Maskenhandlungen - Malte S. Sembten - E-Book

Maskenhandlungen E-Book

Malte S. Sembten

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Beschreibung

Gute Horrorautoren sind dünn gesät. Gute deutschsprachige Horrorautoren gleichen der sprichwörtlichen Stecknadel im Heuhaufen. Malte S. Sembten ist eine Klasse für sich. In seinem Vorwort schreibt Hardy Kettlitz: "Es stimmt traurig, dass die Werke eines so außergewöhnlich guten Erzählers wie Malte S. Sembten bisher nur in kleinen Auflagen erschienen sind und nur dem inneren Kreis der deutschen Phantastik-Genießer zugänglich waren. Vielleicht ändert sich das mit diesem Buch." Der vorliegende Auswahlband enthält in chronologischer Reihenfolge 14 herausragende Erzählungen Malte S. Sembtens aus den Jahren 1993 bis 2010, durchgehend illustriert von Fabian Fröhlich.

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Ähnliche


Die besten Horrorgeschichten von

Malte S. Sembten

MASKENHANDLUNGEN

Herausgegeben von Hardy Kettlitz

Illustriert von Fabian Fröhlich

Impressum

Maskenhandlungen

Die besten Horror-Geschichten

von Malte S. Sembten

Sämtliche Erzählungen wurden vom Autor

für die vorliegende Neuausgabe durchgesehen.

Eine ausführliche Bibliographie

findet sich am Ende des Buches.

© 2013 by Malte S. Sembten

Mit freundlicher Genehmigung des Autors

© der Illustrationen 2013 by Fabian Fröhlich

Mit freundlicher Genehmigung des Künstlers

© dieser Ausgabe 2013 by Golkonda Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Redaktion: Hannes Riffel

Korrektorat: Robert Schekulin

Gestaltung: s.BENeš [www.benswerk.de]

Satz und E-Book-Erstellung: Hardy Kettlitz

Golkonda Verlag

Charlottenstraße 36

12683 Berlin

Kontakt: [email protected]

www.golkonda-verlag.de

ISBN: 978-3-942396-89-9 (Druckausgabe)

ISBN: 978-3-942396-90-5 (E-Book)

Inhalt

Titel

Impressum

Vorwort

H

Die armen Toten

Das Sandmädchen

Blind Date

Telefonspiele

Der Hautobiograph vom Grosvenor Square

Maskenhandlungen

Der Tag des Anthrax

Die Krakelkult-Kampagne

Memory-TX

Der Spukpalast

Die rote Kammer

Brandopfer

Der Problemopa

Bibliographie

Danksagung

Biogramme

Weitere Bücher bei Golkonda

Vorwort

Viele Autoren, insbesondere auf dem Gebiet der phantastischen Literatur, werden in Rezensionen oder auch in Werbetexten mit US-amerikanischen Starautoren verglichen. Da heißt es oft, der vorgestellte Autor würde »wie« oder »besser als« schreiben. Ich bin verleitet zu behaupten, dass das auf Malte S. Sembten nicht zutrifft, denn Sembten schreibt wie Sembten – womit gemeint ist, dass er niemanden nachahmt, sondern seine ganz eigene Art zu erzählen gefunden hat.

Doch halt: Stimmt das überhaupt? Betrachtet man die Erzählungen genauer, so stellt man sehr schnell fest, dass Sembten eben nicht wie Sembten schreibt und dass sich seine Geschichten untereinander gar nicht ähneln. Denn der Autor beherrscht die Kunst, zu jedem Stoff das angemessene Tempo und den passenden Stil zu finden. Sollte man das nicht eigentlich von jedem Autor erwarten? Sicherlich sollte man das, aber nicht jedem Autor gelingt dies, und Sembten ist ein Schriftsteller, von dem die meisten etwas lernen könnten. Zum Beispiel, dass man auf alles Überflüssige verzichten sollte, was nicht zur eigentlichen Handlung, zur Zeichnung der Figuren oder zum Aufbau der Atmosphäre gehört.

Nicht umsonst wird Sembten auch von seinen Autorenkollegen immer wieder gelobt, wie zum Beispiel vom nicht weniger begabten Michael Siefener, der in einem Interview in der Zeitschrift Arcana befragt wurde, welche Autoren er am liebsten liest, und darauf antwortete: »… und alles von Malte S. Sembten, den ich für den bedeutendsten zeitgenössischen Phantasten deutscher Zunge halte.«

Der 1965 in Marburg/Lahn geborene Malte S. Sembten war zunächst mehr vom Bild als vom Text fasziniert. So studierte er Werbegrafik an der Hochschule für Bildende Künste in Braunschweig. Nachdem er in den achtziger Jahren das Horror- und Fantasyfandom entdeckte, boten sich erste Gelegenheiten, seine Kreativität zu entfalten. Seine ersten Veröffentlichungen waren Kurztexte und Illustrationen in Fanzines und Vereinszeitschriften, bis 1990 schließlich seine erste Erzählung in einer Anthologie erschien und er sich hauptsächlich auf das Schreiben verlegte.

In den gut zwei Jahrzehnten, die seither verstrichen sind, hat Malte S. Sembten mehr als sechzig Erzählungen in Zeitschriften, Anthologien und Fanzines veröffentlicht, von denen rund zwei Drittel in den fünf Erzählungsbänden Hippokratische Gesichter (1996), Variationen in Nachtgrau und Fleischrot (1997), Die ein böses Ende finden (2000), Morbus Sembten (2007) und Dhormenghruul (2012) zu finden sind. Außergewöhnlich ist auch die Novelle Second Hand Nightmares1 im Verlag Lindenstruth2, wobei Sembten den zahlreichen Fallstricken entgeht, die das von ihm gewählte Thema für den Autor auslegt. Darüber hinaus hat er auch Anthologien herausgegeben: Der Agnostische Saal (1998) und Der Agnostische Saal 2 (1999, beide zusammen mit Michael Marrak) sowie M@usetot (2002) und M@usetot 2.0 (2003), die ebenso wie die Erzählungsbände durchgehend gute Kritiken erhielten.

Es stimmt traurig, dass die Werke eines so außergewöhnlich guten Erzählers wie Malte S. Sembten bisher nur in kleinen Auflagen erschienen sind und nur dem inneren Kreis der deutschen Phantastik-Genießer zugänglich waren. Vielleicht ändert sich das mit diesem Buch.

Zum ersten Mal traf ich auf den Namen Malte S. Sembten, als mir Michael Marrak zusammen mit einem Empfehlungsschreiben einen ganzen Stapel Computerausdrucke mit Erzählungen seines Freundes Malte schickte. Das muss 1996 gewesen sein. Zur damaligen Zeit betreute ich die Textredaktion des Science-Fiction-Magazins Alien Contact und war für die Auswahl der Erzählungen verantwortlich. Da es sich gleich um mehrere Geschichten handelte, wanderten die Ausdrucke auf den Stapel der ungelesenen Manuskripte, der zur damaligen Zeit relativ hoch war. Ich erhielt mehr als zehnmal so viele Texte, wie wir überhaupt drucken konnten. Kurz darauf zog ich in eine Wohnung am anderen Ende Berlins. Wie es der Zufall wollte, verschwanden ausgerechnet Malte S. Sembtens Texte in den Wirren des Umzugs mit einigen tausend Büchern, Magazinen und anderem bedruckten Papier. Nur wenige Monate später erhielt ich von Frank Festa per Post das erste Buch von Sembten, Hippokratische Gesichter, und war begeistert. Als sich die Manuskripte endlich wieder anfanden, musste ich feststellen, dass die am besten für Alien Contact geeignete Geschichte, nämlich »Blind Date«, gerade in Friedel Wahrens Anthologie Isaac Asimov’s Science Fiction Magazin 50 beim Heyne-Verlag erschienen war. Und prompt wurde Malte S. Sembten dafür mit dem Kurd-Laßwitz-Preis für die beste Kurzgeschichte des Jahres ausgezeichnet. Seither habe ich Sembtens Veröffentlichungen mit großer Aufmerksamkeit und Begeisterung verfolgt und die meisten seiner Bücher rezensiert. Ich hatte es immer bedauert, keine Erzählung von ihm herausgegeben zu haben, und bin deshalb nun umso glücklicher, zu dieser hier vorliegenden Auswahl meinen Beitrag leisten zu dürfen.

Es war nicht einfach, eine Auswahl der besten Geschichten zu treffen, und zweifellos bezeichnet jeder Leser einen anderen Text als »beste Geschichte«. Die nachfolgenden, chronologisch nach dem Zeitpunkt ihres Entstehens angeordneten vierzehn Erzählungen sind über einen Zeitraum von fast zwanzig Jahren entstanden und zeigen Sembtens Vielseitigkeit sowohl auf dem Gebiet des klassischen als auch des modernen Horrors. Jeder Geschichte ist eine Nachbemerkung des Verfassers angehängt, die Aufschluss über die Umstände des Entstehens gibt. Aber nun will ich Sie nicht weiter aufhalten – entscheiden Sie selbst, welches die beste Geschichte von Malte S. Sembten ist.

