MATTHEW CORBETT und die Jagd nach Mister Slaughter - Robert McCammon - E-Book

MATTHEW CORBETT und die Jagd nach Mister Slaughter E-Book

Robert McCammon

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Beschreibung

MISTER SLAUGHTER ist eine rasant abenteuerliche Verbrecherjagd vor historischem Hintergrund, die an Thomas Harris' Hannibal Lector und ein wenig an Sweeney Todd erinnert. [Elitist Book Reviews] Inhalt: In Robert McCammons meisterhaftem dritten Teil der historischen Thriller-Reihe um Matthew Corbett erweckt er erneut die Kolonialwelt Amerikas zu schillerndem Leben. Matthew, der mittlerweile als "Problemlöser" für die New Yorker Zweigstelle der Londoner Herrald-Vertretung arbeitet, erhält einen ungewöhnlichen und gefährlichen Auftrag: Zusammen mit seinem Kollegen Hudson Greathouse soll er den berüchtigten Massenmörder Tyranthus Slaughter von einem Gefängnis in der Nähe Philadelphias zum New Yorker Hafen eskortieren. Auf dem Weg dorthin macht Slaughter seinen Wächtern jedoch ein überraschendes und äußerst verlockendes Angebot – mit tragischen Folgen … Mister Slaughter ist nicht nur die bis ins kleinste Detail fein ausgearbeitete Darstellung einer noch jungen Nation, sondern auch das zeitlose Porträt eines äußerst gewalttätigen Serienmörders, der seinen Häschern immer einen Schritt voraus ist.

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Matthew Corbett und die Jagd nach Mr. Slaughter

Robert McCammon

Copyright © 2004 by Robert McCammon Published by Arrangement with THE MCCAMMON CORPORATION

This Work was negotiated through Literary Agency Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

Impressum

Deutsche Erstausgabe Originaltitel: MISTER SLAUGHTER Copyright Gesamtausgabe © 2019 LUZIFER-Verlag Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Cover: Michael Schubert Übersetzung: Nicole Lischewski

Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2019) lektoriert.

ISBN E-Book: 978-3-95835-405-0

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Inhaltsverzeichnis

Matthew Corbett und die Jagd nach Mr. Slaughter
Impressum
Teil I
Der Zahn des Monsters
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
TEIL II
Das Tal der Zerstörung
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
TEIL III
Für den Engländer hält die Zeit an
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
TEIL IV
Klapperschlangenland
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
TEIL V
Der Weg ins Paradies
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
TEIL VI
Eine Zusammenkunft der Nachteulen
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Matthew Corbetts Welt
Über den Autor

Dem Andenken an meinen Freund Charles L. Grant gewidmet.

Teil I

Der Zahn des Monsters

Kapitel 1

Höret!, verkündete der Oktoberwind, der durch die Straßen von New York wirbelte und fegte. Ich habe eine Geschichte zu erzählen! Eine Geschichte darüber, wie sich die Witterung und das Geschick der Menschen ändern! Ob dieser da, der spindeldürre Gentleman, sich gegen mein Wüten auf den Beinen halten kann, bis ich ihn an die Wand schmettere – oder ob jener dort mit dem gewaltigen Bauch schnell genug sein wird, um seinen Dreispitz zu fangen, den ich ihm vom Kopf fege! Rempelnd und heulend rausche ich durch die Stadt, und welches schnelle Pferd wird mich überholen können?

Keins, lautete Matthew Corbetts gedachte Antwort.

Genau! Zollt meinem Kommen und Gehen Respekt, und seid Euch gewiss, dass sich etwas Unsichtbares als eine Macht erweisen kann, die kein Mensch zu beherrschen vermag.

Daran hegte Matthew keinerlei Zweifel, denn er hatte den Teufel zu tun, seinen eigenen Dreispitz auf dem Kopf zu behalten und sich von den Böen nicht umwerfen zu lassen.

Es war fast acht Uhr dreißig an diesem Donnerstagabend in der zweiten Oktoberwoche. Der junge Mann war in einer Mission unterwegs. Ihm war gesagt worden, dass er sich um halb neun an der Ecke von Stone Street und Broad Street einfinden sollte, und wenn ihm seine Haut lieb war, würde er sich wie befohlen zur Stelle melden. Hudson Greathouse, seinem Partner und alteingesessenem Mitarbeiter der Herrald Vertretung, war dieser Tage nicht danach, Matthew im Unklaren darüber zu lassen, wer das Sagen hatte und wer … es stimmte schon … der Sklave war.

Allerdings, so dachte Matthew im Sturmschritt während seines Kampfes mit dem Wind auf der Queen Street, wo die in eine Richtung gehenden Einwohner gegen unsichtbare Wände prallten und andere in entgegengesetzter Richtung wie Bündel leerer Kleider an ihm vorbeieilten, hatte der harsche Umgangston von Greathouse in letzter Zeit mehr mit Berühmtheit als Sklaverei zu tun.

Denn Matthew war berühmt.

So aufgeblasen, wie Ihr tut, passt Euch bald der Hut nicht mehr, sagte Greathouse seit der Lösung des Rätsels um die Königin der Verdammten beständig.

Doch, antwortete Matthew dem Mann dann so ruhig wie möglich, denn der stürzte sich auf jedes heftige Wort wie ein Stier aufs rote Tuch. So passt er mir gut. Das reichte nicht aus, um den Stier zum Angriff zu bewegen, aber es veranlasste ihn in unheilvoller Erwartung späterer Gewalt zu schnaufen.

Es stimmte. Matthew war tatsächlich eine Berühmtheit. Seine Heldentaten des Sommers, als er auf der Suche nach der Identität des Maskenschnitzers auf Chapels Landsitz dem Tod nur knapp entronnen war, hatten dem Zeitungsherausgeber Marmaduke Grigsby genügend Material für einen Riesenstapel Ohrenkneifer geliefert und das Blatt beliebter als die Hundekämpfe Samstagsabends an der Peck Werft gemacht. Der erste Bericht, gleich nach dem Ende des Abenteuers im Juli verfasst, war zurückhaltend und sachlich genug gewesen – dank Hauptwachtmeister Gardner Lillehornes Drohungen, die Druckerei niederzubrennen. Doch nachdem Marmadukes Enkelin Berry ihren Teil an dem Ganzen geschildert hatte, heulte der alte Schreiberling vor Matthews Haus vor Verzweiflung fast den Mond an – wobei es sich bei Matthews Behausung bloß um ein möbliertes Kühlhäuschen hinter Grigsbys eigenem Heim und der Druckerei handelte.

Anstandshalber und der Vernunft wegen hatte Matthew sich dagegen gewehrt, Einzelheiten der Geschichte preiszugeben. Doch mit der Zeit war seine Schutzhaltung geschwächt und schließlich überwältigt worden. In der dritten Septemberwoche war Die unsägliche Geschichte der Abenteuer unseres Matthew Corbett mit garstigsten Bösewichten und der Gefahr eines gräulichen Todes, Teil eins gesetzt und gedruckt worden, und Grigsby stand vor Fleiß und Einbildungskraft förmlich in Flammen.

Am Tag vor Erscheinen der Zeitung war Matthew ein dreiundzwanzig Jahre alter Mann gewesen, den das Schicksal und die Umstände vom verwaisten New Yorker Straßenjungen zum Gerichtsdiener und dann zum Ermittler der in London gegründeten Herrald Vertretung befördert hatten. Am folgenden Nachmittag rannte ihm eine immer größer werdende Menschentraube hinterher, die ihm Federn, Tintenfässer und Ohrenkneifer hinhielt, damit er seinen Namen quer über das erste Kapitel des Abenteuers schreiben konnte, das er kaum noch wiedererkannte. Anscheinend hatte Marmaduke einfach alles erfunden, was er nicht wusste.

Als in der vorigen Woche der dritte und letzte Teil herauskam, war Matthew von einem einfachen Einwohner der im Jahre 1702 fast fünftausend Köpfe zählenden Stadt New York zu einem Ritter der Gerechtigkeit geworden, der nicht nur den Zusammenbruch der Kolonialwirtschaft verhindert, sondern auch alle jungen Mädchen der Stadt vor Schändung durch Chapels Schergen bewahrt hatte. Quer durch einen verrottenden Weinberg sei er mit Berry um sein Leben gerannt, verfolgt von fünfzig Mördern und zehn dressierten Geiern. Und er habe mit einem Trio von blutdürstigen preußischen Schwertkämpfern gefochten. Nun ja, in diesen ausgedachten Geschichten steckte tief ein Körnchen Wahrheit drin, doch es rankten sich die Auswüchse von Fantasie drumherum.

Nichtsdestotrotz war die Serie ein Segen für Grigsby und den Ohrenkneifer, und es wurde nicht nur in den Schänken, sondern auch an den Brunnen und Pferdetrögen diskutiert. Man erzählte sich, dass eines Nachmittags sogar der Gouverneur Lord Cornbury am Broad Way beobachtet worden war, wie er, zur Huldigung seiner Base Queen Anne mit blonder Perücke, weißen Handschuhen und Weiberkleidern herausgeputzt, verzückten lilafarben angemalten Auges die neueste Ausgabe las.

An der Kreuzung von Queen Street und Wall Street umwirbelte ein forscher Windstoß Matthew mit einem Geruchsbouquet aus Fisch, Teereimern, Werftpfählen, Vieh und Futter, dem Inhalt der aus den Fenstern auf das Straßenpflaster gekippten Nachttöpfe und dem bittersüßen gärenden Geruch des East River. Wenn Matthews sich schon nicht im Herzen von New York befand, dann zumindest in der Nase der Stadt.

