Maskenball - Reinhold Erz - E-Book

Maskenball E-Book

Reinhold Erz

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Beschreibung

Ein Kripobeamter, ganz privat, auf einem "Erotischen Maskenball" im Stuttgarter Swingerclub - warum nicht? Als Zorro verkleidet erkennt ihn ja keiner, denkt Kommissar Martin Schwertfeger. Doch dann findet ausgerechnet er im SM-Studio eine vakuumverpackte Leiche, und seine kleine Flucht aus dem Alltag wird zum Alptraum. Zur gleichen Zeit gerät das Leben der ehrgeizigen Journalistin Sara Blohm aus den Fugen. Ihre Recherchen führen sie auf die Spur eines kriminellen Netzwerks aus Wirtschaft und Politik, und schon bald sieht sie Verbindungen zum Maskenball-Mord. Was als heiße Story für die Titelseite der Stuttgarter Rundschau gedacht war, bringt Sara Blohm unversehens in höchste Gefahr. Schnell zeigt sich: Die Jäger werden zu Gejagten; und bis zum atemberaubenden Ende bleibt offen, wer als Sieger aus dieser Geschichte über Filz und Macht hervorgeht.

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Seitenzahl: 291

Veröffentlichungsjahr: 2012

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Reinhold Erz

Maskenball

Reinhold Erz

Maskenball

Ein Baden-Württemberg-Krimi

Reinhold Erz, geboren 1952, hat Germanistik, Politikwissenschaft und Journalistik studiert. Er arbeitet als Autor und Redakteur in der Wirtschaftsredaktion des SWR-Fernsehens in Stuttgart. Nach vielen dokumentarischen Stories hat es ihn gereizt, selbst Geschichten zu erfinden, dabei aber nah dran zu bleiben an der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Mit »Maskenball« legt er seinen ersten Krimi vor.

Für Barbara

© 2012 by Silberburg-Verlag GmbH,Schönbuchstraße 48, D-72074 Tübingen.Alle Rechte vorbehalten.Umschlaggestaltung: Christoph Wöhler, Tübingen.Coverfoto: © johnnyscriv – iStockphoto.Lektorat: Michael Raffel, Tübingen.

E-Book im EPUB-Format: ISBN 978-3-8425-1546-8E-Book im PDF-Format: ISBN 978-3-8425-1547-5Gedrucktes Buch: ISBN 978-3-8425-1219-1

Besuchen Sie uns im Internetund entdecken Sie die Vielfalt unseres Verlagsprogramms:www.silberburg.de

1

Die Maske kneift. Das dünne Gummiband schneidet in die Haut. Und die Schweißdrüsen unter den Kunstfasern verrichten Schwerstarbeit. Doch abnehmen kommt nicht in Frage. Jetzt sowieso nicht mehr. Jetzt, da der Dicke tot ist.

Er löscht das Licht, öffnet vorsichtig die Tür einen Spalt – und schließt sie im gleichen Moment wieder. Auf dem Flur hat er Stimmen gehört. Zitternd lehnt er sich mit dem Rücken gegen die Wand – bereit zu … ja, zu was eigentlich, wenn jetzt jemand hereinkäme? Die Stimmen entfernen sich. Er legt den Schalter wieder um. Erneut richtet sich der rote Lichtkegel auf einen viel zu weißen Bauch, der über den Bund einer viel zu kleinen Calvin-Klein-Unterhose quillt. Der Tote liegt in grotesker Verrenkung auf dem schwarzen Fliesenboden. Muss heftig gezappelt haben, denkt der Mann mit der Maske. Doch irgendwann war dem Zwei-Zentner-Mann die Luft ausgegangen. Kein Wunder: Die Schnur am Ende des durchsichtigen Plastiksacks ist fest um den Hals zusammengezogen, der massige Schädel vakuumverpackt.

Unwillkürlich lockert er den Sitz seiner Maske und atmet tief ein. Ruhig bleiben, ganz ruhig …

Er schaut sich um. Von der Decke baumelt ein massiver hochglanzpolierter Kettenzug. An eine Wand sind zwei ösenbewehrte Holzbalken in X-Form gedübelt, die an ein Warnkreuz an Bahnübergängen erinnern. Vor dunkelroten Samttapeten reihen sich Schraubzwingen, Handschellen, Fußfesseln, Lederpeitschen in grimmiger Eintracht. Eine Folterkammer, gut sortiert, soweit er das beurteilen kann.

In dem deckenhohen Spiegel gegenüber sieht er einen seltsam ausstaffierten Typen mit schwarzer Augenbinde, breitkrempigem Hut, schwarzem Umhang und einem winzigen Tanga-Slip darunter. Zorro auf Brautschau, der Rächer der Witwen und Waisen auf erotischen Irrwegen. Er lacht lautlos in sich hinein. Es ist kein fröhliches Lachen.

Eigentlich war es Zufall gewesen, dass er sich für die Mantel-und-Degen-Nummer entschieden hatte. Er hätte ebenso gut als Käpt’n Blaubär oder Guido Westerwelle gehen können. Doch die Zorro-Utensilien gab es in seiner Größe, und den Zweck, ihn unkenntlich zu machen, erfüllten sie schließlich. »Soll es denn für Sie sein?«, hatte die Verkäuferin in der Faschings-Abteilung bei Kaufhof gefragt. Er glaubte einen spöttischen Zug um ihren Mundwinkel zu sehen. Vielleicht meinte sie, das sei nicht ganz die passende Verkleidung für einen gestandenen Mittfünfziger. Irgendwie fand er das ja auch – und zögerte. Es war der Moment, in dem er das Ganze hätte abblasen können. Stattdessen hatte er etwas von einer privaten Karnevalsparty gemurmelt, bei der nun mal Kostümzwang herrsche, und sich den Weg zur Kasse gebahnt.

Natürlich hatte er sich die Sache schön geredet. Er würde nicht in einen öden Rein-Raus-Swingerclub gehen, sondern in ein gesellschaftlich gehobenes Etablissement. Einen Abend mit kultivierten Menschen verleben. Einen Erotischen Maskenball, so wie es die Annonce im Wochenblatt angekündigt hatte.

