Maska - Frolleinwunder - Doreen Unkel - E-Book

Maska - Frolleinwunder E-Book

Doreen Unkel

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Beschreibung

Maska, der archäologischen Ermittler aus Schwerin, ist mit Frollein und Mautz, dem letzten Kobold Mecklenburgs, in ein Gutshaus aufs Land gezogen. Die ländliche Ruhe wird gestört, weil die Polizei seine Unterstützung bei der Aufklärung eines Bandenkriegs zwischen einer fliegenden Motorrad-Gang und einem Haufen geschichtsträchtiger Handwerker einfordert. Als Gegenleistung darf er mit einem alten Seemann sprechen, der nur alle hundert Jahre an Land gehen darf. Kann Maska den Bandenkrieg stoppen, der bereits ein Todesopfer gefordert hat? Welche Rolle spielt die betörende Holly, die in einem dünnen Nachthemd und Gummistiefeln hinter ihm herläuft? Ist der einäugige Alte, der die Biker-Gang leitet, Freund oder Feind? Und warum hängt Frolleins Zukunft von einem Mord in 1952 ab, den sie fotografieren will?

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Doreen Unkel

Maska - Frolleinwunder

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Mein Instinkt hat mich geweckt. Ich kann jedes Haar in meinem Nacken spüren.

Das Schlafzimmer ist dunkel, das Mondlicht ist alt und schwach.

Ich liege still und horche, aber außer Frolleins tiefen Atemzügen neben mir ist nichts zu hören. Meine Waffe ist dreißig Zentimeter von meinem Kopf entfernt, in der Schublade. Neben dem Bett schleicht etwas über den Holzboden, dann schiebt sich an der Bettkante ein Gesicht nach oben.

Es ist ein altes Gesicht, ledrig und faltig. Letzte Haare auf dem Schädel stechen in das Mondlicht. Die Augen liegen weit zurück, sie schimmern in der Dunkelheit, sie beobachten uns. Ein Gesicht aus den Tiefen der Zeit, ein Gesicht voller Grausamkeit und Leid. Der Schädel ist klein wie der eines Kindes, doch aus ihm strömt die Bosheit des Alters. Ein zahnloser Mund öffnet sich und eine schwarze Zunge fährt über schmale Lippen.

Mit diesem Wesen ist ein toter Geruch ins Zimmer gekommen. Ein Geruch nach feuchter Erde, kalter Angst und alten Socken.

„Mir ist langweilig“, sagt Mautz.

„Nerv nicht rum“, sage ich. „Frühstück dauert noch.“

Mautz, genauer Mauritius Edler vom Petersberg zu Pinnow ist der letzte Kobold Mecklenburgs. Ich habe ihm viel zu verdanken. Mein Leben, einige Säcke mit Gold und viele ungewollte Ratschläge. Er wohnt im Ostflügel und will dort seine Ruhe.

Irgendetwas muss ihn aufgeschreckt haben.

„Außerdem ist Post da. Wollte ich nur sagen.“ Er dreht sich um und ich höre seine Schritte und seinen Spazierstock leiser werden.

„Post? Nachts um drei?“

Wahrscheinlich zucken die schmalen Schultern unter dem alten Gehrock. In der Dunkelheit ist das nicht zu sehen.

Frollein neben mir dreht sich um, ein nackter warmer Arm umschlingt mich.

Wenn ihr euch nachts um drei zwischen einer wunderwarmen Wonderwoman wie Frollein und einer geheimnisvollen Postsendung entscheiden müsst, dann macht nicht den Fehler, den ich mache.

Ich krieche unter ihrem Arm weg, stehe auf, ziehe mir eine Hose an und gehe runter. Den Gang entlang, vorbei an vier Türen rechts und an vier Türen links. Hinter diesen Türen sind Bücher, alt und gefährlich.

Den Buchladen in der Schweriner Innenstadt haben wir aufgelöst, es kam einfach niemand mehr. Niemand scheint mehr Bücher über die wahre Welt, die echten Wahrheiten und die genauen Zusammenhänge zwischen den Dingen zu schätzen. Frollein wollte raus aus der Stadt und hat uns das alte Gutshaus in Witzin ausgesucht. Das hat uns zwölf Handvoll Goldmünzen von Störtebekers Schatz gekostet, die Kisten mit dem Rest davon haben wir im Keller verstaut.