Der Wind hatte in vielen der an den Straßenkreuzungen hängenden Laternen die Flammen ausgelöscht. Es war gesetzlich vorgeschrieben, dass jedes siebte Haus außen eine Laterne hängen haben musste, aber an diesem Abend war kein Mensch in der Lage, dem Wind zu befehlen, einen Docht zu verschonen – weder die ihre Runden ziehenden Wachtmeister noch ihr Vorgesetzter Lillehorne, trotz seiner Arroganz.

Das unaufhörliche Getöse, das um siebzehn Uhr begonnen hatte und keinerlei Anzeichen des Abschwellens zeigte, hatte Matthew zu dem philosophischen Gedankenaustausch mit dem brüllenden Sturm inspiriert. Jetzt musste er sich beeilen, denn selbst ohne die Silberuhr in seiner Westentasche zu konsultieren, wusste er, dass er um einige Minuten zu spät dran war.

Nun mit den Windböen im Rücken überquerte Matthew die Pflastersteine der Broad Street und erspähte im gequälten Licht einer noch flackernden Laterne seinen Zuchtmeister, der bereits auf ihn wartete. Ihre Amtsstube befand sich nur ein kleines Stück weiter in der Stone Street 7, eine schmale Stiege ins Dachgeschoss hoch. Dort spukten angeblich die Vormieter, die einander im Streit über Kaffeebohnen ermordet hatten. Matthew hatte in den letzten Wochen Knarzen und dumpfe Schläge gehört, aber er war sich sicher, dass das lediglich die Altersbeschwerden eines holländischen Gemäuers gewesen waren, das tiefer in die englische Erde sank.

Noch bevor Matthew Hudson Greathouse erreicht hatte, der eine Wollmütze und einen wie Rabenschwingen flatternden langen dunklen Mantel trug, kam dieser bereits auf ihn zu und rief im Vorbeigehen laut in den Wind: »Mir nach!«

Matthew verlor seinen Dreispitz fast aufs Neue, als er sich umdrehte, um ihm zu folgen. Greathouse marschierte in den Sturm hinein, als ob er ihm gehörte.

»Wohin gehen wir?«, schrie Matthew, aber entweder wurden seine Worte fortgeweht oder Greathouse zog es vor, nicht zu antworten.

Obwohl sie durch ihre Arbeit für die Herrald Vertretung viel miteinander zu tun hatten, würde niemand die beiden Ermittler für Brüder halten. Matthew war groß und schlank, aber zäh wie Schilfrohr. Sein hageres Gesicht endete in einem langen Kinn und die Haare unter seinem Dreispitz waren schwarz und fein. Sein vom Laternenlicht beschienener blasser Teint sprach von seinem Interesse an Büchern und abendlichem Schachspiel in seiner Lieblingsschänke, dem Trot Then Gallop. Seit seiner neuen Berühmtheit, die er durchaus gerechtfertigt fand – schließlich war er im Einsatz für Gerechtigkeit tatsächlich fast ermordet worden –, interessierte er sich für die Art von Kleidung, die sich für einen New Yorker Gentleman geziemte. In seinem neuen schwarzen Anzug, der wie die dazugehörige Weste von schmalen grauen Streifen durchzogen war, sah er wie ein Dandy aus. Es war einer von zwei Anzügen, die Benjamin Owles für ihn geschneidert hatte. Seine neuen schwarzen Stiefel, die erst am Montag geliefert worden waren, glänzten hochpoliert. Er hatte sich einen Spazierstock aus Schwarzdorn bestellt, wie ihn viele der gut situierten jungen Gentlemen der Stadt besaßen – doch da das vornehme Stück aus London verschifft wurde, würde er erst im Frühling in den Genuss seines Stocks kommen. Matthew hielt sich so sauber wie einen Seifennapf und rasierte sich stets glatt. Seine kühlen grauen Augen mit ihrem Anflug von Dämmerungsblau waren klar und an diesem Abend sorgenlos. Ihr aufrichtiger und fester Blick konnte, so würde mancher sagen – und Grigsby hatte es in seinem zweiten Artikel so ausgedrückt – einen Schurken dazu bringen, seine bösen Laster abzulegen, bevor sie so schwer wie Gefängnisketten wurden.

Der alte Zeitungsknabe wusste schon, wie man die Wörter drehen konnte, dachte Matthew.

Hudson Greathouse, der nach links abgebogen war und jetzt mehrere Längen vor ihm die Broad Street gen Norden entlangschritt, unterschied sich von Matthew wie ein Hammer von einem Dietrich. Siebenundvierzig Jahre alt, breitschultrig und stattlich, war er einen Meter neunzig groß, von einer Statur und einem Körperbau, der die meisten anderen Männer dazu veranlasste, mutsuchend zu Boden zu schauen, wenn sie auf ihn trafen. Wenn der schroff aussehende Greathouse mit den tief liegenden schwarzen Augen seinen Blick durch einen Raum schweifen ließ, schienen die Männer in dem Zimmer aus Angst, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, zu erstarren. Auf Frauen war der Effekt das genaue Gegenteil. In Gegenwart von Greathouses Limonen-Rasierseife hatte Matthew die frommsten Frauen zu tändelnden Kokotten werden sehen. Und im Gegensatz zu Matthew konnte der große Mann mit den wechselhaften Launen der neuesten Mode nichts abgewinnen. Ein teuer geschneiderter Anzug kam für ihn nicht infrage; modischer als ein hellblaues Rüschenhemd, sauber aber abgetragen, und einfache graue Kniebundhosen, dazu simple weiße Strümpfe und kräftige, ungeputzte Stiefel mochte er es nicht. Seine dichten Haare unter der Mütze waren eisengrau und mit einem schwarzen Band zu einem Zopf zurückgebunden.

Wenn die beiden außer der Herrald Vertretung noch eine Gemeinsamkeit hatten, dann waren es Narben. Matthews Ehrenabzeichen war ein Halbkreis, der kurz über der rechten Augenbraue begann und sich zum Haaransatz nach oben zog; ein lebenslanger Denkzettel an einen Kampf mit einem Bären vor drei Jahren in der Wildnis – und er konnte sich glücklich schätzen, diesen überlebt zu haben. Greathouse besaß eine gezackte Narbe, die die linke Augenbraue durchtrennte, und die ihm – wie er verdrießlich erklärt hatte – von seiner dritten Gattin mittels einer geworfenen, zerbrochenen Teetasse beigebracht worden war. Seiner ehemaligen Gattin natürlich, und Matthew hatte nie gefragt, was aus ihr geworden war. Um fair zu sein: Greathouse trug seine wahre Narbenkollektion – vom Dolch eines Auftragsmörders, einer Musketenkugel und einem Degenstich verursacht – unter dem Hemd.

Sie näherten sich dem aus gelbem Stein gebautem zweigeschossigen Rathaus, das an der Kreuzung von Broad und Wall Street stand. In manchen der Fenster leuchteten Lampen, denn die Geschäfte der Stadt verlangten nach Überstunden. An einer Seite des Gebäudes stand ein Baugerüst. Auf dem höchsten Punkt des Daches wurde eine kleine Kuppel errichtet, damit die englische Fahne näher am Himmel flattern konnte. Matthew fragte sich, ob der Leichenbeschauer der Stadt, der effiziente, aber exzentrische Ashton McCaggers, sich durch das Hämmern und Sägen der Arbeiter über seinem Kopf gestört fühlte – denn er hauste mitsamt seines seltsamen Museums von Skeletten und grausigen Artefakten im Dachboden des Rathauses. Als Greathouse nach rechts abbog und die Wall Street hinunter auf den Hafen zuhielt, überlegte Matthew, dass McCaggers Sklave Zed bald in der Kuppel sitzen und über die wachsende Stadt und den Hafen blicken würde. Denn Matthew wusste, wie gern der riesige Afrikaner schweigend auf dem Dach saß, während der Rest der Welt zu seinen Füßen Handel trieb, schwitzte, fluchte und sich generell das Leben zur Hölle machte.

Nicht viel weiter, kurz nach einer Schänke, dem Cat’s Paw zu seiner Linken, erkannte Matthew, wohin Greathouse ihn brachte.

Seitdem das Horrorregime des Maskenschnitzers im Sommer ein Ende gefunden hatte, war niemand mehr in der Stadt ermordet worden. Hätte Matthew einem Besucher den Ort nennen sollen, an dem man mit höchster Wahrscheinlichkeit einen Mord miterleben konnte, dann hätte er auf die abgeblätterte rote Tür gezeigt, auf die Greathouse jetzt zuhielt. Das verwitterte rote Schild über der Tür verkündete: The Cock’a’tail. Das zur Straße zeigende Fenster war so oft von sich prügelnden Gästen zerbrochen worden, dass es mit rauen Brettern zugenagelt war, durch die schmutziges Licht auf die Wall Street sickerte. Von den gut ein Dutzend Wirtshäusern in New York war es dasjenige, das Matthew sorgfältig mied. Hier wurde die Ansammlung von Gaunern und Neureichen, die sich für Finanzgenies hielten, bei ihren Streitereien über den Wert von Handelswaren wie Sülze und Biberpelzen vom billigsten, grausigsten und hochprozentigsten Apfelbrandy angeheizt, der je ein Hirn in Flammen gesetzt hatte.

