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Volker Kutscher

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Beschreibung

Rosenmontag 1933: Gereon Rath feiert Karneval in Köln, und der Morgen danach beginnt für ihn mit einem heftigen Kater, der falschen Frau im Bett und einem Anruf aus Berlin: Der Reichstag steht in Flammen! Sofortige Urlaubssperre! Seinen neuen Fall aber erbt Gereon Rath von seinem ungeliebten Vorgesetzten Wilhelm Böhm, der sich unter dem neuen Nazi-Polizeipräsidenten ins politische Abseits manövriert hat: Ein Obdachloser ist erstochen am Nollendorfplatz gefunden worden. Dessen Vorgeschichte führt weit zurück in den Krieg, in den März 1917, als deutsche Soldaten während der »Operation Alberich« in Nordfrankreich verbrannte Erde hinterließen. Ungesühnte Morde, unterschlagene Goldbarren einer französischen Bank und ein in eine perfide Sprengfalle geratener Hauptmann münden sechzehn Jahre später in eine Mordserie. Der Schlüssel zu all dem scheint der kurz vor der Veröffentlichung stehende Kriegsroman des Leutnants a.D. Achim Graf von Roddeck zu sein. Rath ermittelt, doch immer wieder funken ihm andere Dinge dazwischen, und da sind die Vorbereitungen für seine Hochzeit mit Charlie Ritter noch das geringste Problem. Er wird in die Kommunistenhatz der Politischen Polizei eingebunden, muss sich mit SA-Hilfspolizisten und dem neuen Polizeipräsidenten herumschlagen und einen Geschäftsfreund des Gangsterbosses Johann Marlow aus den Klauen der SA befreien. Volker Kutscher ist wieder ganz auf der Höhe: atemlose Spannung, ein komplexer Fall, zwischenmenschliche Komplikationen und historische Genauigkeit und Anschaulichkeit.

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Volker Kutscher

Märzgefallene

Gereon Raths fünfter Fall

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über Volker Kutscher

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

MottoAch, wissen Se, ick ...Erster Teil Feuer1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. KapitelZweiter Teil Rauch27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. Kapitel48. Kapitel49. Kapitel50. Kapitel51. Kapitel52. Kapitel53. Kapitel54. Kapitel55. Kapitel56. Kapitel57. Kapitel58. Kapitel59. Kapitel60. Kapitel61. Kapitel62. Kapitel63. Kapitel64. Kapitel65. Kapitel66. Kapitel67. Kapitel68. Kapitel69. Kapitel70. Kapitel71. Kapitel72. Kapitel73. Kapitel74. Kapitel75. Kapitel76. Kapitel77. Kapitel78. Kapitel79. KapitelDritter Teil Asche80. Kapitel81. Kapitel82. Kapitel83. Kapitel84. Kapitel85. Kapitel86. Kapitel87. Kapitel88. Kapitel89. Kapitel90. Kapitel91. Kapitel92. Kapitel93. Kapitel94. Kapitel95. Kapitel96. Kapitel97. Kapitel98. Kapitel99. Kapitel100. Kapitel101. Kapitel102. Kapitel103. Kapitel104. Kapitel105. Kapitel106. Kapitel107. Kapitel108. Kapitel109. Kapitel110. Kapitel111. Kapitel112. Kapitelwww.gereonrath.de
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Für Uwe Heldt.

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Ach, wissen Se, ick kann jar nich so ville fressen,

wie ick kotzen möchte.

Max Liebermann am Abend des 30. Januar 1933 beim Anblick des Fackelzugs durchs Brandenburger Tor

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Erster TeilFeuer

Samstag, 25. Februar, bis Donnerstag, 2. März 1933

Es war einmal ein treuer Husar,

Der liebt’ sein Mädchen ein ganzes Jahr,

Ein ganzes Jahr und noch viel mehr,

Die Liebe nahm kein Ende mehr.

Deutsches Volkslied, 18. Jahrhundert

Feuer, eine aus gleichzeitiger Licht- und Wärmeentwicklung gebildete Erscheinung. Tritt sie an festen oder flüssigen Körpern auf, so nennt man sie Glut, bei Gasen Flamme.

Meyers Großes Konversations-Lexikon, 1905

1

Der Mann saß an einem stählernen Pfeiler im Schatten der Hochbahntrasse, das Kinn auf die Brust gesunken, als sei er nur kurz eingenickt. Man hätte denken können, er schlafe seinen Rausch aus, so kauerte er da, in einem alten, geflickten Soldatenmantel, in Wickelgamaschen und löchrigen Handschuhen, eine dicke Wollmütze tief in die Stirn gezogen.

Wilhelm Böhm musste seinen Bowler festhalten, den ihm der scharfe, frostige Wind vom Kopf fegen wollte. Sie befanden sich direkt unter dem Hochbahnhof Nollendorfplatz, keinen Steinwurf entfernt vom Treppenaufgang, und dennoch war der Tote niemandem aufgefallen, offenbar seit Tagen nicht, jedenfalls niemandem, der es für nötig erachtet hätte, angesichts eines leblosen Körpers, der bei Minustemperaturen auf der Straße lag, die Polizei zu rufen. Böhm hielt die Luft an, als er in die Hocke ging; der tote Mann, den er in Augenschein nehmen wollte, sah einfach aus wie jemand, der stank, ein Stadtstreicher eben, einer der vielen Obdachlosen, die Berlins Straßen bevölkerten und von denen es Jahr für Jahr mehr zu geben schien. Und tatsächlich musste sich der Oberkommissar seinen Schal vor die Nase halten, um weiteratmen zu können, denn trotz der Kälte verströmte der Tote den Gestank eines Menschen, der seit Jahren auf der Straße lebte: alter Schweiß, Urin, Alkohol.

Taubenkot bedeckte den reglosen Körper in einer dünnen, fleckigen Schicht, von den Schuhen bis hinauf zur Wollmütze. Oben aus dem Stahlgebälk gurrte es, unzählige Tauben hockten in den Streben, eine regelrechte Kolonie, die fortlaufend ihre Spuren hinterließ: Auch das Pflaster ringsum war über und über verschmutzt. Verständlich, dass die Passanten, jedenfalls die, die sich auskannten, diese Ecke mieden und die Hochbahn lieber an anderer Stelle unterquerten.

Ein Schupo, der am Nollendorfplatz seine täglichen Runden drehte, hatte schließlich – nach wie viel Tagen? – die Blutlache unter dem leblosen Mann entdeckt und die Zentrale Mordinspektion alarmiert. Die Genugtuung darüber, dass es ihm gelungen war, den Toten loszuwerden, ohne das eigene Revier damit behelligen zu müssen, war Wachtmeister Breitzke immer noch anzusehen. Kein Polizist riss sich darum, den Tod eines ungewaschenen Obdachlosen zu bearbeiten, auch nicht die Kollegen vom 174. Revier.

Den Schal vor Mund und Nase, betrachtete Böhm den Toten. Aus dem linken Nasenloch war das Blut in einem dünnen Rinnsal bis aufs Pflaster gelaufen, wo es eine Lache bildete, die bereits geronnen war. Oder gefroren, so genau war das bei den Temperaturen nicht zu sagen. Dort, wo es seinen Weg über den Mantel genommen hatte, war das Blut zu einem großen Teil im schweren Stoff versickert.

Mit spitzen Fingern durchsuchte Böhm die Taschen des Toten und fand einen alten, völlig zerfledderten Militärpass, der an einer Ecke sogar angesengt war, als habe sein Inhaber ihn bereits einmal verbrennen wollen und ein Feuerzeug an die Ecke gehalten, dann aber doch davor zurückgeschreckt. Der Oberkommissar faltete das speckige, abgegriffene Dokument auseinander. Der Reservist Heinrich Wosniak, so verrieten es die Einträge auf der fleckigen Pappe, geboren am 20sten März 1894 zu Hagen / Westfalen, war im August 1915 an der Ostfront zum 1. Garde-Reserve-Infanterie-Regiment gestoßen, das kurz darauf nach Flandern verlegt wurde. Die Hölle des Grabenkrieges hatte er überlebt, und war dennoch in seinem Soldatenmantel gestorben. Ein Großteil der Berliner Bettler trug Soldatenkleidung; Kleidung, die die Männer, oftmals schrecklich verkrüppelte Gestalten, seit dem Krieg nicht abgelegt hatten. Sie hatten ihre Gesundheit geopfert für das Vaterland, und nun kümmerte sich kein Mensch mehr um sie. Selbst den Leuten, die sie anbettelten, war ihr Anblick eher lästig, als dass sie Mitleid empfanden. Und schon gar keine Dankbarkeit. Dafür, dass diese Männer ihre Knochen hingehalten hatten für den Patriotismus der Daheimgebliebenen.

»Soll ich mit der Spurensicherung anfangen, Oberkommissar?«

Böhm blickte auf. Da stand Kriminalsekretär Gräf, einer der beiden Männer, die er mit rausgenommen hatte zum Nollendorfplatz, und pustete Atemwölkchen in die kalte Februarluft. Nicht mal eine Stenotypistin hatten sie ihm gegönnt, nur den Kriminalsekretär und einen Kommissaranwärter. Der Oberkommissar stemmte seinen schweren Körper in die Höhe und richtete sich auf. Dem unmittelbaren Dunstkreis des Toten entkommen, konnte er endlich wieder frei atmen.

»Fangen Se an, Gräf. Kronbergs Leute sind noch im Wedding, mit denen können wir heute nicht rechnen.« Böhm zeigte auf den Spurensicherungskoffer in der Hand des Kriminalsekretärs. »Das heißt, wir werden uns mit Bordmitteln bescheiden müssen. Schau’n Sie sich erst mal um, ob Sie überhaupt etwas finden. Zigarettenkippen, Fußspuren, was weiß ich. Die Ecke hier ist glücklicherweise nicht so stark frequentiert, jede Spur auf dem Pflaster könnte also ein Hinweis sein.«

Gräf stellte den Koffer ab und ließ die Verschlüsse aufschnappen. »Und was ist mit Fingerabdrücken?«, fragte er.