Hardy Kettlitz

1 erstmals 1998 bei Medusenblut erschienen

2 2009 als Sammlerausgabe neu aufgelegt

H

»Hör mal«, sagte Tina. »Ich muss dir etwas Wichtiges sagen …«

Kleiber horchte auf. Was ihn stutzig machte, war nicht Tinas Ankündigung, sondern ihre Stimme. Der pathetische Tonfall, mit dem sie sprach.

Tina hatte den Kopf in seine Richtung gedreht. Sie lächelte. Ihre Augen strahlten. Und sie blickte so … zärtlich auf ihn.

Kleiber fröstelte. Er fand es angenehm, die ›Zigarette danach‹ entspannt und schweigend zu genießen. Aber Frauen fingen genau dann an zu labern. Schon die ganz jungen folgten diesem Drang.

Doch diesmal, das spürte Kleiber deutlich, würde es schlimmer werden als sonst.

Er blies blauen Qualm zur Zimmerdecke empor. Wie ein Kessel, dachte er, der im Voraus Dampf ablässt.

»Sieh mich an!«, verlangte Tina.

Kleiber drückte die Kippe an der Bettkante aus und ließ sie auf den Teppich fallen. Er drehte sich zu Tina um und strich mit den Fingerspitzen über die Linie ihres Beckens, wölbte die Handfläche auf der Rundung ihres Pos.

Tina rollte sich auf den Rücken, sodass seine Hand sich in der warmen Bucht zwischen ihren Schenkeln wiederfand. Er ließ seine Finger ihren Bauch hochkrabbeln und sanft auf ihren Brüsten kreisen.

»Also?« Er blickte auf ihre Mädchenbrüste, deren Spitzen sich unter seiner Berührung versteiften.

Sie schob seine Hand weg. »Mich sollst du anseh’n!«

Kleiber neigte sich nach vorn und kitzelte eine Brustspitze mit der Zunge.

Mit einem energischen Ruck stemmte Tina sich in eine sitzende Position und zog das Bettlaken über die angewinkelten Knie bis ans Kinn: »Guck nicht so belämmert! Es geht um unsere Zukunft!«

Autsch!, dachte Kleiber. Wie ging der Spruch nochmal? Erstens kommt es schlimmer, und zweitens als man denkt.

»Nun denn.« Er lehnte sich ins Kissen zurück. »Schone den alten Mann nicht«, murmelte er und schloss die Augen.

Vier Monate lang war die Sache wunderbar gelaufen. Die kleine Tina mit ihrem glatten Alabasterarsch, dem milchfarbenen Backfischgesicht, den geröteten Wangen und den blonden Locken war eine jener Früchte, die man pflücken musste, ehe sie zur vollen Reife gelangten. Man benötigte allerdings den richtigen Gusto und genügend Schneid, um zum rechten Zeitpunkt zuzugreifen. Tina war süße sechzehn und Kleiber ihr Klassenlehrer.

Tina war nicht die erste Schülerin in Kleibers beruflicher Karriere, der er horizontale Nachhilfestunden erteilte. Aber sie war die einzige bisher, die diese speziellen Lektionen nicht in Anspruch nahm, um ihre Noten zu verbessern. Denn Tina war eine der besten Schülerinnen ihrer Jahrgangsstufe.

Was Tina ihrerseits an ihm fand – was all die Teenie-Nymphchen, wie er sich schmeichelte, an ihm zu finden schienen –, war Kleiber nicht ganz klar. Er vermutete, dass junge Mädchen nicht anders waren als ihre Mütter: Sie reagierten auf die Ausdünstung von Leitwölfen. Mochte der Zeitgeist nur immer seine Phrasen dreschen. Softies waren die Verlierer, und wenn erst Hemmungen und Hüllen fielen, unterwarfen neun von zehn weiblichen Wesen sich willig der männlichen Raubtiernatur.

Was nicht ausschloss, dass auch mal ein seelenvoller Blick oder eine Prise Süßholzgeraspel zum Ziel führen konnten.

An den Moment, als Cupidos Pfeil ihm die Eier durchbohrt hatte, erinnerte Kleiber sich genau. Er hatte benotete Deutschaufsätze ausgeteilt. Tina durfte ihre Einser-Arbeit vorlesen. Siegesbewusst, aber mit genau dem richtigen Maß an kokettem Lampenfieber war sie nach vorn ans Lehrerpult getreten. Sie hatte auf Kleibers Stuhl Platz genommen und das Heft aufgeschlagen.

Dann hatte sie die Brille abgesetzt und sich mit einer Kopfbewegung das Haar über die Schulter geworfen. Kleiber war zumute gewesen, als würde ihm im selben Moment eine Brille auf die Nase geschoben.

Eine Zauberbrille, die ihn schlagartig von einem Blinden in einen Sehenden verwandelte.

Erstmals sah er Tinas Gesicht ohne die Gläser, dick wie Flaschenböden, und ohne das unförmige Plastikgestell. Und plötzlich stellte er sich ihren Körper ohne die schlabbrigen Klamotten vor.

Wie die Begutachtung ausgefallen war, verriet das Lächeln, das er ihr schenkte, als sie sich wieder mit der Streber-Brille tarnte und zu ihrem Platz zurückging.

Später, an einem privateren Ort, hatte sie ihren mit dem Ablegen der Brille begonnenen Entkleidungsakt zum Abschluss gebracht. Der BH war gefallen und das Höschen auf dem Teppich gelandet. Die mollige Musterschülerin hatte sich gehäutet – und herausgekommen war Kleibers feuchtester Traum.

Kleiber blinzelte. »Hast du was gesagt?«

Tina ließ das Laken, mit dem sie sich bedeckte, los und fasste nach Kleibers Hand. Sie legte sie auf ihren warmen, schweißklammen Bauch und hielt sie dort fest.

»Ich bin schwanger«, wiederholte sie.

Kleiber entriss ihr die Hand.

Als hätte man sie geohrfeigt, drang ein kleiner, verletzter Schrei aus Tinas Mund.

»Hast du erwartet, dass ich in Jubel ausbreche?«, knurrte Kleiber. »Scheiße.« Er suchte nach seinen Zigaretten. Schließlich fand er die zerknitterte Packung in den Falten des Bettlakens. »Bist du sicher?«

Fahrig fingerte er eine neue Zigarette aus der Packung. Während er den Filter zwischen seine Lippen schob, sah er aus dem Augenwinkel zu Tina hinüber.

Mein Gott, die sieht ja plötzlich aus wie ihre eigene Mutter, dachte er angewidert. Um Jahre gealtert. Sein Wegwerffeuerzeug weigerte sich anzuspringen.

»Ich war beim Arzt«, antwortete Tina mit ausdrucksloser Stimme.

»Scheiße!«, wiederholte Kleiber.

Die hervorspringende Flamme versengte Kleibers Daumenkuppe.

»Verdammte Scheiße!«

Er schnaubte Nikotinwolken aus den Nasenlöchern.

»Hast du rumgevögelt?«

»Nur mit dir!«, schniefte sie, gegen die Tränen ankämpfend. »Ich l-i-e-b-e dich!«

Die Tränen siegten und rannen ihr über das schmerzlich verzogene Gesicht. Jetzt wirkte sie nicht nur alt, sondern auch noch hässlich.

Kleiber wandte den Blick ab. Wie war es nur möglich gewesen, dass er sich dermaßen hatte reinlegen lassen? Eingedenk seiner Erfahrungen hätte er niemals geargwöhnt, dass in modernen Großstadt-Habitaten und von der Wissenschaft bisher unentdeckt, eine solche Spezies existierte: Schulgören, die, kaum fickgeil geworden, Schwangerschaft, Kindersegen und Familienglück begehrten.

»Gratuliere«, sagte Kleiber. »Ich hab dir vertraut. Und du hast mich lehrbuchmäßig rangekriegt.«

»Was soll das heißen?« Tina hatte sich schneller gefasst, als er ihr zugetraut hatte. Von den Tränen zeugten nur noch glitzernde Spuren. Schneckenschleim, dachte Kleiber. Sie schluckte gequält, als wären die Schnecken ihr über die Wangen in den Rachen gekrochen: »Du hast schließlich auf ›ohne Gummi‹ bestanden!«

»Du hast behauptet, du nimmst die Pille.«

»Hab ich ja getan.«

»Dann hättest du auch die Gebrauchsanweisung lesen sollen.«

Tina legte die Stirn auf die angezogenen Knie und begann wieder zu weinen.

Kleiber rauchte die Zigarette zu Ende. Dann sagte er ruhig: »Es war ja wohl kaum zu erwarten, dass ich einen Freudentanz aufführe und dir auf Knien einen Antrag mache. Ich bin ein verheirateter Mann. Meine Frau erwartet unser zweites Kind. Meine Beförderung zum Oberstudienrat steht in Aussicht …«

Tina hielt weiterhin die Arme um die Waden geschlungen und den Kopf gesenkt. Ihre Schultern bebten.

Kleiber stand auf. »Du wirst das Balg wegmachen, verstehst du mich?«, sagte er und verschwand auf der Toilette.

Als er wieder zurückkam, hatte Tina ihre Haltung nicht verändert. Aber ihre Schultern waren zur Ruhe gekommen.