Zu Matthews Schrecken öffnete Greathouse die Tür und drehte sich einladend zu ihm um. Das gelbe Lampenlicht spie einen Nebel aus Pfeifenrauch nach draußen, der sofort vom Wind davon geweht wurde. Matthew biss die Zähne zusammen. Als er sich dem unheilvoll aussehenden Türrahmen näherte, sah er einen Blitz über den finsteren Himmel zucken und hörte hoch oben, von wo Gott auf die verdammten Idioten hinuntersah, Donner krachen. »Tür zu!«, rief sofort eine Stimme, die gleichzeitig brüllte und krächzte wie eine Kanone, die Bullfrösche verschießt. »Ihr lasst den Gestank raus!«

»Na«, sagte Greathouse mit einem wohlwollenden Lächeln, während Matthew den ranzigen Schankraum betrat. »Das wollen wir ja nicht, was?« Er schloss die Tür, und der dürre graubärtige Mann, der hinten auf einem Stuhl saß und beim Massakrieren einer guten Violine unterbrochen worden war, fuhr sofort mit seiner kreischenden Ohrenfolter fort.

Der Bullfrosch mit der Kanonenstimme hinter dem Tresen, der Lionel Skelly hieß und dessen feuerroter Bart fast bis an den unteren Saum seiner fleckigen Lederweste reichte, wandte sich wieder dem Einschenken einer frischen – um das Wort ungenau zu gebrauchen – Tasse Apfelzerstörung für einen Gast zu, der die Neuankömmlinge mit fischkaltem Blick beäugte.

»Hoho!«, sagte Samuel Baiter, ein Mann, der schon ein oder zwei Nasen abgebissen hatte. Außer diesem charmanten Talent war er ein notorischer Spieler und brutaler Frauenschläger, der einen Großteil seiner Zeit unter den Damen in Polly Blossoms rosafarbenen Haus in der Petticoat Lane verbrachte. Er hatte das flache, grausame Gesicht und die platte Nase eines Schlägers, und Matthew registrierte, dass der Mann entweder zu betrunken oder zu dumm war, um von Hudson Greathouse eingeschüchtert zu sein. »Der junge Held und sein Herr! Kommt, trinkt mit uns!« Baiter grinste und hob seine Tasse, aus der eine ölig-braune Flüssigkeit auf die Fußbodenbretter triefte.

Der zweite Mann im Bunde war ein Neuankömmling in der Stadt, der Mitte September aus England eingetroffen war. Er war fast ebenso groß wie Greathouse und hatte ausladende eckige Schultern, die die Nähte seines dunkelbraunen Anzugs strapazierten. Seinen Dreispitz, in der gleichen Farbe wie die Schlammpfützen des Broad Way, hatte er abgenommen und demonstrierte, warum er Bonehead Boskins genannt wurde: Sein Kopf war völlig kahl und seine breite Stirn prangte über einem Paar buschiger, schwarzer Augenbrauen wie eine Wand aus Knochen. Außer dass Boskins Anfang dreißig und arbeitslos war, aber gern in den Pelzhandel einsteigen wollte, wusste Matthew nicht viel über ihn. Der Mann rauchte eine Tonpfeife und sah mit kleinen hellblauen Augen zwischen Matthew und Greathouse hin und her, ohne dass sich irgendein Gefühl außer vielleicht kompletter Gleichgültigkeit in seinem Blick zeigte.

»Wir erwarten jemanden«, gab Greathouse in leichtem Ton zurück. »Aber ein andermal gern.« Ohne auf eine Antwort zu warten, packte er Matthew am Ellbogen und führte ihn an einen Tisch. »Hinsetzen«, murmelte Greathouse, und Matthew zog einen Stuhl zurück und ließ sich darauf nieder.

»Wie Ihr wollt.« Baiter schlürfte an seiner Tasse und streckte die Hand dann hoch empor. Er brachte ein dünnes Lächeln zustande. »Dann auf den jungen Helden. Ich hörte, dass Polly von Euch jetzt ganz hin und weg ist.«

Greathouse setzte sich mit dem Rücken zur Ecke hin. Seine Gesichtszüge waren entspannt.

Matthew sah sich im Schankraum um. Von in den rauchig-schmierigen Dachbalken eingelassenen Haken hing ein knappes Dutzend Lampen an Ketten herab. Sieben andere Männer und eine verkommen aussehende Frau saßen unter einer im Raum schwebenden Wolke Pfeifenrauch. Zwei der Männer lagen, anscheinend vom Rausch überkommen, mit den Köpfen auf dem Tisch in einer grauen Pfütze, bei der es sich möglicherweise um Muschelsuppe handelte. Ach nein, da war noch ein achter Mann mit dem Kopf auf einem Tisch – ebenso von seinen Getränken dahingerafft – zu Matthews Linker. Gerade, als Matthew das grüne Glas der Wachtmeisterlaterne auffiel, hob Dippen Nack sein verquollenes Gesicht und versuchte nicht zu schielen. Der Schlagstock des brutalen Wachtmeisters lag neben einer umgefallenen Tasse.

»Ihr«, ächzte Nack, dann knallte seine Stirn wieder auf die Tischplatte.

»Ganz hin und weg«, fuhr Baiter fort, der offenbar mehr dumm als betrunken war. »Von Euren Abenteuern, meine ich. Ich habe gehört, dass sie Euch eine … wie hat sie’s genannt? Eine Saisonkarte angeboten hat?«

Diese Einladung war tatsächlich bald, nachdem der erste Zeitungsartikel erschienen war, auf elegantem Briefpapier in Matthews Amtsstube eingetroffen. Er hatte nicht vor, davon Gebrauch zu machen, fand es aber eine nette Geste.

»Ihr habt doch über Matthew Corbett gelesen, oder, Bonehead? Wenn es ihn nicht gäbe, könnten wir uns nachts nicht auf die Straße trauen, was? Könnten weder auf einen Brandy noch zum Bumsen raus. Ja, Polly redet ständig über ihn«, sagte Baiter. Eine gewisse Härte lag jetzt in seiner Stimme. »Was für ein Gentleman er ist. Wie gescheit und nobel er ist. Alle anderen Männer sind nur mindere Kreaturen, mit denen man sich abfinden muss. Nutzlose Kreaturen. Aber über ihn, oh, da kann die Hure Lieder singen!«

»Ich glaub‘, die ganze verdammte Geschichte hat sich bloß wer ausgedacht, das denk‘ ich!«, meinte die verschlampte Dame, deren Wurstpelle einst, als sie noch fünfzehn Kilo weniger gewogen hatte, ein Kleid gewesen war. »Das kann ja keiner überleben, mit fünfzig Mann auf einmal zu kämpfen! Das denk‘ ich doch, stimmt’s, George?« Als keine Antwort kam, trat sie gegen den Stuhl des einen unbewussten Trinkbruders, woraufhin er ein leises Stöhnen von sich gab.

»Fünfzig Mann!« Dippen Nack hob wieder den Kopf. Die Anstrengung trieb ihm den Schweiß auf sein rotes Gesicht mit den dicken Engelsbacken. Allerdings war der Wachtmeister Matthews Meinung nach eher mit dem Teufel als einem Engel verwandt. Einer, der die Gefängnisschlüssel stahl, um nachts die Gefangenen anzupinkeln, stand nicht hoch in Matthews Gunst. »Verdammte Lüge! Und ich, wie ich dem scheiß Evans eins auf die Birne gegeben und Corbett das Leben gerettet hab, und dass dann nicht mal mein Name in dem Scheißblatt steht! Und dafür zum Dank krieg‘ ich dann noch ’n Messer in den Arm! Das ist doch ungerecht!« Nack gab einen erstickten Laut von sich, als würde er gleich zu weinen anfangen.

»Natürlich ist der ein Lügner, Sam«, sagte Bonehead und nippte an seinem Humpen. »Aber einen schicken Anzug hat er an. Passt auch gut zu so einem Gockel, der so rumstolziert. Wie viel hat Euch der Anzug gekostet?«, fragte Bonehead, den Blick in die Tiefen seines Getränks gerichtet.

Matthew begann zu ahnen, warum Greathouse ihn hierher gebracht hatte – ausgerechnet hierher, wo zwei Männer in brutalem Streit auf den Fußbodenbrettern verendet waren, die ihm mehr blut- als brandybefleckt aussahen. Von seiner Zeit als Richter Nathaniel Powers‘ Gerichtsdiener wusste Matthew auch, dass selbst Lionel Skelly kein Waisenknabe war, wenn es um Gewalt ging. Der Wirt hatte einst einem Mann die Hand mit einer Axt abgehackt, die er hinter der Theke parat hielt. Es war nicht empfehlenswert, in diesem Etablissement Münzen aus der Kasse mitgehen lassen zu wollen.

Greathouse mischte sich ein, um die Frage zu parieren: »Viel zu viel, finde ich.«

Stille.

Dann stellte Bonehead Boskins langsam seine Tasse hin und richtete seinen Blick auf Greathouse. Boskins sah jetzt ganz und gar wie ein Mann aus, der weder zu betrunken noch zu dumm, aber vielleicht gerade genug von beidem war, um Streit zu suchen. Er schien in der Tat davon überzeugt zu sein, Seitenhiebe austeilen zu können; geradezu erpicht darauf zu sein. »Ich hab mit dem jungen Helden gesprochen«, sagte er. »Nicht mit Euch, alter Mann.«

Ja, dachte Matthew, während sein Herz zu rasen begann und sein Gedärm sich verkrampfte. Ich habe richtig getippt. Der Verrückte hatte sie hergebracht, damit sie in Handgreiflichkeiten verwickelt wurden. Es reichte nicht, dass Matthew in seinen anstrengenden Fechtstunden, dem Zeichnen von Landkarten, dem Laden und Feuern von Pistolen, dem Reiten und ähnlichen für seine Arbeit erforderlichen Fertigkeiten sehr gute Fortschritte machte. Nein, er wurde in den unsinnigen Faustkämpfen, zu denen Greathouse ihn gezwungen hatte, nicht schnell genug besser. Denkt dran, hatte Greathouse oft wiederholt. Ihr greift mit Eurem Verstand an, bevor die Muskeln zum Einsatz kommen.