»Darum kümmere ich mich selber. Am Stahlträger könnten welche sein. Wenn überhaupt. Wer geht in diesen Tagen schon ohne Handschuhe vor die Tür?« Böhm schaute sich um. »Wo bleibt eigentlich Steinke?«

»Hat wohl Probleme, die Kamera aus dem Kofferraum zu kriegen.«

Reinhold Gräf machte sich mit einem Packen Markierungsschilder und einer Handvoll Beweissicherungsbehälter an die Arbeit, und Böhm wandte sich dem Schupo zu.

»Heinrich Wosniak, sagt Ihnen der Name was?«

»Von den Jestalten, die hier rumlungern, kenn ick doch keene Namen.«

»Haben Sie den Toten denn schon mal gesehen?«

»Wie?«

»Ich meine, das ist doch Ihr Revier. Hat der vielleicht hier schon mal irgendwo rumgesessen? Irgendwo gebettelt? Auf ’ner Parkbank geschlafen? So was eben.«

Wachtmeister Breitzke zuckte die Achseln. »Da müsst ick erst mal sein Jesichte sehen.«

Böhm nickte. Der Kopf des Toten war so tief auf die Brust gesunken, die verfilzten Haare hingen so weit in die Stirn, dass man das Gesicht kaum erkennen konnte.

»Wir können den Mann erst bewegen, wenn die Spurensicherung abgeschlossen ist. Solange muss ich Sie bitten zu bleiben.«

»Warten Se mal!« Breitzke hörte sich mit einem Mal deutlich weniger gelangweilt an und zeigte auf die vernarbte Haut, die unterhalb der Mütze der Leiche zu sehen war. »Vielleicht könnte det Kartoffel sein. Der steht schon mal am Nolle rum, drüben bei der U-Bahn, und schnorrt die Leute an.«

»Ich denke, von den Gestalten hier kennen Sie keine Namen?«

»Is ja ooch ’n Spitzname.«

»Kartoffel«, sagte Böhm. »Das heißt, den richtigen Namen kennen Sie nicht?«

»Ne, saach ick doch.«

»Sobald wir Fotos gemacht haben, schau’n Sie sich das Gesicht mal in Ruhe an. Vielleicht isser das ja wirklich.«

Wachtmeister Breitzke wirkte nicht begeistert, aber er nickte.

Böhm hörte ein leises Fluchen. Kommissaranwärter Steinke näherte sich mit dem Fotoapparat, die unhandliche Kamera unter den Arm geklemmt, das schwere Stativ geschultert. Ob der studierte Jurist, direkt vom Hörsaal in die Burg gekommen, jemals eine Hilfe sein würde, das bezweifelte Böhm. Auch nach einem Jahr bei der Kriminalpolizei agierte der Kommissaranwärter wie ein blutiger Anfänger; das Einzige, mit dem er sich bestens auskannte, waren Dienstgrade und Besoldungsstufen. Dennoch hatte Steinke gute Chancen, die Prüfungen zu bestehen, und dann wäre er als Kommissar der Vorgesetzte von Männern wie Gräf, dem leider der Ehrgeiz fehlte, die Kommissarsprüfung abzulegen, der aber der weitaus bessere Kriminalist war. Böhms einzige Hoffnung war, dass Steinke vielleicht doch durch die Prüfung rasselte, es gab schon mehr als genug unfähige Kriminalkommissare am Alex.

»Da sind Se ja endlich, Steinke.«

»Komme mir vor wie ein Packesel«, sagte der Kommissaranwärter und ließ das Stativ zu Boden fallen. Er ging zu dem Toten hinüber und verpasste dem leblosen Bündel einen kurzen Fußtritt, als handele es sich um einen überfahrenen Hund.

»Was machen Sie denn da, Mann?«

»Wollte nur feststellen, ob der Penner wirklich tot ist und nicht nur besoffen.«

»Wäre er nicht tot, wären wir wohl nicht hier«, sagte Böhm. »Lernen Sie heutzutage nicht mehr, dass Sie an einem Tatort selbstverständlich nichts anzurühren haben, bis die Spurensicherung abgeschlossen ist?«

»Schon, aber ...«

»Und ganz abgesehen davon: Erweisen Sie einem Toten gefälligst mehr Respekt!«

»Mit Verlaub, Herr Oberkommissar, aber das ist ein Stadtstreicher, ein ... Pennbruder. Frage mich, warum wir für so einen überhaupt rausfahren müssen.«

»Was soll denn das heißen? Dass so einer es nicht verdient, dass wir die Umstände seines Todes untersuchen?«

»Ich meine ja nur.«

»Meinen Sie nicht, bauen Sie lieber die Kamera auf und erledigen Sie Ihre Arbeit. Wir wollen hier endlich weiterkommen.«

Für einen Augenblick sah es so aus, als wolle Steinke noch etwas sagen, er öffnete den Mund, aber dann fuhr oben ein Zug in den Hochbahnhof ein, und das Donnern des Stahls machte jedes weitere Wort unhörbar. Der Kommissaranwärter winkte ab und begann, das Stativ auseinanderzufalten.

Böhm holte Rußpulver, Pinsel und Klebefolien aus dem Spurensicherungskoffer und machte sich daran, den Stahlträger vorsichtig einzustäuben. In der Nähe des Toten fand er keine Abdrücke, doch in rund eineinhalb Metern Höhe wurden zwei gut erhaltene und ein halber verwischter sichtbar. Er hatte gerade begonnen, die Spuren auf Folie zu bannen, da drückte Steinke das erste Mal auf den Auslöser. Die Nieten in den Stahlträgern reflektierten den Blitz, der tote Mann sah im unnatürlich grellen Licht für einen Moment zum ersten Mal wirklich bleich und tot und nicht nur betrunken aus.

Böhm nahm die Abdrücke mit zum Mordauto hinüber und beschriftete sie. Während er auf der bequemen Rückbank saß, warf er einen Blick durchs Autofenster zu Gräf hinüber, der gerade eine Zigarettenkippe mittels Pinzette vom Boden nahm und die Stelle gewissenhaft markierte, dann einen zu Steinke, der den Fotoapparat so lustlos bediente, als sehe er immer noch nicht ein, weshalb sie überhaupt hier rausgefahren waren.

»Und aus so einem soll mal ein Kriminalkommissar werden«, brummte der Oberkommissar, tütete den ersten Abdruck ein und schüttelte den Kopf.

»Heutzutage müssen Sie nur in der richtigen Partei sein, dann wird das schon mit der Karriere.«

Böhm erschrak und drehte sich um. Neben dem Mordauto stand Doktor Magnus Schwartz, wie immer wie aus dem Ei gepellt, in der rechten Hand die schwarzlederne Arzttasche.

»Sie sollten nicht so reden, Doktor.« Böhm zuckte mit der Kinnspitze zu Steinke hinüber, der in einiger Entfernung mit dem Fotoapparat hantierte. »Man weiß nie, was die jungen Leute heute so aufschnappen. Und bei welchen Stellen es dann landet.«

»Dann sollten Sie aber auch vorsichtiger sein, lieber Böhm. Ich für meinen Fall lasse mir jedenfalls nicht den Mund verbieten. Der braune Spuk geht auch wieder vorüber. In einer Woche wird gewählt.«

»Ihr Wort in Gottes Gehörgang«, sagte Böhm.

Leute wie Steinke, der an der Universität schon Mitglied der NS-Studentenschaft gewesen war, hatten in diesen Tagen Oberwasser. Und nicht nur Doktor Schwartz hoffte, dass sich das mit den Reichstagswahlen bald wieder ändern würde. Noch war Deutschland schließlich eine Demokratie, da mochten die Nazis noch so viel von einer nationalen Erhebung faseln.

Schwartz stellte seine Tasche ab und schaute sich um. »Sie sind ja nicht gerade mit großem Aufgebot hier«, sagte er.

»Ich bin froh, dass man mir wenigstens das Mordauto gegönnt hat und ich nicht das Fahrrad nehmen musste. Wenn ich schon keine Spurensicherer bekomme. Der ED hat derzeit alle Hände voll zu tun.«

»Tja, was will man machen«, meinte Schwartz. »Viel los in diesen Tagen. Mal wieder Wahlkampf, und das sind die mit Abstand ungesündesten Zeiten in Deutschland. Schlimmer als jede Grippewelle.« Er zeigte zur Leiche hinüber. »Der hier scheint aber kein Opfer der Politik geworden zu sein, oder?«

»Ne, und auch keins der Grippewelle.«

»Das haben Sie schon herausgefunden? Was brauchen Sie mich da überhaupt noch?«

»Am besten schauen Sie ihn sich einmal an. Einfach nur erfroren ist er nämlich auch nicht.«

Böhm ging mit dem Gerichtsmediziner zur Leiche hinüber, von der Steinke gerade Nahaufnahmen machte.

»Ich denke, das reicht, Steinke. Lassen Sie den Doktor jetzt mal seine Arbeit erledigen.«

Der Kommissaranwärter gehorchte bereitwillig. Wachtmeister Breitzke, der geduldig ausgeharrt hatte, sah seine Chance gekommen. »Entschuldigen Sie, Herr Oberkommissar«, sagte er, »aber bevor der Doktor ... Ich meine: Sie sagten doch, ich sollte mir den Toten mal näher anschauen, wenn er fotografiert ist ...«

»Ja?«

»Weil ...« Breitzke schaute auf seine Taschenuhr. »Ich müsste hier wirklich mal langsam weiter meine Runden drehen.«

Böhm guckte streng. »Gut«, sagte er, »dann schauen Sie mal.« Vorsichtig fasste er den auf die Brust gesunkenen Kopf des Toten bei den Haaren und zog ihn nach oben.