Kleiber ließ sich neben ihr auf der Bettkante nieder. Er streichelte ihr über das Haar. »Ich suche einen Arzt aus, der keine Fragen stellt«, sprach er besänftigend. »Hinterher erscheint uns alles wie ein böser Traum.«

Zusammengekrümmt, die Stirn auf die angezogenen Knie gesenkt, flüsterte Tina, als redete sie zu ihrem Schoß und ihrem Bauch: »Nein. Ich werde das Kind bekommen.«

Er fuhr fort, ihr übers Haar zu streichen. Kein Mensch wusste etwas von seiner intimen Beziehung zu dem Gör. Niemand wusste von dem Autobahnmotel. Sie beide hatten zu Hause von Anfang an glaubwürdige Vorwände für die Ausflüge genannt. Auch sonst hatten sie auf Heimlichkeit geachtet. Tina trampte jedes Mal zu einer Autobahnauffahrt, wo er sie auflas. In die Gästebücher der Motels schrieben sie sich unter falschen Namen ein. Er hatte immer außer Sicht geparkt, damit niemand sich an seinen Wagen erinnerte.

Er streichelte noch immer ihr Haar. Tina wandte ihm das Gesicht zu. Es war jetzt bleich. Vom Weinen gerötet waren nur noch Nasenflügel und Augenlider. Ihre feuchten Augen glitzerten dunkel.

Er strich ihr das wirre Haar aus der Stirn.

Sie zog den Rotz hoch. »Ich werde zu meinen Eltern gehen und alles erzählen. Und das Kind bekommen.«

Seine Hand glitt auf ihre Wange, und sein Daumen wischte Tränenspuren fort. Er fuhr an ihrem Kinn entlang, spürte das Pochen ihrer Halsschlagader.

Nicht doch, Kleines. Alles wird gut. Du weißt ja, dass du einen gefühlsduseligen Esel an der Angel hast, der alt genug ist, um dir den Babyarsch zu versohlen, und närrisch genug, um wegen einer frühreifen Lolita seine Karriere und seine Familie aufzugeben …

Er legte alle fünf Finger um ihren Hals und drückte mit der geballten Kraft seiner Muskeln zu. Auch die zweite Hand schloss sich um Tinas Gurgel. In den ersten Sekunden musste er regelrecht kämpfen, um ihren sich aufbäumenden Körper in die Kissen zu pressen.

Als er schließlich losließ, war ihr Gesicht dunkelviolett angelaufen, und ihre vorquellenden Augen wirkten größer, als selbst die dicksten Brillengläser es jemals bewirken könnten.

Schwer atmend stand Kleiber neben dem Motelbett und knetete seine schmerzenden Armmuskeln. Trotz der entstellten Züge entdeckte er zu seiner Verwunderung etwas ungemein Erotisierendes in dem weißen, leblos hingestreckten Mädchenkörper. Zum vierten Mal in sieben Stunden spürte er, wie das Verlangen in ihm aufstieg. Er formte eine Faust um sein Geschlecht. Besaß er eine pathologische Veranlagung? Nein, das war abwegig! Schließlich hatte er, während er der Kleinen die Luft abdrückte, noch keine Erektion gehabt.

Noch nie hatte Kleiber sich derartig bieder an die Geschwindigkeitsbegrenzungen gehalten. Die Autobahn füllte sich bereits. Fahrig streifte er seine Zigarette am aufgeklappten Aschenbecher ab und merkte nicht, dass eine Wolke verbrannten Tabaks auf die Mittelkonsole rieselte.

Tina fuhr im Kofferraum mit. Er hatte versucht, den schlaffen Körper in ihre Klamotten zu zwängen, aber erfolglos. Stattdessen hatte er die Leiche einfach mit Tinas Anorak bedeckt. Noch vor Tagesanbruch hatte er sein Auto mit ausgeschalteten Lichtern auf den Motelparkplatz gefahren und die Tote dem Reserverad beigesellt. Anschließend war er in das gemietete Zimmer zurückgekehrt und hatte Tinas Sachen zusammengeklaubt. Den Kleiderhaufen, die Toilettenartikel, die Brille und die Armbanduhr hatte er in ihren mit Reflektoren beklebten Rucksack gestopft. Tinas Sneaker hatten noch in seine Sporttasche gepasst. Zum Schluss hatte er sich auf die Bettkante gehockt und eine halbe Schachtel HB aufgeraucht. Als er endlich losfuhr, graute schon der Morgen.

Obwohl Kleiber die Geschehnisse vor seinem geistigen Auge wieder und wieder abspulte, konnte er auch im Nachhinein keinen Fallstrick entdecken. Falls weiterhin alles so glatt ablief wie bisher, würde die kleine Tina bald zu den glücklich bestandenen Abenteuern seines Lebens gehören. Selbst wenn es so weit kommen sollte, dass seine Affäre mit Tina aufflog, würde man ihm nicht nachweisen können, etwas mit ihrem Verschwinden zu tun zu haben. Seine Aussage wäre unwiderlegbar: Er habe die Nacht mit dem Mädchen verbracht und es hinterher wie immer bis zur Autobahnauffahrt mitgenommen, damit es den Rest des Heimwegs per Anhalter zurücklegen konnte. Er würde Anteilnahme bekunden und die Befürchtung äußern, dass ausgerechnet dieses eine Mal der Falsche angehalten habe. Er selbst habe das Mädchen immer wieder vor den Gefahren des Trampens gewarnt. Aber Tina habe zu jenen sorglos-lebenshungrigen jungen Dingern gehört, die alle Warnungen in der Überzeugung verwarfen, ihnen könne niemals etwas Böses begegnen …

Kleiber verlor nun doch die Geduld mit dem Tempo, das auf der Kriechspur herrschte. Er hatte das Heck des Schwertransporters jetzt lange genug bewundert. Er scherte links aus. Doch genau in diesem Moment setzte ein leichtes Gefälle ein, und der Schwertransporter zog ebenfalls auf die Überholspur. Kleber bremste. Jetzt zockelte er wieder mit 80 km/h dahin, die blöde Aufschrift vor der Nase:

FRITZ FABER & SÖHNE – DIE SPEDITION MIT SPEEEED.

Ruhe bewahren!, mahnte er sich. Wo war er mit seinen Überlegungen stehen geblieben?

Das Böse …!

Verkörperte er selbst jenes Böse, das sorglosen jungen Dingern begegnete? Kam dieser Frage philosophische Bedeutung zu? Er erinnerte sich an den Satz aus einem Horrorfilm, den er sich aus irgendeinem Grund gemerkt hatte: Was wissen die Guten? Doch nur das, was sie das Böse durch seine Exzesse lehrt!

Soweit es Tinas Schicksal betraf, sollten die Guten am besten unwissend bleiben. Daher überlegte Kleiber fieberhaft, welche Möglichkeiten es gab, Tinas Leiche auf Nimmerwiedersehen verschwinden zu lassen.

Er dachte nach und passte nicht auf.

Plötzlich starrten ihm zwei rote Augen ins Gesicht. Die Bremsleuchten des Schwertransporters. Pressluftbremsen kreischten, und eine Stahlwand schoss heran.

Er trat aufs Bremspedal, aber es war zu spät.

Kleiber kniff die Augen zu.

Doch auf der Innenseite seiner Lider lief ein Film ab, ohne Ton und in pathetischer Zeitlupe: Der über den Asphalt schlitternde Lastzug knickte in der Mitte durch und wälzte sich wie ein waidwundes Riesentier langsam auf die Seite. Die Schnauze des Audis küsste die lotrecht aufragende Stoßstange des Lasters, und das Blech der Motorhaube kräuselte sich wie Lippen, die etwas Saures schmecken.

Kleiber sah den Tod.

Er riss die Augen wieder auf.

Sein Auto war unbeschädigt! Alles war nur eine Halluzination gewesen …

Im letzten Sekundenbruchteil musste er den Wagen um den Laster herumgelenkt haben. Eine Reflexreaktion, die sich unterhalb der Bewusstseinsebene abgespielt hatte.

Sein Herz bockte noch immer wie ein Wildpferd, und ein Adrenalin-Tsunami überschwemmte seinen Körper. Erst allmählich lockerten sich seine ums Lenkrad gekrampften Finger, und die Haut über seinen Knöcheln nahm wieder Farbe an. Er sah in den Rückspiegel. Hinter ihm war die Autobahn wie leergefegt. Mit zitternden Fingern fasste er nach dem Drehknopf des Radios. Beinahe hätte er den Blechsarg mit Tina geteilt. Sicherlich würde der Verkehrsfunk Einzelheiten über den Unfall bringen, dem er eben um Haaresbreite entronnen war.

