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In seinem zweiten Roman präsentiert der aus Leipzig stammende Komiker und Autor Thomas Nicolai eine Mini-DDR im Schnelldurchlauf: Ein Dorf in Nordsachsen spielt noch einmal DDR, für einen Monat und mit allen Risiken und Nebenwirkungen. Eine satirische Farce gegen unkritische Ostalgie, wie sie aktueller kaum sein könnte. Deutschland im Jahr 2016. Das Dortmunder Ehepaar Beate und Peter Sendler, beide Mitte fünfzig (sie: frustrierte Erzieherin, er: erfolgloser Dokumentarfilmer), zieht ins sächsische Dorf Maulberg und erlebt dort nicht nur eine friedliche Idylle des Miteinanders, sondern auch die Sehnsucht vieler Bewohner nach der »guten alten« DDR. Dass ausgerechnet der Zugezogene die Idee hat, ist für die Maulberger schwer zu akzeptieren, doch der Gedanke ist zu verlockend: Zum 400-jährigen Dorfjubiläum beschließt der Ort ein Experiment: vier Wochen lang zurück in die DDR – mit allem Drum und Dran: altem TV-Programm, Ostprodukten im Supermarkt, der natürlich wieder »Kaufhalle« heißt, mit Pioniertüchern und Republikgeburtstag. Doch das Experiment läuft aus dem Ruder, denn die Maulberger in ihrem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf ... »Zwanzig Brötchen – eine Mark! Ich habs noch erlebt. Das literarische Extrakt, das Herr Nicolai aus diesen seltsamen Zeiten für uns zusammengebraut hat, ist hochgradig empfehlenswert.« Olaf Schubert »Einmal in die Hand genommen, angefangen zu lesen und nicht mehr wieder zur Seite gelegt. Kaufen! Lesen!!!« Axel Prahl
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Seitenzahl: 448
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Thomas Nicolai
Roman
Thomas Nicolai
(Jahrgang 1963) stammt aus Leipzig und ist ein bekannter Comedian, Parodist und Schauspieler. Er lernte an der Schauspielschule Ernst Busch, spielte Theater in Berlin und ist seit 1994 als freischaffender Comedian mit eigenen Programmen unterwegs (bekannt wurden u. a. seine Figuren »Der blonde Emil« und »Patrick Schleifer«). Im Fernsehen war er in diversen Shows von RTL, 3sat, ProSieben, WDR, NDR und Sat.1 zu sehen. Er moderierte im »Quatsch Comedy Club« und bei »NightWash«, hat einige Kleinkunstpreise erhalten und ist als Sprecher für Audioproduktionen tätig.
Als Autor entwickelte er die Kinderhörspielserie »Die Märchenmäuse« mit, veröffentlichte zahlreiche Tonträger, den Sprachführer »Sächsisch für Anfänger« und übersetzte »Die Simpsons« und »Asterix« ins Sächsische. Sein erster Roman »Nackt auf Usedom« (zusammen mit Kaelo Michael Janßen) erschien 2023 bei Satyr.
Thomas Nicolai lebt mit seiner Familie in Berlin.
E-Book-Ausgabe März 2025
© Satyr Verlag Volker Surmann, Berlin 2025
www.satyr-verlag.de
Cover: Burkhard Neie, Berlin
Korrektorat: Matthias Höhne
Die Marke »Satyr Verlag« ist eingetragen auf den Verlagsgründer Peter Maassen.
E-Book-ISBN: 978-3-910775-32-9
Vorbemerkung
Personenregister
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Die erste Woche
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Die zweite Woche
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Die dritte Woche
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Die vierte Woche
Kapitel 41
Kapitel 42
Epilog
Danke
Diese Geschichte spielt in dem fiktiven Ort Maulberg in Nordsachsen im Jahre 2016. Natürlich sprechen die Menschen dort Sächsisch. Teilweise habe ich das auch so mundartlich aufgeschrieben, aber meist darauf verzichtet, um den Lesefluss nicht zu bremsen.
T. N.
BELKE, ERIKA – 73 Jahre, Rentnerin, verheiratet mit Joachim Belke
BELKE, JOACHIM – 75 Jahre, Rentner, ehemaliger Kaufhallenleiter und Parteisekretär in Maulberg
BÖHME, CHRISTFRIED – 73 Jahre, ehemaliger Filialleiter der Sparkasse Falkenried
BRAUCHMANN, RAMONA – 55 Jahre, Apothekerin in Maulberg, verheiratet mit Michael Brauchmann
BRAUCHMANN, MICHAEL – 57 Jahre, Apotheker in Maulberg
BRAUCHMANN, EMILIA – 16 Jahre, Gymnasiastin und Tochter von Ramona und Michael
BRAUTKE, MIRKO – 28 Jahre, Schlosser und Freund von Rocco Fiedler, lebt in Maulberg
DÖRING, WALTER – 71 Jahre, Rentner, ehemaliger Traktorist
FIEDLER, »OPA« ERWIN – 83 Jahre, Rentner aus Maulberg
FIEDLER, ROCCO – 29 Jahre, Enkel von Opa Fiedler
FUNKE, KARLA – 16 Jahre, Gymnasiastin, lebt in Maulberg
GÄBLER, ANJA – 50 Jahre, Finanzbeamtin in Falkenried, verheiratet mit Thomas Gäbler
GÄBLER, THOMAS – 50 Jahre, Finanzbeamter in Falkenried
GÖSSLER, MARKUS – 29 Jahre, Traktorist und Freund von Rocco Fiedler, lebt in Maulberg
HEILAND, HEIDEMARIE – 74 Jahre, ehemalige Lehrerin an der Maulberger Schule
HEIDE, MARGIT – 56 Jahre, Leiterin der Salvador-Allende-Grundschule
HUNDT, MICHAELA – 33 Jahre, Bürgermeisterin in Maulberg
HUNDT, ANDREAS – 37 Jahre, verheiratet mit Michaela
HUNDT, EMMA – 5 Jahre, Tochter von Michaela und Andreas
HUNDT, FRIEDA – 3 Jahre, Tochter von Michaela und Andreas
KOLLMANN, ALFONS – 89 Jahre, Rentner aus Maulberg
NOWOTNY, SOPHIA – 16 Jahre, Gymnasiastin und Schwester von Hannah Weber, lebt in Maulberg
PATZIG, MAIK – 30 Jahre, Polizist in Maulberg
RANZ, LINUS – 16 Jahre, Gymnasiast, lebt in Maulberg
RAUFUß, DR. HANS – 51 Jahre, praktischer Arzt in Maulberg
SCHLAFFKE, HARALD – 54 Jahre, Besitzer des Zeitungskiosks von Maulberg
SCHRÖDER, KEVIN – 31 Jahre, Zerspaner und Freund von Rocco Fiedler und Maik Patzig, lebt in Maulberg
SCHULZ, DR. ANDREW – 32 Jahre, Arzt aus Falkenried
SCHWESTER HEIDRUN – 42 Jahre, Sprechstundenhilfe in Maulberg
SENDLER, BEATE – 55 Jahre, Kitaleiterin und verheiratet mit Peter, lebt in Maulberg
SENDLER, PETER – 57 Jahre, Dokumentarfilmer und Journalist aus Dortmund
SENDLER, PHILIPP – 25 Jahre, Sohn von Beate und Peter, Student in Berlin
VOLLAND, HEINER – 39 Jahre, Supermarktleiter in Maulberg
WEBER, HANNAH – 31 Jahre, geborene Nowotny, bildende Künstlerin in Maulberg
WEBER, ELIAS – 32 Jahre, verheiratet mit Hannah, bildender Künstler in Maulberg
WEHRMANN, PETRA – 65 Jahre, ehemalige Kitaleiterin in Maulberg
WEHRMANN, SONJA – 41 Jahre, Tochter von Petra, lebt in Maulberg
WEHRMANN, MARIE – 16 Jahre, Tochter von Sonja Wehrmann und Jörg Wind, lebt in Maulberg
WEHRMANN, BEN – 6 Jahre, Sohn von Sonja Wehrmann und Jörg Wind, lebt in Maulberg
WIND, JÖRG – 43 Jahre, Mann von Sonja Wehrmann
WÖLBERN, WIEBKE – 32 Jahre, verheiratet mit Roman Wölbern
WÖLBERN, ROMAN – 39 Jahre, Pfarrer der St. Trinitatiskirche in Maulberg
WÖLBERN, ELLI – 8 Jahre, Tochter von Wiebke und Roman
WÖLBERN, FINn – 6 Jahre, Sohn von Wiebke und Roman
Wildes, ohrenbetäubendes Geschrei erfüllte den Saal, als plötzlich ein markerschütternder hoher Schrei ertönte: »Aufhören!«
Augenblicklich blieben die beiden Polizisten stehen. Die Bürgermeisterin bahnte sich wütend einen Weg durch die Menge und kam auf Joachim Belke zu. Für die Maulberger kaum zu hören, fauchte sie: »Wagen Sie es ja nicht, hier Ihre Stellung schamlos auszunutzen. Bisher habe ich mir das alles aus der Ferne angesehen, aber jetzt gehen Sie entschieden zu weit.«
Dann drehte sie sich zu den Dorfbewohnern um und erklärte mit fester Stimme: »Um es noch einmal in aller Klarheit zu sagen: Wir haben hier gemeinsam eine Vereinbarung getroffen. Weder macht Herr Sendler das aus Nettigkeit, noch können wir ihm, bloß weil es uns gerade mal nicht passt, dieses Recht verweigern. Ist das klar?! Das ist Bestandteil des Vertrags, den alle unterschrieben haben.«
»Ich nicht!«, rief ein Mann und erntete dafür einige Lacher.
