Maschenka - Vladimir Nabokov - E-Book

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Vladimir Nabokov

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Beschreibung

Berlin in den zwanziger Jahren: In einer kleinen Pension wohnt eine Gruppe russischer Emigranten. Einer von ihnen, Lew Ganin, durchlebt in der Erinnerung noch einmal eine verlorene, leidenschaftlich zurückersehnte Liebe. «Nabokov ist einer der gößten Erotiker der Literatur unseres Jahrhunderts, weil er uns alle Schattierungen und Grade der Zuneigung eines Menschen zu einem anderen sehen und spüren lässt, und dies mit ganz unauffälligen Mitteln.» (Frankfurter Allgemeine Zeitung)

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Vladimir Nabokov

Maschenka

Roman

Deutsch von Klaus Birkenhauer

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Berlin in den zwanziger Jahren: In einer kleinen Pension wohnt eine Gruppe russischer Emigranten. Einer von ihnen, Lew Ganin, durchlebt in der Erinnerung noch einmal eine verlorene, leidenschaftlich zurückersehnte Liebe.

«Nabokov ist einer der gößten Erotiker der Literatur unseres Jahrhunderts, weil er uns alle Schattierungen und Grade der Zuneigung eines Menschen zu einem anderen sehen und spüren lässt, und dies mit ganz unauffälligen Mitteln.» (Frankfurter Allgemeine Zeitung)

Über Vladimir Nabokov

Vladimir Nabokov ist einer der wichtigsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts.

Er entstammte einer großbürgerlichen russischen Familie, die nach der Oktoberrevolution von 1917 emigrierte. Nach Jahren in Cambridge, Berlin und Paris verließ Nabokov 1940 Europa und siedelte in die USA über, wo er für verschiedene Universitäten arbeitete.

In den USA begann er, seine Romane auf Englisch zu verfassen, «Lolita» war Nabokovs Liebeserklärung an die englische Sprache, wie er im Nachwort selber schrieb. Nach einer anfänglich schwierigen Publikationsgeschichte wurde «Lolita» zum Welterfolg, der es Nabokov ermöglichte, sich nur noch dem Schreiben zu widmen.

Nabokov zog in die Schweiz, wo er schrieb, Schmetterlinge fing und seine russischen Romane ins Englische übersetzte.

Er lebte in einem Hotel in Montreux, wo er am 5. Juli 1977 starb.

 

Der Herausgeber, Dieter E. Zimmer, geboren 1934 in Berlin, 1959 bis 1999 Redakteur der Wochenzeitung «Die Zeit», seit 2000 freier Autor. Zahlreiche Veröffentlichungen über Themen der Psychologie, Biologie und Anthropologie, literarische Übersetzungen (u.a. Nabokov, Joyce, Borges).

 

Das Gesamtwerk von Vladimir Nabokov erscheint im Rowohlt Verlag.

Für Véra

Gedenkend der Wirrungen früherer Jahre, gedenkend einer früheren Liebe.

(PUSCHKIN)

Eins

«Lew Glewo. Lew Glebowitsch? An so einem Namen, mein lieber Freund, kann man sich ja glatt die Zunge abbrechen.»

«In der Tat», bestätigte Ganin ziemlich kühl. Er versuchte, trotz der unerwarteten Finsternis das Gesicht seines Gesprächspartners auszumachen, und ärgerte sich über die absurde Situation, in die sie beide geraten waren, und dass er mit diesem fremden Menschen nun wohl reden musste.

«Ich hab Sie nicht ohne Grund nach Ihrem Namen und Vatersnamen gefragt», fuhr die andere Stimme unbeirrt fort. «Ich glaube nämlich, dass jeder Name …»

«Soll ich nicht noch mal auf den Knopf drücken?», unterbrach ihn Ganin.