Es machte den Eindruck, als würde Heinrich Wosniak sie anschauen aus seinen toten Augen, beinahe vorwurfsvoll. Seine rechte Gesichtshälfte war vernarbt und erinnerte auf unappetitliche Weise tatsächlich an eine verschrumpelte Kartoffel. Das rechte Ohr war als solches kaum noch zu erkennen, das rechte Auge ohne Braue. Der Mann sah aus, als habe man seine Gesichtshaut zur Hälfte aus irgendwelchen Resten zusammengeleimt. Gleichwohl waren die bitteren Gesichtszüge gut zu erkennen, die der Mann mit in den Tod genommen hatte.

»Jau. Det is Kartoffel.« Breitzke sagte das ungerührt. »Hab ick ja jleich jesacht. Kann ick jetze jehen?«

»Der Spitzname passt«, sagte Böhm. »Was hat den armen Kerl denn so entstellt?«

»Ein französischer Flammenwerfer, wat weeß ick? Jedenfalls hat er schon so ausjesehen, als ick ihn det erste Mal vom Nolle verscheucht habe.«

»Sie haben ihn verscheucht?«

»Ist den Leuten manchmal zu sehr auf die Pelle gerückt. Da muss man doch eingreifen.«

Böhm nickte. »Dann drehen Se man weiter Ihre Runden, Wachtmeister. Auf dass Berlin sicher bleibt.«

Breitzke salutierte und wollte sich schon abwenden mit wichtigem Gesicht, da schickte Böhm ihm noch einen Satz hinterher: »Und Ihren schriftlichen Bericht lassen Sie mir bitte heute noch zum Alex schicken.«

Breitzke salutierte ein zweites Mal und entfernte sich dann eiligen Schrittes.

Doktor Schwartz beugte sich zu dem Toten hinunter.

»Schlimme Verbrennungen. Zweiten bis dritten Grades.«

»Also tatsächlich Andenken aus dem Krieg?«

»Nein, so alt sind die Narben nicht. Wenn Sie mich fragen, hat er sich die vor zwei, höchstens drei Jahren zugezogen.«

Der Gerichtsmediziner holte eine Lupe aus seiner Arzttasche und eine kleine Stablampe, mit der er dem Toten in die Nase leuchtete.

Böhm schaute ihm eine Weile zu und wurde immer ungeduldiger, je länger der Doktor schwieg. Er trat von einem Bein aufs andere, verkniff sich aber die Frage, die ihm auf der Zunge lag.

Schwartz hatte die Lampe mittlerweile zwischen die Zähne genommen, um die Hände freizuhaben, und brummte etwas Unverständliches. Schließlich erhob er sich und packte sein Werkzeug wieder weg.

»Sicher bin ich mir nicht«, sagte er, »würde mich jedoch nicht wundern, wenn jemand dem armen Kerl hier eine Stricknadel durch die Nase ins Gehirn gerammt hätte.«

»Eine Stricknadel?«

»Nicht zwingend eine Stricknadel. Aber etwas in der Art, ein langer, spitzer Gegenstand. Einfache Methode, aber effektiv.«

»Vielleicht ein Unfall? Wollte er sich mit einem ungeeigneten Werkzeug die Nase säubern?«

»Ich will dem Toten ja nicht zu nahe treten. Aber erstens sieht er nicht so aus wie jemand, der sich überhaupt jemals um Reinlichkeit gekümmert hat, und zweitens müsste er das Corpus Delicti dann ja noch in der Hand halten. Wenigstens aber müsste es irgendwo hier herumliegen, wenn niemand Drittes beteiligt war.«

»Und wie sieht’s mit dem Todeszeitpunkt aus?«

Schwartz schaute auf die von Raureif und Taubendreck wie mit einer Art fleckigem Zuckerguss überzogene Leiche. »Bei solchen Außentemperaturen schwer zu sagen. Er kann da schon Tage gelegen haben, ohne dass die Verwesungsprozesse in Gang gekommen sind. Eine tiefgekühlte Leiche verwest nun mal nicht.«

»Also wie immer: Genaues erst nach der Obduktion.«

»Ich will Ihnen keine falschen Hoffnungen machen, Oberkommissar.« Schwartz schaute skeptisch drein. »Dass die Leichenöffnung in dieser Frage noch genauere Erkenntnisse liefert, ist leider eher unwahrscheinlich.« Er zuckte die Achseln. »Ich könnte mir vom Wetterdienst die Temperaturen der letzten Tage kommen lassen und versuchen, diesen Faktor zu berücksichtigen. Aber eine wirklich genaue Schätzung des Todeszeitpunktes wird auch damit kaum möglich sein. Der Mann kann seit einem Tag hier liegen oder seit einer Woche.«

»Hm.« Böhm guckte enttäuscht.

»Am besten suchen Sie nach Zeugen. Befragen Sie die Passanten, dann bekommen Sie vielleicht heraus, wie lange der arme Teufel hier schon tot oder wenigstens leblos gelegen hat. Verdammt ...«

Der Doktor fluchte. Eine der Tauben, die oben in den Stahlstreben gurrten, hatte einen hellen Fleck auf seinem dunklen Wintermantel hinterlassen. Schwartz zog ein blütenweißes Taschentuch hervor und versuchte, die Sauerei wieder wegzutupfen. Was ihm eher schlecht gelang, der Fleck war nun ein weiß verschmierter Streifen auf seiner linken Schulter.

»Wenn Tauben reden könnten, mein lieber Böhm«, meinte Schwartz, »dann wären Sie schon einen Schritt weiter. Aber leider können die nur gurren und scheißen.«

Böhm sagte nichts, er war zu sehr damit beschäftigt, ein Grinsen zu unterdrücken.

»Ich würde vorschlagen, wir lassen die Leiche gleich abtransportieren«, sagte der Gerichtsmediziner, »ist mir zu gefährlich hier. Ich arbeite lieber in der Hannoverschen Straße weiter, da haben Tauben keinen Zutritt.«

Böhm nickte und schaute auf die Leiche, betrachtete die dünne Schicht Taubenkot, die den Toten bedeckte. Und fragte sich, ob die Tauben ihnen nicht doch helfen könnten.

2

Wie kütt die Mösch, die Mösch, die Mösch bei uns in de Küch?

Der Gesang von Willi Ostermann kratzte aus den Lautsprechern und übertönte das Stimmengewirr der Leute, die sich im Lichthof des Kaufhauses Tietz zu den Rolltreppen drängten. Ein findiger Verkäufer hatte einen elektrischen Plattenspieler an die Sprechanlage angeschlossen, und so konnte man dem Mundartschlager auch in den Hallen des größten Kölner Kaufhauses nicht entgehen.

Wie Rath den alten Ostermann so gegen den Kaufhauslärm ansingen hörte, war ihm, als sei er nie weg gewesen. Die eigentümliche Elektrizität, mit der sich die Kölner Luft in den Tagen vor Aschermittwoch auflud, holte ihn gleich wieder heim. Wie lange war das jetzt her, dass er das zum letzten Mal gespürt hatte? Wie viele Jahre lebte er nun schon in einer Stadt, der all dies fremd war? Erst jetzt, als er es wieder spürte, merkte er, dass ihm das Karnevalsfieber tatsächlich gefehlt hatte. Sogar die Lieder vom unvermeidlichen Ostermann.

Die Schaufensterpuppen im Tietz-Lichthof waren als Zigeuner, Mexikaner, Musketiere oder Clowns ausstaffiert, sie trugen gestreifte Hosen und glitzernde Jacken, Pappnasen und bunte Hütchen, an denen Luftschlangen und Konfetti hingen. Mit stoischem Blick schauten die kostümierten Puppen auf die Menschen, die sich an ihnen vorbeidrängten, sich an Regalen mit Perücken, Masken und Schminke vorbeischoben, vorbei an Kleiderständern mit schrägen Hüten, knappen Röcken und fabrikgefertigten Kostümen. Es herrschte so etwas wie Torschlusspanik, in zwei Tagen war Rosenmontag.

»Es muss nichts Tolles sein«, sagte Rath, »nichts Originelles.«

»Originelles findest du bei Tietz sowieso nicht.« Der blonde Mann neben ihm schaute skeptisch. »Alles, was du hier siehst, wird in den nächsten Tagen tausendfach getragen.«

Die Augen unter der Krempe des eleganten Filzhutes zogen Lachfalten. Pauls Gesicht lachte fast immer, selbst wenn sein Mund es nicht tat. Manchmal glaubte Rath, sein Freund schaue grundsätzlich mit einer spöttischen Distanz auf die Welt und ihren alltäglichen Irrsinn. Er kannte Paul Wittkamp seit Kindertagen, seit die Familie Rath, ein paar Jahre vor dem Krieg, hinaus nach Klettenberg gezogen war, und es gab keinen, den er besser kannte. Auch wenn sie sich in den letzten Jahren kaum hatten sehen können, genügte immer noch ein Blick, und jeder wusste, woran er beim anderen war.

Rath blieb vor einem Regal stehen, in dem ein größeres Sortiment an Papp- und Gumminasen fein säuberlich aufgereiht auf Käufer wartete. Ostermann war mittlerweile von den Monacos abgelöst worden. Es war einmal ein treuer Husar schmetterte aus den Lautsprechern.

»Hauptsache, niemand erkennt mich«, sagte Rath und wühlte sich durch die falschen Nasen.

»Was hast du denn vor?« Paul wedelte mit dem Zeigefinger. »Du solltest dich benehmen, bald bist du ein verheirateter Mann.«

»Mit der Betonung auf bald«, sagte Rath und griff zu der größten Gumminase, die er finden konnte. »Jetzt wird erst mal Fastelovend gefeiert. Wie in alten Zeiten.«

Warum er wirklich im Karnevalstrubel unerkannt bleiben wollte, sagte er nicht. Dass er immer noch Angst hatte, in Köln von einem der Reporter LeClerks entdeckt zu werden. Und dass es dann wieder losgehen könnte. Die Schlagzeilen damals, nach dem tödlichen Zwischenfall an der Neusser Straße, hatten ihm mehr zugesetzt, als er das auch Paul gegenüber jemals zugegeben hätte. Erst in Berlin hatte er wieder Ruhe gefunden.

