert ist, das Mädchen sieht aus, als hätte sie einiges mitgemacht.«
Er setzte sich an den Küchentisch, und sie schnitt eine kleine Grimasse und sagte: »Es ist wie bei einem Vorstellungsgespräch.«
Garcia öffnete mit großem Aufwand sein Notizbuch und holte einen Kugelschreiber heraus.
»Okay, Ana. Ich möchte, dass Sie uns jetzt genau erzählen, was passiert ist.«
Sie zögerte einen Moment; die Unsicherheit ließ sie furchtbar jung wirken.
Er hakte nach; seine Stimme klang sanft. »Ana, hören Sie, ich versuche hier, Ihnen zu helfen. Wenn ich nach den Regeln spielen würde, würde ich Sie in diesem Moment gerade zum Revier fahren.« Er machte eine Pause. »Worauf es rausläuft, ist Folgendes: Sie können mir Ihre Geschichte hier erzählen, oder Sie erzählen sie auf dem Revier. Ihre Entscheidung.«
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Hier.«
Sie setzte sich ihm gegenüber an den Tisch. Sie faltete die Hände, drehte die Daumen umeinander, sah auf den Boden hinunter. Aber als sie anfangen wollte zu sprechen, kamen ihr wieder die Tränen. Garcia stand auf und setzte sich auf den Stuhl neben sie, legte ihr seinen mächtigen Arm um die Schultern.
Sie sah zu Jenner auf, das Gesicht gerötet und nass. »Ich glaube, ich brauche etwas zu trinken.«
Jenner goss ihr Scotch ein und stellte das Glas vor sie hin. Sie nahm es und trank einen großen Schluck; dann verzog sie das Gesicht. Sie schnüffelte etwas und sah auf ihre Hände hinunter.
Garcia musterte sie mit gespieltem Misstrauen und gab ihr einen Stoß gegen die Schulter. »Hey! Sind Sie überhaupt alt genug, um das zu trinken?«
Sie wischte sich die Augen und sagte mit einem blassen Lächeln: »Ich bin einundzwanzig.« Sie trank noch einen Schluck Whisky, hustete und sagte dann: »Es tut mir leid – ich bin an dieses Zeug nicht gewöhnt.«
Jenner setzte sich zu den beiden an den Tisch. »Können Sie uns jetzt erzählen, was passiert ist, Ana?«
Sie nickte, und dann begann sie; ihre Stimme war leise und zögernd.
»Andie und ich waren über Thanksgiving in Cancun. Wir waren an dem Nachmittag erst zurückgekommen – wir hatten noch nicht mal fertig ausgepackt. Wir haben Pizza kommen lassen, und dann hat Andie an ihrer Website von der Fakultät arbeiten müssen, und ich bin in mein Zimmer gegangen und habe mir einen Joint angesteckt. Es war, sagen wir, so gegen zehn Uhr abends. Ich hab die Klingel gehört, und einen Moment später ist Andie reingerannt gekommen und hat gesagt, ich soll das Ding ausmachen, weil ein Polizist draußen steht. Ich hab fast Panik gekriegt, aber Andie hat gesagt, ich soll einfach in meinem Zimmer bleiben, er wäre bloß wegen irgendwas an der Uni da.«
Als ihr aufging, was sie gerade zugegeben hatte, sah sie zu Garcia hin; aber er kritzelte nur in sein Notizbuch und reagierte nicht darauf. Sie sprach weiter.
»Also hab ich die Tür zugemacht und zum Lüften das Fenster aufgerissen. Ich hab Andie sagen hören, sie wäre allein, aber dann sind sie ins Wohnzimmer gegangen, und ich habe nicht mehr viel gehört.
Ich war ziemlich high, also hab ich einfach dagelegen und gewartet. Nach einer Weile hab ich gemerkt, dass Andie nicht mehr geredet hat, bloß der Typ.
Dann hab ich sie irgendwie … kreischen hören.