»Bist doch selber ’n Systemling!«, brüllte ein anderer.
»Kriechst dem Wessi in d’n Arsch.«
Nun lachten schon mehr. Ein böses, fieses, gehässiges Lachen.
»Schämen solltest du dich, du Schlampe!«, brach es nun aus jemandem heraus. Eine Frauenstimme.
»Jetzt reicht es aber!«, brüllte Michaela Hundt.
»Wer brüllt, hat unrecht«, mischte sich ein anderer ein und erntete dafür Lacher sowie Applaus.
Dennoch teilte sich das Publikum immer mehr, denn nicht alle waren der gleichen Meinung und schimpften nun ihrerseits über die Ruhestörer. Das konnte die Bürgermeisterin erkennen. Beunruhigt blickte sie in den Raum und sagte dann ungewohnt ernst: »Lasst mich etwas Grundsätzliches verdeutlichen. Ich habe am Anfang zu euch gesagt, dass wir das Ganze sofort abbrechen, sollte es aus dem Ruder laufen. Falls das einigen jetzt neu sein sollte, dann tut es mir leid. Aber wie heißt es so schön: Man muss auch immer das Kleingedruckte lesen.«
Daraufhin wurde es mucksmäuschenstill im Saal. Peter Sendler jedoch platzte fast der Kopf. Schweißperlen rannen ihm von der Stirn und er fühlte pure Angst. Was war nur aus den so hilfreichen und freundlichen Maulbergern geworden, dass sie sich dermaßen aufregten?
Das Ganze war doch lediglich ein Experiment, für das sich alle ganz demokratisch entschieden hatten. Und nun drohte alles zu eskalieren, in einer Art und Weise, die überaus beängstigend war.
Aber es gab kein Zurück mehr, also musste Peter oder der Bürgermeisterin etwas einfallen. Irgendwer musste jetzt ein Machtwort sprechen. Nur wer?
Heute war der große Tag. Heute würden sie tatsächlich nach Maulberg in den Nordosten Sachsens umziehen.
Der Umzugswagen war pünktlich und das Verladen all ihrer Sachen verlief schnell und problemlos.
Nun hatten sie genug Zeit, sich von ihrer Dortmunder Wohnung zu verabschieden und in aller Ruhe im Laufe der nächsten zwei Stunden loszufahren. Sie würden ohnehin früher als der Umzugswagen da sein.
Peter und Beate Sendler streiften ein letztes Mal durch die Räume ihrer alten Wohnung, in der sie so lange gelebt hatten. Ein merkwürdiges Gefühl, die Zimmer nun so leer und verlebt zu sehen. So ganz ohne Möbel wirkte die Wohnung viel größer, aber auch irgendwie traurig.
Peter hatte die meiste Zeit seines Lebens in Dortmund verbracht, aber nun, mit fast Ende fünfzig, schien es Zeit für ein neues Kapitel zu sein.
Beate hatte die Annonce in der Zeitung gelesen, dass die Kita in Maulberg auf der Suche nach einer neuen Leitung sei. Peter, der Dokumentarfilmer, unterstützte seine Frau sofort und sagte zu, denn er witterte in ihrem neuen Domizil Stoff für einen Film, der ihm wieder die Anerkennung bringen könnte, nach der er so sehr lechzte.
Ihr Sohn Philipp studierte seit ein paar Jahren Germanistik in Berlin. Ihm hatten sie als Erstem am Telefon von ihrem Plan erzählt. Erst reagierte er gar nicht und meinte schließlich nach kurzem Zögern, dass er das gut fände. Gerade, weil sie »nach Sachsen zu den Drecksnazis« gehen würden. In die Höhle der Löwen sozusagen. Dorthin, wo es brennt. »Vielleicht könnt ihr sie bekehren, um sie wieder auf den rechten Pfad zurückzubringen? Ach nee, auf dem rechten Pfad sind sie ja schon … Entschuldigt den schlechten Witz, aber der bot sich so an. Na, ihr wisst schon, was ich meine«, erklärte er.
Als sie dann ihren Freunden von der Entscheidung erzählten, ernteten sie fast ausnahmslos Unverständnis. Einer bezeichnete alle Ossis sogar als »Zonendödel«, die ausnahmslos Nazis seien und sowieso nur den alten DDR-Zeiten hinterherjammerten.
Peter sah das jedoch komplett anders. Er hatte sich als Journalist und Dokumentarfilmer schon immer stark für das »andere« Deutschland interessiert. Seit jeher hatte er einen guten Draht zu den Bürgern in den neuen Bundesländern gehabt und noch zu Zeiten der Teilung war er als Student gerne »drüben« gewesen. Zwar gingen ihm der Überwachungsstaat und die Grenzer wie allen anderen gehörig auf den Wecker, aber die Menschen dort hatten ihn immer wieder fasziniert. Sie konnten in diesem Regime genauso gut leben, lieben und arbeiten wie er im Westen. Gerade dieses Zwischen-den-Zeilen-Lesen, das sich die DDR-Künstler angeeignet hatten und das alle DDR-Bürger perfekt entschlüsseln konnten, begeisterte ihn, der aus einer Welt kam, in der scheinbar jeder alles sagen durfte, so wie ihm der Schnabel gewachsen war. Diese Reibung hatte ihn schon immer gereizt.
So gesehen war Peter die Entscheidung für den Umzug nicht schwergefallen. Für ihn war es ein Neuanfang mit einer neuen Chance. Was ihn letztendlich komplett für den Umzug einnahm, war die Tatsache, dass Maulberg im kommenden Jahr sein 400-jähriges Bestehen feiern würde. Das könnte seine Chance sein für eine umfassende, akribische Dokumentation über ein kleines sächsisches Dorf am Rande vom Nirgendwo! Es war die Möglichkeit, als Journalist vor Ort zu überprüfen, inwieweit die Vorurteile stimmten, die über den Osten Deutschlands kursierten, oder ob alles ganz anders war. Im Stillen träumte Peter schon von einer Langzeitdokumentation, die für regelmäßige Folgeaufträge sorgen würde.
Beates Motive waren völlig unromantisch. Ihren Job als Leiterin einer Dortmunder Kindertagesstätte machte sie schon viel zu lange. Der Druck in der Kita wurde immer stärker und Personalmangel, Helikoptermütter und ständige Krankheitsausfälle waren kaum noch auszuhalten. Es machte einfach keinen Spaß mehr. Die Verpäppelung der Kinder und das ständige Anzweifeln ihrer jahrelangen Erfahrung als Kindergärtnerin hatten sie zermürbt und dünnhäutig gemacht, sodass sie abends einfach nur noch ins Bett und schlafen wollte.
Nun wurden die letzten Kartons aus der Wohnung getragen. Es war ein Abschied für immer und das neue Abenteuer würde beginnen! Für sentimentale Gefühle war keine Zeit mehr.
Irgendwann zogen die beiden Möbelpacker die Lkw-Planen herunter, verzurrten sie sicher und routiniert und starteten Richtung Sachsen. Eine halbe Stunde später stiegen auch Beate und Peter ins Auto und fuhren los.
Es war der 1. Juni 2016, ein Mittwoch, und sie kamen gut voran. Das Wetter war sommerlich und der Himmel so strahlend blau, dass es schon fast zu viel war. Richtiges Kaiserwetter. Das fühlte sich auf jeden Fall schon mal gut an.
Irgendwann auf der Autobahn, noch vor Hannover, überholten sie den Umzugswagen und Beate schien es, als könnte es Peter nicht schnell genug gehen, im neuen Leben anzukommen.
Anfangs hatten sie noch miteinander geredet, doch bald erstarb das Gespräch und die Ungewissheit breitete sich immer mehr aus. Was, wenn das die größte Dummheit ihres Lebens werden sollte?