Er ließ die Radionadel über sämtliche Frequenzen wandern. Dennoch erwischte er nur schrille Pfeiflaute und ein knisterndes Geräusch, das sich wie abbrennende Wunderkerzen anhörte. Kleiber wollte schon aufgeben (seine Dachantenne musste bei dem Ausweichmanöver etwas abbekommen haben), als ihm eine Gänsehaut über den Leib kroch. Aus dem Lautsprecher erklangen die schaurigsten Geräusche, die er je gehört hatte. Es war ein schrilles Kreischen und Heulen, ein vielstimmiger Diskant der Gefolterten. Unfähig, die entsetzlichen Klänge zu ertragen, drehte er den Frequenzregler weiter. Nun wurden die Marter-Arien von einem majestätischen Choral überlagert, als würden Tausende und Abertausende von Engelsstimmen in einer gigantischen Kathedrale und in einer überirdischen Sprache gregorianische Gesänge intonieren. Andere Sender waren nicht erreichbar. Mit bebender Hand schaltete Kleiber das Radio aus.

Er konnte sich keinen Sender dieser Welt vorstellen, der solche Musik spielte. Es hatte etwas Unwirkliches. Etwas Albtraumhaftes.

Plötzlich fühlte Kleiber sich schrecklich elend. Seine Nerven streikten – was ja kein Wunder war. Er benötigte dringend eine Erfrischung.

Doch die Autobahnabfahrt, die er nehmen musste, konnte jetzt jede Minute auftauchen. Daher würde sich zu einem Raststätten-Halt keine Gelegenheit mehr ergeben. Er zündete sich eine weitere Zigarette an. Der Kaffee hingegen – ungesüßt und schwarz wie die Seele eines Mörders – würde warten müssen.

Zwanzig Minuten später war die Autobahnausfahrt noch immer nicht in Sicht. Kleiber warf einen Blick auf die Benzinuhr. Seine Karre war ziemlich gefräßig, und bei der Abfahrt vom Motel war der Tank höchstens halbvoll gewesen. Aber der Zeiger hatte sich seither keinen Millimeter nach unten bewegt. Offenbar hatte nicht nur das Autoradio, sondern auch die Kraftstoffanzeige eine Macke.

Als wenig später die Raststätte vor Kleiber auftauchte, wusste er, dass er die Abfahrt verpasst hatte. Kein Wunder: Mittlerweile fühlte er sich nicht nur elend, sondern regelrecht ausgekotzt. Er hatte eine Pause nötiger denn je.

Der Rasthof lag wie ausgestorben da. Kleiber hatte freie Stellplatzwahl. Er vergewisserte sich, dass der Kofferraum abgeschlossen war, und ging ins Restaurant.

Der einzige Mensch, den er dort antraf, war die Kassiererin am Büfett. Obwohl er noch nicht gefrühstückt hatte, verspürte er keinerlei Appetit. Die angebotenen Speisen waren nicht geeignet, dies zu ändern. Sie wirkten irgendwie … künstlich. Wie gute, aber nicht perfekte Plastikimitationen abgestandener, schaler Esswaren.

Kleiber zapfte sich seinen Kaffee, zahlte und wählte einen Fensterplatz, von dem aus er sein Auto mit der heiklen Fracht im Auge behalten konnte. Eine Sekunde lang stellte er sich vor, Tina sei in ihrer Blechgruft erwacht und hämmere von innen gegen den Kofferraumdeckel. Doch nachdem er sich den Mund mit einem großen Schluck aus der Tasse verbrannt und sich eine Zigarette angesteckt hatte, fühlte er sich bereits besser.

Zu seinem Gefühl, wieder in die Wirklichkeit zurückzukehren, trug auch bei, dass der Parkplatz vor dem Rasthof immer voller wurde. Ständig trafen neue Autos ein. Sogar ein Reisebus rollte auf den Parkplatz. Menschen betraten das Restaurant. Wochenendurlauber … Rentner … Familien … die Reisegruppe aus dem Bus. Hunger schien niemand zu verspüren. Auf den Tabletts, die zu den Tischen getragen wurden, standen nur Getränke. Viele Neuankömmlinge folgten direkt dem Hinweispfeil zu den Toiletten. Sie erfreuten sich eines glücklichen Vorsprungs. Denn auch die Leute an den Tischen ließen bald Tassen und Becher stehen und verursachten einen Ansturm auf die Notdurfträume.

Kleibers Blase drückte ebenfalls. Aber er wollte nicht vor den Urinalen anstehen und beschloss zu warten.

In diesem Augenblick dröhnte ein tiefes Dieselbrummen vom Parkplatz herüber. Kleiber sah auf und beobachtete, wie ein riesiger Achtachser schwerfällig auf den Parkplatz rollte und schnaubend zum Stehen kam.

Fast hätte Kleiber sich eingenässt. Seine Finger fingen an zu zittern und hielten nur mit Mühe die Kaffeetasse fest.

DIE SPEDITION MIT SPEEEED. Kleiber hätte seine Seele verwettet, dass er denselben Lastzug sah, der den Unfall ausgelöst hatte, dem er um Haaresbreite entronnen war. Gott sei Dank war niemand zugegen, der die Wette hätte annehmen können. Denn das Ungetüm, dessen Motorgeräusch wenige Meter entfernt grollend erstarb, zeigte nicht die Spur einer Beschädigung.

Der Tür der Zugmaschine schwang auf, und der Wagenführer kletterte aus der Fahrerkabine. Er blieb stehen und zerrte unterhalb seines vorgewölbten Bauchs am Hosenbund. Dabei blickte er in die Richtung, in der Kleibers Wagen stand.

Plötzlich sackte der Kiefer des Fernfahrers nach unten, und die Augen traten ihm aus den Höhlen.

Kleiber richtete den Blick ebenfalls auf den Audi. Die Kofferraumklappe stand offen. Er sah, wie Tina aus dem Kofferraum kletterte. Lebendig, nackt und völlig ungeniert. Sie bewegte sich auf das Restaurant zu und trat ein.

Tina selbst schien ihrer eigenen Blöße keine Beachtung zu schenken. Doch eine Frau, die mit Mann und Kindern an einem Tisch neben dem Eingang Platz genommen hatte, stand auf, streifte ihre Jacke ab und legte das Kleidungsstück um Tinas Schultern.

Auf Kleibers Stirn stand kalter Schweiß. Tina hatte ihn noch nicht bemerkt. Wie gebannt verfolgte er jede ihrer Bewegungen.

Die Samariterin hielt Tina den Becher, der vor ihr auf dem Tisch gestanden hatte, an die Lippen. Tina umschloss das Gefäß mit den Händen und trank es ohne abzusetzen aus. Anschließend schlug sie im Gefolge eines Rentner-Pärchens den Weg zum WC ein.

Kleiber sprang auf. Ohne überhaupt zu merken, dass er seine Tasse umwarf und den Kaffeerest auf seiner Hose verspritzte, setzte er dem Trio nach.

Auf der abwärts führenden Treppe wäre er beinahe gestrauchelt und kopfüber auf der untersten Stufe gelandet. Doch er fing sich und erreichte das Treppenende eben noch rechtzeitig, um zu sehen, wie die Tür mit dem ›H‹ auf dem Emailleschild hinter Tina zuschwang.

Kleiber drückte die Klinke, um ebenfalls einzutreten. Doch die Tür bewegte sich nicht. Er rüttelte daran, er stemmte sich gegen das Türblatt – vergebens.

»Entschuldigen Sie bitte, mein Herr …«

Kleiber wandte sich um. Die Samariterin, die Tina die Jacke übergeworfen hatte, lächelte ihn um Verzeihung heischend an. Neben ihr wartete ihr Gatte, beide hielten jeweils ein Kind an jeder Hand.

»Entschuldigung …«, wiederholte sie. »Würden Sie uns bitte vorbeilassen?«

Kleiber trat zurück.

»Danke sehr!« Die Frau drückte die Tür auf, und die gesamte Familie verschwand auf dem Männerklo.

Ehe die Tür ins Schloss fiel, stoppte Kleiber sie reaktionsschnell mit dem Fuß. Er schickte sich an, durch den Spalt zu schlüpfen. Im selben Moment trat eine dicke Frau in die Öffnung und versperrte Kleiber den Zugang.

Sie musterte ihn abweisend. Kleiber starrte zurück. Graue Haarsträhnen hingen unter dem Tuch hervor, das um ihren Knopf geknotet war. Über ihrem gewaltigen Busen spannte sich eine ausgeblichene Schürze. Ihre Füße steckten in fadenscheinigen Pantoffeln, um ihre Waden schlängelten sich Krampfadern wie zerrissene blaue Netzstrümpfe. Ihre Ärmel waren hochgekrempelt, und sie hatte die Hände in die breiten Hüften gestemmt.

»Für Sie ist hier kein Zugang«, beschied sie Kleiber brüsk.

Kleiber begehrte auf: »Das ist doch die Herrentoilette, nicht wahr? ›H‹ wie ›Herren‹. Ich …«

»Sie irren sich«, wurde er unterbrochen. »Hier ist ›H‹ wie ›Himmel‹. Sie sind falsch.« Ein von Putzmittel geröteter Finger wies über Kleibers Schulter hinweg: »Dort sind Sie richtig. Und jetzt nehmen Sie, bitte schön, Ihren Schuh weg!«

Kleiber gehorchte völlig perplex. Die Tür knallte zu. Er starrte auf ihre steril-weiße Oberfläche. Genau der Farbton, an den er sich würde gewöhnen müssen, wenn sie ihn in die Klapsmühle sperrten.