So wie es aussah, wurde Matthew jetzt der Verstand dieses großen Mannes vorgeführt. Möge Gott uns beistehen, dachte er.

Greathouse erhob sich. Noch lächelte er, auch wenn das Lächeln dünnlippiger geworden war.

Matthew machte eine neuerliche Kopfzählung. Der Fiedler hatte mit dem Geigekratzen aufgehört. War er ein Streicher oder Streiter? George und sein unbewusster Kamerad lagen noch immer mit den Köpfen auf dem Tisch, aber vielleicht würden sie beim ersten Schlagabtausch wieder zum Leben erwachen. Was Dippen Nack tun würde, konnte niemand sagen. Die schlampige Frau grinste. Ihre Schneidezähne hatte man ihr bereits ausgeschlagen. Baiter würde mit dem Abbeißen der Nase wahrscheinlich warten, bis Bonehead einen Kopf eingeschlagen hatte. Die fünf anderen: Zwei sahen wie raubeinige Dockarbeiter aus, die Lust auf einen guten Kampf hatten. Die restlichen drei an einem der hinteren Tische trugen gute Anzüge, die sie vielleicht nicht beschädigen wollten und pafften Pfarrerspfeifen, auch wenn sie mit Sicherheit keine Gotteshirten waren.

Es konnte so oder so ausgehen, dachte Matthew, hoffte aber, dass Greathouse das Risiko zu berechnen wusste.

Statt auf Bonehead zuzumarschieren nahm Greathouse seine Mütze ab, zog sich den Mantel aus und hängte beides an Wandhaken. »Wir wollen hier nur ein Weilchen zusammensitzen. Wie ich schon sagte, wir erwarten jemanden. Weder Mr. Corbett noch meine Wenigkeit suchen Streit.«

Erwarten jemanden? Matthew hatte keine Ahnung, wovon er redete.

»Und auf wen wartet Ihr?« Bonehead lehnte sich an den Tresen und verschränkte seine dicken Arme. Eine Schulternaht drohte zu platzen. »Auf Eure Freundin Lord Cornloch?« Neben ihm fing Baiter zu kichern an.

»Nein«, erwiderte Greathouse. »Wir erwarten einen Mann, den ich möglicherweise für die Herrald Vertretung anheuern werde. Ich dachte mir, dass hier ein interessanter Ort für unser Treffen ist.« In diesem Moment ging die Tür auf. Matthew sah einen Schatten auf der Türschwelle, hörte schwere Stiefel, und Greathouse sagte: »Da ist er ja!«

Der Sklave Zed kam herein, mit einem schwarzen Anzug, weißen Strümpfen und einer weißen Seidenkrawatte bekleidet.

Bis auf kollektives Luftschnappen wurde es totenstill. Matthews Augen drohten ihm aus dem Kopf zu quellen, als er Greathouse mühsam ansah. Die Anspannung seiner Halssehnen brach ihm fast den Nacken. »Habt Ihr den Verstand verloren?«, brachte er heraus.

Kapitel 2

Mit Verstand oder ohne – Greathouses Augen glitzerten und in seiner Stimme schwang Stolz mit, als er sich an den Sklaven wandte: »Aber hallo! Wenn du nicht ehrbar aussiehst!«

Ob Zed das Lob verstand, wusste niemand. Der Sklave blieb mit dem Rücken an die Tür gedrückt stehen. Seine breiten Schultern waren leicht gebeugt, als fürchtete er, den seltenen Frieden in der Schänke aus dem Gleichgewicht zu bringen. Der Blick seiner schwarzen, unergründlichen Augen wanderte von Greathouse zu den anderen Gästen und dann wieder zu Greathouse. Auf Matthew wirkte er fast flehend. Zed wollte genauso wenig hier sein, wie er willkommen war.

»Das ist der Neger vom Leichenbeschauer!«, kreischte die Schlampe. »Ich hab gesehen, wie der ’n toten Mann getragen hat, als wär der ein Sack Federn!«

Das war nicht übertrieben. Zu Zeds Aufgaben unter Ashton McCaggers gehörte der Abtransport Toter von der Straße. Matthew hatte die ungeheure Kraft des Sklaven im Kühlzimmer des Rathauskellers im Einsatz gesehen.

Zed war kahlköpfig und massiv gebaut, fast so groß wie Hudson Greathouse, aber mit breiterem Rücken, Schultern und Brustkorb. Ihn anzusehen war, als werfe man einen Blick auf die mysteriöse Kraft des Schwarzen Kontinents. Er war so schwarz, dass seine Haut im gelben Lampenlicht bläulich zu schimmern schien. Seine Wangen, Stirn und Kinn waren von den Tätowierungsnarben seines Stammes bedeckt, in die ein Z, E und D eingeschnitten worden waren – die Buchstaben, nach denen McCaggers ihn benannt hatte. Der Leichenbeschauer hatte ihm ein paar rudimentäre Brocken Englisch beigebracht, damit er seine Arbeit ausführen konnte. Das Reden konnte er ihm allerdings nicht lehren, denn Zeds Zunge war bereits herausgeschnitten gewesen, bevor das Sklavenschiff New York erreicht hatte.

Skelly dagegen hatte seine Zunge noch und grölte wie aus tiefstem Höllenschlund: »Schafft den Neger raus!«

»Das ist gegen das Gesetz, dass der hier reinkommt!«, schrie Baiter, kaum dass Skellys Stimme nicht mehr die Sägespäne von den Dachsparren rüttelte. Sein rotgeflecktes Gesicht war von selbstgerechter Wut verzerrt, als hätte ihn jemand beleidigt. »Schafft ihn raus oder wir schmeißen ihn raus! Was, Bonehead?«

»Das Gesetz? Gegen welches Gesetz? Ich bin hier der Wachtmeister, Herrgott noch mal!« Nack hatte sich wieder gerührt, aber in seiner Verfassung war es vom sich Rühren bis zum Aufstehen noch ein langer Weg.

Bonehead hatte auf die Drohung, die sein Kamerad gerade von sich gegeben hatte, nicht reagiert. Matthew schien es, als würde Bonehead die massive Statur des Neuankömmlings beäugen, und Bonehead war kein Holzkopf, der seinen Schädel an derartigen Muskeln ramponieren wollte. Allerdings war auch er ein Mann, und wie viele Männer wurde auch er umso streitsüchtiger, je tiefer der Pegel in seinem Trinkbecher sank. Bonehead trank einen mächtigen Schluck flüssigen Mutes und sagte, wenn auch eher in seinen Becher hinein: »Stimmt, verdammt noch mal!«

»Ach, Gentlemen, nehmt doch Vernunft an!« Greathouse hob die Hände und Matthew sah die zahlreichen kleinen Narben und Knötchen auf den viel benutzten Knöcheln des Mannes. »Und Ihr, Sir«, wandte er sich an Baiter, »werdet doch nicht im Ernst jeden Erlass respektieren, den Lord Cornbury unter seinem Kleid hervorzieht?«

»Ich sagte«, ertönte die Stimme des Wirts, die jetzt weniger nach Bullfrosch, sondern mehr nach dem Klicken einer soeben gespannten Pistole klang, »schafft mir das Vieh aus den Augen!«

»Und weg von unsern Nasen«, fügte einer der Gentlemen hinten im Schankraum hinzu, womit Matthew wusste, dass ihnen in diesem Wirtshaus keine einzige Person wohlgesonnen war.

»Na gut.« Greathouse zuckte mit den Schultern, als wäre alles zur Zufriedenheit geregelt. »Dann nur einen guten Tropfen für ihn und wir gehen wieder.«

»Der kann meine Pisse trinken, bevor ich dem einen Tropfen von meinem Brandy einschenke!«, brüllte Skelly, und über Matthews Kopf schwankten die Lampen an ihren Ketten. Skellys Augen waren weit aufgerissen und wild. Sein roter Bart, in dem der tausendfältige Dreck von New York klebte, zuckte wie der Schwanz einer Klapperschlange. Matthew hörte draußen den Wind heulen, hörte ihn kreischen und durch die Ritzen zwischen den Brettern pfeifen, als wollte er das Wirtshaus zersplittern. Die beiden Dockarbeiter waren aufgesprungen. Einer von ihnen ließ seine Knöchel krachen. Warum tun Männer das?, fragte sich Matthew. Um ihre Fäuste größer zu machen?

Greathouse hörte keine Sekunde lang auf zu lächeln. »Also wie wär’s – ich bezahle einen Brandy für mich, und dann lassen wir alle in Ruhe. Passt Euch das?« Zu Matthews Entsetzen war der große Mann – der große Idiot! – bereits auf dem Weg zum Tresen, hielt genau auf die Stelle zu, wo Bonehead und Baiter offensichtlich nur darauf warteten, ihn zusammenzuschlagen. Skelly blieb mit spöttisch verzogenem Mund bewegungslos hinter der Theke stehen, und als Matthew einen Blick auf Zed warf, sah er, dass der Sklave keinerlei Interesse an einem weiteren Schritt auf einen Eklat zu hatte, geschweige denn an einem verschmutzten Trinkbecher.

»Er wird dem Neger zeigen, was ihm passt!«, protestierte die Frau, aber Matthew dachte bereits Ähnliches.

Wir erwarten einen Mann, den ich möglicherweise für unsere Herrald Vertretung anheuern werde, hatte Greathouse gesagt.