«Bitte, drücken Sie. Nur fürchte ich, das hilft nicht viel. Also wie gesagt, jeder Name bringt gewisse Verpflichtungen mit sich. Und Lew und Gleb, das ist eine seltene Kombination, die sehr hohe Ansprüche stellt. Sie besagt, dass Sie präzis, entschlossen und ziemlich exzentrisch sein müssten. Mein Name ist da bescheidener, und meine Frau heißt sogar schlicht und einfach Maschenka. Aber dabei fällt mir ein, dass ich mich ja noch vorstellen muss: Alexej Iwanowitsch Alfjorow.

Verzeihung, ich glaube, ich hab Ihnen eben auf den Fuß getreten …»

«Sehr angenehm», sagte Ganin und tastete in der Finsternis nach der Hand, die gegen seinen Ärmel gestoßen hatte. «Was meinen Sie – ob wir hier noch lange stecken bleiben? Es wird langsam Zeit, dass jemand etwas unternimmt, zum Teufel noch mal!»

«Setzen wir uns doch auf die Bank und warten ab.» Die lästige, gut gelaunte Stimme erscholl jetzt dicht über seinem Ohr. «Gestern, bei meiner Ankunft, sind wir auf dem Korridor beinah zusammengestoßen. Und als ich abends hörte, wie Sie sich im Zimmer nebenan räusperten, habe ich nur nach dem Klang des Hustens gleich gewusst, Sie sind ein Landsmann! Sagen Sie, wohnen Sie hier schon lange?»

«Eine Ewigkeit. Hätten Sie wohl ein Streichholz für mich?»

«Nein, ich bin Nichtraucher. Ein ziemlich schmieriges Haus, nicht wahr? – aber immerhin eine russische Pension. Trotzdem bin ich zurzeit sehr glücklich: Meine Frau kommt nämlich aus Russland. Vier Jahre getrennt, das ist kein Spaß. Jawohl. Doch jetzt dauert’s nicht mehr lange. Heute ist schon Sonntag.»

«Verflixte Dunkelheit», brummte Ganin und knackte mit den Fingerknöcheln. «Wie spät es inzwischen wohl sein mag?»

Alfjorow seufzte geräuschvoll, und seinem Mund entströmte der warme, abgestandene Geruch eines älteren Mannes, der nicht mehr bei bester Gesundheit ist. Es liegt etwas Trauriges in solch einem Geruch.

«Jetzt dauert es nur noch sechs Tage. Ich vermute, dass sie Samstag eintrifft. Gestern kam noch ein Brief von ihr. Die Adresse hat sie sehr komisch geschrieben. Schade, dass es so dunkel ist, sonst würde ich’s Ihnen zeigen. – Was tasten Sie da herum, mein Lieber? Diese kleinen Luftklappen kann man doch nicht aufmachen!»

«Ich hätte nicht übel Lust, sie einzuschlagen», sagte Ganin.

«Beruhigen Sie sich, Lew Glebowitsch, bitte. Sollten wir uns nicht lieber mit irgendeinem Gesellschaftsspiel die Zeit vertreiben? Ich kenne ein paar herrliche, die erfinde ich nämlich selber. Denken Sie sich zum Beispiel eine zweistellige Zahl. Fertig?»

«Nichts für mich», sagte Ganin und schlug zweimal mit der Faust gegen die Wand.

«Der Portier liegt schon seit Stunden im Bett.» Alfjorows Stimme dröhnte immer weiter. «Ihr Klopfen hat also gar keinen Zweck.»

«Aber Sie müssen doch zugeben, dass wir hier nicht die ganze Nacht so herumhängen können!»

«Es scheint, als bliebe uns gar nichts anderes übrig. Meinen Sie nicht auch, Lew Glebowitsch, dass unsere Begegnung hier etwas Symbolisches hat? Solange wir die terra firma unter den Füßen hatten, kannten wir uns nicht. Und nun will es der Zufall, dass wir zur gleichen Zeit nach Hause kommen und zusammen diesen Kasten betreten. Nebenbei: Der Fußboden wirkt erschreckend dünn, und drunter ist nichts als ein schwarzer Schacht. Ja, also wie ich gerade sagte: Wortlos sind wir eingetreten, wir kannten uns immer noch nicht, schwebten schweigend in die Höhe, und dann plötzlich: Halt! Und Finsternis.»