Ich habe nicht gewusst, was ich machen sollte. Ich hab das Telefon abgenommen, aber es war tot, und mein Handy war in der Küche. Ich bin aufgestanden und wollte nachsehen, was los war, aber bevor ich die Tür aufgemacht hatte, hab ich gehört, wie er sie geschlagen hat, hart, und ich hab sie fallen hören, und dann habe ich wirklich Angst gekriegt.« Ihre Schultern zuckten. »Und dann habe ich gar nichts getan …«
Jenner sagte: »Wenn Sie versucht hätten, etwas zu tun, hätte er Sie umgebracht. Es gab nichts, das Sie hätten tun können – das müssen Sie verstehen.«
Eine Träne rann ihr über die Wange. »Sie waren ja nicht dabei.«
»Nein. Aber ich habe gesehen, was er angerichtet hat.«
Sie hob wegwerfend eine Schulter, nahm dann das Glas und trank einen großen Schluck Scotch; dieses Mal verzog sie das Gesicht nicht.
Sie wischte sich über die Lippen und fuhr fort, einen entschlossenen Zug um den Mund, fort:
»Das Erste, was er dann gemacht hat, war, den Fernseher einzuschalten, richtig laut. Dann hat er angefangen, durch die ganze Wohnung zu gehen. Ich hab gehört, wie er in die Küche gegangen ist, dann hat das Telefon plötzlich so einen Ruck gemacht und angefangen, auf die Tür zuzurutschen – er war dem Kabel nachgegangen bis zu meinem Zimmer. Ich bin unter den Schreibtisch gekrochen, als er reingekommen ist.
Er hat das Bett von der Wand weggezogen, als ob es überhaupt nichts wöge, und dann in der Kommode nachgesehen, und dann ist er zum Schreibtisch rübergekommen. Ich hab gedacht, er hätte mich entdeckt, aber er wollte bloß den Kleiderschrank aufmachen. Ich hab seine Füße direkt neben meinem Kopf gesehen; er hat Armeestiefel angehabt, mit rosa Dreck dran, und ich habe Blut gerochen. Aber er hat nicht unter den Schreibtisch gesehen.«
Sie trank den nächsten Schluck Whisky.
»Dann ist er ins Bad gegangen und dann in Andies Zimmer. Als ich gehört habe, wie er in ihrem Zimmer stöberte, bin ich in die Küche gegangen, aber ich habe mein Handy nicht gefunden. Ich hab sie stöhnen hören. Ich hab gehört, wie er zurückkommt, und bin unter die Anrichte gekrochen, bis er wieder ins Wohnzimmer gegangen ist.
Das Fenster in der Küche ist gesichert, aber ich hab gedacht, wenn ich es ins Bad schaffe, am Ende vom Flur, dann könnte ich versuchen, an dem Rankgitter draußen in den Garten runterzuklettern.
Und da hat sie angefangen zu schreien. Er muss ihr irgendwas in den Mund gestopft haben, weil es plötzlich aufgehört hat. Es war, als ob ich gelähmt wäre – ich hab gewusst, er tut ihr etwas an, und ich wollte helfen, aber ich konnte mich einfach nicht bewegen.«
Jenner sah, dass sie zu zittern begann, und fragte: »Wann war das etwa?« Es war wichtig, ihre Aufmerksamkeit auf die Details zu richten.
Sie schüttelte den Kopf. »Vielleicht so gegen elf? Vielleicht auch ein bisschen später.«
Er nickte. »Und was ist dann passiert?«
»Ich hatte zu viel Angst, um mich zu bewegen. Ich hab da unter der Anrichte in der Küche gelegen und versucht, nicht zu atmen. Hab das Linoleum gerochen und einfach bloß … zugehört, wie er Dinge mit ihr anstellt. Ich hab mir gesagt, er wird sie vergewaltigen und dann verschwinden, und dann wird es vorbei sein, und irgendwann wird es auch wieder okay sein. Aber dann habe ich den Bohrer gehört.«
Sie griff nach dem Glas, leerte es und stellte es wieder auf den Tisch. Sie sah zu Jenner hinüber und schob ihm das Glas hin. Er füllte nach und stellte es wieder vor sie.
»Er hatte den Fernseher aufgedreht, aber ich hab gehört, wie er den Bohrer verwendet hat, als ob …« Sie atmete langsam, konzentrierte sich und fuhr mit festerer Stimme fort: »Es hat sich nicht angehört, wie wenn man in Holz bohrt.