Er beschloss, einfach abzuwarten. Zu warten, bis Tina wieder herauskam und er sich davon überzeugen konnte, dass sie nur ein Phantom seiner überreizten Einbildung war. Oder bis er von alleine aus diesem Albtraum erwachte.

Aber Kleiber wartete umsonst. Ein, zwei Leute gingen zwar durch die Tür hinein, doch keiner kam wieder heraus. Er kniff sich in den Arm – doch ohne aufzuwachen.

Fing es denn nicht immer mit Halluzinationen an? Der Mörder begegnete seinem Opfer an vertrauten Orten. Im Büro. Im Wartezimmer. An der Bushaltestelle. Im Autobahnrestaurant. Auf dem Scheißhaus. Und schließlich, zum Abschied, in der Gummizelle.

Er würde jetzt nach oben zu seinem Auto gehen. Er würde den Kofferraum aufschließen. Er würde Tinas Leiche erblicken. Und wenn er sie berührte, würde er nur die fortschreitende Totenstarre fühlen.

Aber vorher brauchte er noch einen Guss kalten Wassers ins Gesicht. Und seine Blase stand kurz vor der Kapitulation.

Kleiber ging zur zweiten Tür. Normalerweise entstanden die Staus ja vor den Damen-Toiletten. Warum benötigte man hier zwei Herrenklos? Das ›H‹ war wie mit einem Brandeisen in das Holz der Tür gesengt. Einen Augenblick lang gaukelten seine Augen ihm vor, es glühe noch.

Jemand tippte Kleiber auf die Schulter. »Entschuldigen Sie bitte …«

Er wandte sich um. Eine Frau stand hinter ihm. Sie sah aus wie ein zweitklassiges Double von Maggie Thatcher.

Kleiber machte ihr Platz.

»Danke, sehr freundlich!« Sie entblößte ihre Zähne zu einem Lächeln. »Aber ich möchte Ihnen den Vortritt nicht nehmen. Bitte nach Ihnen!«

Diesmal ging die Tür fast von selbst auf.

Kleiber befand sich im Toiletten-Vorraum. Er sah Waschbecken, Seifenspender, Händetrockner und einen Kondomautomaten. Alles war blitzsauber, was sich zweifellos dem Eifer der Klofrau verdankte. Sie saß an einem Klapptisch neben der Tür und las ein Magazin. Auf dem Tisch stand eine Untertasse, in der ein paar Kupfermünzen lagen.

Kleiber trat an ein Waschbecken und drehte den Kaltwasserhahn auf. Aus dem Spiegel starrte ihm ein Gespenst entgegen. Oder, zeitgemäßer, ein Zombie. Er formte mit den hohlen Händen einen Kelch und schöpfte sich kaltes Wasser ins Gesicht.

Es half nichts. Seine Augen waren rotgeädert und brannten, als hätte er eine volle Woche nicht geschlafen. Seine Haut war weiß wie Kalk. Er verspürte einen dumpf pochenden Kopfschmerz. Wahrscheinlich bekam er Fieber.

Die Putze neben der Tür hatte noch kein einziges Mal aufgeblickt. Vertieft in ihr Schmuddelheft, dachte Kleiber.

Was sollten Frauen, die den ganzen Tag auf Männerklos verbrachten, auch lesen außer Schmuddelheften. ›Coupé‹ vielleicht, oder ›Wochenend‹. Wochenend und Sonnenschei-heiiin, was brauchst du mehr zum Glücklichsei-heiiin. Kleiber grinste. Es sah zum Fürchten aus.

Eigentlich war die Frau viel zu jung für diesen Frührentnerjob. Kleiber taxierte sie auf Mitte zwanzig. Zu alt für mich, dachte er, wagte aber nicht noch einmal zu grinsen. Sie war auch sonst nicht sein Typ mit ihrem ungepflegten Punk-Look, den Ringelstrumpfhosen, dem knallengen Ledermini und der zerschlissenen Strickjacke. Dazu der rasierte Schädel und das morbid geschminkte Gesicht. Aber am Schlimmsten war das Schmatzen, mit dem sie ihren Kaugummi im Mund umherwälzte!

Kleibers Blase verlangte jetzt ultimativ nach Entleerung. Also wischte er sich das Wasser aus dem Gesicht und öffnete die nächste Tür.

Was ihn augenblicklich würgen ließ, war der Geruch, der ihm entgegenschlug. In öffentlichen Bedürfnisanstalten war gewöhnlich das Odeur von Urin und Duftsteinen bestimmend. Der Geruch, der hier vorherrschte, war unsagbar intensiver und ekelerregender.

Abstoßend waren auch die Graffiti an den gekachelten Wänden. Kleiber hatte so manchen Klospruch und manch eine geschmacklose Wandschmiererei zu Gesicht bekommen. Doch was er hier sah, war furchteinflößend. Die Kacheln sahen aus, als hätte eine Kindergartengruppe versucht, mit roter Fingerfarbe pornographische Fotos voller Sadismus und Sodomie abzumalen.

Nur dass es keine rote Fingerfarbe war. Sondern Blut. Frisches Blut.

Die Waschbecken waren zu weit entfernt. Kleiber übergab sich gleich ins nächste Pissoir.

Hinter ihm ertönte das Rauschen der Toilettenspülung, dann noch einmal und nach einer kurzen Pause ein drittes Mal.

Kleiber hörte das Klacken der Verriegelung. Er wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Dann wandte er sich um.

Er sah einen Neger in Gummistiefeln und einem roten Arbeitsoverall, der aus einer der Kabinen kam. Das heißt, zuerst hatte er den Mann für einen Neger gehalten. Auf den zweiten Blick erkannte er, dass die dunkle Hautfarbe auf Tätowierungen zurückging, die der Mann am ganzen Körper trug. Und der Overall war auch nicht wirklich rot. Sondern steif vor Blut, das den Stoff durchtränkte. Auch die muskelstrotzenden Unterarme waren bis zu den aufgekrempelten Ärmeln in dunkles Rot getaucht.

Seine spärlichen, ergrauenden Haare hatte der Mann zu einem fettigen Entenschwanz gebündelt. An seinen Ohrläppchen baumelten Rasierklingen. In der Faust hielt er eine bluttriefende Klobürste.

»Willkommen!«, sagte der Mann, als er Kleibers ansichtig wurde, und vollführte einen Schwenk mit der Klobürste, der alles – die Urinale, die Klokabinen, die blutgetünchten Kachelwände, die verstreuten Kleidungsstücke, die den Boden bedeckten – einschloss. »Viel ist heute leider nicht zu tun. Zwar haben wir einige Extrafuhren hereinbekommen. Doch für mich sind Sie erst der vierte Kunde des Tages!«

Wortlos taumelte Kleiber einen Schritt zurück. Dann noch einen und noch einen, wie eine Marionette, deren Fäden einer nach dem anderen reißen. Halt suchend wischte seine Hand über die blutverschmierten Kacheln. Doch bevor seine Beine unter ihm wegknicken konnten, riss er sich mit Gewalt zusammen. Er wandte sich von seinem Gegenüber ab und stürzte schwankend aus dem Raum.

Seine Flucht endete an der zweiten Tür. Obwohl er wie besessen an der Klinke rüttelte und sich mit der Schulter gegen die Füllung warf, dass sie ächzte, gab sie keinen Millimeter nach. Die junge Frau an dem Klapptisch lächelte freundlich zu ihm auf, und einen Augenblick lang dachte er: Man hat ihr alle Zähne ausgeschlagen. Bis auf diesen Schneidezahn. Aber was er für einen Schneidezahn gehalten hatte, war ein Kaugummiklumpen, der auf der oberen von zwei Reihen glitzernder Stahlnägel aufgespießt war, die aus ihrem Zahnfleisch ragten.

Der Mann im Overall war Kleiber gefolgt. Er nickte der Frau zu, die bei den Waschbecken stand, wo sie ihr Make-up aufgefrischt hatte. Kleiber bemerkte sie erst jetzt. Es war die Dame, die ihm draußen vor der Tür den Vortritt eingeräumt hatte. Sie musterte den Mann im Overall von unten bis oben. Aus ihrem Blick sprach Missbilligung. »Ich hab mir das etwas anders vorgestellt. Offen gestanden, fühle ich mich getäuscht«, sagte sie indigniert.

Der Mann im Overall verzog die Lippen zu einem Grinsen, das vom einen Ohrgehänge bis zum andern reichte. Er verneigte sich. »Bitte üben Sie Geduld! Sie kennen noch nicht alles!«

»Was wollen Sie von mir?«, wimmerte Kleiber.

»Na hör mal, Freundchen! Weißt du denn nicht, wo du hier bist?«

Kleiber kicherte hysterisch. »Lassen Sie mich raten!« Das Kichern ließ sich gar nicht mehr bändigen. »In … in der Hölle?«

Der Mann im Overall schmunzelte. »Warm!«

»Noch … noch nicht in der Hölle? … Im Fegefeuer, eh?«

Der Mann im Overall nickte anerkennend. »Noch wärmer! Fast schon … heiß!«

»Aber ich bin nicht tot«, schluchzte Kleiber.