Bis dahin hatte Matthew davon noch nichts gehört. Zed einstellen? Einen Sklaven, der lediglich ein paar Brocken Englisch verstand und kein einziges Wort von sich geben konnte? Greathouse brauchte hier keinen Brandy zu kaufen, denn er hatte einen reichlichen Vorrat an hirntötendem Gebräu in seinem Zimmer in Mary Belovaires Gasthaus.

Als Greathouse den Tresen fast erreicht hatte, wichen ihm Bonehead und Baiter wie zwei vorsichtige Wölfe aus. Matthew stand auf, befürchtete eine plötzliche Schlägerei. »Meint Ihr nicht, dass wir …?«

»Hinsetzen«, gab Greathouse mit fester Stimme und einem schnellen Warnblick zurück. »Achtet auf Eure Manieren, wir befinden uns in guter Gesellschaft.«

Gute Gesellschaft am Arsch, dachte Matthew. Zögernd setzte er sich wieder hin.

Die beiden Dockarbeiter schlichen näher. Greathouse beachtete sie nicht. Nack rieb sich die Augen und blinzelte in Richtung der hünenhaften schwarzen Gestalt an der Tür.

»Einen Brandy«, sagte Greathouse. »Euren besten, bitte.«

Skelly bewegte sich nicht.

»Ich zahle«, sagte Greathouse kühl und ruhig, »für einen Brandy.« Er griff in seine Tasche, holte eine Münze heraus und warf sie in den Schlitz der Geldkassette, die auf der Theke stand.

»Na los«, meldete Baiter sich finster zu Wort. »Lasst ihn schon was trinken und das schwarze Tier hinausschaffen, und dann sollen sie doch zur Hölle fahren.«

Greathouse ließ die Augen des störrischen Wirts keinen Moment aus dem Blick. »Genau«, sagte er.

Plötzlich lächelte Skelly, und es war kein erquicklicher Anblick: Er entblößte schwarze, abgebrochene Zähne, und es war ein Lächeln, als versuchte der Teufel, sich einen Heiligenschein zu verpassen. Matthew spürte in dem schrecklichen Lächeln, wie die gefährliche Spannung im Schankraum anstieg, als spannte jemand einen Bogen zum Schuss eines bösartigen Pfeils.

»Aber sicher, Sir, aber sicher doch!«, sagte Skelly und drehte sich um, nahm einen Becher vom Regal und entkorkte eine Flasche des üblichen widerwärtigen Brandys. Mit weit ausholender Geste schenkte er ein und knallte den Becher vor Greathouse hin. »Bitte sehr, Sir. Nun trinkt!«

Stattdessen schätzte Greathouse mit einem Blick seinen Abstand zu Bonehead, Baiter und zwei sich langsam nähernden Hafenarbeitern ab. Die drei gut gekleideten Gentlemen waren aufgesprungen, sogen an ihren Pfeifen und sahen aufmerksam zu. Trotz Greathouses Anweisung stand Matthew wieder auf. Er sah, dass selbst der Sklave sich einsatzbereit duckte – aber wie dieser Einsatz aussehen sollte, konnte Matthew sich nicht vorstellen.

Greathouse streckte die Hand aus und umschloss den Becher mit den Fingern.

»Moment noch, Sir«, sagte Skelly. »Wolltet Ihr nicht den besten Tropfen haben? Erlaubt mir, ihn Euch zu versüßen.« Und damit streckte er den Kopf vor und ließ einen abstoßenden braunen Spuckefaden in den Brandy fallen. »Bitte schön, Sir«, sagte er, wieder mit dem teuflischen Grinsen. »Und jetzt trinkt oder gebt es dem Neger.«

Greathouse starrte den Becher an. »Hm«, machte er. Seine linke Augenbraue, die mit der Teetassennarbe, begann zu zucken. Er schwieg. Bonehead fing an zu lachen und die Frau gackerte. Dippen Nack griff nach seiner Wachtmeisterlaterne und dem schwarzen Schlagstock, versuchte aufzustehen, aber mangels eines dritten Arms blieb ihm der Erfolg versagt.

»Hm«, machte Greathouse wieder und betrachtete den Schaum, der auf dem Brandy trieb.

»Na los, trinkt«, wiederholte Skelly. »Geht so geschmiert runter wie Scheiße, stimmt’s, Jungs?«

Immerhin stimmte ihm niemand zu.

Greathouse ließ den Becher los. Er starrte Skelly in die Augen. »Ich befürchte, Sir, dass der Durst mich verlassen hat. Entschuldigt die Störung. Ich möchte nur meine Münze wiederhaben, denn meine Lippen haben von Eurem … besten Tropfen nicht gekostet.«

»Nein, Sir!« Das Lächeln verschwand, als hätte es jemand weg geohrfeigt. »Ihr habt den Brandy gekauft! Das Geld bleibt da, wo es ist!«

»Aber ich habe keinerlei Zweifel daran, dass Ihr den Brandy zurück in die Flasche gießen könnt. Was Ihr sicher oft tut, wenn Eure Gäste ihre … Portionen nicht austrinken können. Und jetzt … werde ich mir nur mein Geld zurücknehmen, und dann gehen wir.« Er streckte die Hand nach der Kassette aus und Matthew sah Skellys rechte Schulter zucken. Die Hand des Wirts hatte die Axt hinterm Tresen gefunden.

»Hudson!«, brüllte Matthew. Das Blut pochte ihm in den Schläfen.

Aber Greathouse hielt nicht inne. Er starrte den Wirt an, lieferte sich einen Willenskampf mit ihm, während seine Hand sich der Kassette näherte und Skellys sich bereithielt, sie ihm am Handgelenk abzuschlagen.

Ohne Eile griff Greathouse in die Geldkassette und ließ seine Finger auf den Kupfermünzen ruhen.

Es war schwer zu sagen, was daraufhin genau passierte, denn es geschah so wild und schnell, dass es Matthew verschwommen und wie im Traum vorkam, als raubte der bloße Geruch des Brandys einem Mann die Sinne.

Er sah die von Skellys Hand umklammerte Axt in die Höhe schießen. Sah das Lampenlicht an der Schneide reflektieren und hatte keinen Zweifel daran, dass Greathouse die morgige Fechtstunde würde ausfallen lassen müssen. Die Axt erreicht den Zenit, schwebte dort einen Sekundenbruchteil, während Skelly die Zähne zusammenbiss und die Muskeln anspannte, um das Beil durch Fleisch, Sehnen und Knochen fahren zu lassen.

Aber an dieser Stelle verschwamm alles, denn der Axthieb blieb aus.

Von der Tür her kam ein Geräusch wie von Satans kettenrasselnden Sündern. Matthew drehte den Kopf schnell genug, um zu sehen, wie Zed die Kette, die er gerade mit einem Sprung von einem Dachbalken gerissen hatte, einer Peitsche gleich durch die Luft schnellen ließ. Die leuchtende Lampe hing noch am Ende der geworfenen Kette, und als sie durch den Schankraum flog, wand sich die Kette nicht nur um Skellys erhobenen Arm, sondern die Lampe traf den Wirt hart genug an der Brust, um das Glas zu zersplittern. Sofort war offensichtlich, dass ein an Wachs gewöhntes blaues Laternenflämmchen sich über ein Mahl an New Yorker Dreck und Apfelbrandytropfen freuen konnte, denn mit greller Flamme fraß das Feuer sich durch Skellys Bart wie ein Hund durch einen Lammbraten. Tausend Funken wirbelten um Skellys Gesicht. Zed stemmte die Stiefel gegen die Bodenbretter und zerrte den Wirt mit einem Ruck über den Tresen, als landete er einen Wels in ein Ruderboot – nur dass ein Wels noch lange Barthaare hatte.

Skelly knallte mit den Zähnen auf den Boden; möglicherweise eine Verschönerung seines Zahnbilds. Selbst mit dem Mund voller Blut behielt er die Axt fest im Griff. Zed zog ihn mit einem Handgriff nach dem anderen über den Boden. Krachend riss die Rückennaht von Zeds Anzugs über den anschwellenden Muskeln. Als Skelly vor ihm lag, beugte Zed sich zu ihm hinunter, riss ihm die Axt aus der Hand und warf sie mit der Leichtigkeit eines Kindes, das Kieselsteine wirft, an die nächste Wand, wo sie stecken blieb.

Matthew schien es, dass manche Menschen dumm geboren waren: Es konnte keinen anderen Grund dafür geben, dass die beiden Dockarbeiter trotz des soeben Geschehenen Greathouse von hinten ansprangen.

Fäuste flogen, Flüche ergossen sich von den Hafenarbeitern wie Wasserfälle, aber dann hatte Greathouse sie verächtlich abgeschüttelt. Statt sie niederzuschlagen, wie Matthew erwartet hatte, wich Greathouse ihnen aus. Sie trafen die große Fehlentscheidung, sich mit gebleckten Zähnen und benebelten Augen auf ihn zu stürzen.

Sie waren noch keine zwei Schritte weit gekommen, als ein geworfener Tisch sie im Gesicht traf. Das Geräusch der brechenden Nasen war nicht unmusikalisch. Als sie zuckend zu Boden stürzten, erschauderte Matthew, denn er hatte den Luftzug von Zeds Bewegungen im Nacken gespürt – und er wollte von diesem Unwetter nicht getroffen werden.

Skelly saß Blut spuckend und Flüche krächzend auf dem Boden, Baiter stand mit dem Rücken an der Wand und suchte nach einem Schlupfloch, durch das er entkommen konnte, Bonehead trank einen weiteren Schluck Brandy und betrachtete die Szene mit zusammengekniffenen Augen, während die schlampige Frau dastand und Zed Wörter zuwarf, bei denen selbst die Luft vor Scham rot anlief. Greathouse und Matthew sahen gleichzeitig, wie einer der Gentlemen hinten im Schankraum – der, dessen Nase beleidigt worden war – einen kurzen Degen aus seinem an einem Wandhaken baumelnden Gehrock zog.