Dann die Freitreppe herunter in die Eingangshalle. Unter meinen Füßen knarren die Holzdielen, Staubkörner schrecken hoch und fliehen in den Schatten.

Der Umschlag ist mit einem Dolch an die Haustür genagelt. Der rote Siegellack ist noch warm. Mit dem Daumen kann ich einen Abdruck darin fühlen.

Da will jemand nicht wahr haben, dass ich nicht mehr im Geschäft bin.

Ein Dolch dieses Mal, keine Kriegsaxt der Zwerge. Er liegt leicht in meiner Hand, nachdem ich ihn herausgezogen und den Umschlag in die andere Hand genommen habe. Es ist ein nachgemachter Dolch mit einer zu leichten Klinge und einem Griff aus goldenem Plastik. Der große Bruder eines geschmacklosen Brieföffners aus einem asiatischen Versandhandel. Er ist so leicht und die Klinge ist so stumpf, dass ich ihn ohne Bedenken unter den Bund meiner Boxershorts schieben kann.

Da will jemand, der keine Ahnung hat, Eindruck schinden.

Das noch warme Siegel biegt sich, bevor es bricht. Der Abdruck im Siegellack stammt von einem Kronkorken. Sehr kreativ.

Wahrscheinlich sitzt der Absender in Sichtweite in einem Auto und sieht zu. Wenn der Siegellack noch warm ist, dann kann er nicht weit sein.

Ich drehe mich um. Es ist nichts zu sehen. Schneeflocken tanzen um mein Gesicht. Nur wenige Tage bis Weihnachten.

Warum gehe ich eigentlich nicht rein, um den Brief zu lesen?

Die Handschrift habe ich bereits erkannt.

Kommissar Kartoszykski hätte auch anrufen können. Aber Karl Kartoszykski, von einigen Karlchen und von vielen außerhalb seiner Hörweite Karl Arsch genannt, pflegt seinen eigenen Stil.

Wir hatten bereits Kontakt und der beschränkte sich auf höfliches Wegsehen, kurze Beschimpfungen und geballte Fäuste in Hosentaschen. Kenne wenige Menschen, die ich weniger gerne weniger gut kennen möchte.

Auf der Milchglastür meines kleinen Büros in Schwerin, bevor wir den alten Bücherladen übernommen hatten, stand „Archäologische Ermittlungen“ und ich machte keine Scheidungen. Kartoszykski hat keinen Bedarf an privaten Schnüfflern, die sich in seine Fälle einmischen. Ich habe ihm nie erzählt, wie ich die letzten Fälle gelöst habe, er würde es nicht verstehen. Es kann sein, dass er etwas ahnt, aber er kann das geschickt verbergen. Karl Arsch zeigt nicht gerne seine geistigen Gaben.

Statt der Sommersonne, die in Schwerin durch quergestellte Jalousien in mein Büro schien und den Staub zum Tanzen brachte, scheint nun täglich blasse Dezembersonne durch die großen Fenster des Gutshauses in mein Arbeitszimmer voller unausgepackter Bücherkartons. Hier bin ich ein Niemand mit Vergangenheit, in Schwerin kannte ich jede Ecke jedes Archivs, kannte alle Straßenlampen im Halbdunkel und kannte die grauen Stellen der Stadt, an denen man heiße Ware bekommen konnte, echten Feenstaub, echte Dokumente aus Drachenhaut und illegale Übersetzungen. Ich bin nie dem Geld nachgelaufen, habe immer das Geld zu mir laufen lassen. Dicke schwitzende Männer kamen in mein Büro, Puppen in engen Kleidern und Babes in kurzen Röcken. Die Bücher machten mein Büro eng, durch das offene Fenster zogen die Gerüche der Bäckerei und der Straße unter uns in den Raum. Im Schreibtisch standen rechts die Flasche und zwei leere Aktenordner, in dem Fach links wohnte Mautz. Frollein saß nebenan in ihrem kleinen Vorzimmer, das einmal das Kinderzimmer der angemieteten Zweiraum-Wohnung war, hämmerte auf ihrer Schreibmaschine und war einfach nur Frollein, die regelmäßig wegen Geld nervte.