Das ist eine ganze Weile so weitergegangen. Und er hat mit ihr geredet, aber sie hat nichts gesagt. Dann hab ich das Peitschgeräusch gehört, immer wieder, und von ihr immer noch kein Geräusch. Und er hat mit ihr geredet, aber ich hab einfach gewusst, sie ist tot. Ich hab’s gespürt. Und ich glaube, er hat Fotos gemacht, ich glaube, ich habe eine Polaroidkamera gehört – ich hab dieses Geräusch erkannt, mit dem das Foto rauskommt.«
»Und Sie waren in der Küche? Haben Sie den Blitz gesehen oder etwas dieser Art?«
Sie schloss die Augen und versuchte sich zu erinnern. Sie schüttelte den Kopf.
»Nein, ich habe keinen Blitz gesehen. Aber ich war komplett unter die Anrichte gekrochen und habe nicht nach draußen gesehen. Ich habe gewusst, wenn er in die Küche zurückkommt, um sein Zeug zu holen, würde er mich finden – er hatte seine Polizeimarke auf dem Tisch liegen lassen, und seine Jacke hat auf dem Stuhl gelegen, mit dem Funkgerät.«
Garcia wollte wissen, ob sie sich die Marke näher hatte ansehen können; sie hatte nicht. In ihren Augen hatte sie nach einer normalen Polizeimarke aus weißem Metall ausgesehen.
Jenner fragte, ob von Andie noch irgendein Geräusch gekommen war, nachdem Ana die Kamera gehört hatte.
»Nein, ich glaube nicht. Aber der Fernseher war wirklich laut. Und da war noch so eine Art Brandgeruch – ich weiß nicht, was das war.«
Garcia fragte: »Haben Sie Rauch gesehen oder gerochen?«
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Es war auch kein rauchiger Geruch, eher chemisch, wie Metall oder so ähnlich. Ich hab ihn nicht erkannt.
Ich habe versucht, nicht zu hören, was er mit ihr macht. Es hat eine ganze Weile gedauert, und dann hat er aufgehört, rumzulaufen, aber er ist nicht gegangen. Ich hab dagelegen und darauf gewartet, dass er reinkommt und mich findet und mir auch irgendwas antut, aber er ist im Wohnzimmer geblieben. Und dann ist mir aufgegangen, dass er da einfach fernsieht. Und dann habe ich beschlossen, dass ich lebend da rauskommen würde.«
Sie sah zu ihnen auf; die Worte kamen jetzt schneller.
»Ich hab in der Jacke nach seiner Dienstwaffe gesucht, aber es war keine da. Also habe ich ein Küchenmesser genommen und bin den Gang entlanggekrochen zum Bad und habe versucht, im Schatten zu bleiben. Ich hatte es erst halb geschafft, als er plötzlich gesagt hat: ›Ana?‹«
Sie kam taumelnd auf die Beine und rannte, aber er war unglaublich schnell. Seine Faust griff ihr ins Haar und riss sie nach hinten, das Messer flog ihr aus der Hand, das Haar wurde ihr aus der Kopfhaut gerissen, als sie um die Ecke taumelte.
Sie stolperte zur Klinke, schleuderte die Tür hart auf die zugreifende Hand. Er keuchte und wich zurück. Sie schlug die Tür zu und schob den Riegel vor, und augenblicklich hämmerte er gegen die Tür und versuchte, sie einzutreten. Sie rannte zum Fenster, riss es auf und schrie, während sie versuchte, sich zwischen den Gitterstäben hindurchzuschieben; der ganze Raum dröhnte vom Geräusch seines Fußes, der gegen die Tür donnerte.
Sie konnte die Tür splittern hören, als sie ein- und ausatmete, sich durch die Lücke zu zwängen versuchte. Dann ein krachendes Geräusch, als er durchbrach, und sie schob sich mit aller Kraft vorwärts und rutschte dann auf das Rankgitter hinaus, aber sie verlor sofort den Halt und stürzte viereinhalb Meter tief auf die Mülltonnen im Hof.