Das Wort »Maske« war es gewesen, das ihn auf der Seite festgehalten hatte. Nie zuvor, selbst in den Stunden schwärzester Einsamkeit, hätte er sich vorstellen können, in so einen … Club zu gehen – auch wenn er einen bürgerlich-piefigen Namen wie Exquisit – Der elegante Treff trug. In seiner Position – undenkbar. Aber maskiert? War das nicht die Chance, einfach mal auszubrechen aus dem zermürbenden Trott, dem lähmenden Alltag mit Esther? Er hatte an Kubricks Eyes Wide Shut gedacht, plötzlich ein lange nicht mehr gefühltes Kribbeln in der Magengegend gespürt und zum Hörer gegriffen.

Auf dem Ansageband eine »Brischitt«, im Tonfall forciert verrucht, aber auch anheimelnd komisch, wenn sie »tabulosen Paaren und dischtinguierten Singels luschtvolle Begegnungen auf hohem Niveau« in Aussicht stellte. Auf selbigem bewegte sich zumindest schon mal der Preis der Distinktion: 200 Euro für den Herrn ohne Begleitung – für Paare die Hälfte, einzelne Damen waren mit 25 Euro dabei. Den Gedanken, dass dies nicht nur schwäbischer Sparsamkeit, sondern auch jedem Gerechtigkeitsempfinden Hohn sprach, hatte er erfolgreich unterdrückt. Und das »umfangreiche Buffet« war schließlich inbegriffen …

Die Villa, die den Eleganten Treff beherbergte, lag ein paar Kilometer vor den Toren Stuttgarts, versteckt in einem weitläufigen Park. Er bugsierte den silbergrauen 3er BMW, den er sich für zwei Tage gemietet hatte, in eine der Parkbuchten. Den dicken Wollmantel ließ er im Auto und fror daher ordentlich, als er in seinem dünnen Kostüm der Eingangstür zueilte. Er hatte sich als »Zorro Klemmerle« angemeldet (und das am Telefon noch halbwegs lustig gefunden). Jetzt, als er den Namen in die Sprechanlage flüsterte, war es ihm doch einigermaßen peinlich.

Drinnen begrüßte ihn Louis Quatorze. Grellweiß geschminkt, tiefrote Lippen unter langgelockter Perücke. »Mir hen Schtammgäschte hier, die erkenn ich sogar mit Maske, aber Sie sen glaub ich neu«, parlierte der Franzosenkönig in lupenreinem Honoratiorenschwäbisch.

»Ja, stimmt«, gab Zorro einsilbig zurück. Er marschierte entschlossen auf die langgestreckte Bar zu, eroberte einen freien Hocker und schaute neugierig um sich. Er befand sich in einem riesigen Saal, der durch eine Vielzahl von Sitz- und Liegeecken gegliedert war. Stuckelemente an den Wänden – nicht original, aber immerhin – verliehen dem Raum, zusammen mit einigen etwas überladenen Kronleuchtern, eine gediegene Atmosphäre. Während aus den Boxen gregorianische Gesänge dröhnten, füllte sich der Saal nach und nach.

Es mochten an die hundert Personen sein, die sich mittlerweile eingefunden hatten. Die Damen, leicht in der Minderheit, gaben sich als Madame Pompadour, Lady Chatterley, als Mätresse oder verschleierte Haremsdame die Ehre; bei den Herren fiel die große Zahl von Mönchskutten mit in die Stirn gezogener Kapuze auf. Einige waren in violette Kardinalsgewänder geschlüpft, unter denen schwarzglänzende Latex-Slips hervorblitzten. Zwei Päpsten stand eine viermal so große Armee von Teufeln gegenüber.

»Schon interessant, dieser Drang, mal so richtig die antiklerikale Sau rauszulassen«, sagte der Mann auf dem Barhocker neben Zorro. Er hatte auf seine Verkleidung wenig Fantasie verschwendet. Er trug lediglich eine Augenmaske mit Verlängerung bis zum Kinn, ein schwarzes Lederarmband mit spitz zulaufenden silberfarbenen Nieten und einen knappen Calvin-Klein-Slip, den sein mächtiger Bauch nahezu verdeckte.

»Vielleicht die späte Aufarbeitung eines pietistischen Kindheitstraumas«, schwadronierte er weiter. »Was meinen Sie?«

»Schon möglich«, sagte Zorro. Er hatte wenig Lust auf einen küchenpsychologischen Diskurs.

»Und Sie?«, fuhr der Dicke ungerührt fort, »Was prädestiniert Sie zum Rächer der Enterbten?«

»Ein schweres Kinderfaschingstrauma«, entgegnete Zorro und wandte seinen Blick demonstrativ in den Saal.

Die Party kam langsam in Gang. Einige Paare tanzten (die gregorianischen Gesänge waren von einem Best-of-Johann-Strauß- Sampler abgelöst worden), andere fläzten sich in den Sitz- und Liegeecken. Hände wanderten unter Reifröcke und Korsagen, doch noch fielen keine Masken. Für Zorro interessierte sich niemand. Wo waren hier die einsamen Damen? Er entschloss sich zu einem kleinen Rundgang.

Eine Treppe führte ins erste Obergeschoss. Kleine Hinweispfeile mit der Aufschrift »Wasserspiele« deuteten an, was dort geboten war. Links von der Treppe befand sich eine höhlenartige Nische. Rote Glühbirnchen formten das Wort »Spielwiese«. Der Raum war ausgelegt mit samtbezogenen Matratzen. Darauf bunt verstreut schwere seidenglänzende Kissen, ein paar Boxen Kleenex-Tücher, und – auf einem kleinen Wandregal – körbchenweise Kondome. Noch war hier nicht viel los. Zwei knutschende Pärchen verloren sich auf dem weitläufigen Terrain.