Gedankenverloren betrachtete Rath die Gumminase, einen unglaublichen Zinken, an dem eine dicke schwarze Brille und ein falscher Schnauz befestigt waren. Kurz entschlossen hielt er sich das Ganze vors Gesicht.

»Und? Wie sehe ich aus?«

Der Schnurrbart kitzelte ein wenig beim Sprechen.

»Setz dir einen schwarzen Hut auf«, sagte Paul, »dazu ein schwarzer Bratenrock, und du siehst aus, als wärest du direkt dem Stürmer entsprungen.«

Rath schaute in den nächstbesten Spiegel. Er sah wirklich aus wie eine antisemitische Karikatur – wie eine der Isidor-Zeichnungen, mit denen die Nazi-Postille Der Angriff seinerzeit Berlins Vize-Polizeipräsidenten Bernhard Weiß regelmäßig verunglimpft hatte.

»Meinst du, ich kriege so Ärger mit der SA?«

Paul zuckte die Achseln. »Wohl eher mit einem Juden, der sich auf den Arm genommen fühlt.«

»Aber solche Nasen gibt es doch zu Tausenden«, sagte Rath und wies auf das Regal. »Wer weiß, wer die alles tragen wird. Und wenn ich dazu keinen schwarzen Hut, sondern irgendwas rot-weiß Geringeltes anziehe oder so, dann sehe ich eher aus wie ne doof Nuss und nicht wie ein Itzig.«

»Mach, was du willst, Gereon. Jedenfalls kann ich sicher sein, dass du mit so einer Maske nicht Gefahr läufst, der Damenwelt den Kopf zu verdrehen. Dann muss ich wenigstens nicht auf dich aufpassen.«

»Hattest du das etwa vor?«

»Soll dein Trauzeuge zulassen, dass du kurz vor dem Gang zum Traualtar den Pfad der Tugend verlässt?«

»Sehe ich so aus, als wollte ich das?«

Paul lachte laut los. »Nein, ganz bestimmt nicht. Nicht mit dieser Nase.« Er schlug Rath auf die Schulter. »Lass dir das Nasenfahrrad da in drei Teufels Namen einpacken. Und dann gehen wir zu mir und wühlen uns durch die Karnevalskisten. Oder willst du noch zu Cords?«

»Ne.« Rath schüttelte den Kopf. »Ich habe für heute genug von Kaufhäusern.«

Den ganzen Morgen waren sie schon durch die Geschäfte gezogen, um Trauringe zu besorgen. Bei einem Juwelier in der Hohe Straße waren sie schließlich fündig geworden und hatten zwei schlichte, aber elegante Ringe in Auftrag gegeben. Paul sollte sie abholen und erst zur Hochzeit mit nach Berlin bringen, so bestand auch keine Gefahr, dass Charly sie vor der Zeit entdeckte.

Rath hatte sich nicht lumpen lassen, vielleicht auch, um sein schlechtes Gewissen zu besänftigen. Weil seine Reise nach Köln, obwohl er sich das nicht eingestehen mochte, auch eine Art Flucht war. Eine Flucht aus Berlin, eine Flucht aus dem Alltag, eine Flucht weg von Charly. Der nach Wochen und Monaten des Hin und Her endlich festgezurrte Hochzeitstermin bereitete ihm, je näher er rückte, desto mehr Bauchschmerzen. So hatte er Pauls Einladung, noch einmal zusammen Karneval zu feiern, dankend angenommen. Zumal Gennat ihn ohnehin seit Monaten drängte, endlich all die Überstunden abzubauen, die sich angesammelt hatten.

Am Ausgang zur Schildergasse glaubte Rath, im Gedränge vor den großen Glastüren ein Gesicht gesehen zu haben, das ihm bekannt vorkam. Es dauerte einen Moment, ehe der Groschen fiel: Gut zehn Jahre war das her, seine Anfänge bei der Kölner Polizei, noch unter Aufsicht der britischen Besatzer. Ein Taschendieb, eine seiner ersten Festnahmen. Schürmann, Eduard Schürmann, genannt Zweifinger-Ede. Drei Jahre hatte der Mann damals bekommen, soweit Rath sich erinnern konnte, Jahre, die ihn offenbar nicht wieder in die Gesellschaft eingegliedert hatten: Ede rückte im Gedränge draußen vor dem Ausgang einem beleibten Herrn mit steifem Hut näher auf die Pelle, als das schicklich war.

»Entschuldige mich einen Augenblick. Wir sehen uns draußen.« Rath drückte Paul seinen Einkauf in die Hand und stürzte hinaus auf die Straße. Edes braunen Hut konnte er für eine Weile nicht sehen, den Dicken aber behielt er im Blick. Der Trottel schien immer noch nichts bemerkt zu haben. Rath rempelte ihn an, notgedrungen, als er an ihm vorbeistürzte, um Ede zu fassen zu bekommen. Er legte dem Taschendieb die Hand auf die Schulter.

»Bist du nicht langsam zu alt für dieses Geschäft?«

Eduard Schürmann blieb wie angewurzelt stehen und drehte sich um. Aus dem Augenwinkel konnte Rath erkennen, dass er etwas Schwarzes mit der linken Hand hinter dem Rücken versteckte.

»Was soll das? Kennen wir uns?«

»Ist schon ein paar Jahre her, aber du hast dich kaum verändert. Wenigstens, was deine Gewohnheiten angeht.« Rath lächelte freundlich. »Machst dich immer noch am liebsten über die Dicken her, was? Weil die so unbeweglich sind?«

Obwohl Ede sich erkennbar Mühe gab, verständnislos zu gucken, konnte Rath sehen, wie das Gesicht unter dem braunen Hut eine Idee blasser wurde.

»Herr Kommessar«, sagte Schürmann und zeigte ein misslungenes Lächeln, »han Se jar nit erkannt. Man erzählt, Se hätte Ihren Beruf an den Naarel jehängt.«

»Du den deinen offensichtlich nicht.« Rath musterte den Mann von oben bis unten. »Arbeitest du ohne Raben? Oder war ich zu schnell für euch?«

»Wovun reden Se?«

»Von der Brieftasche, die du eben gezogen hast.« Rath machte eine lockende Bewegung mit dem Zeigefinger. »Besser, du gibst sie mir. Wenn du nicht willst, dass wir dem großen Gebäude neben dem Kaufhaus Cords einen Besuch abstatten.«

Rat zeigte auf den Turm des Polizeipräsidiums, der düster und drohend am anderen Ende der Schildergasse in den grauen Himmel ragte wie ein mittelalterlicher Bergfried.

»Nit nöödich, Herr Kommessar, die Zeiten sin vorbei. Ich bin Uhrmacher.«

»Vor zehn Jahren hab ich dich wegen Taschendiebstahls in mehreren Fällen einbuchten lassen, und du willst mir erzählen, dass du jetzt in deinem Lehrberuf arbeitest?«

»Herr Kommessar, ich wor im Kahn, jo, un ich jehörte do och hin. Äver im Klingelpütz han ich mir jeschwore, ner bessere Minsch ze wääde. Ich han jetzt ner kleine Laden. Hier.« Schürmann reichte Rath eine Visitenkarte. »Nur weil alle Welt Ede für mich säät, müssen Se nit denken, dat ich für immer und ewig ner Janove bin. Ich bin ehrlich jeworde, fraare Se ming Frau.«

Rath schaute auf die Karte. Für einen Moment verblüfft. Mit so etwas hatte er nicht gerechnet.

E. Schürmann, Uhrmachermeister

Unter Krahnenbäumen / Ecke Eigelstein

»Ede Schürmann«, sagte Rath, »nicht gerade ein vertrauenerweckender Name. Und auch keine vertrauenerweckende Adresse.«

»Nenne Se mich Eduard, dat klingt schon mehr nach Uhrmacher. Und wat die Adress anjeht: Och im Bahnhofsviertel bruche die Lück Uhre.«

Paul war inzwischen herangekommen.

»Was ist denn los?«, wollte er wissen. »Brauchst du Hilfe?«

Rath zeigte auf den Dicken, dessen Melone sich im Menschengewühl der Schildergasse zwischen den am Bordsteinrand parkenden Autos schon ein ganzes Stück entfernt hatte. »Tu mir einen Gefallen und halte diesen Mann dahinten auf. Den Dicken mit dem steifen Hut.«

»Hat er was verbrochen?«

Rath schüttelte den Kopf. »Im Gegenteil, er ist das Opfer.«

Paul blickte kurz von Rath zu Ede und wieder zurück, als erwarte er eine weitere Erklärung. Als keine erfolgte, zuckte er die Achseln und machte sich auf den Weg.

»Mein Freund wird den Dicken aufhalten, den du bestohlen hast«, sagte Rath zu Ede. »Und ich werde ihm seine Brieftasche zurückgeben.«

»Ich weiß nit, wovun Se reden.«

»Es ist ein Vorschlag zur Güte. Gib mir die Brieftasche, und alles ist vergessen. Oder wir zwei spazieren doch noch zur Krebsgasse und ich lasse dich einer Leibesvisitation unterziehen.«

»Ich weiß wirklich nit, welche Brief...« Schürmann stutzte und schaute nach unten. »Meinen Se vielleicht die?«

Auf dem Pflaster, näher an Raths Füßen als an Edes, lag eine schwarze Brieftasche. Ede machte Anstalten sich zu bücken, doch Rath kam ihm zuvor und hob sie auf. Das Leder war noch warm und weich, als habe sie jemand eine Weile in der Hand gehalten. Rath öffnete sie, fand ein bisschen Klimpergeld, einen Zehn- und einen Zwanzigmarkschein, ein paar Rabattmarken und im Nebenfach eine Ausweiskarte, wie sie die Briten seinerzeit in ihrer Besatzungszone eingeführt hatten. 1923 hatte der Dicke einige Pfunde weniger mit sich herumgetragen, dennoch war es eindeutig sein Gesicht, das Rath entgegenblickte. Wilhelm Klefisch stand unter dem Passfoto.