«Was soll denn daran symbolisch sein?», fragte Ganin düster.

«Nun, die Tatsache, dass wir anhielten, bewegungslos, in dieser Finsternis. Und dass wir jetzt warten. Erst heute beim Mittagessen habe ich mit dem alten Herrn – wie heißt er doch gleich, der alte Schriftsteller? – ach ja, Podtjagin –, mit dem habe ich über den Sinn unseres Emigrantendaseins diskutiert, über dies ewige Warten. Während Sie ja wohl den ganzen Tag nicht im Hause waren, nicht wahr, Lew Glebowitsch?»

«Richtig. Ich war auf dem Lande.»

«Ach ja, der Frühling! Jetzt muss es draußen sehr angenehm sein.»

Alfjorows Stimme verflüchtigte sich ein paar Augenblicke, und als sie wieder einsetzte, hatte sie einen aufdringlich fröhlichen Schwung – wahrscheinlich weil Alfjorow jetzt lächelte.

«Sobald meine Frau hier ist, fahre ich auch mit ihr aufs Land. Sie schwärmt für Spaziergänge. Stimmt es eigentlich, was die Wirtin mir erzählt hat: dass Ihr Zimmer zum Samstag frei wird?»

«Stimmt», erwiderte Ganin kurz.

«Wollen Sie ganz aus Berlin weg?»

Ganin nickte, er hatte völlig vergessen, dass im Dunkeln Kopfnicken unsichtbar war. Alfjorow rutschte auf der Bank hin und her, seufzte ein paarmal und begann, behutsam eine süßliche Melodie zu pfeifen, brach sie immer wieder einmal ab und fing sie dann von neuem an. Zehn Minuten gingen so vorbei, da knackte es plötzlich über ihnen.

«Das ist schon besser», sagte Ganin und lächelte.

Im selben Augenblick erstrahlte die Birne an der Decke, und der surrend nach oben schwankende Käfig wurde von gelbem Licht überflutet. Alfjorow blinzelte, als ob er eben aufgewacht wäre. Er trug einen alten, sandfarbenen, formlosen Mantel – einen sogenannten Übergangsmantel – und hielt einen steifen Hut in der Hand. Sein dünnes, helles Haar war leicht zerzaust, und irgendetwas an seinen Zügen ließ den Betrachter sofort an einen religiösen Öldruck denken: vielleicht das rotgoldene Bärtchen oder die Drehung des mageren Halses, von dem er einen bunt gefleckten Schal abstreifte.

Mit einem Ruck krallte sich der Aufzug an die Schwelle des vierten Stocks und hielt.

«Ein Wunder», sagte Alfjorow, grinste und öffnete die Tür. «Ich dachte, jemand hätte den Knopf gedrückt und uns heraufgeholt, aber hier ist keine Seele. Bitte nach Ihnen, Lew Glebowitsch.»

Doch Ganin verzog nur ungeduldig das Gesicht, gab Alfjorow einen leichten Schubs und ließ, sobald er ihm hinausgefolgt war, seinen Gefühlen freien Lauf, indem er die Eisentür dröhnend hinter sich ins Schloss warf. Noch nie zuvor war er so gereizt gewesen.

«Ein Wunder», wiederholte Alfjorow. «Oben angekommen und keine Menschenseele! Auch das ist symbolisch.»