Erst später erkannte ich, dass sie die Welt ist und das Leben.

Der Brief ist kurz, Karl Arsch macht nicht gerne viele Worte. Dazu hat er meist auch keine Gelegenheit, denn niemand hat gern lange mit ihm zu tun.

Mit der Technik hat er es nicht, daher war der Brief auf einer alten Schreibmaschine getippt. Ich nehme an, er hat von seinem Vater eine Erika Reiseschreibmaschine aus Beständen der Volkspolizei geerbt, die wurde von den VoPos für Unfallprotokolle vor Ort genutzt.

Hier hatten sich die Typenhebel mehrfach verhakt und das Farbband muss so blass gewesen sein wie die abgelegten Nylonstrümpfe eines pensionierten Showgirls. Die dünnen Buchstaben tanzen in den Zeilen auf und ab.

Tippen kann Karl Arsch also auch nicht. Und die Angelegenheit war ihm wichtig genug, um es nicht vom Sekretariat der Mordkommission tippen zu lassen. Er sagte mal, die guten Sekretärinnen brächten nur ihre Klamotten und einen Laptop, die richtig guten bräuchten nur den Laptop. Das fand außer ihm niemand lustig, auch die nicht, die es verstanden hatten.

Von seinem Vater hat er auch seinen Cordhut geerbt, sagt man hinter seinem Rücken. Aber man sagt es leise, denn der Vater war auch bei der Kripo, die überall nur ‚K' genannt wurde, und Karlchen setzt die Familientradition fort. Er ist also gleichzeitig von Beruf Sohn und Polizist, aus meiner Sicht eine gefährliche Mischung. Unfähigkeit trifft Langeweile, aber wer ihm das ins Gesicht sagt, kann über seinen Aufenthaltsort nicht mehr frei verfügen. Karlchen ist derjenige, der bei der Party die Löffel zählt, wenn die Gäste sich verabschieden.

Ich gehe ins Haus, ziehe mir den Trenchcoat über, der schon lange ungenutzt am Haken hängt, und stelle mich mit seinem Brief unter die nächste Lampe.

‚Maska, brauche Ihre Hilfe. 0900 Uhr in der Gerichtsmedizin. Habe Sie schon angemeldet. gez. KHK Kartoszykski‘

Das ist interessant, denn ich bin eigentlich der Letzte, den Kommissar Kartoszykski um Hilfe bitten würde. Meist ignoriert er meine beiden Doktortitel, einen in mittelalterliche Philologie und einen in angewandter Kryptozoologie.

Also war es ihm peinlich genug, um es nicht von jemand anderem tippen zu lassen.

Und noch interessanter ist das P.S.

‚Vanderdecken hat Post für Sie‘.

Mir wird beim Lesen kalt, und das hat nichts mit den Boxershorts zu tun, die von den Schneeflocken feucht sind.

Diese Chance kommt nur einmal alle hundert Jahre.

Um halb Neun rufe ich im Polizeipräsidium an und lasse Herrn Kommissar Kartoszykski ausrichten, dass ich den Termin reserviert habe.

In der Garage steht der Namenlose. Ich finde es albern, wenn die Leute ihren Autos Namen geben.

Andere denken, Aberglaube bringt Unglück. Aber sie irren. Aberglaube ist nur der sichtbare Teil des alten Wissens, das die Welt zusammenhält und mit dem ich meine Fälle löse. Und ohne das ich meine Fälle nicht hätte.

Bevor ich ins Auto steige, gehe ich in die Werkstatt und stecke einen Hammer und einen großen Nagel in meine Jacke.

Bei der Post, die mich erwartet, sind Hammer und Nagel so notwendig wie ein Feuerlöscher beim Weihnachtssingen der Brandstifter-Selbsthilfe.

Und jetzt stehe ich mit Karl Arsch in der Gerichtsmedizin. Wir stehen auf der einen Seite eines Stahltisches, auf der anderen Seite arbeitet ein Mann, von dem ich nur die Augen und ein paar Haare zwischen OP-Haube, Maske und einem weißen Plastikkittel sehen kann, mit einem scharfen Messer am abgemagerten Körper einer Frau.