»Dat muss einer verlore han, kein Wunder hier in demm Jewöhl ...«

Ein strenger Blick reichte, um Edes Ausflüchte abzuwürgen. Rath packte alles wieder ein und schloss die Brieftasche.

»Nicht, dass hier ein falscher Eindruck entsteht: Ich lass mich nicht für dumm verkaufen. Dass du heute pünktlich zum Abendessen bei deiner Frau sitzen kannst, hast du nur meiner Gutmütigkeit zu verdanken, ist das klar?«

»Sonnenklar, Herr Kommessar.« Ede verbeugte sich devot.

»Wir werden ein Auge auf dich haben, Herr Schürmann. Also pass auf, dass sich deine Hand so bald nicht wieder in fremde Taschen verirrt. Das nächste Mal kommst du nicht so glimpflich davon.«

Ede schwieg.

»Haben wir uns verstanden?«

»Natürlich, Herr Kommessar.«

»Und nun verschwinde.«

Eduard Schürmann verbeugte sich noch einmal und tat dann wie geheißen. Rath suchte Paul und fand ihn neben dem Dicken, der wild gestikulierte.

»Wilhelm Klefisch?«, fragte er, als er die beiden erreicht hatte, und der Dicke nickte.

»Sie haben etwas verloren, Herr Klefisch«, sagte Rath und wedelte mit der Brieftasche.

Der Dicke betastete seinen Mantel, guckte verdutzt und nahm die Brieftasche, die Rath ihm reichte, mit dankbarem Blick entgegen.

»Danke, der Herr. Wo haben Sie die denn gefunden?«

»Gleich da vorne, am Eingang bei Tietz. Die Leute sind einfach drüber weggetrampelt.«

Klefisch klappte das schwarze Leder auf und zählte die Scheine und Münzen. Einmal, zweimal. Und dann noch ein drittes Mal.

»Da fehlen fünfzig Mark«, sagte er schließlich und schaute vorwurfsvoll.

»Sind Sie sicher?«

Der Dicke nickte. »Todsicher. Ich möchte ja keine voreilige Verdächtigung aussprechen, aber ...«

Der Dicke schaute hilfesuchend zu Paul, dessen Rolle er wohl immer noch nicht ganz einordnen konnte. Rath jedenfalls schien er für einen Dieb zu halten. Entweder für einen strunzdämlichen oder für einen mit einem besonders raffinierten Trick.

»Ich weiß nicht, was Sie denken, aber ...« Rath zückte seinen Polizeiausweis. »Wenn da wirklich Geld fehlen sollte: Glauben Sie mir, ich habe es nicht gestohlen.«

Klefisch begutachtete den Ausweis, immer noch misstrauisch. »Aber irgendeiner muss es ja genommen haben.«

Ja, dachte Rath, und ich weiß auch wer! Nur ist der über alle Berge!

»Wir können zum Präsidium gehen und den Verlust anzeigen«, sagte er, »aber als Polizeibeamter kann ich Ihnen da wenig Hoffnung machen. In dem Gewühl da vorne kann jeder das Geld an sich genommen und die Brieftasche wieder hingelegt haben. Seien Sie froh, dass Sie Ihre Papiere noch haben.«

»Gut, mein Herr. Lassen wir das Ganze auf sich beruhen. Aber ich muss darauf bestehen, mir Ihren Namen zu notieren!«

Das hat man nun von seiner Gutmütigkeit, dachte Rath und faltete Edes Visitenkarte, die er immer noch in der Hand hielt, kleiner und kleiner.

3

Reinhold Gräf betrat das Büro und wedelte mit der Akte, für die er sich fast drei Stunden durch Archive und Karteischränke hatte wühlen müssen. Böhm blickte von seinem Schreibtisch auf, Steinke tat uninteressiert. Aber auch die Arroganz des Kommissaranwärters, der sich für etwas Besseres hielt, obwohl er die Kommissarsprüfung erst noch bestehen musste, konnte dem Kriminalsekretär die Laune nicht verderben. Die war wieder bestens, seit er die Akte mit dem Namen Wosniak entdeckt hatte. Das Wochenende, das er eigentlich mit Conny hatte verbringen wollen, hatte ihm der tote Stadtstreicher sowieso versaut, da war es gut zu wissen, dass sie jetzt wenigstens einen Ansatzpunkt hatten. Dass sich die Arbeit jetzt wenigstens lohnte. Vielleicht jedenfalls.

Conny hatte glücklicherweise Verständnis dafür, wenn unverhoffte Einsätze ihnen mal wieder die Pläne verhagelten. Das war nicht selbstverständlich, und Gräf war dankbar dafür. Aber was hätte er auch tun sollen? So war das nun einmal, wenn man bei der Polizei arbeitete.

»Unser Mann vom Nollendorfplatz ist tatsächlich bereits aktenkundig«, sagte er, nicht ohne einen gewissen Stolz in der Stimme, und legte die Akte auf Böhms Schreibtisch.

»Na, sieh einer an!« Der Oberkommissar nickte anerkennend. Mehr Lob konnte man von Böhm nicht erwarten.

»Also, mich überrascht das nicht, Oberkommissar«, sagte Steinke betont beiläufig, beinah gelangweilt. »Bei so einem asozialen Subjekt. Hätte ich Ihnen vorher sagen können, dass gegen den irgendwas vorliegt.«

»Wenn Sie so hellsichtig sind, Steinke«, meinte Böhm, »dann frage ich mich, warum Sie nicht längst Polizeipräsident geworden sind.«

»Ich will ja nur sagen: Aktenwühlen allein reicht nicht, Oberkommissar. Man muss sich auch auf seinen Instinkt verlassen.« Steinke tippte sich auf die Brust. »Ich wäre mit Ihnen jede Wette eingegangen, dass der Penner polizeibekannt ist. Schon als ich das Gesicht gesehen habe. So eine Verbrechervisage, da weiß man doch sofort Bescheid.«

»Nun«, sagte Gräf, »in diesem Fall hat Ihr Instinkt Sie dann wohl getäuscht.«

»Wieso? Sie sagen doch, er ist aktenkundig ...«

»Heinrich Wosniak«, unterbrach Gräf, »taucht zwar in dieser Akte auf, allerdings nicht als Tatverdächtiger.«

»Ach, ne?« Steinke hob die Augenbrauen. »Als was denn sonst?«

»Als Opfer.«

Böhm schlug die Akte auf. »Brandstiftung«, sagte er.

Steinke stand von seinem Schreibtisch auf und kam herüber.

»Richtig«, sagte Gräf. »Heinrich Wosniak war Opfer einer Brandstiftung, die er nur mit knapper Not überlebt hat.« Er räusperte sich. »Wenn ich kurz referieren dürfte?«

Böhm grunzte zustimmend.

»Also ...« Gräf schaute in seinen Notizblock. »Heinrich Wosniak wurde in der Silvesternacht einundreißig Opfer einer Brandstiftung. Sieben Tote, drei Schwerverletzte, von denen einer fünf Tage später seinen Verletzungen erlag. Allesamt Bettler und Obdachlose. Die Holzbaracke am Bülowplatz, in der sie gehaust hatten, brannte lichterloh.«

»Ich erinnere mich. Ging durch die Presse. Und einer der Überlebenden von damals ist unser Mann ...«

»Richtig. War unser Mann.«

»War das nicht ein Kind«, fragte Böhm, »das damals das Feuer gelegt hat?«

Gräf nickte. »Hannah Singer. Jahrgang sechzehn.«

»Mit Feuerwerkskörpern gespielt, oder wie ist das passiert?«

»Nein.« Gräf schüttelte den Kopf. »Es war kein Unfall. Die Kollegen haben Hannah Singer vor der brennenden Baracke aufgegriffen; die Streichhölzer, mit denen sie das Feuer entfacht hat, lagen noch zu ihren Füßen. Sie hatte einen ganzen Koffer voll dabei, sie verkaufte die Dinger.«

»Und warum hat sie das getan?«

»Wenn wir das wüssten.« Gräf zuckte die Achseln und zeigte auf die Akte. »Hier sind sämtliche Verhöre abgeheftet, denen Hannah Singer damals unterzogen wurde. Elf an der Zahl. Und in keinem hat sie auch nur ein einziges Wort gesagt. Die Protokolle umfassen jeweils eine Seite. Nur Fragen, keine Antworten.«

»Kein erkennbares Motiv?«

»Kein Motiv, aber ein interessantes Detail: Hannah Singer ist die Tochter eines der Todesopfer.«

Böhm machte große Augen. »Wie?«

»Die Kollegen haben vermutet, dass da die Erklärung für ihre Tat liegen könnte. Aber welche, das hat auch das Gericht nicht herausfinden können.«

»Hat der Vater sich vielleicht an seiner Tochter vergangen?«

»Heinz Singer«, sagte Gräf, »war eine arme Sau, hat im Krieg beide Beine verloren. Sich an irgendwem zu vergehen, dazu war der körperlich gar nicht in der Lage.«

Böhm nickte nachdenklich und blätterte durch die Akte.