Zwei

Die Pension russisch und scheußlich. Scheußlich vor allem deshalb, weil dort den ganzen Tag und einen großen Teil der Nacht die Stadtbahnzüge vorbeilärmten und den Eindruck erweckten, als bewege sich das gesamte Gebäude langsam vorwärts. Der Flur, in dem ein trüber Spiegel mit einer Handschuhablage hing und eine eichene Truhe so aufgestellt war, dass ihr kein Schienbein ohne Abschürfungen entgehen konnte, verengte sich zu einem kahlen, bedrückend schmalen Korridor. Auf jeder Seite lagen drei Zimmer, nummeriert mit großen schwarzen Zahlen, die an den Türen klebten. Es waren einfach Blätter aus einem Kalender vom Vorjahr – die ersten sechs Tage des Monats April 1923. Der erste April – erste Tür links – war das Zimmer von Alfjorow, im nächsten wohnte Ganin und im dritten die Wirtin, Lydia Nikolajewna Dorn, die Witwe eines deutschen Kaufmanns, der sie vor zwanzig Jahren aus Sarepta nach Berlin gebracht hatte und im vorigen Jahr an einer Hirnhautentzündung gestorben war. In den drei Zimmern auf der rechten Seite des Korridors – vom vierten bis sechsten April – wohnten Anton Sergejewitsch Podtjagin, ein alter russischer Dichter; Klara, ein vollbusiges Mädchen mit auffälligen bläulichbraunen Augen; und schließlich im Zimmer Nummer sechs, vor der Biegung des Korridors, zwei Balletttänzer, Kolin und Gornozwetow, die nur zu gern jungmädchenhaft kicherten und beide mager waren, sich die Nasen puderten und muskulöse Oberschenkel hatten. Am Ende des ersten Teils des Korridors lag das Speisezimmer; ihm gegenüber hing an der Wand eine Lithographie des Abendmahls, und an der anderen Wand dräuten gelbe, geweihtragende Hirschschädel über einer zwiebelbäuchigen Kredenz. Darauf standen zwei Kristallvasen, die einstmals die saubersten Gegenstände in der ganzen Wohnung gewesen, aber jetzt unter einer flaumigen Staubschicht matt und trübe geworden waren.

Beim Speisezimmer angelangt, bog der Korridor im rechten Winkel nach rechts ab, und dort lauerten in tragischer, übelriechender Abgründigkeit die Küche, ein kleines Dienstmädchenzimmer, ein schmutziges Bad und eine enge Toilette, deren Tür durch zwei blutrote Nullen markiert war – ohne ihre rechtmäßigen Zehner, mit denen sie einst auf dem Pultkalender von Herrn Dorn zwei verschiedene Sonntage bezeichnet hatten.