Zorro bog in einen schwach beleuchteten Gang ein, von dem mehrere Türen abgingen. Er öffnete die erste. Der Raum war fast flächendeckend mit goldener Glanzfolie ausgeschlagen, und wo keine Folie war, waren Spiegel. Spiegel über Spiegel. Neben der Eingangstür entdeckte Zorro eine Respekt einflößende Leiste mit jeder Menge Schaltern und Drehknöpfen. Er konnte nicht widerstehen. Das Licht, stellte er schnell fest, konnte man nicht nur dimmen, es ließen sich auch verschiedene Farben programmieren. Er nahm eine Fernbedienung aus der Wandleiste, drückte die Taste »Surround« und hörte erst mal nur ein nervendes Summen und Sirren. Dann sah er, wo es herkam: das Bett in der Mitte des Raums, das locker zwei bis drei Paaren Manövrierfläche bot – es vibrierte! Er setzte sich auf den Rand der Matratze. Tatsächlich – eine leichte Massagewirkung! High-Tech-Bumsen, dachte er, und grinste vor sich hin. So recht wusste er nicht, was er davon halten sollte.

»Tolle Sache, was!« Ein dröhnender Bass riss Zorro aus seinen Betrachtungen. In der Tür stand ein voluminöser Scheich, den Arm um seine mäßig verschleierte Konkubine gelegt.

»Das Zimmer ist natürlich sehr gefragt«, erläuterte der Wüstensohn, »aber wer zuerst kommt, hat eben die besten Plätze. Wollen Sie zugucken?«

»Äh, nein«, sagte Zorro etwas irritiert, machte das Bett frei und überreichte dem Scheich als Abschiedsgeste die Fernbedienung.

Zorro verzichtete auf die Inspektion der weiteren Zimmer. Er machte kehrt, bahnte sich den Weg durch ein Knäuel Sekt schlürfender Gäste und blieb schließlich am Buffet hängen. Er stellte sich in der kurzen Schlange an. Vor ihm stand ein Gast in einer sehr luftigen Musketier-Version: Pluderhose, Federhut, ein ärmelloses Westchen auf nackter Haut, das war’s. Zorros Blick fiel auf ein Tattoo auf dem Oberarm: zwei sehr fein gearbeitete kopulierende Nashörner. Was das wohl bedeuten sollte? Wäre sicher ein Fall für den Hobby-Psychologen an der Bar, dachte Zorro und wandte sich um. Er sah gerade noch, wie der Dicke von seinem Hocker aufstand und sich Richtung »Spielwiese« entfernte. Es war das letzte Mal, dass Zorro ihn an diesem Abend lebend sah.

»Darf ich mich dazusetzen?« Zorro schaute von seinem Garnelenspieß auf – und direkt auf einen gewaltigen Busen. Er war in ein Korsett eingeschnürt, das in jeder Hinsicht atemberaubend war. Zorro wurde fast schwindelig.

»Ja, bitte, natürlich«, stammelte er. Die weiß gepuderte Hofdame mit dem hochtoupierten, platinblonden Haar und der beigen Augenmaske wünschte ihm guten Appetit und wandte sich ihrem Teller zu, in dem ein paar Salatblättchen in Joghurtsoße schwammen.

»Du müsstest erst mal meinen Arsch sehen!«, platzte sie heraus.

»Wie?«

»Na, ich sehe doch, wie du mir dauernd fasziniert ins Dekolletee starrst.«

»Ist ja auch … sehenswert.« Die direkte Art seiner Tischdame machte ihn verlegen.

»Aber ich wette, du glaubst jetzt wie die meisten: Massig Holz vor der Hütte – aber kein Arsch in der Hose. Und damit bist du gewaltig auf dem Holzweg.«

»Wie kommen Sie … kommst du darauf, dass …«

»Ach, schau dich doch um! Didi hat sogar mal so ’ne Art Erhebung gemacht, also durchgezählt, und das Ergebnis war eindeutig. Wer’s vorne drauf hat, bei dem fehlt’s hinten – und umgekehrt. In neunzig Prozent der Fälle.«

»Und du hast’s in jeder Hinsicht drauf.« Zorro fand langsam Gefallen an dem absurden Gespräch.

»Das glaubst du aber!« Sie legte ihre Finger sanft auf seinen Handrücken. »Vielleicht könntest du ja nachher mal eine Inspektion durchführen, ganz hinterrücks«, säuselte sie.

Der Mann im Zorro-Kostüm konnte sich nicht entsinnen, je so unverblümt angemacht worden zu sein. Doch, ja … es erregte ihn.

»Ach Sylvie, da biste ja. Schon orntlich wat jefuttert, wa?«

Zorro drehte sich zur Seite und traute seinen Augen nicht. Die Berliner Schnauze steckte in einer Art Ganzkörperkondom, nachtblaues Latex von Kopf bis Fuß, Reißverschluss vom Bauchnabel abwärts, die Aussparungen an Augen, Mund und Nase blutrot umrandet.

»Das ist Didi«, stellte die Hofdame ihn vor, »und das« – sie zeigte auf den schwarzen Rächer – »das ist … ja, wir haben uns gar nicht vorgestellt …«

»Zorro. Hallo Didi.«

»Ja hallo, geilet Kostüm. Supi!« Und zu Sylvie gewandt: »Matze is übrigens oben, suhlt sich schon mal im Pool. Ick hab jesagt, wir holn ihn ab.«

Sylvie erhob sich: »Matze ist ein Freund von uns. Übrigens bi.« Sie zwinkerte Zorro zu. »Wir treffen uns auf der Spielwiese. Du bist dabei, Zorro, oder?«

»Ja, mal sehn.« Seine Erregungskurve näherte sich dem Nullpunkt.

Wenig später war sie am Anschlag. Zorro hatte die Toilette gesucht, das Licht im Flur war erloschen, er hatte sich an der Wand entlanggehangelt, war schließlich in dem Sadomaso-Studio gelandet und hatte den dicken Hobby-Psychologen gefunden. Stranguliert.

Lange Minuten hatte Zorro in dem makabren Raum gestanden und fieberhaft seine Handlungsmöglichkeiten sortiert. Was hätte jeder andere in dieser Situation gemacht? Den Hausherrn gerufen, die Polizei verständigt. Was sonst?

Sicher, das Verhör hätte peinlich werden können. Doch er hätte darauf hoffen dürfen, dass die ganze Sache einigermaßen diskret behandelt würde. Dass die Beamten auf die Privatsphäre Rücksicht nehmen würden. Wenn …, ja wenn da nicht die Situation so unerbittlich vorhersehbar gewesen wäre: Jener Augenblick, da er seine Maske abgenommen und der Beamte ihn ungläubig gefragt hätte: »Was machen Sie denn hier, Kollege Schwertfeger?« Und was hätte Martin Schwertfeger, der Leiter des Dezernats Tötungsdelikte beim Polizeipräsidium Stuttgart, da antworten sollen?