»Vielleicht ein Akt der Gnade. Eine Art Sterbehilfe für den verkrüppelten Vater.«

»Der Feuertod als Gnade? Und wieso müssen dann sechs unschuldige Menschen mit ihm sterben?«

»Dann vielleicht Hass. Ein Mensch, der so etwas tut, muss doch einen Grund haben.«

»Oder auch nicht. Wenigstens keinen, den wir verstehen. Ein psychologisches Gutachten hat Hannah Singer paranoide Schizophrenie attestiert. Das Leben auf der Straße scheint die Kleine verrückt gemacht zu haben. Der Richter hat das Mädchen in die Irrenanstalt einweisen lassen.«

»Psychologie, pff!«, machte Steinke. »Wenn ich das schon höre! So ein Judenkram! Mörder gehören aufs Schafott, nicht ins Irrenhaus!«

»Hannah Singer war erst fünfzehn, das Mädchen wäre auch bei einem umfassenden Geständnis nicht hingerichtet worden«, sagte Böhm. »Das sollten Sie als Jurist doch eigentlich wissen.«

»Gesetze kann man ändern.«

»Ja, aber glücklicherweise nicht ohne ausreichende Mehrheiten im Reichstag. Und die hat im Moment ja wohl keiner, nicht einmal Ihre Nazis.«

»Das könnte sich schon bald ändern.«

»Nehmen Sie man den Mund nicht so voll, Steinke! Sie sind Kriminalbeamter, oder wollen wenigstens einer werden, da müssen Sie sich schon an die Gesetze halten, die wir derzeit haben. Ob Ihnen das passt oder nicht.«

»Man wird doch wohl noch sagen dürfen, was man denkt!«

»Sie würden uns die Arbeit sehr erleichtern, Kollege«, erwiderte Böhm, »wenn Sie uns nicht alles sagen, was Sie so denken.«

4

Gereon Rath stand auf ihrem Schreibtisch und schaute sie an mit diesem seltsamen Blick. Herausfordernd und gleichzeitig verschlossen, nach innen gewendet. Vor allem jedoch war ihm anzumerken, dass der Fotograf ihn überrascht haben musste. Das Foto zeigte Gereon im Einsatz, im leicht zerknitterten Anzug, die Hände in den Manteltaschen, wie er eher unwirsch in die Kamera schaute. Reinhold Gräf hatte es geschossen, vor zwei Jahren ungefähr, an irgendeinem Tatort im Tiergarten. Und nun stand es auf ihrem Schreibtisch, den Kolleginnen zuliebe, die ihr das Foto geschenkt hatten letzten Sommer, nachdem Charlys Verlobung mit Gereon im Präsidium bekannt gegeben geworden war. Ein Geschenk, das halb scherzhaft gemeint gewesen war, um die Neue in der Inspektion G ein wenig aufzuziehen, dennoch hatte Charly es gleich auf ihren Schreibtisch gestellt. Sie hatte niemanden vor den Kopf stoßen wollen, indem sie das Geschenk nicht entsprechend würdigte. Und irgendwie gefiel es ihr auch. Reinhold war ein guter Fotograf.

Sie ertappte sich dabei, wie sie wieder an ihre Zeit in der Inspektion A dachte. Damals war sie oft mit Reinhold Gräf unterwegs gewesen, hatte Zeugen befragt, manchmal auch Tatverdächtige. Obwohl sie seinerzeit eigentlich nur als Stenotypistin angestellt war, aber darauf hatte Wilhelm Böhm keine Rücksicht genommen. Er hatte ihr kriminalistisches Talent erkannt und sie entsprechend eingesetzt. Damals hatte Polizeiarbeit noch Spaß gemacht. Damals, als sie noch gar keine Polizistin war.

Jetzt hatte sie als Kommissaranwärterin ihren offiziellen Platz im Polizeiapparat gefunden, und mit was war sie beschäftigt? Mit Jugendstreichen.

Die Abzüge, die auf ihrem Schreibtisch lagen, hatte Kriminalrätin Wieking eben aus dem Labor bringen lassen. Die Fotos zeigten allesamt dasselbe. Eine nackte Ziegelwand, eine Brandmauer, wie sie zu Hunderten im Wedding, in Friedrichshain, Neukölln oder anderen Arbeitergegenden zu sehen waren. Und quer darüber hatte jemand mit weißer Farbe gepinselt: Deutschland erwache, Juda verrecke! In Schönschrift, als habe er alle Zeit der Welt gehabt. Und diese Parole hatte jemand durchgestrichen, mit roter Farbe, und mit schnellem Pinsel darunter geschrieben: Deutschland, mach die Augen auf, Hitler hat ein Ar(i)schgesicht!

Das i in Arisch war durchgestrichen. Charly hatte schon beim ersten Mal schmunzeln müssen, als sie den Satz gelesen hatte. Ihre Kollegin Karin van Almsick hingegen studierte die Fotos mit heiligem Ernst und sogar mit einer Lupe.

»Ich weiß nicht, warum wir nur die finden sollen, die den zweiten Satz geschrieben haben«, sagte Charly. »Schließlich ist es ja grundsätzlich verboten, die Wände mit politischen Parolen zu beschmieren, ganz gleich, wie schön man schreibt.«

»Es kommt aber doch auch darauf an, für welche Sache man eintritt!« Karin van Almsick sagte das mit einem unterschwelligen Staunen, als wundere sie sich darüber, Charly eine solche Selbstverständlichkeit erst erklären zu müssen. »Und außerdem: Wo kommen wir hin, wenn jeder Halbstarke ungestraft fremdes Eigentum beschmutzen kann?«

Charly sagte nichts dazu. Halbstarke. Deswegen waren die Fotos auf ihrem Schreibtisch gelandet. Weil die Politische Polizei vermutete, dass die Parole von irgendeiner wilden Clique dorthin gepinselt worden war, und Jugendbanden fielen in den Bereich der Weiblichen Kriminalpolizei. Die Politischen hatten derzeit genug mit den Erwachsenen zu tun, deren Gesinnung nicht in die Zeit passte.

»Jede Wette, das waren die Roten Ratten. Die haben doch schon letzten Sommer solche Sachen an die Wände geschmiert.«

Karin van Almsick war mit einem derartigen Feuereifer bei der Sache, dass Charly schlecht wurde. Mit ihrer Lupe und in ihrem karierten Rock sah die Kollegin aus wie die weibliche Witzausgabe von Sherlock Holmes.

Die Roten Ratten, das war eine Gruppe Halbwüchsiger aus der Gegend um die Kösliner Straße, die sich mit anderen Jugendlichen gelegentlich harmlose Bandenkämpfe lieferte, manchmal allerdings auch die SA in ihrem Viertel ärgerte, deren Sturmlokal mit Parolen verunzierte oder Sand und Wasser in die Tanks von deren Autos kippte. Denn eines waren die Ratten in jedem Fall, auch wenn sie sich in keine Parteidisziplin einbinden ließen, weder in die kommunistische, die in der Kösliner Straße immer noch die vorherrschende war, noch in die sozialdemokratische: Sie waren rot.

Und genau das war Friederike Wieking ein Dorn im Auge. Charlys Vorgesetzte machte keinen Hehl daraus, wie sehr sie es freute, dass der neue Reichskanzler Adolf Hitler hieß. Und dass sie darauf hoffte, dessen Kabinett möge länger halten als die ein bis zwei Monate, nach denen die letzten Reichsregierungen spätestens gescheitert waren.

Charly gehörte zu denen, die hofften, der Spuk möge bald vorüber sein. Doch wenn man sah, wieviel Zustimmung das Kabinett Hitler allein schon in den Reihen der Weiblichen Kriminalpolizei erfuhr, konnte einem angst und bange werden. Aber die WKP war nicht Deutschland und schon gar nicht Berlin. Charly konnte sich nicht vorstellen, dass die Mehrheit der Deutschen die nationale Erhebung, wie die Nazis die banale Ernennung ihres Führers zum Reichskanzler nannten, in irgendeiner Form an den Wahlurnen bestätigen würde.

»Die Roten Ratten, mag schon sein.« Charly zuckte die Achseln. »Und was, wenn wir die wirklich erwischen? Und ihnen etwas nachweisen können?«

»Na, was wohl? Dann bekommen die ihre verdiente Strafe.«

»Oder werden von einer Horde SA-Hilfspolizisten grün und blau geschlagen.«

»Und wenn schon. Ein bisschen Schläge hat noch niemandem geschadet. Wenn die Eltern es versäumt haben, die rechtzeitig übers Knie zu legen.«

Charly stand auf. »Entschuldige mich«, sagte sie und zeigte ihre Zigaretten, »aber ich muss mal eine kurze Pause machen.«

Karin nickte. »Wenn du an der Teeküche vorbeikommst, kannst du schon mal Wasser aufsetzen? Ich wollte uns gleich neuen Tee kochen.«

»Aber sicher.« Charly versuchte ein Lächeln, hatte aber das Gefühl, dass ihr das misslang.

Die Teeküche teilten sie sich mit den anderen Kolleginnen auf dem Gang, und Charly war froh, dass sie keiner einzigen begegnete, als sie den zerbeulten Teekessel mit frischem Wasser füllte und auf die elektrische Kochplatte stellte. Sie hatte gewusst, welche Fälle bei der Weiblichen Kriminalpolizei bearbeitet wurden. Jugendkriminalität, Mädchenbanden, minderjährige Prostituierte und ähnliche Auswüchse der modernen Zeit. Sie hatte sich damit abgefunden, auch wenn sie die Arbeit in Gennats Mordinspektion vermisste und Gereon darum beneidete. Aber das jetzt? Jetzt ging es nicht nur darum, dass sie sich in einem überheizten Büro den Hintern plattsaß, obwohl sie viel lieber draußen auf der Straße arbeitete, jetzt ging es darum, harmlose Jugendstreiche zu politischen Schwerverbrechen aufzublasen. Darum, Jugendbanden zu jagen, die etwas gegen den neuen Reichskanzler hatten und ihre Meinung nicht, wie so viele andere, für sich behielten, sondern an Häuserwände malten.

In der Kantine war nicht viel Betrieb. Charly holte sich einen Kaffee und ein Stück Nusskuchen vom Buffet. Eigentlich machte sie sich nicht viel aus Kuchen, aber manchmal gönnte sie sich ein Stück, weil sie das an die alten Zeiten erinnerte. Kaum eine Besprechung bei Ernst Gennat, bei der nicht Kuchen auf dem Tisch gestanden hätte. Auch für den beleibten Chef der Mordinspektion war Charly mehr gewesen als nur eine Stenotypistin, auch er hatte ihren kriminalistischen Scharfsinn geschätzt.

Daher kam es ihr, als sie ihr Tablett durch die Tischreihen balancierte, beinah vor, als habe sie den Mann, den sie allein an einem Tisch in der Ecke erblickte, mit dem Kuchen herbeigezaubert. Wilhelm Böhm. Da saß er bei einer Tasse Kaffee, etwas abseits, hinter einer Säule.