Einen Monat nach dem Tode ihres Mannes hatte Lydia Nikolajewna, eine kleine, etwas schwerhörige Person, die zu einer gewissen Wunderlichkeit neigte, eine leere Wohnung gemietet und in eine Pension verwandelt. Die Art und Weise, wie sie den wenigen ererbten Hausrat über die Zimmer verteilte, bewies allerdings eine einzigartige, geradezu gespenstische Erfindungsgabe. Sie verstreute einfach die Tische, Stühle, quietschenden Schränke und durchgesessenen Sofas auf alle Zimmer, die sie vermieten wollte. Und so voneinander getrennt, verloren die Möbelstücke sofort jeglichen Glanz und nahmen ein linkisches, niedergeschlagenes Aussehen an – wie die Knochen eines zerlegten Skeletts. Der Schreibtisch ihres verstorbenen Mannes, ein eichenes Ungetüm mit einem gusseisernen Tintenfass in Gestalt einer Kröte und mit einer Mittelschublade, die so tief war wie der Laderaum eines Schiffes, geriet in Zimmer eins, wo jetzt Alfjorow wohnte, während der Drehstuhl, der ursprünglich passend zum Schreibtisch gekauft worden war, von diesem getrennt wurde und verwaist bei den Tänzern in Nummer sechs sein Leben fristete. Ein Paar grüner Sessel wurde ebenfalls auseinandergerissen: Der eine schmachtete bei Ganin, und im anderen saß die Wirtin selbst oder ihr alter Dackel, eine fette schwarze Hündin mit grauer Schnauze und Hängeohren, deren Enden so samtig waren wie der Saum von Schmetterlingsflügeln. Auf dem Bücherbrett in Klaras Zimmer prangten die ersten paar Bände eines Lexikons, während alle übrigen Podtjagin zugeteilt wurden. Klara hatte auch den einzigen anständigen Waschtisch mit Spiegel und Schubladen erwischt; in allen anderen Zimmern standen nur schlichte, niedrige Holzgestelle mit einer blechernen Waschschüssel und einer Wasserkanne aus demselben Material. Aber Betten hatte Frau Dorn wohl oder übel dazukaufen müssen, und das hatte sie sehr schmerzlich berührt – nicht etwa, weil sie geizig war, sondern weil sie beim Verteilen ihrer früheren Einrichtung eine Art köstlicher Erregung, ein Gefühl des Stolzes über ihre eigene Sparsamkeit empfunden hatte. Doch nun, als Verwitwete, war ihr das Doppelbett zum Schlafen zu geräumig, und es ärgerte sie, dass sie es nicht in die nötige Zahl von Einzelteilen auseinandersägen konnte. Das Saubermachen der Zimmer besorgte sie mehr schlecht als recht selber, aber mit Mahlzeiten war sie nie zurande gekommen und hielt sich deshalb eine Köchin, die Heimsuchung der Wochenmärkte, ein riesiges, rothaariges Mannweib, das freitags einen knallroten Hut aufstülpte und in die nördlichen Stadtviertel abdampfte, um dort ihre fülligen Reize feilzubieten. Lydia Nikolajewna hatte Angst, ihre Küche zu betreten, und war auch sonst eine stille, furchtsame Person. Wenn sie mit ihren stumpfzehigen kleinen Füßen über den Korridor trippelte, hatten die Mieter nie das Gefühl, dies graue, stupsnasige Wesen sei ihre Wirtin, sondern betrachteten sie eher als eine zerstreute alte Frau, die aus Versehen in eine fremde Wohnung geraten war. Morgen für Morgen fegte sie eilig den Staub unter den Möbeln hervor und knickte dabei wie eine Flickenpuppe in sich zusammen; danach verschwand sie in ihrem Zimmer, dem kleinsten von allen. Dort las sie zerfledderte deutsche Bücher oder blätterte in den Papieren ihres verstorbenen Mannes, von denen sie keinen Deut begriff. Podtjagin war der Einzige, der sie je in ihrem Zimmer besuchte; er streichelte dann die zutrauliche schwarze Dackeldame, kitzelte sie an den Ohren oder an der Warze auf der altersgrauen Schnauze und versuchte, sie zum Männchenmachen und zum Vorstrecken der krummen Pfote zu bewegen. Und er erzählte Lydia Nikolajewna von seinen altersbedingten Schmerzen und Wehwehchen und wie er sich jetzt schon seit sechs langen Monaten um ein Visum bemühe, damit er nach Paris käme, wo eine Nichte von ihm lebte und wo die langen, knusprigen Weißbrote und der Rotwein so billig waren. Die alte Dame nickte nur dazu, und gelegentlich fragte sie ihn über die anderen Mieter aus, besonders über Ganin, der nach ihrer Meinung so gar nichts mit den anderen jungen Leuten aus Russland gemein hatte, die bisher in ihrer Pension gewohnt hatten. Nach dreimonatigem Hiersein traf Ganin nämlich gerade Vorbereitungen zur Abreise, und er hatte sogar erklärt, dass er am nächsten Sonnabend ausziehen wolle. Allerdings hatte er das schon mehrmals vorgehabt und es sich jedes Mal wieder anders überlegt und die Abreise verschoben. Lydia Nikolajewna wusste aus den Erzählungen des liebenswürdigen alten Dichters, dass Ganin eine Freundin hatte. Da lag die Wurzel seiner Unentschlossenheit.