2

»Darf ich nachschenken?« Die hochgewachsene blonde Kellnerin steckte in einer akkurat gebügelten tiefschwarzen Hose und trug eine gleichfarbige Seidenkrawatte über ihrer blütenweißen Bluse. Sie sah Frank Schultes erwartungsfroh an, als sie ihm eine Flasche Châteauneuf-du-Pape vor die Nase hielt.

»Ihnen kann ich doch keinen Wunsch abschlagen«, flötete er und warf ihr einen Dackelblick zu, den er für verführerisch halten mochte.

Während die Servicekraft ein professionelles Lächeln anknipste und Schultes mit dem Spruch »Einer geht noch, einer geht noch rein« brillierte, zuckte Sara Blohm verächtlich mit den Mundwinkeln. »Was für ein Arschloch!«, dachte sie.

Ihr Problem war nur, dass das Arschloch in letzter Zeit die besseren Storys hatte. Zumindest war ihr Chefredakteur dieser Meinung. Sie selbst würde sagen: Er hatte Geschichten im Blatt, die nichts erklärten, nichts analysierten, sondern schlicht den Voyeurismus des Publikums bedienten: Schlüsselloch-Storys über Zoff und Intrigen in der Managerkaste, auch »Enthüllungen« über private Fehltritte der Wirtschaftsführer. Weiß der Teufel, wer ihm das steckte.

Schultes war Wirtschaftsredakteur beim Stuttgarter Tagblatt, Sara sein Pendant bei der Stuttgarter Rundschau. Die Regie der KONZERN-Pressestelle hatte es so gewollt, dass beide am gleichen Tisch saßen – beim get together, wie das große Fressen am Vorabend der Bilanzpressekonferenz neuerdings hieß.

Der KONZERN hatte wie üblich keine Kosten gescheut und die Journaille in eins der besten Häuser am Platz geladen. In diesem Jahr war es die Speisemeisterei im Schloss Hohenheim. Ein moderner Gourmet-Tempel in historischem Gemäuer. Das opulente Rokoko-Erbe – weißer Stuck, blattgoldverzierte Spiegel, verspielte Kronleuchter – hatten die neuen Betreiber mit einer schnörkellosen, fernöstlich inspirierten Inneneinrichtung kombiniert. Statt wie ehedem auf Stilmöbeln saß man jetzt auf schwarzem Leder und roten Samtpolstern. Eine eigenwillige Sinfonie aus Lack und Plüsch, die für kontroversen Gesprächsstoff an den Tischen sorgte, während in Nussbutter pochierte Täubchen-Brüste und Kaninchenrücken mit schwarzem Trüffel aufgetragen wurden.

»Prost Kollegin!« Frank Schultes grinste Sara boshaft an, als er sein Weinglas an ihres stieß. Er beugte sich zu ihr hin, dass sie seinen Atem spürte: »Na, wann pflanzen wir denn wieder die rote Fahne aufs KONZERN-Dach?« Er hatte geflüstert – aber nicht so leise, dass es die anderen Kollegen am Tisch nicht hätten hören sollen. Die volle Aufmerksamkeit war ihrer Antwort gewiss.

Sie kam ein bisschen zu schrill. »Wir? Was willst du damit sagen? Die einzige Fahne, mit der ich dich je erlebt habe, ist die, die du nach ein paar Vierteln zu viel vor dir herträgst!«

Sara biss sich auf die Lippen. Was ließ sie sich auf solche Scharmützel ein?

»Oh, ich wollte dich nicht aufregen.« Schultes lehnte sich genüsslich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich hab mich nur gewundert, was aus der Stimme der Revolution geworden ist. Willst du nicht mehr, oder lassen sie dich nicht mehr?«

»Ich denke nicht, dass wir das jetzt hier erörtern müssen«, entgegnete sie lahm. Schlagfertig war anders.

Schultes hatte ihren wunden Punkt getroffen. Vor einem guten halben Jahr hatte sie in einer Artikelserie unzumutbare Arbeitsbedingungen beim KONZERN angeprangert. Ein Betriebsrat hatte sie mit Insider-Informationen versorgt. Doch irgendjemand hatte ihn zum Schweigen gebracht. Und mit ihm sie. Seither standen keine kritischen Exklusiv-Geschichten über den KONZERN mehr in der Rundschau.

»So, ich darf doch mal!« Otfried Kisch quetschte sich mit seinem Stuhl in die Runde, die anderen rückten notgedrungen zusammen. Kisch war der oberste Pressemann im KONZERN, und es war üblich, dass er an solchen Abenden immer mal wieder an einen anderen Journalistentisch wechselte.

»Wir werden morgen erstmals nach der Finanzkrise wieder eine Bilanz mit deutlich schwarzen Zahlen vorlegen«, verkündete er strahlend. »Und ich möchte mich an dieser Stelle für Ihre kritische, aber immer faire Begleitung bedanken.«

Sara Blohm räusperte sich. »Was ist mit den Entlassungen?«

Kisch warf ihr einen ungnädigen Blick zu. »Es gibt keine Entlassungen.«

»Aber …«

»Es gibt einen sozialverträglichen Stellenabbau. Damit machen wir unsere Produktion international konkurrenzfähig und sichern die Arbeitsplätze der Stammbelegschaft. Über die Größenordnung der Freisetzungen ist noch nicht entschieden.«

»Finden Sie es nicht abwegig«, beharrte Sara, »dass Sie ausgerechnet dann, wenn es wieder aufwärts geht, Tausende Arbeitsplätze vernichten?«

»Nochmal.« Kischs Ton wurde schärfer. »Niemand wird entlassen. Es wird Vorruhestandsregelungen und freiwillige Ausscheidensvereinbarungen geben.«

»Und wer so frei ist, einen anderen Willen zu äußern?«

»Reden Sie doch nicht von vornherein alles runter. Wir sind hervorragend aufgestellt und sind sehr zuversichtlich, dass wir am Ende des Restrukturierungsprozesses für die Zukunft noch besser gerüstet sind – im Interesse aller unserer Mitarbeiter. Darauf sollten wir anstoßen. Trockene Zahlen müssen ja manchmal sein, trockene Kehlen nicht. Prost!«

Die Runde erhob die Gläser – Sara zögerte. Ihr lag ein Trinkspruch auf den Lippen, mit dem sie Kisch und Konsorten den Abend mühelos hätte verderben können. Doch die Zeit war nicht reif. Noch nicht. Ein bisschen musste sie zuwarten. Aber dann …

In wenigen Tagen würde sie mit einer Geschichte herauskommen, die den KONZERN erbeben lassen würde. Und Schultes, der sie jetzt wieder so herausfordernd ansah, würde sich vor Neid in den Hintern beißen.