Schließlich war es nicht mehr weit nach Maulberg. Sie hatten schon vor einer Stunde die Autobahn verlassen, in einem Landgasthaus ausgiebig Mittag gegessen und fuhren nun durch wunderschöne Alleen, vorbei an blühenden Feldern und durch kleine, verschlafene Dörfchen. Je näher sie ihrem Ziel kamen, desto stärker wuchs das Gefühl, auch in eine andere Zeit zu reisen. Das wirkte alles schon ein bisschen unwirklich, verglichen mit der Großstadthektik Dortmunds.
Natürlich hatten sie alles gut vorbereitet und ihr neues Domizil im Nordosten Sachsens sowie den Ort ein wenig erkundet. Daher waren sie froh, als sie das Ortsschild »MAULBERG Kreis Oschersbach« passierten – endlich waren sie da.
Sie fuhren den Weg zu ihrem neuen Zuhause fast schon wie im Schlaf, dennoch war es diesmal anders. Das Gefühl, dass dies eine Fahrt ohne Rückkehr wäre, verursachte Beate leichte Magenschmerzen. Auch Peter merkte man eine Anspannung an, als sie rechts in die Ernst-Thälmann-Straße einbogen. Die Nummer sieben war ihr neues Zuhause, in dem sie ab sofort wohnen würden.
Es war ein kleines einstöckiges Haus für vier Familien, vermutlich noch Anfang der 1970er-Jahre zu DDR-Zeiten erbaut.
Beate und Peter hatten eine kleine Zweizimmerwohnung im ersten Stock gemietet.
Sie parkten direkt vor dem Haus und stiegen langsam aus. Peter streckte sich, während Beate sich umschaute, einen großen Schluck aus ihrer Wasserflasche nahm und die Ruhe und Stille genoss. Nur vereinzelt war leises Vogelgezwitscher zu hören. Insgesamt ein perfekter Sommertag, nicht zu heiß, mit einem leichten Wind, der für Kühlung sorgte.
Beate nahm ihre Sonnenbrille ab und ging zum Haus. Gerade als sie die Haustür aufschließen wollte, wurde diese bereits von innen geöffnet.
»Da sind Sie ja!«, rief eine ältere Frau mit freundlichem Gesicht. Sie war einen Kopf kleiner als Beate und trug eine Kittelschürze. »Sie sind aber früh dran. Wir dachten, Sie kommen erst heute Abend. Dortmund ist doch eine Weltreise von hier.«
Beate hatte Frau Belke schon beim letzten Mal kennengelernt. Sie wohnte im Parterre und lebte mit ihrem Mann Joachim schon immer hier. Beide waren Anfang siebzig und genossen offensichtlich ihr Rentnerdasein.
»Joachim!«, rief Frau Belke mit leicht sächsischem Akzent, den Beate erstaunlicherweise sogar süß fand, in den Flur. »Joachim, komm doch mal bitte. Die Sendlers sind da!«
Die Wohnungstür der Belkes öffnete sich und ein rundlicher Mann mit gemütlichem Gesichtsausdruck trat heraus. Er trug eine braune Strickjacke, auf seinem Kopf war nur noch ein Haarkranz übrig und seine Augen umspielten tiefe Lachfalten.
»Ich komme schon, meine Sonne.« Auch er sächselte leicht. Eine Tatsache, an die sich die Sendlers ab sofort gewöhnen mussten. Aber wenn es so sympathisch wie bei den Belkes daherkam, dachte Beate bei sich, war dieser Dialekt sogar erträglich.
»Liebe Frau Sendler«, sagte Joachim Belke und streckte ihr die Hand entgegen. »Jetzt noch mal ganz förmlich und offiziell: Herzlich willkommen in Maulberg! Sie werden sich hier wohlfühlen, das verspreche ich Ihnen. Und wenn was sein sollte, dann können Sie immer zu uns kommen. Immer! Außer, wenn Se Geld wollen, da können wir Ihnen nicht helfen, denn das brauchen mer selber«, fügte er lachend hinzu.
»Joachim«, mahnte Frau Belke ihren Mann und schüttelte den Kopf.
»Hab schon verstanden«, erwiderte Beate lächelnd. »In diesem Punkt kommen wir uns sicher nicht in die Quere.«
Auf einmal wirkte Herr Belke ganz ernst und fragte konsterniert: »Wie darf ich das denn verstehen?«
»Nein, nein«, wiegelte Beate ab. »Ich meinte, wir werden Sie nicht um Geld anbetteln, das habe ich … gemeint«, stammelte sie etwas verlegen.
»Ach, ich dachte schon, Sie wollen das Geld von uns Ossis nicht«, atmete Herr Belke erleichtert auf.
»Nein«, sagte sie, »also, doch. Ja klar.«
»Wissen Se«, begann Herr Belke, während seine Frau ihm nickend beipflichtete, »da, wo Sie herkommen, da pfeift man auf die Menschen. Da ist einem der Nachbar egal. Da kann der verrecken und tagelang tot in der Wohnung liegen und vor sich hin faulen. Aber das werden Sie hier nicht erleben. Hier leben wir so, wie sich das gehört. Da passt man aufeinander auf. Da ist einem der Nachbar nicht egal. Verstehen Sie?«
»Joachim«, mischte sich Erika Belke ein, »jetzt lass doch die Frau erst mal ankommen. Du wieder mit deinen Vorträgen.«
Nun kam auch Peter und begrüßte die Belkes.
»Herzlich willkommen, Herr Sendler!«, erwiderte Herr Belke und streckte Peter die Hand entgegen. Dieser bedankte sich und sagte zu Beate: »Lass uns doch mal die Sachen aus dem Auto in die Wohnung tragen. Der Umzugswagen kommt sicher bald.«
»Sollen wir Ihnen helfen?«, fragten die Belkes im Chor.
»Nein, nein. Bemühen Sie sich nicht. Das geht schon«, antwortete Beate. »Ist ja nicht so viel.« Damit wandte sie sich um und ging zum Auto, aus dem Peter mittlerweile die Taschen holte. »Was bist du denn so kurz angebunden zu den Belkes?«, fragte sie ihn leise. »Das sind unsere zukünftigen Nachbarn. Mit denen sollten wir es uns nicht verscherzen.«
»Na sicher doch. Aber ich habe jetzt keine Zeit für Plaudereien. Außerdem finde ich die ein bisschen übergriffig.«
»Übergriffig?«
»Na ja«, suchte Peter nach Worten. »Ich muss hier erst mal ankommen. Verstehst du? Und dann können wir immer noch Freundschaften schließen. Wir haben doch Zeit.«
»Wie du das sagst – Freundschaften schließen«, wunderte sich Beate. »Du redest ja wie ein Beamter.«
»Beate, bitte. Ich habe jetzt echt keinen Bock auf doofe Gespräche.« Peter atmete tief aus. »Solange wir unseren ganzen Krempel nicht ausgepackt haben, bin ich noch etwas unentspannt. Das ist alles. Okay?« Damit drehte er sich wieder zum Kofferraum und holte eine weitere Tasche heraus.
Sie trugen ihre Sachen wortlos in den ersten Stock, wo Peter seinen Schlüssel aus der Hosentasche holte und aufschloss. Ein besonderer Moment, wie er fand. Peter und Beate schauten sich an und lächelten. Sie gab ihm einen zarten Kuss, den er erwiderte, dann lächelte er sie an, öffnete feierlich die Tür und trat über die Schwelle. Jetzt waren sie wirklich da.
Im Flur stellte er leicht ächzend die Taschen ab. Sie gingen durch die ganze Wohnung, öffneten alle Türen und Fenster und ließen die warme Sommerluft herein.
»Na, das würde ich aber nicht zu oft machen«, konnten sie plötzlich die mittlerweile vertraute Stimme von Frau Belke hören. Diese stand bewaffnet mit einer Thermoskanne und zwei Kaffeebechern auf der Türschwelle. »Der Durchzug bringt Ihnen die ganze Wohnung durcheinander. Aber schlimmer noch ist das ganze Viehzeug, das Ihnen dann in die Bude fliegt. Die ganzen Käfer und Fliegen und weiß der Teufel noch eins. Sie sollten unbedingt ein Fliegengitter vor die Fenster machen. Sonst werden Sie Ihres Lebens nicht mehr froh.«
Als von Beate und Peter keine Antwort kam, fügte sie hinzu: »Hier!«, und hob dabei die Thermoskanne und die Kaffeebecher. »Ich habe Ihnen ä Schälchen Heeßn gemacht, wie man hier bei uns sagt. Nach der langen Fahrt tut das doch sicher gut. Oder wollen Sie was anderes?«, fragte sie Peter. »Ich habe auch Wasser und Limo. Oder wollen Sie lieber gleich ein Bier? Ich weiß doch, was Männer am liebsten trinken.«
»Also, Kaffee finde ich ziemlich perfekt«, sagte Beate und Peter nickte heftig dazu.