»Guten Abend, Oberkommissar. Darf man sich zu Ihnen setzen?«

Böhm schreckte hoch, als habe man ihn bei etwas Verbotenem ertappt. Sein missmutiger Gesichtsausdruck hellte sich allerdings gleich auf.

»Charly! Natürlich, setzen Sie sich!«

Charly stellte ihr Tablett ab und nahm Platz.

»Lange nicht gesehen«, sagte sie.

Böhm nickte. »Das kann man wohl sagen.«

Sie aß ein Stück Nusskuchen und hätte beinahe gehustet. Viel zu trocken, kein Vergleich mit dem Kuchen bei Gennat. Sie musste einen Schluck Kaffee trinken, um wieder sprechen zu können.

Böhm überbrückte das Schweigen. »Wie geht’s Ihnen?«, fragte er. »Viel zu tun bei der WKP?«

Charly schob den Kuchen beiseite und griff zu ihren Zigaretten. »Wie man’s nimmt«, sagte sie und zündete sich eine Juno an. »Überwiegend Routine. Mit einer Mordermittlung nicht zu vergleichen. Derzeit kümmern wir uns um harmlose Wandschmierereien. Und tun so, als seien das Schwerverbrechen.« Sie hob die Schultern und wusste nicht warum. Vielleicht, weil sie sich fühlte, als müsse sie sich für ihre Arbeit entschuldigen.

Böhm nickte. »Jaja, die Maßstäbe scheinen sich in diesen Zeiten zu verschieben. Mir wurde heute nahegelegt, nicht allzuviel Energie in die Ermittlung der Todesumstände eines gewaltsam umgekommenen Obdachlosen zu stecken. Die Polizei habe wichtigere Aufgaben.«

»Wer sagt denn so etwas? Doch nicht Gennat?«

Böhm schüttelte den Kopf. »Ein dahergelaufener Hilfspolizist sagt so etwas. Ein SA-Mann, herbeigerufen von einem erbosten Bürger, heute Morgen am Nollendorfplatz. Hatten da einen Leichenfund, und ich war ohnehin nur mit drei Leuten draußen. Aber dass der Mann keines natürlichen Todes gestorben ist, war ziemlich offensichtlich.«

»Das war doch schon immer so, dass die meisten Bürger unsere Arbeit nicht verstehen.«

»Ja, aber dieser Ignorant im Braunhemd darf sich Polizist schimpfen, dank unseres lieben Herrn Göring. Bei einer Todesfallermittlung können Sie so einen Hilfspolizisten jedenfalls nicht gebrauchen.«

»Da kann man, mit Verlaub, auch so manchen gestandenen Beamten nicht gebrauchen. Jedenfalls nach meiner Erfahrung.«

»Da haben Sie auch wieder recht.« Böhm grinste. »Es tut gut, Sie so zu hören, Charly. Erinnert mich an alte Zeiten. An bessere Zeiten.«

»Glauben Sie mir, ich wäre froh, wenn die Inspektion A mich mal wieder zu einer Mordermittlung anfordern würde.«

»Sie wissen doch, dass Ihre Vorgesetzte das nicht gerne sieht. Und Kriminalrätin Wieking ist – wie soll ich sagen? – recht meinungsstark.«

»Wem sagen Sie das!«

Charly drückte ihre Juno aus, trank den letzten Schluck Kaffee und machte Anstalten aufzustehen.

»Haben Sie vielleicht noch einen Moment Zeit, Charly? Ich ... Ich hätte gern Ihre Meinung zu einer Frage. Es handelt sich ...« Böhm rührte in seinem Kaffee, obwohl die Tasse leer war. »Ich meine, es geht um Taubenkot und ... Ach, ich höre mich an wie ein Idiot!« Mit einem Klirren landete der Kaffeelöffel auf der Untertasse. »Am besten, ich erzähl Ihnen die ganze Geschichte von vorn. Setzen Sie sich, ich hol uns frischen Kaffee.«

Charly dachte an ihr Büro, an ihre Kollegin, an die Topfpflanzen auf dem Fensterbrett und den mittlerweile wahrscheinlich lauwarmen Tee, den Karin für sie aufgebrüht hatte. Sie nickte und holte das Zigarettenetui wieder aus der Handtasche.

5

Teetassen klirrten auf dem Tablett, das Frieda gerade in den Salon brachte, und Rath fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. Nicht einmal bei einem Kaffeekränzchen seiner Mutter wäre er sich deplazierter vorgekommen als in Gesellschaft dieser beiden Herren. Doch außer dem Hausmädchen der Raths befanden sich keine Frauen im Raum. Die Männer schauten schweigend zu, wie das Mädchen ihre Tassen füllte, gesprochen wurde erst, als Frieda – von Engelbert Rath mit einem Kopfnicken verabschiedet – wieder verschwunden war und die Tür geschlossen hatte.

»Schönnen Dank für die Einladung, Engelbert.« Der Mann am Fenster, der im bequemsten Sessel Platz genommen hatte, rührte in seiner Teetasse und lehnte sich zurück.

»Aber sicher, Konrad. Ich weiß doch, wie gut ein halbes Stündchen Ruhe tut zwischen all den Terminen. Fastelovend, Wahlkampf – und die Stadt will auch noch regiert werden.«

»Wer weiß, wie lang noch?« Ihr Besucher schaute hinaus auf die Siebengebirgsallee, wo sein schwarzlackierter Dienstwagen parkte. Der Chauffeur stand am Gartenzaun und rauchte. »Bald han ich mehr Zeit als mir lieb ist, fürchte ich.«

»Wie kannst du so was sagen, Konrad?« Engelbert Rath versuchte, die düstere Stimmung, die sein Gast verbreitete, einfach wegzulächeln. »Erst kriegen die Nazis bei der Reichstagswahl ihren Denkzettel, eine Woche später bei der Kommunalwahl, und dann ist der Spuk vorüber. Die haben im November schon Millionen Stimmen verloren, die sind doch auf dem absteigenden Ast.«

»Schön wär’s.« Ihr Besucher nippte an seinem Tee. »Nein, nein, Engelbert. Meine Zeit als Oberbürjermeister ist vorbei. Unsere Zeit ist vorbei. Die Nazis werden sich die Macht nicht mehr nehmen lasse.«

Der Oberbürgermeister sprach das Wort Nazi mit kurzem a, es klang eher wie Nazzi.

Rath hatte befürchtet, dass sich das Gespräch um Politik drehen würde, darum drehte es sich bei seinem Vater fast immer, und bei diesem Besucher sowieso. Engelbert Rath bildete sich einiges darauf ein, Konrad Adenauer zu seinen Duzfreunden zu zählen, eine Freundschaft, die auch die Beamtenkarriere des Kriminaldirektors in den letzten zwanzig Jahren durchaus befördert hatte.

Rath kramte sein Zigarettenetui aus der Tasche. Er wusste, dass sein Vater sich die geliebte Nachmittagszigarre verkniff, aus Rücksicht auf den Nichtraucher Adenauer.

Er zündete sich trotzdem eine Overstolz an und schaute aus dem Fenster. Der Chauffeur hatte sich inzwischen in die schwarze Limousine gesetzt. Es war kalt draußen, wenn auch nicht ganz so kalt wie in Berlin.

Engelbert Rath warf seinem Sohn einen bösen Blick zu, bevor er Adenauer antwortete. »Noch ist alles offen, noch befinden wir uns im Wahlkampf«, sagte er. »Aus genau diesem Grund hast du Hitler doch – und da gehe ich ganz d’accord – vor einer Woche nicht empfangen: Weil er als Wahlkämpfer nach Köln gekommen ist, nicht als Reichskanzler. Und deswegen hast du doch auch die Hakenkreuzfahnen von der Deutzer Brücke wieder entfernen lassen.«

»Richtig. Weil et darum jeht, die letzten Taare im Amt mannhaft und mit Würde zu bestreiten.«

Adenauer stellte seine Tasse ab und kramte einen Zettel aus der Tasche, faltete ihn auseinander und zeigte ihn Vater und Sohn. Ein Flugblatt. FORT MIT ADENAUER, las Rath.

»Das ist die einzije Botschaft, die das braune Jesocks im Wahlkampf hat. Ich würde jern auch nach dem zwölften März noch Oberbürjermeister sein, aber ich rechne nicht mehr damit. Jussie un die Kinder han ich schon darauf vorbereitet.« Adenauer rührte gedankenverloren in seiner Teetasse. »Hitler hätte man mit Jewalt entjejentreten müssen«, sagte er, »schon vor einem Jahr. Nu isset zu spät.«

»Ich kann deinen Pessimismus nicht teilen, Konrad! Das Kabinett Hitler ist ein Kabinett von Hindenburgs Gnaden. Wenn die Braunen es zu bunt treiben, dann wird der Reichspräsident dem schon einen Riegel vorschieben. Und die Wähler ...«

»Hindenburg ist ein pollitischer Volltrottel«, unterbrach Adenauer. »Jenau wie Papen, dieser Intrijant. Wir haben uns diesen Herrn Hitler nur engagiert, soller jesacht haben in seinem Herrenklub. Kaum zu jlauben, dass so einer mal in unserer Partei war, dieser westfälische Muuzepuckel!«

»Unsere Wähler werden den Braunen niemals ihre Stimme geben. Die katholischen Wähler stehen treu zum Zentrum!«

»Mag sein. Aber du verjisst die Frauen. Die laufen doch all dem Herrn Hitler hinterher.« Adenauer schaute aus dem Fenster, als hätten sich draußen vor der Villa Rath alle Frauen Deutschlands versammelt. »Wir hätten denen niemals das Wahlrecht jeben dürfen. Das Frauenwahlrecht war seinerzeit der erste Sarchnaarel für die Demmokratie.«

»Ich weiß nicht ... Meine Erika wählt bestimmt nicht die Braunen. Und deine Gussie doch wohl auch nicht.«

»Die Wahlen werden sowieso nicht mehr vill ändern. Die Straße jehört den Nazzis doch schon längst. Zur Not holen die sich mit Jewalt, was se wollen.«