Jetzt hob auch Sara das Glas, stieß als Letzte in der Runde mit an. »Auf saubere Geschäfte!«, sagte sie – und registrierte Kischs misstrauischen Augenaufschlag mit klammheimlicher Freude.

3

Zorro fuhr zu schnell. Viel zu schnell. Der Stuttgarter Stadtteil Sillenbuch war eine ruhige Wohngegend. In den kleinen Sträßchen galt fast überall Tempo 30. Der Tacho des Daimlers zeigte 65. Zorro schaltete einen Gang zurück. Nicht auszudenken, wenn ihn hier eine verirrte Streife anhalten würde.

Ich bin Zorro, hier gilt mein Gesetz.

Der Kommissar lachte lautlos in sich hinein. Es war wieder ein unfrohes Lachen. Langsam bog er in die Friedrich-Zundel-Straße ein. Seit Esther das Haus vor zwölf Jahren von ihren Eltern geerbt hatte, wohnten sie hier.

Damals, bei ihrem Einzug, hatte er keine Ahnung, wer der Namensgeber der Straße war. Aber: Er hatte einen Verdacht. Er erinnerte sich dunkel an Johann Peter Hebels Geschichten vom Zundelheiner und Zundelfrieder, die sie in der Schule lesen mussten. Aber – konnte es tatsächlich wahr sein, dass eine Straße nach notorischen Halsabschneidern benannt wurde? In Stuttgart? Als er Esther mit seinem Verdacht konfrontierte, hatte sie schallend gelacht. Sie wusste natürlich, dass Friedrich Zundel keinesfalls der Spitzbub aus Hebels Schatzkästlein war, sondern ein renommierter Maler, der sich um die Jahrhundertwende in dem damaligen Dorf Sillenbuch ein Landhaus gebaut hatte, in dem er mit der bekannten Kommunistin und Frauenrechtlerin Clara Zetkin zusammenlebte. Illustre Gäste gingen in dem Haus aus und ein. August Bebel, Rosa Luxemburg, sogar Lenin machten mal Station. Und als ob das alles nicht genug Sensation im Dorf gewesen wäre, brauste Friedrich Zundel auch als erster Sillenbucher mit einem Automobil durch die Straßen.

Der rasende Maler, die glühende Kommunistin – Martin Schwertfeger hatte die Vorstellung, dass sie das biedere Sillenbuch einst aufgemischt hatten, irgendwie apart gefunden. Noch heute besaß der Wohnort der Betuchten und Betagten einen irritierend roten Fleck. In der Gorch-Fock-Straße, direkt am Waldrand, lag das Clara-Zetkin-Heim. Ein traditionsreicher Treff der Arbeiterbewegung, vor über hundert Jahren erbaut, um Arbeitern und armen Familien ein bisschen Erholung abseits rauchender Fabrikschlote zu ermöglichen. »Kommunisten-Waldheim« nannten es viele Stuttgarter – bis heute. Was sie nicht davon abhielt, sonntags ganz unideologisch in dem idyllischen Garten unter Schatten spendenden Bäumen bei Kaffee und hausgemachtem Zwetschgenkuchen zu entspannen. Auch Martin Schwertfeger hatte dort häufig und gern mit Esther zusammengesessen. In letzter Zeit allerdings immer seltener. Um genau zu sein: in den vergangenen zwei Jahren überhaupt nicht mehr.

Warum ging ihm das ausgerechnet jetzt durch den Kopf? Er fingerte nach der Fernbedienung. Im Zeitlupentempo fuhr das Garagentor nach oben. Die Digitaluhr des Bordcomputers zeigte 22:18 Uhr. Zorro schaute sich um. Weit und breit niemand zu sehen. Sacht setzte er die C-Klasse in die Garage. Er klaubte seine zerknitterte Zivilkleidung aus der Sporttasche und zog sich um. Zorro wurde wieder Martin Schwertfeger.

Er atmete tief durch. O Gott, was hatte er gemacht? Er hätte die Kollegen rufen müssen. Selbst gleich die ersten Ermittlungen anstellen. Im Zorro-Kostüm? Ja, vielleicht auch das! Stattdessen war er panisch geflüchtet. Er glaubte, dass ihn niemand beobachtet hatte, als er aus der Villa schlich. Aber sicher war er sich nicht.

Seinen Daimler hatte er auf einem Parkplatz am Königsträßle in Degerloch geparkt gehabt. Dort hatte er nun den Miet-BMW zurückgelassen, als er umgestiegen war. Er musste unbedingt morgen daran denken, ihn zur Sixt-Filiale zurückzubringen.

Der Kommissar schaltete sein Handy ein. Elf entgangene Anrufe, die Mobilbox quoll über. »Verdammt, Martin, melde dich!« Die Stimme Gräbers, seines Stellvertreters. »Schwertfeger, wo sind Sie? Melden Sie sich, dringend!« Gudrun Merck, seine Sekretärin. Er schaltete das Gerät ab, hämmerte mit den flachen Händen gegen die Garagenwand. »Scheiße! Scheiße! Scheiße!«

Dann versuchte er sich zu beruhigen. Einen klaren Gedanken zu fassen. Doch sein Kopf war absolut leer.

Martin Schwertfeger schloss das Garagentor ab, wandte sich um – und erstarrte. Im Wohnzimmer brannte Licht! Verdammt, warum war sie nicht beim Canasta? Murphys Gesetz! Ich halt’s nicht aus!