Halb bewusstlos und ohne atmen zu können, sah sie von den nassen Steinplatten des Hofes nach oben; er stand dort im Fenster und schaute durch den Regen auf sie hinunter. Sein Gesicht und seine Brust waren mit Blut bedeckt – er war nackt.
Er lächelte mit Lippen, die mit Andies Blut beschmiert waren, lächelte ihr zu, als er sagte: »Au! Das muss aber wehgetan haben.«
Er sah zu, wie sie zu Atem zu kommen versuchte, zu kriechen versuchte.
»Lauf schon. Ich komme dich holen, wir spielen später miteinander …«
Sie mühte sich ab, schob sich über die verrottenden Blätter und nass glänzenden Steinplatten auf die Rückwand des Hofes zu.
»Aber wohin willst du gehen? Keine Mommy mehr. Kein Daddy mehr. Arme kleine Ana! Ganz allein …«
Er hörte sie schluchzen, und sein Tonfall änderte sich unvermittelt.
»Ich hoffe, du weinst nicht um diese Schlampe! Weißt du, sie war nicht wirklich deine Freundin. Ich hatte noch kaum angefangen, da hat sie dich schon aufgegeben. Sie hat mir erzählt, dass du da bist, versucht, mich dazu zu bringen, dass ich stattdessen mit dir spiele!« Er lachte scharf auf. »Ich hab’s ihr nicht geglaubt, aber ich nehme mal an, die kleine Nutte hat eben doch die Wahrheit gesagt … Und wo hattest du dich versteckt?«
Sie hatte die Sonnenuhr erreicht und brachte es fertig, sich auf die Beine zu ziehen.
Er begann langsam zu klatschen; das Geräusch hallte in dem nassen Gartenhof. Dann hörte er damit auf und sagte: »Du weißt, dass du nirgendwohin kannst, oder? Wo du auch bist, ich werde dich holen kommen. Und ich werde dich mitnehmen und auch aus dir etwas Besonderes machen.«
»Und dann bin ich auf die Sonnenuhr geklettert und habe mich auf die Mauer hochgezogen; ich hab mich an den Flaschenscherben oben im Zement geschnitten. Ich bin durch den nächsten Hof gelaufen und durch das Tor raus auf die 6th Street und hab die ganze Zeit gebrüllt, aber es war kalt und hat gegossen, und es war kein Mensch auf der Straße. Niemand, der hätte helfen können …«
Sie atmete tief durch. Jenner roch den Alkohol; als sie weitersprach, hörte er, dass sie die Worte zu verschleifen begann. »Ich hab von einer Telefonzelle an der B die 911 angerufen, aber dann habe ich gedacht, was, wenn sie ihn schicken? Also bin ich in den Vierundzwanzig-Stunden-Waschsalon gerannt und hab die Satellitennummer von meinem Onkel angerufen, aber ich bin nicht durchgekommen. Irgendwer muss meinetwegen die 911 angerufen haben, weil die Polizei ziemlich schnell bei dem Waschsalon aufgetaucht ist.«
Ihr Gesichtsausdruck wurde höhnisch. »Aber zu der Zeit war ich schon wieder weg – sie sind direkt an mir vorbeigefahren. Ich hab den Regenmantel aus dem Waschsalon geklaut und bin zu Ihrem Haus gerannt. Ich hab eine Ewigkeit gebraucht, bis ich Onkel Douggie von seiner Wohnung aus erreicht habe; er hat gesagt, ich soll 911 anrufen, aber wenn man das macht, dann wissen sie, von wo aus man anruft, also habe ich’s gelassen. Er selbst hat die 911 auch nicht anrufen können, also habe ich ihm die Nummer von Andies Leuten in Boston gegeben, damit er ihrem Dad Bescheid sagt.