»Wenn sonst keiner den schwarzen Dreckskerl nach draußen befördert«, verkündete er mit vorgestrecktem Kinn, »dann erlaubt mir, ihn aufzuspießen!«

Greathouse machte einen Schritt nach hinten. Matthew fand, dass jetzt definitiv der Zeitpunkt gekommen war, die relative Sicherheit der Straße aufzusuchen. Aber Greathouse gab keinerlei Anzeichen von sich, dass sie die Flucht ergreifen sollten. Stattdessen hatte er immer noch das aufreizende leichte Lächeln auf den Lippen.

Als der Mann mit dem Degen sich näherte, warf Zed Greathouse einen Blick zu, in dem Matthew eine Frage wahrzunehmen meinte. Aber was es auch gewesen war, Greathouse ging nicht darauf ein. Dippen Nack hatte es auf die Beine geschafft und hielt den Schlagstock hoch, um seine Art von Gerechtigkeit walten zu lassen. Als er einen wankenden Schritt auf Zed zu machte, packte Greathouse ihn am Kragen, sah ihm ins Gesicht und schubste ihn wie ein unartiges Kind mit einem bestimmten »Nein!« in einen Stuhl. Nack versuchte nicht wieder aufzustehen – und das war auch besser so.

Mit einem markerschütternden Aufschrei warf die Schlampe des Hauses einen Becher nach Zed, um ihm den Kopf zu spalten. Noch bevor das Wurfgeschoss sein Ziel erreichte, hatte Zed es schon mit einer Hand gefangen. Nach kurzem Zögern schmiss Zed dem Degenmann den Becher an die Stirn, woraufhin der Fechter wie in einen Sarg zu Boden fiel.

»Mor! Mor!«, brüllte Skelly, offensichtlich in dem Versuch, Mord zu schreien. Allerdings war sein Mund dem Wort nicht gewachsen. Nichtsdestotrotz krauchte er wie eine stinkende Krabbe an Zed vorbei und aus der Tür hinaus auf die Wall Street: »Mor! Mor!«. Er hielt direkt auf das Cat’s Paw gegenüber zu.

Bonehead Boskins nahm dies als Anlass zu handeln. Schneller, als man von einem Mann seiner Größe erwartet hätte, sprang er einen Schritt nach vorn und schüttete Zed den Rest seines Brandys in die Augen.

Der Sklave gab einen kehligen Schmerzenslaut von sich und stolperte nach hinten, die Hände erhoben, um sich die Augen zu reiben. Daher sah er – im Gegenteil zu Matthew und Greathouse – den Messingschlagring nicht, den Bonehead aus der Tasche zog und flink über die Knöchel seiner rechten Faust streifte.

Matthew reichte es. »Aufhören!«, schrie er und wollte sich neben Zed stellen, aber eine Hand packte ihn am Gehrock und zerrte ihn aus der Gefahrenzone.

»Ihr bleibt, wo Ihr seid«, herrschte Greathouse ihn in einem Ton an, der besagte, dass Widerspruch zwecklos war.

Als Baiter sah, dass der Brandy Zed die Sehkraft geraubt hatte, entdeckte er seinen Mut. Er warf sich auf Zed, schlug ihm auf den linken Wangenknochen und trat ihm derartig hart gegen das Schienbein, dass das Geräusch Matthew glauben ließ, der Knochen sei gebrochen. Plötzlich schossen zwei schwarze Hände vor. Irgendetwas riss lautstark und Baiter hatte den Großteil seines Hemds verloren. Fast wie nebenbei kam ein Ellbogen zum Einsatz, und die Stummelnase über Baiters gaffendem Mund platzte, dass das Blut zu den Lampen hochspritzte. Baiter greinte wie ein Säugling nach seiner Mutter und fiel zu Boden. Er krabbelte zu Bonehead und umschlang dessen Beine. Der jedoch brüllte: »Verpiss dich, Mann!«, und trat sich brutal frei. Zed tupfte sich mit Baiters Hemd den Rest des Brandys aus den brennenden Augen.

Dann kam der Moment, den Matthew für unvermeidlich gehalten hatte: Die beiden kahlköpfigen Männer gerieten aneinander.

Bonehead wartete nicht auf eine Einladung. Kaum, dass er den schluchzenden Baiter beiseitegetreten hatte, sprang er auf Zed zu und hieb mit dem Schlagring nach dessen Gesicht. Die Faust beschrieb einen Bogen durch die Luft, denn Zed hatte sich geduckt. Der zweite Schlag hatte das gleiche Resultat. Bonehead drängte sich an seinen Gegner heran, den linken Arm zur Abwehr erhoben, um mit dem rechten mordlustig auf Zed einzuprügeln.

»Immer drauf! Immer drauf!«, schrillte das Weib.

Bonehead versuchte es mit aller Macht und brutaler Gewalt. Nur blieb ihm der Erfolg versagt, denn wo er auch mit seiner messingbewehrten Faust zuschlug, war kein Zed zu treffen. Schneller und schneller regneten die Schläge nieder, aber Zed wich ihnen umso schneller aus. Boneheads Stirn glänzte von Schweiß und sein Atem wogte wild in seiner Brust.

Eine Gruppe Männer, anscheinend vom Cat’s Paw, begann sich betrunken grölend durch die nach Skellys ungeschicktem Hinauskrabbeln an einer Angel hängengebliebenen Tür zu drücken. Zed beachtete sie nicht. Seine gesamte Aufmerksamkeit war darauf konzentriert, dem Schlagring auszuweichen.

»Steh still und kämpfe, du kackschwarzer Feigling!«, brüllte Bonehead. Speichel flog ihm aus dem Mund und seine Schläge wurden immer ungenauer und schwächer.

Verzweifelt griff Bonehead mit der linken Hand nach Zeds Krawatte, um ihn stillzuhalten. Doch kaum, dass seine Finger den Seidenstoff umschlossen, holte Zed zu einem Kinnhaken aus. Das solide und schreckliche Krachen von Fleisch auf Fleisch ließ das betrunkene Gegröle verstummen, als hätte sich soeben ein religiöses Wunder ereignet. Boneheads Augen rollten in ihren Höhlen zurück, seine Knie wurden schwach, aber er klammerte sich noch immer an Zed und seine rechte Faust schwang mehr instinktiv als geplant nach oben, denn sein Gehirn war offensichtlich nicht mehr ganz bei der Sache.

Zed wich dem Schlag durch eine leichte Kopfbewegung mühelos aus. Dann hob er Bonehead Boskins wie einen Sack Maismehl hoch, holte mit ihm aus und warf ihn mit dem Knochenkopf voran durch das zugenagelte Fenster, das schon so viele andere, wenn auch kleinere Opfer von Streitereien passiert hatten. Als Bonehead auf seinem schmerzhaften Weg auf die Wall Street hinaus durch die Bretter krachte, erzitterte die gesamte Fassade des Wirtshauses so stark, dass die dort versammelten Männer Angst hatten, es würde über ihnen zusammenstürzen. Als schreiende Masse liefen sie um ihr Leben. Die Dachsparren ächzten, Sägespäne rieselten herunter und die Ketten quietschten, als die Lampen an ihnen hin und her pendelten.

Hauptwachtmeister Gardner Lillehorne tauchte im ramponierten Türrahmen auf. »Was, in Teufels Namen, geht hier vor?«

»Sir! Sir!« Nack war wieder auf den Beinen und stolperte zur Tür. Matthew fiel auf, dass der Wachtmeister entweder seinen Brandy auf der Hose verschüttet hatte oder dringend einen Nachttopf brauchte. »Hab versucht’s zu unterbinden, Sir! Ich schwör’s!« Er kam in Zeds Nähe und schreckte zurück, als befürchtete er, das Wirtshaus auf Boneheads Art zu verlassen.

»Schweigt«, gab Lillehorne zurück. In einen visuell schwer verdaulichen, aber modisch kürbisfarbenen Anzug und Dreispitz, mit gelben Strümpfen und polierten braunen Stiefeln gekleidet, betrat er den Schankraum und rümpfte angeekelt die Nase, als er die Szene betrachtete. »Gibt es Tote?«

»Der Neger wollte uns umbringen!«, kreischte das Weib. Sie hatte sich die Freiheit genommen, die nicht ausgetrunkenen Brandybecher vom Tisch der Dockarbeiter zu holen, und hielt in jeder Hand einen. »Guckt doch, was er diesen armen Seelen angetan hat!«

Lillehorne schlug mit seiner behandschuhten Linken auf den silbernen Löwenkopf seines schwarzlackierten Spazierstocks. Sein langes bleiches Gesicht mit dem sorgfältig getrimmten schwarzen Ziegenbart und Schnauzer war dem Raum zugewandt. Seine schmalen schwarzen Augen waren von der gleichen Farbe wie sein mit einem gelben Band zu einem Zopf gebundenes Haar, von dem manche sagten, es sei mit indischer Tinte gefärbt.

Baiter greinte noch immer und hielt die Hände über die Überreste seiner Nase. Die Hafenarbeiter begannen sich zu rühren. Einer der beiden erbrach einen Strom übelriechender Flüssigkeit, die Lillehorne nach Luft schnappen und ein gelbes Taschentuch vor seine Nasenlöcher halten ließ. George und sein Freund waren wieder bei Bewusstsein, saßen aber immer noch an ihrem Tisch und blinzelten, als wunderten sie sich, was eigentlich die ganze Aufregung verursacht hatte. Zwei der Gentlemen versuchten den Degenkämpfer wiederzubeleben, dessen Beine zu zucken angefangen hatten, als wollte er vor dem Becher davonlaufen, der ihn ins Land der Träume befördert hatte. Hinten im Schankraum stand der Fiedler beschützend vor seiner Geige. Schaulustige riefen fröhlich von der Straße herein und spähten durch die Tür und das Loch, durch das Bonehead das Wirtshaus verlassen hatte.