Dabei hatte alles so gut gepasst. Dienstag war sein Saunatag, an dem er sich, wann immer es ging, nach Feierabend mit ein paar Freunden – alles keine Polizisten – im Mineralbad Leuze traf. Schwitzen, schwimmen, schwadronieren: ihr Motto. Esther hatte zur gleichen Zeit den Canasta-Abend mit ihren besten Freundinnen. Ob dabei tatsächlich Karten gespielt oder nur hemmungslos getratscht wurde, wie Schwertfeger vermutete – egal. Entscheidend war, dass das Ganze ein Ritual war, das noch niemals ausgefallen war. Bis auf heute …

»Wo kommst du her?«, fuhr Esther ihn an, kaum dass er die Wohnung betreten hatte. Sie trug einen eleganten beigen Hosenanzug und eine hellblaue Bluse, die er nicht kannte – offenbar wollte sie doch weggehen? Oder war sie schon weg gewesen? Und noch etwas war verändert an ihr. Die Frisur! Sie hatte sich die Haare kurz schneiden lassen. Streichholzkurz. Und sie schienen ihm dunkler als bisher. Kein Grauschleier mehr. Fast schwarz. Fängt sie jetzt an, sich die Haare zu färben?

Ihre schneidende Stimme riss ihn aus seinen Betrachtungen.

»Ich frage dich noch mal: Wo kommst du her?«

»Wieso fragst du? Du weißt doch, was heute ist. Es war die übliche Runde und wir haben …«

»Lüg nicht!«, fuhr sie dazwischen.

»Was heißt hier lügen? Und was soll das überhaupt?« Er bemühte sich, seiner Stimme Stärke zu geben. »Ich frage dich ja auch nicht, warum du heute Abend …«

»Du hast auch nichts zu fragen!«, schnitt sie ihm das Wort ab. »Hier klingelt im Minutentakt das Telefon. Deine Leute sind völlig von der Rolle. Ein Mord, und der Chef ist nicht zu erreichen.«

»Die Handy-Batterie, das Drecksding, war leer.« Er kam sich erbärmlich vor.

»Was oder wer hier ein Drecksding ist, wird sich ja noch zeigen«, sagte Esther. Ihr Tonfall war plötzlich ganz ruhig. Aber ihre Augen verengten sich. »Die Kollegen haben natürlich auch im Leuze angerufen. Sie haben dich ausrufen lassen. Mehrfach.« Sie stand jetzt dicht vor ihm und schaute ihm in die Augen.

Er konnte ihrem Blick nicht standhalten. »Da war ich dann wohl schon weg«, sagte er, drehte sich abrupt um, schulterte seine Sporttasche und verschwand in seinem Schlafzimmer, in dem er seit gut einem Jahr die Nächte von Esther getrennt zu verbringen pflegte.

Es war nicht der erste Streit mit Esther, aber noch nie war er in einer solch schlechten Position gewesen. Doch er hatte keine Zeit darüber nachzudenken. Er wuchtete die Tasche mit den Zorro-Klamotten in eine hintere Schrankecke und wählte Gräbers Nummer.

»Martin, endlich! Wo steckst du?«

»Wo seid ihr?«

»Am Tatort. Swingerclub Exquisit. Das ist …«

»Keine langen Erklärungen. Ich bin in zwanzig Minuten bei euch.«

»Weißt du denn, wo das ist?«

»Natür…« Schwertfeger biss sich auf die Zunge. »Natürlich nicht.«

Er ließ sich die Adresse durchgeben und drückte die »Auflegen«-Taste, bevor Gräber noch mal fragen konnte, wo der Chef bis jetzt eigentlich gewesen war.

4

Es war kurz vor halb zwölf, als sich Martin Schwertfeger dem Swingerclub Exquisit an diesem Abend zum zweiten Mal näherte. Jetzt verwehrte ein rot-weißes Absperrband den Zugang. Zwei Streifenwagen mit rotierendem Blaulicht hatten ein Dutzend Neugierige angelockt, die von einem Streifenpolizisten in Schach gehalten wurden.

»Halt! Hier kommt keiner rein!« Der junge Beamte stellte sich Schwertfeger in den Weg.

»Ich leite hier die Ermittlungen«, blaffte der Kriminalhauptkommissar.

»Und ich bin der Kaiser von China«, versetzte der Uniformierte ungerührt.

Schwertfeger griff nach seinem Dienstausweis. Und griff ins Leere. Die Marke lag daheim in der Schublade. Zorro brauchte keinen Ausweis. Schwertfeger schon. Verflucht, warum kannte ihn dieser Idiot nicht?

»Hören Sie, ich bin Kriminalhauptkommissar Schwertfeger …«

»Und Sie können das sicher auch beweisen.«

»Sicher. Ich habe nur meinen Ausweis …«

»Daheim liegen lassen«, ergänzte die Nachwuchskraft mit süffisantem Grinsen. »Handbuch der guten Ausreden, Kapitel 1. Gut gelernt, aber nicht gut genug. Sie müssen leider draußen bleiben.«

Schwertfeger war baff. Er verfluchte diese Rotznase, er verfluchte Zorro, er verfluchte sich – und musste sich doch eingestehen, dass der Bursche seinen Job professionell machte. Doch für Bewunderung war jetzt kein Raum. Ohne Vorwarnung gab er dem Kollegen einen kräftigen Stoß gegen die Brust, witschte an ihm vorbei – und befand sich Sekundenbruchteile später im freien Fall. Der Beamte hatte blitzartig seinen Fuß ausgefahren, der Chefermittler landete in der Waagrechten und klatschte der Länge nach aufs Kopfsteinpflaster.

»Erst kommt er gar nicht, dann kommt er geflogen, was soll man davon halten?« Ganz unverkennbar: das war die Stimme von Manfred Sperling, dem Gerichtsmediziner. »Der hat mir jetzt noch gefehlt«, dachte Schwertfeger, der mühsam wieder auf die Beine zu kommen versuchte.

»Der Herr Hauptkommissar vor mir auf den Knien, dass ich das noch erleben darf!« Sperling kannte keine Gnade.

Seit Jahren schon waren sich die beiden in herzlicher Abneigung verbunden.

Schwertfeger schätzte, der Pathologe würde heute noch eine Flasche Schampus köpfen, zur Feier des unverhofften Triumphs.