Ok, das Messer heißt Skalpell, die Frau ist schon mehrere Stunden tot und er ist Pathologe, das soll also alles so sein. Aber mir hätte es gereicht, davon in einem Buch zu lesen. Der Geruch und die Sound-Effekte sind nur etwas für kaltherzige, dickhäutige, abgebrühte Emotionskrüppel.

Der Kommissar neben mir scheint sich wohl zu fühlen. „Was ist das denn da?“ fragt er und zeigt mit einem krummen Zeigefinger auf den Bauch der Toten. Er ist ein Arschloch, aber ein erfolgreiches Arschloch.

Wir wussten bereits, dass die Frau eine große Tätowierung auf dem Rücken hat, ein symmetrisches Bild von zwei sich ansehenden und mit den Schnabelspitzen fast berührenden lebensgroßen schwarzen Raben. Gut gemacht, finde ich, aber es wirkt irgendwie altmodisch.

Die OP-Maske uns gegenüber brummelt „Alte Narbe, längst verheilt. Gut gemacht, obwohl es sicher eine Not-OP war. Unfall, denke ich, tiefe Wunde, wahrscheinlich innere Organe. Milz, Leber, mehr kann ich sagen, wenn ich zehn Zentimeter weiter bin. Da waren sicher einige Blutspenden notwendig, bis sie durch war.“

„Und die Todesursache?“

„Nicht eindeutig, noch immer nicht. Wir haben hier sowohl Spuren von Unterkühlung als auch Verbrennungsspuren. Brandbeschleuniger, vermute ich, die Analyse der Hautproben wird uns hoffentlich sagen, was da über sie gekippt und angezündet wurde. Und Spuren eines Aufpralls aus größerer Höhe, mehrere Knochenbrüche.“ Die Maske zuckt mit den Schultern, der Plastikkittel knistert. „Als wenn der Rest nicht merkwürdig genug wäre. Zum Beispiel Fraßspuren am Unterschenkel.“

Natürlich macht er uns damit neugierig, aber wir müssen warten, bis er ein faustgroßes Organ aus der Bauchhöhle der Frau gelöst und in eine Schale aus Edelstahl gelegt hat. „Viel zu groß und viel zu schwer“, brummt er leise. „Wo war ich? Ach ja, der Rest.“ Er löst den Blick nicht von dem offenen Bauchraum, der vor ihm liegt. „Die Frau war in einem sehr schlechten Zustand. Mitte zwanzig, denke ich, aber ihr Immunsystem ist durcheinander. Mangelerscheinungen, Auszehrung, untergewichtig, Blutarmut, dunkle Augenringe und offensichtlich anfällig für eine große Zahl von Infektionskrankheiten. Da sind alle Infektionen, die ich im Studium gelernt habe und noch eine Handvoll, für die ich einen Preis kriege“. Seine Ohren gehen leicht nach oben, er grinst hinter der OP-Maske.

„Fällt Ihnen der Geruch auf?“, frage ich Karlchen.

„Wie heißt das doch gleich? Ammoniak. Normaler Geruch hier unten, oder?“

Der Pathologe zuckt mit den Schultern. „Die einen sagen so, die andern so. Ich rieche das nach all den Jahren nicht mehr. Dachte schon, mein Deo hätte versagt.“

Ich erinnere mich an eine Checkliste und gehe sie durch. „Eisenmangel? Mangel an Vitamin B-12? Folsäure? Kupfer?“

Er schüttelt jedes Mal den Kopf. „Nein. Alles ausreichend vorhanden, soweit ich das bis jetzt sagen kann. Worauf wollen Sie hinaus?“

„Was denken Sie?“ frage ich Karlchen.

„Ich denke, es ist ein Statement, dass die Leiche genau auf der Grenze von Mecklenburg und Vorpommern gefunden wurde.“

„Wo genau?“

„Zwischen Mandelshagen und Völkshagen, in der Nähe der Wochenendsiedlung. Auf freiem Feld, ein Bauer hat sie gefunden.“

„Was macht ein Bauer kurz vor Weihnachten auf dem Feld?“

„Keine Ahnung. Mir egal." Der Kommissar schließt die Augen und denkt nach. Der Versuch ehrt ihn. „Laut den Kollegen vor Ort hat er ausgesagt, von Weitem einen Fuchs gesehen zu haben, der an etwas gefressen und gezerrt hat.“

Das erklärt schon mal die Fraßspuren. Aber nicht den Rest.