»Wusst’ ich doch!«, antwortete Frau Belke und füllte einen Becher mit dampfendem Kaffee.
Genau in diesem Augenblick hörten sie ein lautes Brummen, das eindeutig von einem großen Lkw herrührte. »Das ist bestimmt der Umzugswagen!«, rief Peter sichtlich erlöst.
»Oh, da will ich lieber nicht stören«, sagte Frau Belke. »Den Kaffee stelle ich in die Küche. In der Thermoskanne wird der ja nicht kalt.«
»Ach, das ist aber nett«, meinte Beate. »Vielen Dank!«
»Aber gerne doch«, antwortete ihre neue Nachbarin und entfernte sich.
Mittlerweile stand der Umzugswagen schon vor dem Haus und die Möbelpacker machten sich an die Arbeit, alle Kartons und Möbel in den ersten Stock zu tragen. Frau Belke schaute ihnen dabei neugierig aus dem Küchenfenster zu.
Der Lkw war ziemlich voll, dennoch hatten Beate und Peter ihren Hausstand deutlich reduzieren müssen. In Dortmund hatten sie auf 120 Quadratmetern gewohnt, hier standen ihnen jedoch nur noch 75 zur Verfügung. Dadurch hatten sie sich von einigen Möbelstücken trennen müssen, beispielsweise dem alten Küchenschrank von Beates Oma oder dem fast schon antiken Sekretärungetüm, das Peter Mitte der 1990er-Jahre auf einem Flohmarkt gekauft hatte. Trotzdem war es immer noch sehr viel Zeug, das nun abgeladen werden musste. Peters Akten und seine unzähligen Dokumente nahmen viel Raum ein. Außerdem war Beate eine leidenschaftliche Leserin, die es partout ablehnte, auch nur eines ihrer Bücher wegzugeben, geschweige denn sich einen E-Book-Reader anzuschaffen.
Peter stand am Umzugswagen, um eine Stehlampe entgegenzunehmen, als ihm jemand auf die Schulter tippte.
»Schbindor Roggo!«
Peter drehte sich um und erblickte einen großen Mann mit kurzem Haar und Breitkopfvisage, der ihn anlächelte und dabei seinen riesigen Mund öffnete.
»Äh. Bitte was?«
»Schbindor Roggo!«, sagte der Mann im breitesten Sächsisch.
»Entschuldigung«, versuchte Peter, höflich zu bleiben. »Ich kann Sie nicht verstehen. Was haben Sie gerade gesagt?«
»Schbindor Roggo!«
Peter hob die Arme und schüttelte den Kopf. »Ich weiß immer noch nicht, was Sie meinen.«
Darauf erwiderte der Hüne langsam: »Isch bin dor Rogg-go!«
»Der was?«, fragte Peter nach.
»Dor Roggo. Wie der ausm Film. Roggo un seine Briedor. Gennse den?«
»Ach so!«, dämmerte es Peter langsam, »Rocco! Jetzt hab ich’s.«
Peter konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Rocco lachte mit.
»Sch weeß. Mir spreschn gomisch hier.«
»Was kann ich denn für Sie tun?«
»Sch wollte fraachn, ob Se Hilfe brauchn. Sch traache gerne ä baar Sachn mit nuff off de Bude.«
Wenn Peter sich ganz stark konzentrierte, konnte er Rocco verstehen. »Sie wollen uns tragen helfen? Hab ich Sie richtig verstanden?«, fragte er zurück.
»Nu euja!«, nickte Rocco und zeigte wieder sein breitestes Lächeln.
»Ach, das ist aber wirklich nett von Ihnen«, antwortete Peter, erleichtert darüber, dass seine Übersetzungsfähigkeiten besser waren als gedacht.
»Aber wissen Sie, diese Schlepperei, die will ich Ihnen nicht zumuten.«
»Häddsch abor gerne gemacht«, erwiderte Rocco freundlich.
Peter klopfte Rocco auf seine breiten, muskulösen Arme. »Ich danke Ihnen sehr. Das ist super. Wirklich. Aber ich könnte mir vorstellen, dass ich in den nächsten Wochen das eine oder andere kleine Problemchen haben werde, und dann komme ich sehr gerne auf Ihr Angebot zurück. Ist das okay für Sie?«
»Na absolut. Da binsch dorbei«, meinte Rocco und fügte etwas leiser hinzu: »Übrigens genne isch hier alle und jeden. Also, falls Sie mal Stress mit ärschndjemand ham solldn: Gommse zu mir. Isch regle das. Gabiddo?«
Wie sollte er das verstehen? Mafia in Maulberg? Schutzgelderpressung im Kreis Nordsachsen? Wenn er bei RTL ZWEI anrufen würde und denen das erzählte, würden die sofort einen Bericht über »Roggo, den Paten von Maulberg« haben wollen. Bei dem Gedanken konnte sich Peter dann doch ein Schmunzeln nicht verkneifen.
»Gut zu wissen, Rocco. Danke für das Angebot.«
Rocco hielt Peter nun seine riesige Hand hin. »Willgomm in Maulberg!«, sagte er noch einmal, woraufhin Peter einschlug. Roccos Hand fühlte sich wie eine Schraubzwinge an und Peter konnte die geballte Kraft seines Gegenübers spüren. Wo der hinschlug, da wuchs kein Gras mehr. So viel war sicher.
»Ja, danke!«, entgegnete Peter mit gepresster Stimme und schaute Rocco lässig in die Augen, bemüht, seine Schmerzen zu verbergen. »Fängt schon mal ganz gut an!«
Es war Nacht. Sie lagen im Bett und schmiegten sich aneinander.
»Weißt du was? Ich glaube, es war genau die richtige Entscheidung hierherzukommen«, sinnierte Peter.
»Wieso sagst du das auf einmal?«, fragte Beate.
»Gar nicht ›auf einmal‹.«
»Na, am Anfang warst du doch ganz schön genervt von allen«, konterte Beate.
»Ja, okay. Zu Beginn fand ich das schon irgendwie …«
»Übergriffig?«, beendete sie seinen Satz.
»Ja, mach dich nur lustig. Ich bin es als Wessi einfach nicht gewohnt, dass man sich so sehr für seinen Nachbarn interessiert. Ständig fragt einer, ob man bei irgendwas helfen kann. Das ist doch verrückt. Und die Belkes haben mich echt genervt.«
»Aber du hast dich schon gefreut, als sie uns am Samstag die Brötchen an die Türklinke gehängt haben.«
»Klar. Auf jeden Fall. Es ist wirklich so anders hier. Auf der einen Seite altmodisch und dann wieder … eigentlich …«
»… ganz toll?«, fragte sie. »Ich finde, wie die Menschen hier miteinander leben, das ist absolut großartig. Das geht uns dekadenten Wessis total ab. Dieses Aufeinanderzugehen, Helfen, Fragen, Interessezeigen. Das ist Wahnsinn. Bei uns in Dortmund hatte ich immer den Eindruck, ich bin eigentlich allen egal.«
Peter stimmte ihr zu: »Ich sag doch, die Ossis sind super. Die sind gar nicht so, wie sie immer in der Presse dargestellt werden.«
»Ich kann mich aber auch erinnern, dass du gar nicht so begeistert warst, als du damals diesen Film über die Nazis gemacht hast. Da hattest du echt ’nen Hals auf die Ossis.«
»Das war aber auch ’ne Extremsituation, das kann man überhaupt nicht mit Maulberg vergleichen. Hier ist die Zeit stehen geblieben. Im positiven Sinne. Irgendwie finde ich das ein bisschen unheimlich, andererseits ist das natürlich extrem spannend, wenn ich dabei an mein Projekt denke.«
»Ich glaube, auch hier hat der eine oder andere seine Leiche im Keller. Aber eigentlich will ich das gar nicht wissen.«
Peter lachte. »Ich im Prinzip auch nicht. Aber als Journalist natürlich schon. Stell dir vor: ein scheinbar ruhiges Dorf mit einem unheimlichen Geheimnis.« Dabei ließ er seine Hand Beates Hals hochkrabbeln.
»Das wird dann aber eher ein Film für RTL«, konstatierte sie und knuffte ihm in die Seite.
Er küsste sie zärtlich auf die Stirn. »Ich denke mal, dass die Menschen hier den besseren und gesünderen Weg zum Leben gewählt haben. Das fühlt sich für mich alles sehr viel richtiger an. Besser als der westdeutsche Wahnsinn, aus dem wir kommen.«
»Na komm, jetzt übertreib aber mal nicht. In diesem westdeutschen Wahnsinn hast du sehr lange und sehr gut gelebt. Vergiss das nicht«, ermahnte sie ihn. »Du wirst ja noch zum Ossifan.«
»Kann sein. Vielleicht bin ich es ja auch schon.«
»Eins darfst du nicht vergessen: Gerade hier in der Gegend soll es viele NPD-Wähler geben«, gab Beate zu bedenken.