»Widerwärtig«, sagte Lillehorne. Sein kalter Blick glitt über Matthew hinweg, fiel auf den riesigen Sklaven, der bewegungslos mit hängendem Kopf dastand, und blieb an Hudson Greathouse hängen. »Als ich Skelly zwei Straßen weiter brüllen hörte, hätte ich wissen sollen, dass Ihr hier seid. Ihr seid der einzige in dieser Stadt, der dem alten Knaben dermaßen Angst einjagen kann, dass er seinen Bart verliert. Oder ist der Sklave für das hier verantwortlich?«

»Ich weiß das Kompliment zu schätzen«, meinte Greathouse, der immer noch sein selbstzufriedenes und ärgerlich aufreizendes Lächeln im Gesicht hatte. »Aber ich bin mir sicher, dass Ihr, wenn Ihr mit den Zeugen sprecht – den nüchternen Zeugen, meine ich –, hören werdet, wie Mr. McCaggers‘ Sklave lediglich vermieden hat, verletzt zu werden. Und mich ebenso davor bewahrte – auf äußerst fähige Weise, finde ich.«

Lillehorne wandte seine Aufmerksamkeit Zed zu, der den Boden fixierte. Einige der Rufe draußen begannen böse zu klingen. Matthew hörte »Leichengräberneger«, »kackschwarzes Biest« und Schlimmeres, gepaart mit »Mord« und »teeren und federn.«

»‘s ist gegen’s Gesetz!« Nack erinnerte sich plötzlich an seinen Posten. »Sir! ‘s ist gegen’s Gesetz für ‘n Sklaven, inner Schänke zu sein!«

»Ins Gefängnis mit ihm!«, schrie das Weib zwischen mehreren Schlucken Brandy. »Zur Hölle auch, die sollen alle unters Gefängnis!«

»Das Gefängnis?« Greathouse zog die Augenbrauen hoch. »Ach, Gardner! Findet Ihr, dass das eine gute Idee ist? Ich meine … drei oder vier Tage da drin – selbst nach nur einem Tag wäre ich vielleicht schon zu schwach, meinen Pflichten nachzukommen. Und da ich und ich allein ganz freimütig zugebe, diesen Ort als Treffpunkt für Mr. McCaggers‘ Sklaven ausgesucht zu haben, würde ich derjenige sein, den das Gesetz bestraft.«

»Ich denke, die gehör‘n an den Pranger, Sir! Allesamt!« Nacks bösartige kleinen Äuglein glänzten. Er drückte Matthew den Schlagstock gegen die Brust. »Oder sie haben‘s Brandeisen verdient!«

Lillehorne schwieg. Die Rufe auf der Straße wurden immer wilder. Er legte den Kopf schief, sah zu Greathouse, dann zu Zed hinüber und daraufhin wieder zu Greathouse. Der Hauptwachtmeister war ein zierlicher schlanker Mann, der um einiges kleiner als Matthew war und neben den beiden großen Männern wie ein Zwerg wirkte. Trotzdem war sein Ehrgeiz, in New York aufzusteigen, der eines Goliaths. Eines Tages Bürgermeister oder gar Gouverneur der Kolonie zu werden war sein erklärtes Ziel.

»Was wird‘s also sein, Sir?«, drängte Nack. »Der Pranger oder das Brandeisen?«

»Gut möglich, dass der Pranger schon besetzt sein wird«, erwiderte Lillehorne, ohne Nack anzuschauen. »Und zwar mit einem feigen Wachtmeister, der sich im Dienst besinnungslos betrunken hat und diesen Gesetzesbruch unter seiner Nase geschehen gelassen hat. Und hört bitte auf, von Brandeisen zu reden, sonst bekommt Ihr noch eins auf den Hintern.«

»Aber … Sir … ich meine …«, stotterte Nack, der knallrot angelaufen war.

»Ruhe.« Lillehorne scheuchte ihn mit dem Spazierstock zur Seite. Dann machte er einen Schritt auf Greathouse zu und starrte ihm fast die Nasenlöcher hoch. »Hört mir gut zu, Sir. Ich lasse mich nicht herumschubsen, verstanden? Egal, worum es geht. Ich weiß nicht, was für ein Spielchen Ihr heute Abend spielt, und vielleicht will ich es auch gar nicht wissen. Aber ich will nicht, dass es wieder vorkommt. Habe ich mich verständlich ausgedrückt, Sir?«

»Ganz und gar«, erwiderte Greathouse ohne zu zögern.

»Ich will Genugtuung!«, schrie der gefallene Fechter, der mit einer großen Beule auf der Stirn auf dem Boden saß.

»Es reicht, dass Ihr ein Dummkopf seid, Mr. Giddins.« Lillehornes Stimme war ruhig, klar und eiskalt. »Auf das Ziehen eines Degens in der Öffentlichkeit mit dem Vorhaben, Schaden anzurichten, steht eine Strafe von zehn Peitschenhieben. Möchtet Ihr immer noch Genugtuung?«

Giddins sagte nichts, streckte aber die Hand aus und nahm seinen Degen an sich.

Das Gegröle auf der Straße, das immer mehr Männer – oder Betrunkene und Raufbolde – aus den anderen Wirtshäusern anzog, wurde lauter und verlangte nach Gerechtigkeit in der Form von Gewalt. Zed hielt weiter den Kopf gesenkt und Matthew stand der Schweiß im Nacken. Selbst Greathouse begann leicht beunruhigte Blicke auf den einzigen Ausgang zu werfen.

»Manchmal ärgere ich mich über das, was zu tun ich gezwungen bin«, sagte Lillehorne. Dann sah er Matthew an und verzog spöttisch das Gesicht. »Seid Ihr es immer noch nicht müde, den jungen Helden zu spielen?« Ohne auf Antwort zu warten, fuhr er fort: »Also los. Ich geleite Euch nach draußen. Nack, Ihr haltet hier Wache, bis ich jemanden Gescheiteres schicke.« Den Spazierstock schulterhoch erhoben marschierte er auf die Tür zu.

Greathouse nahm seine Mütze und den Mantel und ging ihm hinterher, gefolgt von Ted und Matthew. Die Schänkengänger, die noch der Sprache mächtig waren, warfen ihnen Flüche hinterher, und Nack bedachte den jungen Angestellten der Herrald Vermittlung mit mordlustigen Blicken. Die dreißig oder mehr Männer und ein halbes Dutzend betrunkene Frauen zählende Menge auf der Straße drängte sich an den Eingang.

»Macht Platz! Alle Mann Platz machen!«, befahl Lillehorne, aber selbst die Stimme eines Hauptwachtmeisters reichte nicht aus, die aufgebrachten Gemüter zur Raison zu bringen. Matthew wusste nur zu gut, dass es drei Dinge gab, die in New York einen Menschenauflauf verursachten, egal um welche Uhrzeit: ein Hausierer, der Stadtschreier und die Aussicht auf einen Faustkampf.

Durch die aufgebrachten Menschen hindurch sah er, dass Bonehead seine Reise durchs Fenster mit einer Platzwunde auf der Augenbraue überlebt hatte. Für einen Kampf war er jedoch offensichtlich noch nicht ausreichend genesen, denn er torkelte Schläge in die Luft austeilend wie ein Kreisel umher. Jemand packte ihn an den Armen und hielt sie fest, ein anderer schnappte ihn um die Taille, und dann sprangen fünf andere Männer grölend auf ihn. Jeder kämpfte gegen jeden und Bonehead wurde verprügelt, ohne einen einzigen Schlag austeilen zu können. Ein dürrer alter Bettler streckte eine Schellentrommel in die Luft, tanzte und schüttelte sie – aber ein Mann mit Musikgeschmack schlug sie ihm aus der Hand, woraufhin der Bettler zu kämpfen und zu fluchen begann wie ein Rasender.

Die restlichen Menschen drängten sich immer noch um ihre wahre Beute: Zed. Sie zerrten an ihm und sprangen dann schnell weg. Einer riss an seinem zerfetzten Gehrock, aber Zed behielt den Kopf gesenkt und reagierte nicht. Abstoßendes Gelächter – das Gelächter von Scheusalen und Feiglingen – stieg in den Nachthimmel. Matthew merkte auf dem langsamen und gefährlichen Weg die Wall Street hinunter plötzlich, dass der Wind sich gelegt hatte. Kein Luftzug bewegte sich und er konnte das Meer riechen.

»Hört zu.« Greathouse war neben Matthew angelangt. Seine Stimme klang angespannt – eine große Seltenheit. »Morgen früh um halb acht bei Sally Almond. Dann erkläre ich Euch alles.« Eine Flasche zersplitterte an einer Wand und er stockte einen Moment. »Falls wir hier mit heiler Haut rauskommen«, fügte er hinzu.

»Aus dem Weg! Und zwar alle!«, schrie Lillehorne. »Ich meine es ernst, Spraggs! Lass uns vorbei, oder ich schwöre, ich schlag dir das Hirn aus dem Kopf!« Er hob seinen Spazierstock, hauptsächlich als Effekthascherei. Der Menschenauflauf wurde immer größer und Hände ballten sich zu Fäusten. »Nelson Routledge! Habt Ihr nichts Besseres zu tun, als …« Er beendete seinen Satz nicht, denn in der nächsten Sekunde waren schon keine Worte mehr nötig.