„Auf jeden Fall war jemand sehr pingelig, die Tote genau auf die Landesgrenze zu legen. Mit GPS ausgemessen, denke ich.“

„Dann sind Sie hier wohl fertig. Ich schicke später meinen Bericht“, brummt der Pathologe hinter der OP-Maske. „Hier geht es um Wissenschaft, nicht um Grenzstreitigkeiten.“

„Grenzstreitigkeiten, das kann genau das Stichwort sein“, erklärt der Kommissar. Wir stehen im Fahrstuhl, der uns aus den Eingeweiden des Universitätskrankenhauses wieder ans Tageslicht bringt. „Und deshalb sind Sie hier, Maska.“

„Ich bin kein Vermessungstechniker“, erinnere ich ihn. „Ich bin der mit den Büchern.“

Er winkt ab. „Es geht nicht um Grenzverläufe, sondern um Gebietsansprüche. Wir sind mitten in einem Bandenkrieg und die Frau da unten ist das erste Todesopfer.“

Wir drehen Pappbecher auf einem schmutzigen Tisch. Sonst stehen wir draußen an einem der Stehtische vor der Imbissbude, aber nicht bei drei Grad und Ostwind. Jetzt ziehen Schwaden von Frittenfett an uns vorbei und versuchen, den Geruch von frischen Zwiebeln einzuholen, der eben bei uns war.

Ich habe schon beschlossen, diesen Kaffee nicht zu trinken.

„Davon war noch nichts in der Presse“. Ich versuche, das Gespräch wieder aufs Thema zu bringen.

Er schüttelt den Kopf. „Natürlich nicht, das halten wir so lange wie möglich da raus. Und wir haben eigentlich noch nichts Konkretes, abgesehen von der mehrfach toten Frau auf dem Stahltisch der Pathologie.“ Er schiebt seinen Becher durch die Schlieren auf der Plastiktischdecke. „Und echt, Maska, ich bin ratlos. Wir haben alle Anzeichen eines Bandenkrieges, wir wissen aber nicht, worum es geht. Die üblichen Motive wie Schutzgeld, Drogen, Mädchenhandel und so weiter, scheiden alle aus. Das ist alles fest in den Händen anderer Gangs. Aber die beiden Gangs, die hier am Werk sind, sind irgendwie mächtiger und mehr spezialisiert. Irgendwie exklusiver. Esoterischer.“

Er zeigt gerade ein unerwartetes Vokabular. Vielleicht hat er einen Fernkurs besucht.

„Jetzt haben wir das erste Todesopfer, das erhöht natürlich das Tempo. Und den Druck.“

„Wieso passt diese Frau da rein?“

„Die Tätowierung, die beiden Raben, das ist das Zeichen der einen Gang. Eine Bikergang aus Rügen, die von einem Einäugigen angeführt wird. Wilde Jagd, nennen sie sich. Dieses Tattoo bekommen ihre Mädels, wenn sie aufgenommen werden. Auch wenn sie natürlich nicht mitfahren dürfen.“

Mein Kaffee ist jetzt kalt, ein weiterer Grund, ihn nicht zu trinken. Aber meine Hand wird gerade warm. „Und die andere Gang?“

„Nicht grinsen, ok?“

Ich nicke.

„Ein paar alte Männer vom Land. Alles gestandene Handwerker, Innungsmeister, Preisträger, Ausbildungsbetriebe, geschäftlich erfolgreich bla bla bla.“ Karlchen rührt mit der Hand in der Luft. „Und die Tote war bei einem dieser Betriebe angestellt.“

„Ein Gang-Tattoo der einen Seite auf dem Rücken und arbeitet für die andere Seite? War sie ein Überläufer? Ein Spitzel? War sie Beute?“

Er zuckt nur mit den Schultern. „Wir stehen da ganz am Anfang der Ermittlungen.“

Kommissar Kartoszykski tut etwas, das ich nie erwartet hatte. Er tut mir leid. Der Mann hat wieder keine Ahnung.