»Ich weiß. Aber irgendwie kann ich das gar nicht glauben. Kannst du dir vorstellen, dass die Belkes die NPD wählen?«
»Nein. Andererseits, ich habe schon Pferde vor der Apotheke kotzen sehen.«
»Wenn du recht haben solltest, dann haben wir ein echtes Problem«, sagte Peter sehr leise, woraufhin sich eine nachdenkliche Stille ausbreitete. Dieser Gedanke war zu unbehaglich. »Obwohl, für mich wäre es okay. Endlich hätte ich mal wieder ’nen echt spektakulären Film, von dem alle reden würden«, brach es schließlich kichernd aus ihm heraus.
»Na sicher«, meckerte Beate in gespielter Entrüstung. »Und deine Olle muss sehen, wie sie sich Adolfs Schlägertruppe vom Hals hält, die ungeliebte Wessis über die Dorfstraße treibt. Aber klar: Hauptsache, Peter Sendler ist wieder in aller Munde.«
»Ach Schatz, so weit wird es schon nicht kommen. Kannst du dir wirklich vorstellen, dass wir uns so irren könnten?«
Beate ließ ein leises Lachen hören. Aber Peter wurde wieder mal klar, dass nichts sicher war.
Heute war Beates erster Tag in der neuen Arbeitsstelle. Die Kita lag nur sechs Minuten mit dem Fahrrad entfernt von ihrer Wohnung. Maulberg war eben ein kleines Dorf, in dem man die meisten Wege zu Fuß oder mit dem Drahtesel erledigen konnte.
Es war ein Montag im August und der Sommer zeigte sich immer noch von seiner besten Seite. Jetzt, kurz nach sieben Uhr, war der Tag schon erwacht, das Dorf schien aber noch im Schlummer zu liegen.
Ihr Weg führte sie zuerst aus der Ernst-Thälmann-Straße heraus, rechts hinein in den Hans-Fallada-Weg, dann noch einmal rechts in die Käthe-Kollwitz-Straße, welche in die Hauptstraße Maulbergs, die Adolf-Hennecke-Straße, mündete. Rechts und links fuhr sie an den Hauptattraktionen des Dörfchens vorbei. Links die Adler-Apotheke, wenige Meter weiter kam rechts die Kneipe Bei Heinz, ein Haus weiter war der Allgemeinarzt zu finden. Rechts führte ein Weg zur Grundschule hinauf, links ging es zum Schießplatz.
Beate trat kräftig in die Pedale. Bald sah sie ein Hinweisschild auf den nächsten Supermarkt. Eigentlich überflüssig, denn es war der einzige weit und breit. Hundert Meter weiter wies ein Schild links auf den Dorfplatz hin. Dort, so wusste sie, war auch das kleine Rathaus von Maulberg beheimatet. Und in diesem Rathaus arbeitete die Bürgermeisterin Michaela Hundt, die Frau, die dafür gesorgt hatte, dass die Übersiedlung der Sendlers so unkompliziert vonstattengegangen war.
Kurz vorm Ende des Dorfes bog sie schließlich rechts ein und erreichte ihr Ziel: »Kita Bummi, Salvador-Allende-Weg 3« stand auf ihrem Zettel. Sie schloss ihr Fahrrad an.
»Sind Sie Frau Sendler?«, rief hinter ihr jemand. »Wir hatten miteinander telefoniert.«
Beate schaute auf und blickte in das Gesicht einer korpulenten, blondierten Frau mit Kittelschürze, die sich mit »Ich bin die Petra Wehrmann« vorstellte und sie mit einem kräftigen Handschlag begrüßte.
»Ja, wir begrüßen uns hier alle mit Handschlag. Das war schon immer so«, sagte die Kitaleiterin. Hm, dachte Beate, kann die meine Gedanken lesen? Gruselig.
»Freut mich sehr. Ich bin die Beate«, antwortete sie freundlich und versuchte ein Lächeln, das ihr aber selber nicht sehr überzeugend vorkam.
»Willkommen, liebe Beate.« Auch Petra hatte diesen typischen leicht sächsischen Akzent. Allerdings kam bei ihr noch ein Singsang dazu, den Beate so bisher noch nicht gehört hatte, zumindest nicht hier in Maulberg. »Soll ich dich mal rumführen?«
Die Kita Bummi bestand aus zwei großen Räumen, einer Küche, einem Bad und dem Büro der Kitaleiterin.
»Wir haben hier zwei Gruppen«, begann Petra zu erklären. »Die Kleinen, das sind die Zwei- bis Dreijährigen, und die Großen, das sind die Vier- bis Fünfjährigen. Insgesamt haben wir zwölf Kinder. Sieben Kinder sind bei den Kleinen und fünf bei den Großen. Das war’s schon. Also alles eher übersichtlich hier. Und nicht so ein Heckmeck wie bei euch in Dortmund.«
»Was denn für ein Heckmeck?«, wollte Beate wissen.
Petra lächelte. »Na ja, man sieht ja so das eine oder andere im Fernsehen. Bei stern TV oder so. Wenn wieder mal ’ne Wessimutti ausflippt und die Kita verklagt, weil ein Kind irgend’nen Knall hat.« Beate schaute etwas ungläubig. »Na ja, du weißt doch, was ich meine. Das hast du doch die ganzen Jahre selber erlebt. Da erzähle ich dir doch nichts Neues.«
Beate klappte innerlich die Kinnlade runter. Obwohl, klar, im Prinzip hatte Petra ja recht. Schließlich war es genau diese berufliche Dauerbelastung gewesen, die sie zum Umzug bewogen hatte. Also eben diese Umstände, über die Petra gerade lockerflockig lästerte.
Sie hatte recht. Absolut. Aber wenn jemand von außen so über den »bösen Westen« herzog, dann fühlte sich das trotzdem irgendwie falsch an. Wie ein Verrat. Auch wenn es der Wahrheit entsprach.
»Käffchen?«, wurde sie jäh aus ihren Gedanken gerissen und nickte stumm.
»In der Regel kommen die Kinder früh um halb acht. Um acht müssen alle da sein, denn dann beginnt unser Tagesablauf. Abgeholt werden sie bis spätestens fünfzehn Uhr«, erklärte Petra.
»Und wenn eine Mutter oder ein Vater zu spät kommt?«, fragte Beate.
Petra grinste: »Das gibt’s nicht. Das machen die nur einmal. Danach gibt’s Stress. Wir lassen uns doch von den Eltern nicht auf der Nase rumtanzen.« Beate riss die Augen auf. »Extrawürste gibt’s nicht bei uns. Weder für die Kinder und erst recht nicht für die Eltern. Das war schon immer so und daran wird sich auch nichts ändern.«
Ein strenges Regiment, dachte sich Beate im Stillen.
»Weißt du«, begann Petra, »als ich 1979 hier angefangen habe, da war das genauso, wie es heute aussieht. Gut, wir haben hier alle paar Jahre die Wände gestrichen und das eine oder andere modernisiert, aber inhaltlich hat sich nichts geändert. Und das ist auch gut so.«
Auf einmal hörte Petra eine Toilettenspülung. Die Badezimmertür öffnete sich und eine junge Frau trat heraus.
»Das ist Julia, unsere Mitarbeiterin. Sie betreut die Kleinen und du übernimmst von mir die Großen«, erklärte Petra.
»Hallo«, sagte Julia leidenschaftslos und hielt ihr die Hand hin. Beate griff in ein schlappes, feuchtes Etwas, das sich wie kaltes Mett anfühlte.
Julia war jung, blond und eigentlich sehr hübsch. Mit ihren strahlend blauen Augen, dem sinnlichen Kussmund und einer unverschämt perfekten Figur, wie Beate fand, wirkte sie wie eine schwedische Austauschschülerin. Sicher waren alle Männer im Umkreis von hundert Kilometern verrückt nach ihr. Wenn nur dieser etwas stumpfe Blick nicht all ihre Attraktivität zunichtegemacht hätte. Die hatte eine Ausstrahlung wie eine Tüte Reis, dachte Beate.
»Ja, ihr Lieben«, meinte Petra schließlich. »Da stehen wir nun wie die Orgelpfeifen. Ich bin 65, du bist …?«, damit zeigte sie auf Beate, die antwortete: »55.« »Beate ist 55. Und Julia hatte gerade ihren 21. Geburtstag. Das ist ja fast schon eine Dreigenerationenkita. Also fast. Zumindest, solange ich noch da bin.«
»Wie lange kommst du denn noch?«, hakte Beate nach.