»Erinnern Sie sich denn nicht an den schrecklichen Unfall?«, ergriff die junge Frau mitfühlend das Wort. »Außer Ihnen starben achtundzwanzig Menschen, und viele weitere werden ihre Verletzungen nicht überleben.«

Wasser und Rotz troffen von Kleibers Wangen und von seinem Kinn herab. Er schüttelte mechanisch den Kopf. Nein-nein-nein-nein-nein-nei– Doch der Mann im Overall packte Kleibers Arm. »Die Höllenfahrt durch den Vulkankrater gibt es nur in alten Büchern und angestaubten Bühnenstücken. Die Realität ist weit prosaischer.«

Wie ein kraftloser Invalide wurde Kleiber in den Raum mit den Blutgraffiti zurückgeführt. Der Mann im Overall zwang ihn, sich nackt auszuziehen. Dann stieß er ihn in eine der Toilettenkabinen. Der Gestank nach Blut wurde überwältigend. Kleiber spürte, wie spröde Lippen über seine Ohrmuschel strichen. »Eine höchst intime Verrichtung«, flüsterte der Mann im Overall. »Sogar eine der intimsten …«

Mit diesen Worten zog er die Toilettentür hinter sich und seinem Gefangenen zu.

Die Verriegelung knirschte.

Der Mann im Overall führte die freie Hand zum Mund. Es sah aus, als wollte er an den Nägeln kauen. Doch stattdessen zog er mit den Zähnen eine lange Kralle aus jedem seiner Finger, bis im Licht der Leuchtstoffröhren fünf scharf gewetzte Sensen blitzten.

»Verstopfte Rohre«, sagte der Mann im Overall, »können wir uns nicht leisten.«

Das Mädchen im Toilettenvorraum sah von seinem Magazin hoch und lauschte. Die Klosettspülung begann zu gurgeln. Einmal. Zweimal. Sie zählte lautlos mit. Nach dem zwölften Mal war Schluss.

Sie nickte der Dame zu: »Sie sind dran!«

Dann klebte sie ihren Kaugummi unter die Tischplatte und blätterte die nächste Seite auf.

In der Danksagung zum vorliegenden Buch fehlt Stephen King. Es würde ja auch großmäulig klingen. Dennoch verdanke ich die Anregung zu dieser frühen Geschichte dem Meister. In einem King-Interview las ich, dass er es spaßig fände, statt der ewigen Geister-Häuser und Gespenster-Zimmer einmal eine Toilette zum Schauplatz einer Spukgeschichte zu machen. Er habe Lust, eine Spuk-WC-Geschichte zu schreiben. Was er dann auch tat. Im selben Jahr, in dem ich ›H‹ schrieb, erschien Kings Story ›Sneakers‹ (dt.: ›Turnschuhe‹) bereits in seiner Kollektion Nightmares and Dreamscapes (dt.: Alpträume, 1993). ›Sneakers‹ ist tatsächlich eine echte Spuk-Geschichte. Wohingegen ›H‹ eine groteske Horrorstory geworden ist.

(Das Filmzitat Was wissen die Guten? Doch nur das, was sie das Böse durch seine Exzesse lehrt! stammt – zumindest sinngemäß – aus der Synchronfassung des Streifens Candyman [dt.: Candyman’s Fluch, 1992 – auf dem Filmplakat mit Apostroph!]. Er basiert auf der Erzählung ›The Forbidden‹ [dt.: ›Das Verbotene‹] von Clive Barker, dessen Werk meine frühen Geschichten stark beeinflusst hat. In der deutschen Übersetzung der Geschichte aus Das fünfte Buch des Blutes lautet die Stelle: »›Was wissen die Guten schon‹, sagte er, ›außer dem, was die Bösen sie durch ihre Exzesse lehren?‹«)

Die armen Toten

Für Ralph, der diese Geschichte als Erster las.

Nichts hiervon ist wahr. Die Narben bleiben den Lebenden.

»Ich stand vor der Fassade des Spukhauses, und die dunklen, gardinenlosen Fenster kamen mir vor wie Augen, die durch eine böse Maske ohne ein Blinzeln in mich hineinstarrten.«

So oder so ähnlich pflegte sich der erste Satz einer geplanten Reportage in meinem Geist zu formen, wenn ich vor einem der verrufenen Gebäude stand, die ich für die Leser und noch zahlreicheren Leserinnen der populärwissenschaftlichen Zeitschrift Para erkundete. Es war ein bequemer Job und ein lukrativer dazu. Besonders gut bezahlen ließ ich mir eine Vertragsklausel, die dem Verlag exklusive Bildrechte sicherte, falls man mich eines Tages am Fuß einer dunklen Wendeltreppe finden sollte, mit gebrochenem Genick und dem Ausdruck namenlosen Grauens im Gesicht.

Doch dieses Mal beschlich mich eine wirklich ›ungute Vorahnung‹. Denn ich hatte ein Haus vor mir, das keinerlei böse Vibrationen ausstrahlte und nicht die geringste gänsehauttaugliche Assoziation in mir hervorrufen wollte. Ich sah schon jetzt einen Reinfall voraus.

Ich trat ein paar Schritte auf den Eingang zu und betrachtete die Plakette aus Messing, die neben dem Türstock in die Mauer eingelassen war. Die Inschrift lautete schlicht: Hier lebte und wirkte der Dichter Frans Ambach (8.10.1907–1.7.1965) von seiner Geburt bis zum Tod. Schon zu Lebzeiten hatte Ambach innerhalb der Literatenzunft als suspekter Skribent gegolten. Der größte Teil seines Oeuvres bestand aus Gedichtbänden und Epigrammsammlungen, deren gespreizte Dekadenz nur schwer genießbar war. Außerdem hatte er zwei Romane veröffentlicht, Lacrimae (1948) und Lusttod (o.J.). Diesen beiden Werken, die in geringen Auflagen gedruckt worden waren, verdankte Ambach eine kleine, aber ergebene Schar von Anhängern: Connaisseure, für deren Geschmack Sacher-Masoch zu zahm war und de Sade vom falschen Ufer.

Ich zog den Schlüssel aus der Hosentasche, den der Chefredakteur von Para mir in einem bedeutungsvoll versiegelten Umschlag zugesandt hatte, drehte ihn knirschend im Türschloss und betrat das Ambach-Haus.

Von innen vermittelte das Haus denselben Eindruck wie von außen: Jugendstilarchitektur ohne bauhistorischen Wert. Und was Atmosphäre anging, so tot wie Stein und Mörtel. Das ausgetretene Parkett bestand aus dem gleichen stumpfen, schwarzen Holz wie der Handlauf der Treppe, die in den ersten Stock hinaufführte. Von der ungewöhnlich niedrigen Decke bröckelten die Stuckaturen. Alles war penetrant sauber und kahl. Vergeblich hielt ich Ausschau nach staubigen Spinnweben, nach Schimmelflecken auf den verblassten Tapeten und nach den Hinterlassenschaften von Nagetieren in den Winkeln. Kein einziges Möbelstück zeugte melancholisch von einstiger Bewohntheit. Und natürlich gemahnte auch kein ›mysteriöser dunkler Fleck‹ an dazumal vergossenes Blut.

Wenn hier genug Spukhaus-Atmosphäre vorhanden war, um ein Gespenst auch nur herbeizuphantasieren (es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass ich mir auf diese Weise aus der Klemme und den Lesern von Para zu ihrem wohligen Schauder verholfen hätte), dann wollte ich freiwillig zu dem Staub zerbröseln, von dem es hier für meinen Geschmack viel zu wenig gab.

Aber man verwechsle mich nicht mit einem professionellen Schwindler. Auch mein scheinbarer Zynismus täuscht. Für mich war die Jagd auf Geister nicht gleichbedeutend mit der Jagd nach dem Gewinn, der sich aus menschlicher Leichtgläubigkeit schlagen lässt. Vielmehr war Angst mein Agens. Nein … nicht Angst, sondern: die Angst. Jene älteste und größte Angst des Menschen, die uns Sterbliche von Geburt an versklavt. Die Urfurcht der menschlichen Rasse … der größte aller Schrecken: Tremor Mortis, die Angst vor dem Tod. Jenes schlotternde Grauen, das mehr ist als Scheu vor der Qual des Sterbens und mehr als das Festklammern an der Lust und der Last des Lebens. Den Glücklichen packt sie erst auf dem Sterbebett – manch anderen vielleicht schon beim Anblick des nächsten Abendrots.

Gegen die Furcht vor der Auslöschung, die jedem Menschen ins Fleisch gepflanzt ist, hatte ich den kalten Panzer des Materialismus angelegt. Für mich war der Tod nur der ersatzlose Verlust eines kurzen Erdenlebens, dessen Lustbarkeiten allemal durch seine Leiden aufgewogen werden. Ich hoffte auf das ›große Nichts‹ – erwartete, Körper und Bewusstsein, Fühlen und Denken aufzugeben, ohne jenes fürchterliche Unbekannte dafür einzutauschen, das man Jenseits nennt. Mir sollte nicht wie vielen meiner Mitmenschen die Angst vor der Hölle im Drüben eine Hölle schon im Hier bereiten.