Er hat später zurückgerufen und gesagt, er hätte Sie nicht erreicht, aber ich sollte einfach raufgehen in Ihr Loft. Und dass Sie einer von seinen besten Freunden wären und Andies Dad helfen würden und dass Sie auch mir helfen könnten. Und ich habe gesagt, ich würde es machen, aber ich nehme mal an, ich hatte Angst. Als ich dann doch raufgegangen bin, waren Sie weg.«
Sie sah Jenner an und errötete. »Ich hatte nicht vor, hier einfach so einzubrechen. Ich hab geklopft, aber niemand hat geantwortet, und im Treppenhaus konnte ich nicht bleiben, also bin ich reingegangen.«
Jenner fragte: »Warum haben Sie nichts gesagt, als ich nach Hause gekommen bin?«
»Ich hab Sie nicht reinkommen hören – ich glaube, ich bin eine Weile eingeschlafen. Ich war in Ihrem Fernsehzimmer. Als ich aufgewacht bin, hab ich Sie duschen hören; ich hab noch ein bisschen gewartet, bis Sie, na ja, vorzeigbar waren.«
Garcia sagte: »Und den Rest wissen wir.«
Sie schwiegen eine Weile. Garcia ließ sich den Mann beschreiben – weiß, Mitte dreißig, Durchschnittsgröße, muskulöser Körperbau. Eher kurzes Haar, glaubte sie. Glattrasiert, amerikanischer Akzent, nichts Auffallendes. Und das war alles; sie hatte ihn nur kurz gesehen, durch den Regen, als Silhouette im dunklen Fenster. Sie hatte ihn nicht erkannt, hatte keine Ahnung, weshalb er alles Mögliche über sie wusste.
Der Ermittler stand auf, das Handy in der Hand. »Sie werden auf dem Revier eine offizielle Aussage machen müssen. Und wir werden Sie ein paar Fotos ansehen lassen.«
Sie warf Jenner einen flehenden Blick zu. Jenner sagte: »Rad, meinst du nicht –«
Rad schüttelte den Kopf. »Jenner, bei dem hier müssen wir uns an die Regeln halten.«
Jenner manövrierte ihn zur Tür.
»Natürlich muss sie eine Aussage machen, aber muss es jetzt sein? Diese Geschichte mit der Marke und dem Polizeifunkgerät … Kannst du sie nicht aus der Sache raushalten, wenigstens so lange, bis wir wissen, was hier eigentlich los ist? Sie die Aussage vielleicht hier machen lassen?«
Garcia zog langsam die Schultern hoch. »Ich weiß nicht recht, was ich da machen soll. Das Mädchen tut mir leid, aber wir wissen beide, dass dieses Stück Scheiße den Bullen wahrscheinlich bloß spielt, sich mit einer falschen Marke Zutritt verschafft. Vermutlich ist er so eine Art Mietbulle oder irgend so was, irgendein Arschloch mit einer gefälschten Marke, Einbruchswerkzeug und einem Funkgerät vom Elektronikmarkt. Sie ist eine Zeugin, sie hat ihn gesehen, sie muss uns helfen.«
Er sah zu ihr zurück, wie sie dort am Tisch saß und ihn dabei beobachtete, wie er über ihr Schicksal entschied, und sein Gesichtsausdruck wurde weicher.
Er stieß müde den Atem aus. »Okay, ich sag dir was. Sobald ich weiß, was hier los ist, setze ich mich mit Silver und den Bossen zusammen, und wir besprechen das und entscheiden, was wir machen. Ich hole auch die Typen vom Inneren mit dazu. Sie kann sich erst mal hier ausruhen, aber mach ihr klar, dass sie früher oder später bei uns antanzen muss.«
Rad zog sich den Mantel über und ging zur Tür. Er drehte sich noch einmal um. »Und, Jenner? Jetzt hast du die Verantwortung für sie. Sie verlässt die Wohnung nicht, ohne dass ich davon weiß. Okay?«
Jenner nickte und ließ Garcia hinaus.
Und dann war er mit Ana allein in der Wohnung.
Eine Sekunde lang sahen sie einander an. Er bemerkte das Zittern ihrer dünnen Schultern unter dem grauen Kapuzenshirt, und dann hob sie erschöpft eine Hand an die Stirn, und er sah wieder all das Blut.
Er schüttelte den Kopf. »Kommen Sie, ich sehe mir besser mal diese Verletzungen an.«
Sie stand schwankend auf; er hätte nicht sagen können, ob es die Müdigkeit war oder die Tatsache, dass sie ziemlich betrunken war.