In letzter Zeit war Ganin lustlos und launisch geworden; noch vor kurzem konnte er so gut wie ein japanischer Akrobat auf den Händen laufen und dabei die Beine elegant wie ein Segel in die Höhe schwingen. Er konnte mit den Zähnen einen Stuhl hochheben und durch Anspannen des Bizeps eine Schnur zerreißen. Sein Körper brannte ständig darauf, irgendetwas zu tun – über einen Zaun zu springen oder einen Pfahl zu entwurzeln, kurz: über die Stränge zu schlagen, wie wir in unserer Jugend zu sagen pflegten. Jetzt aber hatte irgendetwas in seinem Innern ausgehakt, er ging in gebückter Haltung einher und gestand sogar Podtjagin, dass er «wie ein nervöses Weibsbild» unter Schlaflosigkeit leide. Besonders schlecht schlief er in der Nacht von Sonntag auf Montag – nach den zwanzig Minuten, die er in dem stecken gebliebenen Aufzug mit dem überschwänglichen Herrn verbracht hatte. Und am Montagmorgen saß er lange nackt herum, presste die kalten, ausgestreckten Hände zwischen die Knie und war hellauf entsetzt über den Gedanken, dass schon wieder ein neuer Tag begann, an dem er Hemd, Hose und Socken anziehen musste, all diese grässlichen, mit Schweiß und Schmutz durchtränkten Dinge, und er stellte sich einen Zirkuspudel in Menschenkleidern vor – welch ein entsetzlicher, bis zur Übelkeit kläglicher Anblick! Seine Trägheit rührte zum Teil sicher daher, dass er gerade keine Arbeit hatte. Er musste zurzeit auch nicht unbedingt arbeiten, weil er sich im Winter eine gewisse Summe erspart hatte; aber davon waren jetzt nur noch rund zweihundert Mark übrig: Die letzten drei Monate hatten ihn ziemlich viel gekostet.

Als er im vorigen Jahr nach Berlin gekommen war, hatte er sofort Arbeit gefunden und bis zum Januar mehrere verschiedene Tätigkeiten ausgeübt. Er hatte gelernt, was es bedeutet, im gelben Dunst des frühen Morgens in die Fabrik zu gehen; und er hatte gelernt, wie einem die Beine wehtaten, nachdem man am Tag mit beladenem Tablett zehn kurvenreiche Kilometer zwischen den Tischen des russischen Restaurants Pir Goroj zurückgelegt hatte; und auch mit anderen Beschäftigungen war er vertraut geworden und hatte alle nur vorstellbaren Dinge in Kommission verkauft – russische Backwaren, Brillantine und einfach nur Brillanten. Nichts war unter seiner Würde; mehr als einmal hatte er sogar seinen eigenen Schatten verkauft, wie es so viele von uns tun. Mit anderen Worten: Er fuhr in den Vorort hinaus, um dort als Filmstatist zu arbeiten – in einem Jahrmarktsschuppen, wo das Licht mit geheimnisvollem Zischen aus den riesigen Kristalllinsen der Scheinwerfer hervorschoss, die wie Kanonen auf die Menge der Statisten gerichtet waren und sie zu leichenhafter Grellheit ausleuchteten. Sie feuerten eine Salve von mörderischer Helligkeit, die das farbige Wachs der erstarrten Gesichter beschien und dann plötzlich mit einem Klick erlosch; aber noch lange danach glühten in den kunstvollen Kristallen rote, ersterbende Sonnenuntergänge – unsere menschliche Scham. Die Angelegenheit war erledigt, und unsere anonymen Schatten gingen hinaus in alle Welt.