»Ach, die Politik!« Engelbert Rath winkte ab. Eine Zukunft, in der ihm seine guten Drähte zu Zentrum und Sozialdemokratie nichts mehr nutzen würden, schien ihm offensichtlich unvorstellbar. Jedenfalls nicht wert, sich darüber allzu viel und allzu trübe Gedanken zu machen. »Es gibt Wichtigeres im Leben«, sagte er, und Gereon wusste, dass er das nicht so meinte. Für Engelbert Rath gab es nichts Wichtigeres als Politik – so sie denn seinem beruflichen Fortkommen nützte. »Wie geht’s Gussie und den Kindern?«

»Danke. Sind alle wohlauf. Obwohl die SA immer frecher wird. Seit die Braunhemden sich als Hilfspolizisten aufspielen dürfen, lungern se bei uns in der Straße herum. Schutzwache saaren se, wenn mer se ens anspricht. Kannst du da nichts mache?«

»Tut mir leid, da sind mir die Hände gebunden.« Der große Engelbert Rath wirkte plötzlich reichlich saft- und kraftlos. Für einen Moment war die Fassade des allmächtigen Kriminaldirektors weggebröckelt. »Die SA hat ihren eigenen Kopf«, sagte er, »die haben ihre eigenen Kommandeure und lassen sich schlecht einbinden in die Befehlshierarchie des Polizeipräsidiums.«

»Siehst du, Engelbert, jenau das meine ich. Unsere Zeit is abjelaufen.« Adenauer stellte seine Teetasse ab, als wolle er seinen letzten Satz mit dieser Geste bekräftigen.

Rath schaute aus dem Fenster. Der Chauffeur war mittlerweile wieder ausgestiegen, um die nächste Zigarette zu rauchen. Im Dienstwagen des Kölner Oberbürgermeisters war ihm dies wohl nicht gestattet.

»Und der Herr Sohn? Mal widder in Köln?«, fragte Adenauer, und Gereon merkte zunächst gar nicht, dass die Frage an ihn persönlich gerichtet war. Dann aber stellte er fest, dass der Oberbürgermeister ihn direkt anschaute mit seinen schmalen Indianeraugen, und er setzte sich unwillkürlich etwas aufrechter. Adenauer fixierte ihn, als wolle er ihn durchleuchten. »Zieht et Se doch wieder zurück an den Rhein?«

»Nur vorübergehend.« Rath räusperte sich. »Zu viele Überstunden, die mir einen unverhofften Urlaub verschafft haben.«

»Und wie jefällt Ihnen Berlin? Schon einjelebt?«

Rath zuckte die Achseln und aschte ab.

»Gereon wird bald heiraten«, soufflierte sein Vater und lächelte. »Eine waschechte Berlinerin.«

»Das sind ja Neuichkeiten! Jratuliere.«

»Herzlichen Dank, Herr Oberbürgermeister.«

»Wo findet die Hochzeit denn statt? Hier in Sankt Brunno oder bei Ihnen in Berlin?«

»Wir ... äh ... wir werden ... wir müssen erst einmal ...«

»Gereons Braut ist evangelisch«, sagte Engelbert Rath, und es klang wie eine Entschuldigung.

»Jaja, Berlin.« Adenauer schüttelte den Kopf, und es wirkte, als wundere er sich, dass so etwas wie die deutsche Reichshauptstadt überhaupt existierte. »Dann sind Se sicher auch zum Fastelovendfeiern hier?«

»Ja, natürlich. Ich meine: auch.« Rath kam sich vor wie in einem Verhör. »Vor allem natürlich, um meine Eltern zu besuchen.«

»Haben Se Ihr Fräulein Braut mitjebracht? Müssen Se mir bei Jelejenheit mal vorstellen.«

»Ich ... Nein. Fräulein Ritter ist berufstätig. Sie ist Kommissaranwärterin und ...«

»Eine Polizistin?«

Rath nickte. »Ja. Eine sehr gute.«

»Wir haben Fräulein Ritter bereits kennengelernt«, beeilte sich Engelbert Rath zu erklären. »Eine reizende junge Dame.« Er machte eine kurze Pause. »Ich habe Gereon erzählt, dass wir dieses Jahr endlich wieder einen Rosenmontagszug sehen werden. Dank deiner Unterstützung, Konrad.«

»Ich han doch nur vermittelt. Die Kölner Jeschäftswelt hat jroßzügich jespendet, ihr ist das zu verdanken.«

»Deine Bescheidenheit ehrt dich. Gleichwohl, was ich fragen wollte: Morgen auf dem Rathausbalkon ... Ich hätte ja schon früher darum gebeten, aber der Besuch meines Sohnes kam auch für mich sehr überraschend. Würde es viele Umstände machen, wenn du ...«

»Umstände? Natürlich nicht. Für einen Rath is immer Platz auf dem Balkong.« Adenauers Blick wanderte von Engelbert zu Gereon Rath. »Et wäre mir eine jroße Ehre, junger Freund, wenn Se uns morjen Jesellschaft leisten würden.«

»Oh, danke.« Rath war so perplex, dass er nichts anderes zu entgegnen vermochte.

»Ist doch eine Selbstverständlichkeit.« Adenauer schaute ihn an mit seinen Schlitzaugen, und Rath fühlte sich für einen Moment taxiert wie eine Schaufensterauslage. »Vielleicht spielen Se ja mit dem Jedanken, eines Taares nach Köln zurückzukehren. Wir können anständije Polizisten jebrauchen in den schwierijen Zeiten, die auf uns zukommen.«

»Ich werde darüber nachdenken, Herr Oberbürgermeister«, sagte Rath und wusste, dass er es nicht ernst meinte. Charly würde er nie nach Köln bekommen. Nicht in die Nähe von Erika und Engelbert Rath. Und er selbst wollte eigentlich auch nicht mehr zurück. Berlin, das war jetzt seine Heimat, diese seltsame Stadt, die einem so wenig Heimeligkeit bot und einen doch nicht mehr losließ.

Adenauer schaute auf eine silberne Taschenuhr, die er aus der Weste zog. »So, ich muss weiter. Mein Fahrer wird schonn unjeduldich.« Er stand auf und reichte den beiden Raths die Hand. »War mir eine Freude, Engelbert. Jlaub mir, ich weiß et zu schätzen, wenn einer in diesen schwierijen Zeiten seine Freundschaft zu mir aufrechterhält.«

Nachdem der Hausherr den Oberbürgermeister persönlich zur Haustür gebracht hatte, stand Rath noch eine Weile am Fenster. Er schaute zu, wie der Chauffeur den Wagenschlag öffnete, und zündete sich die nächste Zigarette an. Als der Motor draußen vor dem Haus ansprang, kehrte Engelbert Rath in den Salon zurück.

»Ein Logenplatz auf dem Rathausbalkon«, sagte Gereon und wedelte das Streichholz aus. »Wie komme ich denn zu der Ehre?«

»Du hast es doch gehört: Weil du ein Rath bist.«

»Und wie kommst du darauf, dass ich einen Logenplatz möchte? Vielleicht ziehe ich die Froschperspektive des einfachen Fußvolkes vor.«

»Es geht nicht darum, was du möchtest. Es ist eine Pflicht für uns als Demokraten, Präsenz zu zeigen, gerade in diesen Zeiten.«

»Wer sagt dir, dass ich Demokrat bin?«

»Gereon!«

»Und wer von denen da unten, die uns oben auf dem Balkon sehen, weiß das? Die sehen nur Köpfe, die wichtigsten, die Köln zu bieten hat, inklusive Dreigestirn. Ob Demokraten oder nicht, das ist den Leuten doch egal. Und glaubst du im Ernst, auf dem Rathausbalkon würden andere Köpfe zu sehen sein, wenn wir keine Demokratie hätten?«

»Jedenfalls nicht der von Konrad Adenauer. Du hast gehört, wie die Nazis über ihn reden.«

»Ach, die reißen nur ihr Maul auf, das kennt man doch. Nach der Wahl sind die so klein mit Hut. Und du und deine Parteifreunde, ihr seid wieder obenauf.«

»Ich wünschte, du hättest recht. Konrad sieht das anders.«

»Adenauer ist nur amtsmüde. Und Pessimist war er schon immer, das weißt du doch.«

6

Es roch nach Desinfektionsmittel, Bohnerwachs und kaltem Zigarettenqualm. Charly versuchte, den Klinikgeruch wegzurauchen, und schaute aus dem Fenster. Draußen im Park fuhr der Wind durch die Bäume und ließ die kahlen Kronen schaukeln. Die Wittenauer Heilstätten hatten großzügige Außenanlagen, die im Winter allerdings einen eher trostlosen Eindruck machten. Heilstätten, so nannte man das heute, vor wenigen Jahren hatte die Einrichtung noch Städtische Irrenanstalt zu Dalldorf geheißen, ein Begriff, der Charly deutlich geläufiger war. Du bist wohl aus Dalldorf ausjebüxt?, hatten die Kinder auf der Straße gerufen, wenn sie einen ärgern wollten, oder: Pass uff, sonst schicken se dir nach Dalldorf!

Nun hatten se ihr tatsächlich nach Dalldorf jeschickt.

»Die Inspektion A möchte, dass Sie nach Reinickendorf rausfahren und ein Mädchen vernehmen«, hatte Friederike Wieking ihr eröffnet, »eine geisteskranke jüdische Brandstifterin.«

Charly hatte ihrer Chefin nicht verraten, dass sie mit Wilhelm Böhm bereits über den Fall gesprochen und sogar schon einen Blick in die Akte geworfen hatte. Es war der Kriminalrätin ohnehin anzusehen, dass sie ihre Mitarbeiterin nicht gerne hergab, dem Mordinspektionsleiter Ernst Gennat aber nur ungern einen Wunsch abschlug. Es war für das Renommeé der noch jungen weiblichen Kriminalpolizei durchaus förderlich, wenn die Beamtinnen ab und an auch von anderen Inspektionen angefordert wurden.