Zed hob den Kopf dem schwarzen Himmel entgegen und gab tief in seiner Kehle einen Laut von sich, der ähnlich dem Brüllen eines verwundeten Stiers begann und hoch und höher emporstieg, hoch in die furchterregende Leere über den Dächern und Schornsteinen, den Docks und Scheunen, den Pferchen und Ställen und Schlachthäusern. Zuerst hörte er sich wie ein verwundeter Stier an, ja – aber irgendwo in seinem Höhenflug wurde aus dem Schrei der eines kleinen Kindes, das verlassen war und Angst vor der Dunkelheit hatte.

Das Geräusch erstickte allen Lärm. Man konnte hören, wie der Schrei in eine Richtung über die Stadt hinwegrollte und in die andere über das Wasser.

Alle Hände erstarrten. Alle Fäuste öffneten sich und alle Gesichter, selbst die höhnischen, versoffenen und gemeinäugigen, überfiel um den Mund herum die Beklemmung von Scham, denn jeder in der Menge kannte Wörter für Qual, aber niemand hatte darüber je so schrecklich ausdrucksvoll reden gehört.

Zed senkte wieder den Kopf. Matthew starrte zu Boden. Es war an der Zeit, dass sich alle zu ihren Frauen, Ehemännern, Liebhabern und Kindern nach Hause begaben. In ihre Betten. Nach Hause, wo sie hingehörten.

Blitze zuckten, Donner grollte, und noch bevor die Menschenmenge sich auflöste, ergoss der Regen sich mit solch wütender Gewalt auf sie, als hätte die Welt sich auf ihrer Achse verschoben und als drängte der kalte Atlantik in Flutwellen an Land. Manche rannten, um sich unterzustellen, andere stapften langsam mit hochgezogenen Schultern und grimmigen Gesichtern von dannen, und innerhalb weniger Minuten lag die Wall Street leer in den Regenfluten da.

Kapitel 3

»Also gut.« Matthew faltete auf dem Tisch die Hände. Er hatte gerade seinen Dreispitz an einen Haken gehängt und sich hingesetzt, aber Greathouse war zu beschäftigt damit, sein aus acht Eiern, vier ölig glänzenden Würstchen und sechs Maisfladen bestehendes Frühstück auf dem riesigen roten Servierteller zu verzehren, um ihm Aufmerksamkeit zu zollen. »Worum geht’s?«

Greathouse hielt beim Essen lange genug inne, um an seinem Tee zu nippen, der so heiß und schwarz war, wie es Sally Almonds Schänke in der Nassau Street zu servieren nur möglich war.

Man konnte sich kaum einen größeren Unterschied vorstellen als zwischen diesem geachteten Wirtshaus und der abstoßenden Pinte, die sie am Abend zuvor besucht hatten. Das Rathaus war einst der Mittelpunkt der Stadt gewesen, aber jetzt konnte man sagen, dass Sallys Gaststätte – ein ordentliches weißes Steinhaus mit grauem Schieferdach, über das eine massive Eiche ragte – diese Bezeichnung verdiente, denn die Straßen und Häuser dehnten sich immer mehr gen Norden aus. Die Schänke war warm und freundlich und roch stets nach Gewürzen, Räucherfleisch und frischgebackenem Kuchen. Die Fußbodenbretter wurden peinlich sauber gehalten, hie und da standen Vasen mit frischen Blumen, und beim ersten Herbstfrost wurde der große offene Kamin angefeuert. Sally Almonds Schänke wurde sowohl von Einheimischen als auch Durchreisenden zum Frühstück, Mittagstisch und Abendessen frequentiert, und Madam Almond spazierte oft mit einer Laute zwischen den Tischen umher und sang mit leichter und sehr angenehmer Stimme.

Die ganze Nacht über hatte es geregnet, doch zur Morgendämmerung hatte es aufgehört. Aus einem großen Fenster, das zu den Fußgängern, vorbeiratternden Pferdewagen, Karren und dem Vieh in der Nassau Street hinausging, konnte man silberne Streifen Sonnenlicht die Wolken durchbrechen sehen. Direkt gegenüber lag Mary Belovaires gelbgemauertes Gasthaus, in dem Greathouse wohnte, bis er, so seine Worte, »eine passendere Unterkunft für einen Junggesellen« finden konnte. Damit meinte er, dass Madam Belovaire bei aller Freundlichkeit dazu neigte, das Kommen und Gehen ihrer Gäste zu überwachen und dabei so weit ging, ihnen den regelmäßigen Besuch des Gottesdienstes, des Nichtgebrauchs von Schimpfworten und Alkohol, sowie beste Manieren im Umgang mit dem anderen Geschlecht gegenüber nahezulegen. All das verursachte bei Greathouse ständiges Zähneknirschen. Neuerdings hatte Madam Belovaire sich als Ehevermittlerin versucht und ihm eine ganze Anzahl respektabler und anständiger Damen vorgestellt, die in Greathouse ungefähr das gleiche Interesse wie eine Schüssel Sülze erregten. Daher war es nicht verwunderlich, dass Greathouse in letzter Zeit in der Stone Street 7 bis tief in die Nacht hinein arbeitete. Matthew wusste, dass der Mann dort in Gesellschaft einer Brandyflasche auf einem schmalen Klappbett schlief.

Was nicht heißen soll, dass die beiden sich in den letzten Wochen gelangweilt hatten. Ganz im Gegenteil. Seit die Herrald Vermittlung im Ohrenkneifer so häufig erwähnt worden war, hatte es keinen Mangel an Briefen und Besuchern gegeben, die Probleme gelöst haben wollten. Matthew war einem jungen Mann zur Hilfe gekommen, der sich in eine Indianerin verliebt hatte und ihrem Vater, dem Häuptling, beweisen wollte, dass er ihrer wert war. Dann war da noch der sonderbare und verstörende Ritt durch die Nacht gewesen, auf dem Matthew geschlussfolgert hatte, dass nicht alle Kreaturen auf Gottes Erde von Gott erschaffen worden waren, und außerdem der Zwischenfall bei einer Partie Jingo, in der ein Spieler von einer Gruppe Halsabschneider um sein hochgeschätztes Pferd betrogen worden war. Greathouse dagegen hatte die schwere Prüfung im Haus am Ende der Welt durchlitten, die ihn fast sein Leben gekostet hatte, und danach kam die unheimliche Sache mit dem Testament von Dr. Coffin.

Wie Mrs. Herrald Matthew eines Abends beim Essen im Sommer erklärt hatte, als sie ihm Arbeit als Ermittler in der Vertretung angeboten hatte, die ihr Mann Richard in London gegründet hatte: Ihr könnt mir glauben, Matthew, dass nicht nur die Verbrecherwelt Englands in diese Richtung schaut und das Potenzial erkannt hat, sondern die von ganz Europa. Damit meine ich zum Beispiel Entführungen, Fälschungen, Diebstahl und Mord auf Bestellung. Oder den Verstand und die Seele eines Menschen zu beherrschen, um daraus illegalen Gewinn zu schlagen. Ich könnte Euch eine Namensliste der Verbrecher geben, die am wahrscheinlichsten eines Tages hierhergelockt werden. Die kleinen Gauner machen mir keine Sorgen, sondern vielmehr die im Untergrund gedeihende Gesellschaft, die die Fäden zieht. Die äußerst mächtige und lebensgefährliche Gruppe von Männern – und Frauen –, die wie wir jetzt beim Essen sitzt, ihre Messer aber über einer Landkarte der Neuen Welt gezückt hat, und die einen Wolfshunger hat.

Wie wahr, dachte Matthew. Mit dem Mann, der das größte Messer besaß, war er bereits in Berührung gekommen, und in manchen dunklen Momenten kam es ihm vor, als würde ihm die Klinge an den Hals gedrückt.

Greathouse stellte seine Teetasse hin. »Zed ist ein Ga«, sagte er.

Matthew nahm sich, sich verhört zu haben. »Ein Ga?«

»Ein Ga«, antwortete Greathouse. Sein Blick schweifte zur Seite. »Da kommt Evelyn.«

Evelyn Shelton, eine der zwei Bedienungen der Schänke, kam auf ihren Tisch zu. Sie hatte funkelnde grüne Augen und blonde Haare wie eine gekämmte Wolke, und da sie nebenher auch Tanzlehrerin war, besaß sie flinke Füße, die sie sicher durch den morgendlichen Andrang von Gästen trugen. Armreifen aus Elfenbein und Kupfer klirrten an ihren Handgelenken. »Matthew!«, sagte sie mit offenem Lächeln. »Was darf ich Euch bringen?«

Einen neuen Satz Ohren, dachte er, da er immer noch nicht verstand, was ein Ga sein sollte. »Ach, ich weiß nicht. Gibt es heute Brezeln?«

»Frisch gebackene.«

»Die Würstchen sind gut«, empfahl Greathouse, der gerade eins kaute. »Sagt ihm, dass die einen Mann aus ihm machen, Evelyn.«

Ihr Lachen klang wie das Klingeln von Glasglocken. »Oh ja, die sind sehr würzig! Aber sie verschwinden den Leuten so schnell im Schlund, dass wir kaum genug davon hereinbekommen können! Die paar Tage im Monat, an denen wir sie haben – wenn Ihr welche wollt, dann am besten heute!«

»Die Würzwürstchen kann ruhig Mr. Greathouse haben«, entschied Matthew. »Ich nehme eine Brezel, einen kleinen Teller Maissuppe, Speck und Apfelmost. Danke.« Als die Bedienung gegangen war, wandte er seine Aufmerksamkeit wieder Greathouse zu. »Was genau ist denn ein Ga?«