Das verbleibende Geld reichte zwar, um Berlin zu verlassen, aber zunächst hätte er mit Ljudmila brechen müssen, und er wusste nicht, wie er das anstellen sollte. Und obwohl er sich diese Woche als Frist dafür gesetzt und der Wirtin erklärt hatte, dass er endlich entschlossen sei, am Samstag auszuziehen, spürte Ganin, dass weder diese Woche noch die nächste irgendetwas ändern würde. Unterdessen wuchs sein umgekehrtes Heimweh, die Sehnsucht nach einem neuen fremden Land, durch das Frühlingswetter immer heftiger. Sein Zimmerfenster ging auf die Eisenbahnschienen hinaus, sodass ihn der Reiz des Abreisenkönnens keinen Augenblick losließ. Alle fünf Minuten lief ein verhaltenes Dröhnen durch das Haus, dann wogte eine Rauchwolke vor seinem Fenster hoch und löschte das weiße Berliner Tageslicht aus, um langsam wieder zu verfließen, und enthüllte aufs neue den Fächer der Eisenbahngeleise, der in der Ferne immer schmaler wurde und sich zwischen den schwarzen, abgesäbelten Häuserrücken verlor, und dies unter einem Himmel so bleich wie Mandelmilch.

Ganin hätte sich wohler gefühlt, wenn er auf der anderen Seite des Korridors gewohnt hätte, in Podtjagins Zimmer oder in dem von Klara; dort gingen nämlich die Fenster auf eine ziemlich langweilige Straße hinaus, über die zwar eine Eisenbahnbrücke führte, die aber wenigstens keinen Blick in die bleiche, verführerische Weite erlaubte. Diese Eisenbahnbrücke war eine Fortsetzung des Schienenstrangs, den Ganin von seinem Fenster aus sah, und er konnte nie ganz das Gefühl abschütteln, dass jeder einzelne Zug unbemerkt mitten durch das Haus hindurchfahre. Da kam er, von dieser Seite her, sein gespenstisches Dröhnen ließ die Wand erzittern, er ratterte geradewegs über den alten Teppich, streifte ein Glas auf dem Waschtisch und verschwand schließlich mit frostigem Klirren durch das Fenster, und gleich darauf wogte vor der Scheibe eine Rauchwolke hoch, und sobald diese sich verzog, tauchte ein Stadtbahnzug auf, als habe das Haus ihn ausgespien; schmutzig olivfarbene Wagen mit einer Reihe schwarzer Hündinnenzitzen auf den Dächern und eine stummelkurze Lokomotive, verkehrt herum angekoppelt, die energisch rückwärts fuhr und die Wagen hinter sich her in die weiße Ferne und zwischen dunkle Häusermauern zog, deren rußige Schwärze entweder fleckig abblätterte oder mit Fresken veralteter Reklame besprenkelt war. Man hatte den Eindruck, als bliese ständig ein eiserner Luftzug durch das Haus.