»Also eigentlich«, erklärte Petra mit einem verschmitzten Lächeln, »bin ich nur noch diese Woche hier. Dann gehe ich in Rente. Aber ich bleibe so lange, wie ihr mich braucht.«
»Sehr gut«, sagte Beate dankbar und blickte zu Julia rüber, wie um auch von ihr eine Bestätigung dafür zu bekommen, doch diese stierte nur abwesend vor sich hin.
»Ich will ganz ehrlich sein«, meinte Petra nun verschwörerisch. »So richtig begeistert waren wir am Anfang nicht, dass ausgerechnet ein Wessi unsere Kita übernimmt. Und dann auch noch meinen Job erhält.«
»Wieso? Wo ist da das Problem? Ossi oder Wessi, das ist doch egal«, entgegnete Beate.
»Das ist eben nicht egal«, antwortete Petra. »Wir wollen hier keine Wessis. Die haben hier doch alles kaputtgemacht. Unser früheres Leben war denen nichts wert. ›Ossi? Du kannst nichts, du bist blöde. Wir, die Wessis, wir wissen, wie der Hase läuft‹«, redete sich Petra langsam in Rage. »Alles, was wir uns in der DDR aufgebaut haben in den vielen Jahren, was wir uns vom Munde abgespart haben, das war auf einmal nicht mehr existent. Futsch, aus und vorbei. Überall nur Westchefs und Idioten, die von nichts ’ne Ahnung hatten, aber uns erklären wollten, wie schrecklich das Leben in der DDR gewesen ist.«
Petra machte eine kleine Pause, als ob sie sich beruhigen musste. Vielleicht wollte sie aber auch nur Beate testen, zu welcher Kategorie Wessi diese zählte. Beate roch den Braten jedoch sofort und entgegnete lieber nichts.
Daraufhin setzte Petra wieder an: »Wenn ich das schon höre: ›Die DDR war ein Unrechtssystem!‹ So ein Quatsch. Die haben keine Ahnung und wollen uns belehren.«
»Das tut mir leid«, antwortete Beate etwas frustriert. »Aber nun bin ich da. Irgendwie müsst ihr mir auch eine Chance geben. Ich meine, warum habt ihr mich angestellt, wenn ihr doch lieber eine von euch gehabt hättet?«
»Hätte, hätte, Fahrradkette«, schnaubte Petra. »Das ist ja das Problem. Ausm Osten hat sich keiner gemeldet. Wer will schon in ein Kaff wie Maulberg? Das kennt keiner, da ist nischt los, da ist der Hund verreckt. So sieht’s doch aus. Es gab ausschließlich Bewerbungen ausm Westen. Und deine Unterlagen fand ich … ja, wie sage ich es am besten … also, die fand ich am seriösesten. Da dachte ich mir, wenn schon Wessi, dann die. Ist de Wahrheit.« Mit dem letzten Satz lächelte sie wieder versöhnlich.
Blitzartig fiel Beate ein Argument ein, das sie sich für Notfälle überlegt hatte: »Also, vielleicht kann ich zur allgemeinen Erleichterung sagen, dass ich in gewisser Weise auch Ossi bin.«
Petra riss die Augen auf. »Nanu?«
»Ja, meine Eltern sind ausm Osten, aus Magdeburg. Sie sind aber kurz vorm Mauerbau, also 1960, in den Westen gegangen. In gewisser Weise bin ich also auch Ossi, also teilweise.«
»Das gibt’s doch gar nicht!«, atmete Petra durch. »Als hätte ich es geahnt. Ich wusste es. Die ganze Zeit dachte ich mir: Für ’nen Wessi ist die viel zu nett. Oder, Julia?«, wandte sie sich an die junge Mitarbeiterin. Deren Reaktion war aber Gleichgültigkeit in Reinkultur. Schlaftablette de luxe.
»Na ja«, lächelte Beate erleichtert. »Aber so wichtig sollte das heute nicht mehr sein. Nach so vielen Jahren. Ich meine, der Mauerfall ist ja schon ewig her.«
»Ja, da spricht der Wessi aus dir«, antwortete Petra. »Ihr könnt euch nicht vorstellen, was diese Vereinnahmung durch den Westen für uns bedeutet hat.«
Sofort wurde Beate klar, dass man mit Petra auf gar keinen Fall über Politik reden durfte. Und ganz besonders nicht über die Wende und Wiedervereinigung. »Stimmt. Da scheine ich wirklich keinen Schimmer zu haben«, versuchte sie, die Wogen zu glätten. Hoffentlich können wir endlich mit diesem Thema aufhören, schließlich soll ich hier ja Kinder betreuen und nicht frustrierten Ossis nach dem Munde reden, dachte sie.
Zum Glück war Petra bei all ihrer Wut auf alles, was aus dem Westen kam, klug genug, um zu erkennen, dass Beate als ihre Nachfolgerin dringend eingearbeitet werden musste, und beendete selbst das unliebsame Thema.
Im Laufe des Tages zeigte sie ihr die grundlegenden Dinge des normalen Ablaufs in der Kita. Eigentlich nicht viel anders als in Dortmund. Allerdings mit dem Unterschied, dass man sich ausschließlich auf die Erziehungsmethoden und pädagogischen Ansätze der ehemaligen DDR stützte: Ordnung und Regeln waren das A und O für Petra. Und Beate erkannte sehr schnell, dass sie in den vielen Jahren als Kindergärtnerin sehr gut damit gefahren war, sowohl zu DDR-Zeiten als auch heute.
Das Ergebnis war wirklich erstaunlich: Alle Kinder wirkten entspannt und ausgeglichen. Lag das an der alten DDR-Pädagogik oder daran, dass es hier auf dem Land fernab vom Großstadttrubel generell deutlich ruhiger zuging?
Keines der Kinder war in irgendeiner Form besonders empfindlich oder musste Medikamente nehmen. Alle aßen das, was auf den Tisch kam. Und die Kinder futterten munter drauflos, schoben sich Äpfel oder Kohlrabi in ihre kleinen Schnuten und waren glücklich damit. Faszinierend, dachte Beate. Hätte nie gedacht, dass es so was noch gibt.
Ansonsten waren es Kinder wie alle anderen auch: Sie spielten, stritten, sangen oder bastelten und hatten Spaß dabei. Der Traum einer normalen Kita, mit normalen Kindern und einem entspannten Umfeld.
»Was macht ihr eigentlich mit Eltern, die hier anrufen oder euch sonst wie auf den Nerv gehen?«, wollte sie von Petra wissen.
»Du meinst diese … wie heißt das bei euch? Diese Helikoptereltern?«
Beate nickte: »Genau die.«
»Ich sag dir, was wir mit denen machen. Gar nichts machen wir mit denen. Denn die gibt es hier nicht und wenn doch, also wenn sich hier tatsächlich so ’ne Tussi in meine Arbeit einmischt, dann sage ich der klipp und klar, was Phase ist.«
»Aha«, sagte Beate und verstand nur Bahnhof.
»Es ist doch ganz einfach, Beate. Ich bin eine ausgebildete Erzieherin und weiß, was ich tue. Ich habe ’ne lange Berufserfahrung, du hast ’ne lange Berufserfahrung. Punkt. Da lasse ich mir doch nicht von ’ner zwanzigjährigen Mutter erklären, was gut für ihr Kind ist. Oder dass das Kind nur bestimmte Sachen essen darf. Weißte, dieser ganze vegane Globuliwahnsinn, der macht die Kinder doch nur krank.« Petra sah in Beates erschrockene Augen.
»Okay, das klingt jetzt für dich als Wessi so, als ob wir vom Mond kommen würden und ’nen Schuss nicht gehört hätten. Aber jetzt guck dir doch unsere Kinder an: Wirkt da eines verhaltensauffällig oder irgendwie schräg drauf? Nein. Nicht eines. Und wenn es mal Streit gibt, dann ist das okay. Da müssen die Kinder durch. Das gehört dazu. Da muss es nicht gleich ein Krisengespräch mit den Eltern und der Kitaleitung geben. Das lehne ich ab, das gibt es hier nicht.«
Beate fiel ein Stein vom Herzen. Petra sprach ihr aus der Seele. Das fehlende Grundvertrauen in die Kompetenz der Erzieherinnen hatte ihr den Beruf fast verleidet. Doch hatte sie sich mit diesen Gedanken immer allein und falsch gefühlt. Zum ersten Mal fand sie in Petra eine Gleichgesinnte, die ganz einfach ihre Ansicht durchsetzte. Und das auch noch mit sichtbarem Erfolg.
Es war, als wäre ein Knoten in ihrem Inneren geplatzt. Die Entscheidung, hier in Maulberg eine Kita zu übernehmen, fühlte sich auf einmal so richtig an wie nichts anderes in ihrem Leben. Beate strahlte wie erlöst.