„Wo auf dem Land sitzen diese Handwerker?“

„In Gammelin. Da hat einer von ihnen seine Werkstatt und dort treffen sie sich meistens. Scheint so eine Art Hauptquartier zu sein.“

„Was wissen wir über die Biker aus Rügen?“

Er hebt die Augenbraue, weil ich ‚wir‘ gesagt habe und guckt wie ein dankbarer Dackel mit Cordhut.

„Nicht viel. Wegen des Namens waren sie ein paarmal unter Verdacht, etwas mit Deutschnationalen oder Rechtsradikalen zu tun zu haben. Aber sie scheinen in einer ganz anderen Liga zu spielen. Alle Vorwürfe wurden zweifelsfrei aufgeklärt. Auf der anderen Seite jede Menge Verstöße gegen die Straßenverkehrsordnung, Geschwindigkeitsübertretungen, nicht eingetragene Veränderungen an den Motorrädern, Ruhestörung, nicht angeleinte Hunde, Fahren ohne Führerschein, Fahren unter Alkoholeinfluss und so weiter.“

„Vollkommen normales Verhalten für eine Motorradgang.“

„Zeugen haben sich gemeldet und behauptet, sie hätten die Gang durch die Luft fliegen sehen, auf den Motorrädern und von vielen Hunden begleitet. Das letzte Mal ist aber schon eine Weile her. Kurz vor Neujahr, glaube ich.“

Das ist nicht überraschend, aber ich will ihm das nicht vorhalten. Der Mann hat echt keine Ahnung.

„Aber jedes Mal, wenn die Biker nach Mecklenburg kommen, gibt es Ärger. Und jedes Mal, wenn einer von den Handwerkern aus Gammelin einen Auftrag in Vorpommern hat, gibt es auch Ärger. Ich habe nicht einmal begriffen, warum Handwerker aus Gammelin so viele Aufträge auf Rügen annehmen, die Fahrerei macht doch jedes Angebot zu teuer.“ Der Kommissar knallt seinen Becher auf den Tisch. „Und jetzt, Maska, sagen Sie mir, was diese beiden Gangs gemeinsam haben? Ehrlich gesagt, fällt mir zu dem Fall nichts mehr ein.“

Seine Schultern sinken und er sieht sich um, will sicher sein, dass ihn bei diesem Geständnis niemand belauscht hat.

„Ich sehe mir das an. Versprechen kann ich nichts. Und Sie lassen mich mit dem alten Mann aus dem Hafen sprechen, diesen Vanderdecken. Deal?“

Spontan nimmt seine Körperspannung zu. „Deal!“

Wir stoßen mit unseren Pappbechern an, aber keiner von uns nimmt einen Schluck. Dann gehen wir in sein Büro zurück.

Ich ahne, dass diese beiden Gangs wirklich nichts gemeinsam haben, da würde er nichts finden. Dafür suchen sie wahrscheinlich das Gleiche.

Ich habe das Gefühl, dass noch etwas fehlt an unserer Abmachung.

„Und jetzt lassen Sie den alten Mann vom Meer bringen.“

Karl Arsch nickt. „Watt mutt, dat mutt. Aber erwarten Sie nicht zu viel, Maska. Das ist ein komischer Kerl, ist die Zeit nicht wert, wette ich.“

Er greift zum Telefon und tippt drei Tasten. „Bringt den Seemann hoch.“

Der Kommissar sieht mich an. „Kaffee? Sie werden etwas gegen den Geruch brauchen.“ Ich schüttele den Kopf.

Nach ein paar Minuten klopft es und zwei uninformierte Uniformierte ziehen einen alten schmalen Mann hinter sich in das Büro.

Ein alter Südwester, augenscheinlich aus Filz, mit einem Einschussloch. Eine derbe Jacke, dunkelblau mit goldenen Knöpfen. Die Knöpfe sehen nach echtem Gold aus, sind aber so alt und abgeschabt, dass man die Prägung nicht mehr erkennen kann. Breiter schwarzer Gürtel mit silberner Schnalle. Derbe Hosen, ausgebeult und fleckig. Seestiefel aus Leder mit schiefen Absätzen, mit Dreck und Salz verkrustet.

Ein Bart bedeckt den Großteil seines Gesichtes und hängt bis zur Mitte der Brust. Die Augen sind klein und hart, die Nase mehrfach gebrochen, die Haut um Augen und Nase wie aus grauem Leder, das zu lange in der Sonne gewesen ist.