So glaubte ich nicht an einen Gott, nicht an eine Seele, nicht an ein ›Leben danach‹ und schon gar nicht an Gespenster. Aber mein Panzer besaß Schwachstellen. Ständig musste ich ihn nachschmieden, musste Scharten und Risse ausbessern, die heimtückische Waffen immer wieder hineinschlugen. Mein Materialismus war nicht undurchdringlich und bedurfte fortwährender Festigung. Deshalb hielt ich Ausschau nach ihnen, nach diesen Gespenstern, die ich in meinen Reportagen »Grenzgänger des Jenseits« nannte … »Schatten der Seele« … »Nachtfalter auf der Suche nach dem Licht Gottes«.

Und während ich Ausschau hielt, fürchtete ich mich – fürchtete mich sehr davor, so etwas wie ein Jenseits oder eine Seele oder einen Gott jemals zu finden.

Meine Enttäuschung beim Betreten des Ambach-Hauses war mir selbst peinlich. Schließlich hatte mich mein Redakteur darauf eingestimmt, dass ich nichts Greifbares vorfinden würde: »Von Ambach ist beinahe nichts übrig geblieben, weder in seinem Haus noch in der Welt«, hatte er mir am Telefon erklärt. »Nur mit viel Glück entdeckt man eines seiner Bücher in einem Antiquariat. Und dann bekommt man es trotz der Seltenheit zum Spottpreis, weil Ambachs Name selbst unter Spezialisten und einschlägigen Sammlern kaum noch bekannt ist. Sogar seine Hauptwerke, die beiden Romane, sind absolut unauffindbar und tauchen in keinem einzigen in- oder ausländischen Antiquariatskatalog auf. Ich habe das überprüft.«

Mein Redakteur hatte fast die gesamte Recherche im Fall Ambach durchgeführt. Weil dabei so wenig über den Mann selbst herausgekommen war, hatte ich mir die Zeit genommen, selbst ein wenig nachzuforschen. Jedoch ohne Ergebnis. Nein: nur fast ohne Ergebnis. Eine Entdeckung war mir geglückt. Zwar half sie mir nicht viel bei meiner Aufgabe, aber stolz war ich trotzdem: Ich hatte eine gut erhaltene Ausgabe von Lusttod aufgestöbert. Das Buch hatte mich ganze zehn Mark gekostet. Ich trug es in diesem Augenblick in meiner Jackentasche.

Folgendes hatte der Redakteur mir bei unserem Telefonat berichtet: »Mangels eines Testaments und lebender Verwandter war Ambachs Haus nach seinem Selbstmord in Staatsbesitz übergegangen. Kurz darauf kauften Liebhaber seines Oeuvres das Haus und richteten dort den Sitz einer offiziellen Frans Ambach Gesellschaft e.V. ein. Sie brachten eine Gedenktafel zur Erinnerung an den verstorbenen Dichter neben der Eingangstür an und richteten sein Schlaf- und sein Arbeitszimmer im Obergeschoss zum Dichtermuseum her. Als Kuratorin fungierte Ambachs ehemalige Haushälterin. Sie war eine mürrische Alte, die den Job gegen das erneuerte Wohnrecht im Haus versah. Tatsächlich wurde das Ambach-Haus für kurze Zeit zu einer Pilgerstätte. Aber bald schon verebbte das Interesse. Es hatte sich herumgesprochen, dass es keine geheimen Schmerzkammern im Keller zu besichtigen gab. Keine bizarren Folterinstrumente, keine gegerbten Menschenhäute in vergoldeten Barockrahmen, keine mit Menschenblut geschriebenen Manuskripte oder ähnlich makabre Devotionalien. Ausgestellt waren lediglich einige gedruckte Ausgaben von Ambachs Werken und ein Stapel Originalhandschriften, dazu sein Schlafrock, sein Schreibetui und die wenig bemerkenswerte Totenmaske (eine Fälschung, wie sich herausstellte) inmitten der Originalmöblierung in den beiden oberen Räumen. Der Tod der früheren Haushälterin brachte das endgültige Aus. Die Ambach-Gesellschaft löste sich auf, und irgendjemand schaffte alles fort, was er an beweglichen Gütern im Haus vorfand. Die Sachen sind bis heute verschollen. Grundstück und Gebäude befinden sich im Besitz eines Wohnungsbauvereins. Der will die Villa in Mietwohnungen aufteilen. Ehe sie damit beginnen, sollten wir unsere Story an Land gezogen haben.«

»Welche Story?«, wunderte ich mich. »Ich höre aus Ihrem Bericht keine potenzielle Para-Story heraus.«

»Sie haben auch noch nicht alles gehört. Was Sie noch nicht wissen, ist, dass es sich bei dem Ambach-Haus möglicherweise um ein mordendes Haus handelt.«

Nun horchte ich auf. Aber ich erwiderte nichts, bis der Redakteur fortfuhr:

»Alle Bewohner und der Mann, der vor Ihnen dem Geheimnis des Hauses auf die Spur zu kommen versuchte, starben nach offiziellen Angaben durch Selbstmord. In zweien dieser Fälle würde ich allerdings sagen, dass man genauso gut eine Mordtheorie bilden könnte.«

Angespornt von meinem erstaunten Ausruf erläuterte der Redakteur: »Ambach starb keines natürlichen Todes. Er hat Hand an sich gelegt. Sein Selbstmord ist der einzige in seinem Haus verübte, der keine Rätsel aufgibt. Ich glaube auch gar nicht, dass sein Tod etwas mit dem Haus zu tun hat. Sein Tod war vielmehr – meine Theorie jetzt! – der Auslöser für die kommenden Vorfälle.«

»Dann wäre der ›Fluch‹ nicht älter als zehn Jahre. Es fehlt die für die richtige Gespensterstimmung unverzichtbare nostalgische Patina …«

»Wie gesagt, das ist nur, was ich mir bislang zurechtgelegt habe. Es steht Ihnen offen, in Ihrem Bericht zu viel aufregenderen Schlussfolgerungen zu gelangen. Hören Sie sich vorläufig die nackten Fakten an …«

Diese waren ebenso bizarr wie gruselig:

Das Ambach-Haus war 1905 von den Eltern des Dichters erbaut worden. Sie starben fünf Jahre später kurz hintereinander und vermachten ihrem einzigen Erben außer seinem Geburtshaus ein stattliches Vermögen. Sogar zwei Weltkriege ließen Ambach genug übrig, um ohne Hunger zu leiden ein Leben lang als obskurer Schriftsteller dilettieren zu können. Seine Obsession war das Erfinden und Erleiden exquisiter Qualen … wenn auch allem Anschein nach zunächst eher in seiner abnormen Phantasie oder in giftgetränkten Drogenräuschen. Dabei bezeugte er für den Lederfetischismus und die in seinen Augen spießigen Verspieltheiten der SM-Jünger nur Verachtung. Seine Vorstellungswelt war weitaus morbider. Im Alter von vierzig Jahren schrieb er den Episodenroman Lacrimae, den er in geringer Stückzahl selbst verlegte. Danach schienen seine experimentellen Drogentrips und künstlich herbeigeführten Halluzinationen immer zahlreichere Schnittstellen zur Realität aufzuweisen. Es wird berichtet, dass ein professioneller Verleger ausgefallener Erotika Interesse an Lacrimae bezeigte, der Geschichte eines Anthropologen, der in einer Serie eskalierender vorchristlicher Selbstfindungsrituale versucht, die Evolution über ihren bekannten Beginn hinaus umzukehren und sich mithilfe unvorstellbarer selbst zugefügter Foltern in die Gestalt einer grausamen urzeitlichen Gottheit zurückzukatapultieren. Doch als der Verleger den Verfasser zu einem Gespräch bat, entdeckte er ›widernatürliche Narben und gewisse schmerzhaft wirkende Applikationen‹ an Ambachs Körper, worauf er die Verhandlung bestürzt abbrach.

Wie weit Ambach auch immer gegangen sein mochte – es genügte ihm nicht. Er gelangte zu dem Schluss, dass er die Körperqualen, die es in diesem Leben zu erdulden gab, erschöpft hatte. Ihn verlangte nach neuartigen Sensationen der Schmerzlust (so der Titel eines seiner schwülstigen Gedichtbände). Auf der fruchtlosen Suche nach ihnen entsann er sich der mittelalterlichen Höllenqualen. Er wusste, dass die zeitgenössischen Höllendarstellungen nichts anderes als genüssliche Aufbereitungen konventioneller irdischer Torturen waren. Doch die Vorstellung, dass das Jenseits der Seele mit erleseneren Schmerzen aufwarte, als sie das Diesseits für ihre sterbliche Hülle bereithält, erfüllte ihn mit fieberhafter Hoffnung und Begierde. Seine Forschungen konzentrierten sich von nun an ganz auf den Tod, auf das Leben nach dem Tode – auf die Leiden nach dem Tode.

Um 1952 tauchte in einer Sammlung mit kruden Ambach-Aphorismen folgender Dreizeiler auf:

Paradoxon:

Nicht ahnt ihr, wie Schmerz sich anfühlt,

ehe eure Seelen vom Fleische getrennt.