Petra ging mit ihr in den Raum der Gruppe der Kleinsten.
Die Kinder stellten ihre Ministühlchen in einem Kreis auf und setzten sich artig. Petra setzte sich mit einer Gitarre in den Kreis.
»So, liebe Kinder. Und nun singen wir zur Begrüßung von Frau Sendler das Lied von unserer Kita Bummi.«
Sie sang mit hoher, dünner Stimme und die Kinder fielen leise ein:
»Kam ein kleiner Teddybär
aus dem Spielzeugland daher,
und sein Fell war wuschelweich,
alle Kinder riefen gleich …«
Beim Refrain wurden sie dann aber lauter und riefen fröhlich:
»Bummi, Bummi.
Bummi, Bummi, brumm brumm brumm.
Bummi, Bummi.
Bummi, Bummi, brumm brumm brumm.«
Maulberg hatte eine gute Infrastruktur. Obwohl der Ort nicht sehr groß war, hatte er einen kleinen, aber feinen Supermarkt mit allem, was das Herz begehrte.
Peter kaufte alle wichtigen Lebensmittel ein. Brot, Wurst, Käse, Butter. Für Beate genug Obst und Gemüse, für sich selbst eine Kiste Bier, für beide Wein und Prosecco. Er bezahlte, schob den Einkaufswagen zum Auto, öffnete den Kofferraum und verstaute alles darin. Danach brachte er den Einkaufswagen zurück, stieg ein, startete den Motor und fuhr langsam rückwärts aus der Parklücke heraus. Gerade, als er weiterfahren wollte, klopfte es an der Fahrerscheibe und er konnte nur undeutlich hören, wie jemand sagte: »Sie ham das Auto gerammt!«
Peter bediente den automatischen Fensterheber und die Scheibe senkte sich mit einem kaum hörbaren Surren.
»Was ist?«, fragte Peter den Mann, der offenbar etwas von ihm wollte. Er blickte in das Gesicht eines schlecht gelaunten Rentners mit einer übertrieben übellaunigen Ausstrahlung. Unrasiert, das Gesicht voller tiefer Falten, komplett in Cord eingekleidet, mit einem Mützchen auf dem Kopf. Mehr Klischee ging nicht, dachte sich Peter.
»Was los ist?«, sächselte der alte Mann. »Sie sind an das Auto dort rangebumst. Das ist passiert.«
»Was? Das kann doch gar nicht sein. Das hätte ich doch gemerkt. Irgendwas hätte ich doch gehört«, protestierte Peter.
»Ach so«, meinte der Mann. »Sie sind der Neue aus der Ernst-Thälmann-Straße. Alles klar.«
»Wie? Alles klar?«
»Sie sind Wessi. Da wundert mich nischt«, entgegnete der Alte im breitesten Sächsisch.
»Also, guter Mann. Ich weiß beim besten Willen nicht, was Sie von mir wollen und wie Sie dazu kommen, dass ich hier ein Auto gerammt haben soll«, erwiderte Peter.
»Sie denken wohl, ich bin blöde. Ich habe doch Augen im Kopp. Ich weiß doch, was ich gesehen habe. Eins a sind Sie da reingeknallt«, raunzte der Mann zurück.
Peter hatte einfach keinen Nerv, noch weiter mit dem aggressiven Alten zu diskutieren. Hier stand Aussage gegen Aussage. Ein Streit würde eh nichts bringen.
»Hören Sie, guter Mann …«, versuchte Peter, ihn zu beschwichtigen, wurde jedoch jäh unterbrochen.
»Den guten Mann können Sie sich an den Hut stecken, Sie … Sie Rüpel … Sie Verkehrsrowdy. Ja, das sind Sie.«
»Ach nee. Da habe ich jetzt echt keinen Bock drauf«, entgegnete Peter, betätigte den Fensterheber und fuhr langsam los.
»Das wird ein Nachspiel haben«, hörte er den Alten schreien. »Da könnse Gift drauf nehmen! Das wird …«
Während Peter im Rückspiegel noch die drohend erhobene Faust des zeternden Alten sah, atmete er tief ein und wieder aus. Vollidiot, dachte er sich. Keine Ahnung, warum der ihn so blöde angemacht hatte. Aber er hatte jetzt Wichtigeres zu tun. Schließlich hatte er gleich einen Termin bei der Bürgermeisterin Michaela Hundt.
Peter überquerte die Adolf-Hennecke-Straße, bog rechts ab und fuhr nach weiteren 200 Metern links in Richtung Dorfplatz mit dem Rathaus.
Direkt davor parkte er das Auto, schloss ab und ging hinein.
Das Maulberger Rathaus war ein sogenannter »Altneubau« aus den 1920er-Jahren. Nicht richtig hässlich, aber auch nicht wirklich würdig, das Attribut »Rathaus« zu tragen. Es hatte weder Würde noch Stil und sah einfach zu normal aus. Es hätte auch eine Schule oder eine Sparkassenfiliale sein können. Das zweistöckige Haus war jedoch in gutem Zustand. Der Putz schien neu zu sein und eine Deutschlandfahne wehte aus dem Fenster des ersten Stocks. Dort musste das Büro der Bürgermeisterin sein.
Als er die Treppe hochging, kam ihm diese schon aus ihrem Büro entgegen:
»Ich habe Sie schon aus dem Fenster gesehen, wie Sie mit dem Auto angekommen sind, Herr Sendler. Normalerweise kommen hier alle zu Fuß oder mit dem Fahrrad, wenn sie was von mir wollen. Oder aber sie kommen von weiter weg. Dann natürlich mit ’nem fahrbaren Untersatz«, scherzte sie.
»Ich war noch im Supermarkt einkaufen. Den Kasten Bier wollte ich dann doch nicht durch die Gegend schleppen, Frau Hundt«, erklärte Peter.
»Sie müssen sich nicht vor mir rechtfertigen, Herr Sendler. Wir leben in einem freien Land«, erwiderte sie lächelnd und hielt ihm ihre Hand hin. Er schlug ein und sie führte ihn in ihr Büro. Dieses war funktional und unprätentiös eingerichtet. An der Wand hingen zwei Kinderbilder und eine große Landkarte von Nordsachsen.
»Das da«, sagte sie und zeigte dabei auf die beiden Kinderbilder, »sind meine beiden Lieblinge. Die Kleine, Frieda, ist drei und Emma ist fünf. Sie sind beide in der Kita bei Ihrer Frau.«
Peter nickte stumm. So weit war er noch nicht, dass er alle Kinder aus der Kita namentlich kannte. Obwohl es ja, zugegebenermaßen, nicht viele Kinder waren.
Jetzt wurde Frau Hundt offiziell. »Herr Sendler, was kann ich für Sie tun?«, fragte sie und setzte sich.
Gerade wollte er antworten, da unterbrach sie ihn abrupt. »Ach, entschuldigen Sie bitte. Möchten Sie etwas trinken? Limo oder Kaffee? Oder bei dem schönen Wetter vielleicht doch lieber ein Selters? Bier habe ich keins.«
»Nein, nein, ich will Sie gar nicht so lange aufhalten, muss ja auch gleich wieder weiter und Sie haben sicher auch Wichtigeres zu tun … Also, wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann unterstützen Sie mich bei meiner Dokumentation über Maulberg?«
»Na sicher, Herr Sendler, ich bin doch froh, dass das überhaupt jemand macht. Nächstes Jahr wird Maulberg 400 Jahre alt. Das ist die Chance für uns. Für Maulberg. Für die Region. Und Ihr Film kann uns dabei helfen, das Städtchen ein bisschen populärer zu machen.«
Peter nickte zufrieden.
Professionell, aber sympathisch fuhr sie fort. »Sagen Sie mir einfach, wie ich Ihnen helfen kann, und ich werde schauen, was möglich ist.«
Peter blickte ihr in die Augen: eine wirklich sehr attraktive Frau. Anfang dreißig und schon Bürgermeisterin einer kleinen Gemeinde. Schlank, mit einer zeitlos schönen Kurzhaarfrisur, dezent geschminkt. Die Frau hatte Stil. Und einen Charme hatte die! Mit diesem Lächeln wickelte sie hier sicher den stursten Rentner um den Finger.