«Ah – wenn man wegfahren könnte!», murmelte Ganin, reckte sich lustlos und hielt sofort inne – was sollte er mit Ljudmila machen? Verrückt, was für ein Waschlappen er geworden war. Früher, als er noch auf den Händen lief oder über fünf Stühle wegsprang, früher hatte er seinen Willen nicht nur beherrscht, sondern sogar damit gespielt. Es hatte Zeiten gegeben, als er ihn zum Beispiel dadurch stählte, dass er sich zwang, mitten in der Nacht aus dem Bett zu steigen, um auf die Straße hinunterzugehen und einen Zigarettenstummel in einen Briefkasten zu werfen. Und jetzt konnte er’s nicht einmal über sich bringen, einer Frau zu sagen, dass er sie nicht mehr liebte. Vorgestern hatte sie fünf Stunden in seinem Zimmer verbracht; gestern war er mit ihr den ganzen Sonntag lang an den Seen außerhalb Berlins gewesen, nur weil er ihr diesen lächerlichen kleinen Ausflug nicht abschlagen konnte. Er fand jetzt alles an Ljudmila abstoßend: ihr gelbes, zum modischen Bubikopf geschnittenes Haar, die zwei Streifen nicht ausrasierter dunkler Härchen im Nacken, die geschwärzten, schmachtenden Augenlider und vor allem ihre Lippen, die sie glänzend violett anmalte. Er fühlte sich gelangweilt und abgestoßen, wenn sie nach einer Runde mechanischer Rammelei beim Anziehen die Augen zusammenkniff, wodurch sie sofort ein unangenehm zottiges Aussehen annahmen, und sagte: «Weißt du, ich bin so empfindlich, dass ich es sofort merken würde, wenn du mich nicht mehr so liebst wie früher.» Ganin gab darauf keine Antwort, sondern wandte sich dem Fenster zu, hinter dem eine weiße Rauchwand hochstieg. Dann lachte sie prustend durch die Nase und rief ihn mit heiserem Flüstern zu sich: «Jetzt komm schon.» In solchen Augenblicken hätte er am liebsten die Hände gerungen, bis die Knöchel in köstlichem Schmerz knackten, und ihr gesagt: «Scher dich fort, Weib, auf Nimmerwiedersehen.» Stattdessen lächelte er und beugte sich zu ihr hinunter. Dann streifte sie mit ihren scharfen und deshalb fast künstlich wirkenden Fingernägeln über seine Brust, zog einen Schmollmund, klapperte mit den kohlschwarzen Wimpern und glaubte, ihm so ein verschmähtes kleines Mädchen oder eine kapriziöse Marquise vorzuspielen. Der Geruch ihrer Parfums hatte, so fand er, irgendetwas Unsauberes, Abgestandenes, Bejahrtes an sich, obwohl sie selber erst fünfundzwanzig war. Doch wenn er dann ihre heiße, kleine Stirn mit den Lippen berührte, vergaß sie alles – die Theaterspielerei, die sie wie ihre Parfumwolke überall hinter sich her schleppte, die Aufgesetztheit ihrer Kleinkindersprache, ihrer erlesenen Empfindungen, ihrer Begeisterung für phantastische Orchideen oder für Poe oder Baudelaire, die sie nie gelesen hatte; sie vergaß ihren ganzen gekünstelten Charme, das modisch gebleichte Haar, den bräunlich schwülen Gesichtspuder und die ferkelrosafarbenen Seidenstrümpfe, warf den Kopf in den Nacken und schmiegte ihren schwachen, armseligen, unbegehrten Leib ganz dicht an Ganin.

Und Ganin, gelangweilt und beschämt, spürte eine sinnlose Zärtlichkeit in sich aufwallen, einen traurigen Rest von Wärme, wo einst Liebe flüchtig vorbeigeglitten war, und so küsste er ohne Leidenschaft das lackierte Gummi ihrer dargebotenen Lippen. Doch auch diese Zärtlichkeit konnte die ruhige, höhnische Stimme nicht zum Schweigen bringen, die ihm riet: Versuch’s jetzt sofort – schüttle sie ab!

Er seufzte, lächelte freundlich auf das ihm zugewandte Gesicht hinunter und wusste ihr nichts zu antworten, wenn sie seine Schultern umklammerte und sich, ganz ohne das übliche näselnde Flüstern, mit flatternder Stimme ein Herz fasste und ihn inbrünstig fragte: «Sag’s mir, bitte! – liebst du mich?» Aber sobald sie seine Reaktion bemerkte – die vertraute Verdüsterung seiner Miene, das unwillkürliche Stirnrunzeln –, besann sie sich darauf, dass es an ihr war, ihn zu bezaubern mit Poesie, Parfum und Empfindsamkeit, und dann spielte sie sich gleich wieder auf, mal als armes, verschmähtes Mädchen und mal als durchtriebene Kurtisane. Und Ganin wurde wieder von Langeweile gepackt, er lief im Zimmer auf und ab, vom Fenster zur Tür und wieder zurück, unterdrückte sein Gähnen, bis ihm die Tränen in die Augen stiegen, während sie sich den Hut aufsetzte und ihn dabei heimlich im Spiegel beobachtete.

Klara, eine vollbusige und sehr behagliche junge Dame, die am liebsten schwarze Seide trug, wusste, dass ihre Freundin Ganin besuchte, und war jedes Mal