Und dreizehn Jahre später kritzelte Ambach folgende Worte in sein Tagebuch:

Die letzte Exaggeration hat in der vergangenen Nacht die Gewissheit erbracht: Das reine, köstliche Destillat furchtbarster Qual erwartet uns erst, wenn die Seele ihr fühlloses Nervenkleid abstreift –

Noch ehe die Tinte trocken war, setzte er sich am Schreibtisch eine Pistole an die Schläfe und drückte ab, beflügelt von der Erwartung, dieser Qualen in alle Ewigkeit teilhaftig zu werden.

Wenige Jahre nach Ambachs Ableben musste der Vorsitzende der Ambach-Gesellschaft sich das Eingeständnis machen, dass Leseerfahrung nicht Lebenserfahrung ersetzt und er längst nicht so abgebrüht war, wie zu sein er unter Gleichgesinnten vorgab. Diese Lektion wurde ihm im Arbeitszimmer seines Dichter-Idols erteilt, wo er eine grotesk verstümmelte Leiche vorfand. Der herbeigerufene Arzt identifizierte sie als Überreste einer alten Frau; es dauerte etwas länger, ehe die Gewissheit bestand, dass es sich um die Leiche der früheren Haushälterin und nachmaligen Kuratorin handelte.

Die Polizei stand vor dem klassischen locked room mystery der Kriminalliteratur – einem Verbrechen (falls ein solches vorlag) innerhalb eines Zimmers ohne möglichen Zugang oder Fluchtweg. Die beiden Türen und das einzige Fenster waren von innen verschlossen gewesen, als die Frau starb. Die passenden Schlüssel zu den Schlössern fand man im Zimmer selbst. Der Verdacht fiel sofort auf den Entdecker der Leiche, der ja eine Tür hatte aufbrechen müssen, um in den Raum zu gelangen. Doch eine eingehende Untersuchung des zerstörten Türschlosses und sein unerschütterliches Alibi für den gemutmaßten Todeszeitpunkt der Haushälterin machten die Aussage des Verdächtigen unangreifbar. So war man froh, den Todesfall stillschweigend als Selbstmord zu den Akten legen zu können. Wörtlich: als Selbstverstümmelung durch Schneidewerkzeuge und Säure mit unmittelbarer Todesfolge.

Nicht zu den geringsten Schönheitsfehlern an diesem Ermittlungsergebnis gehörte die ungelöste Frage, wie die Tatwerkzeuge nach ihrer Benutzung in die Schublade von Ambachs Schreibtisch zurückgelangt waren, wo sie verstreut in einer halbgeronnenen Blutlache klebten.

Nach dem Erlöschen der Ambach-Gesellschaft, als die Villa längst zum ›leeren Haus‹ geworden war, hielt ein Student der Psychologie es für eine extravagante und daher gute Idee, seine Abschlussarbeit über Leben und Werk Frans Ambachs zu verfassen. Er versuchte, Kontakt zu früheren Mitgliedern der Ambach-Gesellschaft zu knüpfen. Doch seine Bemühungen liefen ins Leere. Das Material, das er zu seinem Forschungsthema zusammentragen konnte, fiel dürftig aus. In trotziger Enttäuschung beschloss der Student, das Ambach-Haus auf Geheimkammern und verborgene Gänge abzuklopfen. Er glaubte, dass dergleichen zum Bewohner gepasst hätte. Das locked room mystery betrachtete er als wichtiges Indiz für seine Vermutung. Mithilfe seiner glatt geölten Zunge verschaffte er sich die Erlaubnis, einige Tage und Nächte lang Quartier in der Villa zu beziehen.

Schon die erste dieser Nächte sollte die letzte seines Lebens sein. Er starb im ehemaligen Schlafgemach des Hauses, das an Ambachs früheres Arbeitszimmer grenzte. Diesmal waren weder Klingen noch Säure im Spiel. Allein menschliche Zähne und Klauen hatten das grausige Werk vollbracht. Gerüchte besagten, dass die Beißspuren nicht von einem einzigen Kieferpaar stammten. Dass der Tote sich die Bisswunden selbst beigebracht hatte, war ausgeschlossen. Auch gab es diesmal kein locked room mystery: Die Tür, die vom Schlafzimmer auf den Flur hinausging, war unversperrt gewesen; die zweite, die es mit Ambachs Arbeitszimmer verband, hatte sogar sperrangelweit offen gestanden.

Dennoch ließ sich auch dieser Fall nicht aufklären. ›Selbstverstümmelung mit Todesfolge‹ lautete wieder einmal der Befund der Untersuchungsbeamten.

Nach diesen Mitteilungen hatte Schweigen die Telefonleitung erfüllt. Bis ich, nur um es zu beenden, den Mund auftat: »Und diesem grausamen, allem Anschein nach übernatürlichen Mordbuben wollen Sie mich auf den Servierteller legen …«

Ich hörte meinen Redakteur leise lachen. »Einen solchen Verlust für unsere Zeitschrift würde ich nicht verantworten wollen«, versicherte er mir. »Außerdem sagte ich, man könnte sich eine Mordtheorie zurechtzimmern. Natürlich können wir auch ganz klassisch auf einen bösartigen Genius Loci zurückgreifen, der die Opfer mit Wahnsinn schlägt und sie zu abstoßenden Akten der Selbstverstümmelung treibt. Oder was immer Sie für angemessen halten. Beziehungsweise im Laufe Ihrer Nacht im Ambach-Haus herausfinden. Nein, ich glaube nicht, dass Sie etwas zu befürchten haben. Außer Langeweile natürlich. Aber dafür bezahlen wir Sie ja.«

Nach alldem spukten mir die widersprüchlichsten Gedanken durch den Kopf, als ich, flankiert von schweren Koffern, in der Eingangshalle des Ambach-Hauses stand und leise mit dem Hausmeister-Schlüsselbund klimperte, den mein Redakteur durch Beschwatzung oder Bestechung in seinen Besitz gebracht hatte. In diesem Ambiente mochte ich kaum noch an die schrecklichen Geschichten glauben. Sie passten einfach nicht in eine so langweilige, prosaische Umgebung. Dennoch ermahnte ich mich, die Sache nicht vorschnell abzuhaken, sondern mich zunächst einmal umzusehen.

Aber weder im Parterre noch im Obergeschoss oder unterm Dach fand ich etwas, das meine Anfangseindrücke berichtigt hätte. Schließlich schleppte ich mein Gepäck in die Zweizimmerflucht, die aus Ambachs Schlaf- und Arbeitsraum bestand. Ich hätte sie nicht als das ›Herz‹ des Hauses erkannt, wenn ich mich nicht an dem Plan orientiert hätte, den der Redakteur mir zugeschickt hatte. Nichts wies darauf hin, dass diesen Zimmern eine besondere Bedeutung zukam, dass sich hier etwas Außergewöhnliches ereignet hatte oder vielleicht ereignen würde. Die ›unidentifizierbaren dunklen Flecken‹, die ich bereits in der Eingangshalle vermisst hatte, veredelten auch hier weder Diele noch Wand.

Stattdessen gab es – ich durfte das in meinem Artikel auf keinen Fall erwähnen! – Plastiksteckdosen, die auch noch elektrischen Strom führten.

In meinen Berichten für Para dichtete ich mir immer ein schottisches Faktotum namens Angus Campbell an die Seite, das für die Routinearbeiten zuständig war, für die Beglaubigung der ungeheuerlichsten Begebenheiten und für Beistand in letzter Sekunde, wenn ich in Bedrängnis geriet. In Wahrheit konnte ich es mir gar nicht leisten, mein Honorar zu teilen.

So war ich auch jetzt gezwungen, meine ›hochsensiblen Spezialapparaturen‹ selbst aufzubauen. Ich machte nur selten ernsthaften Gebrauch von ihnen, aber es war Tradition, dass jeder meiner Artikel von einem ganzseitigen Foto eröffnet wurde, das mich am Ort der übernatürlichen Erscheinung inmitten von Geräten zur Messung der Luftfeuchtigkeit und der Raumtemperatur, umgeben von Seismographen, Richtmikrofonen und Tonbandgeräten, von Infrarotkameras und Blitzlichtanlagen zeigte. Außer diesem Selbstportrait machte ich – zur Vorsicht, falls das Gespenst sein Stelldichein mit mir nicht einhielt – kurz nach dem Dunkelwerden gewöhnlich noch einige Bilder des betreffenden Spukzimmers, in die sich im Fall der Fälle mit Hilfe eines Computerprogramms Gänsehaut erzeugende Schemen einretuschieren ließen.

In Ambachs Arbeitszimmer packte ich die beiden größten Koffer aus und kämpfte eine Weile mit Kabelknäueln und Stativen, ehe ich mich im Zentrum meines Arrangements kompliziert aussehender Gerätschaften in Positur werfen und den Fernauslöser meiner Kamera bedienen konnte. Die Fotos von dem leeren Zimmer mussten warten, bis das Tageslicht jenseits der Fensterscheibe der Dunkelheit gewichen war. Bis dahin blieben mir noch zwei oder drei Stunden Zeit, die es zu nutzen galt.