Und ein Geruch, als hätte er hundert Jahre nicht geduscht. Unsere Nasen sind voll mit Körperausdünstungen und Schwarzpulver mit einer Fischnote im Abgang.

Ich bin mir sicher, dass er hundert Jahre nicht geduscht hat.

Kartoszykski öffnet das Fenster.

Die beiden Wachleute sehen mich fragend an. Mit einer Kopfbewegung erlaube ich ihnen, draußen zu warten. Sie legen Karlchen einen Aktendeckel auf den Schreibtisch und hasten hinaus.

Der Kommissar lässt sich auf seinen Stuhl fallen. „Der Herr wurde am Hafen aufgegriffen. Hat mit einem alten Ruderboot angelegt und behauptet, sein Schiff läge drei Seemeilen vor der Hafeneinfahrt auf Reede.“ Er sieht mich an und rollt mit den Augen, öffnet dann die Akte. „Die WaPo hat dort nichts gefunden und das Radar zeigt nichts. Das Ruderboot ist nicht seetüchtig, er hat es damit kaum bis zur Kaimauer geschafft. Wir halten ihn für einen dieser Flüchtlinge, die ins Land wollen. Wirtschaftsflüchtling, so wie er aussieht. Aber nach den Unterlagen hat er bisher nur gesagt ‚Bringt Maska an Deck‘. Deshalb sind Sie hier.“

Ich nicke, als wisse ich Bescheid. Ich weiß nicht Bescheid, ich habe nur einen Verdacht. Mit ausgestrecktem Arm und angehaltenem Atem wische ich dem Alten die Haare aus der Stirn. Er lässt es geschehen, ein Lächeln durchzieht sein Ledergesicht.

Gleich unter dem Haaransatz hat sein Schädel ein Loch, in das man einen Finger stecken kann. Die Wunde ist alt, tief und gut verheilt.

„Eine Aufmerksamkeit bei eurer Verhaftung?“

Karl Arsch blickt zwischen dem Loch in der Stirn und seiner Akte auf dem Tisch hin und her.

„Ehrlich, Maska, das waren wir nicht. Das war schon so.“

„Schon gut.“ Ich wende mich wieder dem Alten zu. „Sie haben Post für mich?“

Seine Augen funkeln kurz und er greift in seine Jacke. „Post ja, aber nicht für dich.“

Er legt mit einer ledrigen Hand und dünnen Fingern einen Stapel Briefumschläge auf den Tisch und lehnt sich zurück. Das wirkt, als habe er eine wichtige Pflicht erfüllt.

Ich warte, bis Kommissar Kartoszykski den Stapel in die Hand nimmt. Er dreht jeden einzelnen Umschlag in den Händen und legt sie auf einen neuen Stapel. Es sind insgesamt sieben alte Briefe, ohne Umschlag, man hatte das Papier mehrfach gefaltet und mit Siegellack verschlossen.

„Sie kommen zu spät“, sagt er zu seinem Gefangenen. „Diese Leute sind alle schon tot, wenn ich die Schrift richtig entziffern kann. Diese Straßen gibt es nicht mehr in Schwerin, die sind alle verbaut oder umbenannt, die Häuser sind abgerissen. Und frankiert sind Ihre Briefe auch nicht.“

Damit ist bestätigt, dass sein Schiff nur ihn als Kapitän, einen Bootsmann, einen Koch und einen einzigen Matrosen haben würde. Die müssen wie er steinalt sein und lange Bärte haben. So eine Art ZZ-Top zur See. Und es ist eine große Ehre, dass er seinen Landgang, den er nur einmal in hundert Jahren machen kann, mit dem Wunsch verbunden hat, mich zu sehen. Danach muss er wieder hundert Jahre weiter segeln, bis sein Fluch aufgehoben werden kann. Denn er hat einmal mutwillig einen Albatros erschossen. Und dann ist da noch die Geschichte mit der jungen Frau, die in einen Sack eingenäht wurde.

Der Kommissar schiebt ihm den Stapel mit den Briefen wieder zu. „Die können Sie hier nicht loswerden.

---ENDE DER LESEPROBE---