»Ehrlich gesagt«, begann er, »würde mich interessieren, wie Sie diesen Job hier überhaupt bekommen haben.«
»Wieso? Weil ich eine Frau bin? Ich wundere mich, Herr Sendler. Da, wo Sie herkommen, sollte das doch nichts Neues sein.«
»Nein, nein«, verteidigte er sich. »Da haben Sie mich falsch verstanden. Ich meine, Sie sind ja parteilos, wenn ich mich recht erinnere. Wie konnten Sie sich dann durchsetzen?«
»Also gut, weil Sie so neugierig sind und es ja auch zu Ihrem Film gehört, werde ich Ihnen meine Geschichte haarklein erzählen.« Sie atmete tief ein und begann: »Also. Ich bin 33 Jahre alt und hier geboren. Aber keine Angst. Ich war schon mal draußen, in der ›bösen‹ Welt. Ich weiß, dass es noch ein Leben außerhalb von Maulberg gibt.« Peter zog lächelnd die Augenbrauen hoch. »Ich habe BWL studiert und war vier Jahre in München, wo ich gearbeitet habe. Dann habe ich aber festgestellt, dass die Großstadt überhaupt nicht mein Ding ist, und hab mich dort hundeelend und allein gefühlt. Ich war ja regelmäßig hier in Maulberg bei meinen Eltern. Und mein späterer Mann Andreas war ja schließlich auch hier. Warum sollte ich irgendwo leben, wo ich nicht glücklich werde?«
Peter hörte zu und nickte nur. Genau das waren die Geschichten, die er suchte. Geschichten von Menschen, die was zu sagen hatten.
Die Bürgermeisterin kam in Fahrt. »Und das mit meiner Parteilosigkeit … Wissen Sie, ich finde, man kann auch ohne Parteibuch ein politischer Mensch sein. Das ist wie mit der Kirche. Auch ohne Kirche kann man Christ sein.«
Er schmunzelte. »Da sprechen Sie mir aus der Seele.«
»Wissen Sie, Maulberg ist meine Heimat. Da komme ich her. Da sind meine Wurzeln. Diesen Ort hier will ich schützen und bewahren. Ich liebe dieses Dorf einfach. Ganz ehrlich. Und als vor zwei Jahren ein neuer Bürgermeister gesucht wurde, da habe ich mich zur Wahl gestellt. Einfach so. Alle kennen mich hier seit meiner Geburt. Ich gehöre hierher wie der Dorfplatz zum Rathaus. Vielleicht habe ich ja deshalb den Job bekommen?«
»Gratulation, Frau Hundt, da scheinen Sie ja sehr viel Vertrauen bei den Maulbergern zu genießen.«
»Na ja, alle waren natürlich nicht begeistert. Die alten Ostalgiker wollten unbedingt einen Mann als Bürgermeister haben. Die sind so stur. Unverbesserlich. Die haben eine Logik wie aus der Steinzeit. Aber die wurden halt überstimmt. So ist das eben in der Demokratie.« Michaela Hundt winkte ab. »Aber wer weiß, wie lange ich hier noch auf diesem Stuhl sitze. In der heutigen Zeit kann das ratzfatz gehen, da biste weg vom Fenster.«
Er wurde nachdenklich und konnte sich nicht verkneifen zu fragen: »Frau Hundt, gerade hier in der Gegend ist ja die Zahl der AfD-Sympathisanten sehr hoch. Und da gesellen sich doch auch immer ein paar NPD-Idioten dazu. Wie ist denn das hier in Maulberg?«
»Ach«, winkte sie ab, »da brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen. Das sind doch keine Nazis. Die gibt’s hier nicht. Das sind Protestwähler, die denkfaul sind und nichts anderes tun, als von der guten alten DDR zu träumen. Sie wissen doch: Idioten gibt es überall.«
»Stimmt, aber diese Idioten könnten dafür sorgen, dass Sie irgendwann als Bürgermeisterin ausgewechselt werden.«
»Und im Übrigen: Woher haben Sie die Information, dass ausgerechnet hier in diesem Kaff Nazis und Rechte sein sollen?«, fuhr sie fort.
»Nein, nein, das meinte ich nicht. Also, nicht so«, verteidigte sich Peter. »Aber gerade hier in Sachsen gibt es deutlich mehr Rechte als anderswo. Das stimmt doch, oder?«
»Sagt wer? Also das sind doch alles Vermutungen, die Sie hier anstellen, die ich so nicht bestätigen kann. Ja, es stimmt, in den Neunzigern haben die Bürger hier alle geschlossen PDS gewählt. In den letzten Jahren hat sich das Blatt jedoch um 180 Grad gedreht. Ist ja auch kein Wunder. Die vielen Ausländer. Die Angst vor der Islamisierung. Es klemmt an allen Ecken, das Sozialnetz wackelt. Deutschland könnte es besser gehen. Und wir haben eine Bundeskanzlerin, die die ganze Zeit behauptet, wir schaffen das.«
»Also, mit Verlaub. Ich finde schon, dass wir das schaffen. Schließlich geht es uns doch gut.«
»Das sagen Sie. Aber erklären Sie das mal einem Ex-DDR-Bürger, der mit alldem nicht zurande kommt.«
»Ich kann Ihnen nur schwer folgen …«, gab Peter zu. Denn wovon redete die da? Zu viele Ausländer? Hier in Maulberg gab es doch überhaupt keine Ausländer. Nicht einen einzigen. Es gab ja noch nicht mal einen Dönerstand oder eine Pizzeria. Und Angst vor Islamisierung? Hier? Wo es keinen einzigen Ausländer gab? Völlig absurd. Aber jetzt mit der Bürgermeisterin darüber eine Diskussion zu beginnen, wäre wohl keine gute Basis. Schließlich war sie für ihn ja so etwas wie eine Verbündete. Sie war diejenige, die ihm Tür und Tor und vielleicht sogar die Herzen der Maulberger öffnen könnte, um ihm bei seinem Projekt zu helfen.
Die Bürgermeisterin redete weiter, als ob sie seine Gedanken gelesen hätte. »Was ich meine: Machen Sie sich keine Sorgen um eventuelle Rechte oder Nazis in Maulberg. Glauben Sie mir. Ich kenne die hier alle. Das sind ganz normale Meckerossis. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Und«, dabei schlug sie einen vertraulichen Ton an, »es sind in Wahrheit gar nicht so viele. Glauben Sie mir.«
»Wenn Sie das sagen«, erwiderte Peter.
»Natürlich. Ich kenne doch meine Maulberger«, antwortete sie. »Die waren schon immer etwas anders, aber im Grunde genommen sind es alles ganz normale Menschen. Wie Sie und ich.«
»Gut, dann will ich Ihnen das mal so glauben«, antwortete Peter lächelnd. »Also, warum ich heute bei Ihnen bin, hat folgende Bewandtnis. Ich benötige Unterlagen zur Geschichte Maulbergs. Chroniken, historische Belege und so weiter. Haben Sie so was?«
Die Bürgermeisterin strahlte über das ganze Gesicht. »Herr Sendler, ich habe genau mit diesem Anliegen gerechnet und war deshalb gestern im Stadtarchiv.« Sie feixte etwas übertrieben. »Also, in Wahrheit ist es lediglich ein Kellerverschlag hier im Rathaus, in dem die Akten in einem alten Schrank vor sich hin gammeln. Aber ›Archiv‹ klingt natürlich viel cooler.« Sie beugte sich nach hinten, griff einen relativ großen Karton, zog ihn auf den Schreibtisch und öffnete ihn feierlich.
»Das sind Sachen aus den letzten 400 Jahren. Alles, was es davor gab, ist leider nicht mehr auffindbar. Aber mit dem, was wir hier haben, kann man schon arbeiten.«
Es waren alte dicke Bücher, in braunes Leder gebunden. »Diese Bücher hier, das sind die Chroniken von Maulberg. Die wurden immer vom jeweiligen Bürgermeister oder dem Dorfschulzen aufgezeichnet«, fuhr sie fort: »Und die hier«, und damit zeigte sie auf einen Stapel sehr gut erhaltener Bücher, »die sind alle aus der Nazizeit. Die Nazis hatten ein großes Interesse an Maulberg, da es für sie so was Ähnliches wie ein deutsches Vorzeigedorf war.« Peter schauderte bei dem Gedanken daran. »Ja, da haben Sie genug zu lesen. Weil sich die Nazis auch sehr um die Geschichte des Dorfes gekümmert haben. Ich denke, dass das sehr aufschlussreich ist. Natürlich muss man sich die ganze rechte Propaganda wegdenken, aber ich traue Ihnen zu, dass Sie das hinbekommen.«
Peter war hin und weg von diesem Schatz, der sich ihm da gerade offenbarte. Andererseits gruselte ihn der Gedanke, dass hier, in diesem Raum, mal Faschisten ein und aus gegangen waren. Dieses Gerede von der »wahren Herrenrasse« ging ihm gehörig gegen den Strich und widerte ihn unendlich an.
»Und das«, damit zeigte sie auf einen dicken Aktenordner, »das ist alles noch aus der DDR-Zeit. Und da ist es eben genau andersrum. Also eigentlich genau der gleiche Inhalt, nur mit noch mehr Schönfärberei.« Sie lachte.