Erst mal aber ging er an seinen Wagen und holte ein Köfferchen aus dem Gepäckraum. Schwertfeger klopfte sich währenddessen Staub und Dreckkrümel von der Hose, registrierte einen breiten Riss auf Kniehöhe und hastete ins Haus.

»Nehmen Sie auch noch die Perücke ab! Und Sie auch!« Günter Gräber führte das Kommando, das war nicht zu überhören. Er drehte sich um.

»Martin! Endlich!« Sein Blick blieb auf dem Loch in Schwertfegers Hose hängen.

»Alle Erklärungen später!«, kam sein Vorgesetzter peinlichen Fragen zuvor. »Wie weit seid ihr?«

»Na ja, Mellenkamp …«, er deutete in Richtung eines teuer gekleideten jungen Mannes, der mit einem älteren Paar an einem Clubtischchen hockte und sein Netbook traktierte, »Mellenkamp und ich sind noch dabei, die Personalien aufzunehmen. Alles potentielle Zeugen. Der Täter ist wohl nicht darunter.«

»Das wisst ihr schon?«

»Ja, der scheint abgehauen zu sein. Der Einzige, der vorzeitig die Fliege gemacht hat. Ein Typ in einem Zorro-Kostüm. Hab schon ’ne Fahndung rausgegeben.«

»Nach Zorro? Du glaubst, der läuft immer noch in dem Kostüm rum?«

Gräber zuckte die Achseln.

»Und überhaupt«, fuhr Schwertfeger fort, »ich bin strikt gegen voreilige Festlegungen. Wir wissen nicht, warum der Mann gegangen ist. Der Täter kann auch noch unter den Gästen hier sein.«

»Theoretisch ja.« Gräber schien wenig überzeugt.

Schwertfeger seufzte und schaute sich um. Die korsettbewehrten Mätressen und die leicht geschürzten Prinzessinnen, die geilen Kardinäle und die Edelmänner in Latex hatten sich wieder in Bankangestellte, Hausfrauen, Rechtsanwälte und Studienräte zurückverwandelt. Nicht alle zu ihrem Vorteil, befand der Mann, der Zorro war.

»Sen Sie au ’n Kriminaler?« Ein kleiner dicklicher Mann um die fünfzig, die schwarzen Haare zu einem Zopf zusammengebunden, kam auf Schwertfeger zu. Die Stimme kannte er doch! Louis Quatorze trug inzwischen eine eng anliegende weiße Jeans und ein dunkelrotes Netzhemd.

Ob er auch seine Stimme wieder erkennen würde? Schwertfeger überlegte fieberhaft. Er hatte nur zwei, drei Worte mit ihm gewechselt. Trotzdem versuchte er seiner Stimme eine dezidierte Bass-Note zu geben.

»Ich bin Hauptkommissar Schwertfeger. Ich leite die polizeilichen Ermittlungen.«

»Angenehm, Schmälzle. Sigurd Schmälzle. Ich leite des Lokal hier. Solang’s des noch gibt. Des Ganze isch eine Kataschtrophe. Glaubet Sie, Sie könnet unsre Gäschte einigermaßen diskret und unser Haus … ich mein, die Presse wird sich draufstürzen …«

»Und das werden wir auch nicht verhindern können«, fuhr ihm Schwertfeger in die Parade. »Wer hat denn die Leiche gefunden, und wann?«

»Ich selber. Ich wollt grad zwei Gäschten unser SM-Studio zeigen, da isch er am Boden glegen … schrecklich!«

»Führen Sie mich bitte hin!«

Auf dem Flur kamen ihnen Sperling und seine Leute entgegen. »Todeszeitpunkt zwischen acht und neun. Strangulation. Tod durch Ersticken. Weiteres im Obduktionsbericht. Vergnüglichen Abend noch.« Sperling rauschte vorbei.

Schwertfeger, Gräber und Schmälzle betraten die Folterkammer. Der Hauptkommissar warf einen flüchtigen Blick auf den Toten.

»Wissen Sie, wer das ist?«, fragte Schwertfeger.

»Ja«, sagte Schmälzle leise. »Robert Mutius.«

»Kennen Sie denn alle Ihre Gäste?«

»Nein. Viele wollet auch unerkannt bleiben und melden sich mit Pseudonym an. Aber Mutius war Stammgascht, fascht ein Freund.« Schmälzle schluckte. Er warf aus den Augenwinkeln einen scheuen Blick auf den Toten.

»Hatte er öfter … Kontakt mit anderen Gästen?«

Der Exquisit-Chef zögerte. »Also … ja, zu einer Frau, besser g’sagt …«

»Ja?« Schwertfeger lächelte ihm aufmunternd zu.

»Also ich weiß net. Diskretion isch meine Gschäftsgrundlage.«

»Und meine ist es, einen Mörder hinter Gitter zu bringen. Und dabei werden Sie mir helfen. Ich bin mir sicher.« Schwertfegers Stimmlage hatte übergangslos von sanft zu schneidend gewechselt.

»Natürlich.« Schmälzle senkte den Blick. »Es isch das Ehepaar Michaelis.«

»Das Ehepaar?«

»Ja, warum net?«

»Ein flotter Dreier also«, mischte sich Gräber ein, der bislang geschwiegen hatte.

»Isch ja net strafbar«, brummte Schmälzle.

Schwertfeger wurde etwas ungeduldig. »Mich interessieren eigentlich nur zwei Dinge: Steht das Paar auf SM – und war es heute Abend anwesend?«

»Zweimal ja«, bestätigte Schmälzle.

»Na, dann werden wir uns die beiden mal ansehen«, sagte Schwertfeger und eilte aus dem Raum.

»Also eins, Martin«, meinte Gräber, der ihm folgte, »eins wundert mich ja ein bisschen: Du kannst doch sonst nie lang genug am Tatort sein und dir jede Einzelheit einprägen, und heute scheint dich das kaum zu interessieren.«

Stimmt. Ich muss verdammt noch mal aufpassen.

»Ich geh nachher noch mal hin«, versicherte er. »Jetzt schnapp ich mir erst mal die Michaelis-Truppe.«

Er ging hinüber zu Mellenkamp. »Haben Sie schon mit einem Ehepaar Michaelis gesprochen?«

»Ja, vor zehn Minuten vielleicht.«

»Und, wo sind die jetzt?«

»Gegangen.«

»Gegangen? Das sind wichtige Zeugen! Vielleicht mehr! Wie können Sie die ziehen lassen?«

»Ich kann nicht hundert Leute hier festhalten. Ich nehm hier im Akkord die Personalien auf, frage, ob jemand was Verdächtiges bemerkt hat, und damit hat sich’s. Alles Weitere muss späteren Vernehmungen vorbehalten sein. Außerdem ist der mutmaßliche Täter eh schon auf der Flucht.«

»Sie reden von Zorro?«

»Ja, der fehlt hier, und das lässt ja vermuten …«

»Vermuten! Vermuten! Wir ermitteln hier Fakten, verdammt noch mal!«

Mellenkamp hob pikiert die Augenbrauen.

5

»Arsch vom Fuß! Fuß vom Sitz!« In schneidendem Kasernenhofton bellte Gerhard Bausch sein Kommando durch den Raum. Dabei grinste er maliziös.

Sara Blohm zuckte kurz zusammen, tat dann aber sofort, wie ihr geheißen. Sie presste die Hände auf die Armlehnen des Bürosessels, hievte ihren Körper ein Stück weit hoch, zog ihren linken Fuß unterm Hintern hervor und streckte das bis dato angewinkelte Bein kräftig aus. Sie spürte ein schmerzhaftes Ziehen im Knie und ließ sich wieder sacht auf den Sitz zurückgleiten.

Eine saublöde Angewohnheit. Während des Studiums hatte sie damit angefangen. Sie hatte den Eindruck gehabt, sich so besser konzentrieren zu können. Und irgendwann war ihr die seltsame Sitzhaltung in Fleisch und Blut übergegangen.

Sie nahm sie meist erst wahr, wenn ihr Fuß eingeschlafen war.

Ihr Rücken hatte schon vor Jahren heftig gegen die Tortur protestiert. Der Orthopäde hatte sie in die AOK-Rückenschule geschickt. Seitdem wusste sie, wie man richtig sitzt. Leider haperte es immer wieder mit der Praxis. Schließlich hatte sie ihrem Zimmerkollegen Gerhard Bausch die Vollmacht erteilt, sie »mit verbaler oder schlimmstenfalls körperlicher Gewalt« zu disziplinieren, wenn er ihrer sitztechnischen Verfehlung ansichtig wurde.

Bausch, Anfang vierzig, im Wirtschaftsressort zuständig für die lokalen Kreditinstitute, nickte zufrieden, als Sara in vorbildlicher Rückenschul-Haltung auf ihrem Stuhl saß. Sie deutete mit ihrer rechten Hand einen militärischen Gruß an und klickte sich dann weiter durch ihre E-Mails.

Wieder mal würde sie das freundliche Angebot zur Penisverlängerung nicht annehmen. Auch an der Potenzcreme Manpower hatte sie nach wie vor kein gesteigertes Interesse. »Möchte mal wissen, wo das Haus den Spam-Filter her hat«, seufzte sie.

»Vom Flohmarkt, mein Verdacht seit langem.« Gerhard Bausch hatte den Ball aufgenommen und strahlte sie an. Der Kollege amüsierte sich über sein Witzchen.

Normalerweise pflegte Sara die müden Scherze ihres Redaktionskollegen zu ignorieren. Heute lächelte sie sogar ein bisschen. »Vielleicht gar kein so abwegiger Gedanke. Du erinnerst dich an Meyer-Helbigs Rede.« Sie ahmte den näselnden Tonfall des neuen Verlagschefs nach: »Wir müssen sparen, sparen, sparen. Sonst kann ich für nichts mehr garantieren.«

Das war sein letzter Satz auf der Betriebsversammlung am Donnerstag gewesen. Seitdem war Feuer unterm Dach.

Die Auflage der Stuttgarter Rundschau war in den vergangenen zwei Jahren um zwölf Prozent eingebrochen. Die Anzeigenerlöse um fast zwanzig Prozent. Währenddessen hatte das konkurrierende Stuttgarter Tagblatt sogar leicht zulegen können.

»Die sind einfach näher dran am Leser«, hatte Meyer-Helbig den Kollegen auf der Betriebsversammlung einzuschärfen versucht. »Fehlt nur noch die Augenhöhe«, hatte Sara ihrem Sitznachbarn Valentin Fauser zugeraunt. Der Mann vom Feuilleton nickte nur.

»Das Wichtigste ist«, rief Meyer-Helbig tatsächlich wie auf Kommando, »unser Blatt muss mit dem Leser auf Augenhöhe sein.« Er stieß die rechte Faust nach vorn wie ein Boxer.

»Genau: die Faust aufs Auge und die Leute mit Boulevard zumüllen«, knurrte Fauser.

Sara Blohm saß in sich zusammengesunken und schrak plötzlich hoch.

»Ich könnte mir zum Beispiel vorstellen«, schlug der Verlagschef gerade vor, »dass unser Wirtschaftsteil auch mal die menschliche Seite unserer Firmenbosse beleuchtet. Welche Hobbys pflegen sie, wie erziehen sie ihre Kinder, wie machen sie Urlaub, in welchen Restaurants essen sie? Muss es immer das Sternelokal sein – oder futtern … sie lieber Bratkartoffeln wie bei Muttern?«

Meyer-Helbig hatte nach »futtern« eine Pause gemacht, so dass ein kleiner Reim entstand. Der Verlagschef schaute erwartungsvoll in den Saal. In den vorderen Reihen gab es tatsächlich ein paar wohlwollende Lacher.

»Tusch, Narrhallamarsch!«, kommentierte Fauser leise.

»Ich fass es nicht!« Sara Blohm schüttelte den Kopf. Doch Meyer-Helbigs Lehrstunde war noch nicht zu Ende.

»Ich sage Ihnen: Ohne Emotion keine Information! Wir müssen den Leser da packen, wo er am empfindlichsten ist. Und das ist nun mal, ich sage das ohne Umschweife« – er schlug sich an die Brust – »das ist nun mal das Herz!«

»Du mich auch«, murmelte Sara, während spärlicher Beifall den Schluss der Rede begleitete. Und an Fauser gewandt: »Der wird seine Emotions-Story bekommen, aber ein bisschen anders, als er sich das vorstellt.«