Max und die Zauberflöte - Mathias Harling - E-Book

Max und die Zauberflöte E-Book

Mathias Harling

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Beschreibung

Calisto ist verzweifelt. Er hat das Amulett verloren, das ihm einst seine verstorbene Mutter geschenkt hat. Da lernt er Max und seine zauberhafte Flöte kennen und so begeben sich die beiden Waisenkinder gemeinsam auf die Suche, finden neue Freunde und erleben eine spannende Reise, die sich immer mehr zu einem phantastischen Abenteuer ausweitet. Dabei stoßen sie auf die Spuren des Archäologen Samuel Delusius und tauchen immer tiefer ein in die Geschichte ihrer Ahnen, der Insel Pangea und der ihr innewohnenden Magie. Schnell wird klar, dass nicht nur ihr eigenes Schicksal vom Erfolg ihrer Reise abhängt. Wird es ihnen gelingen, das Rätsel um den mysteriösen Forscher zu lösen, bevor es zur Katastrophe kommen kann?

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Seitenzahl: 305

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2024 novum publishing

ISBN Printausgabe: 978-3-99146-919-3

ISBN e-book: 978-3-99146-920-6

Lektorat: Mag. Vanessa Meder

Umschlagabbildung: Frank Harling

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Prolog

1. Der Fährmann von Mittenburg

Schweren Herzens und mit feuchten Augen stand Tor Olafson am Ufer des Flusses und beobachtete, wie seine Mitarbeiter ein weiteres seiner Fährboote aus dem Wasser zogen. Dabei spielte seine linke Hand unentwegt mit einer alten Münze, die er in seiner Hosentasche trug. Diese hatte ihm einst sein Großvater geschenkt, bevor er seine erste Fahrt mit einer Fähre angetreten hatte.

„Diese Münze wird seit Generationen in unserer Familie weitergegeben“, hatte ihm sein Großvater mit ernster Miene und feierlichen Worten ins Ohr geflüstert. „Ich habe sie als kleiner Junge von meinem Großvater erhalten, bevor ich meine erste Fahrt angetreten habe. Nun ist es an der Zeit, sie an Dich weiterzugeben. Passe gut auf sie auf und trage sie stets bei Dir, wenn Du einen der großen Flüsse überquerst. Dann wird sie Dich beschützen und stets dafür sorgen, dass Du unbeschadet am anderen Ufer ankommen wirst.“

Seitdem trug Tor Olafson die Münze bei sich, wann immer er einen der beiden Flüsse überquerte. Er mochte es, ihre glatte, kühle Oberfläche zwischen seinen Fingern zu spüren und hatte stets ein gutes Gefühl, wenn er sie bei sich trug. So, als könne ihm nichts etwas anhaben. Zwar konnte er nicht abschließend beurteilen, ob die Münze ihn tatsächlich zu beschützen vermochte, doch hatte er in all den Jahren auch nie einen schwereren Unfall mit einem seiner Fährboote erlebt. Und die beiden großen Flüsse, zwischen denen Mittenburg eingeschlossen war, konnten schnell sehr gefährlich werden. Insbesondere, wenn starke Regenfälle sie binnen weniger Minuten zu einem reißenden Strom anschwellen ließen. Allerdings konnte ihn die Münze ganz offenbar nicht vor den Konsequenzen der schwierigen wirtschaftlichen Lage bewahren. Schon seit einiger Zeit gab es nicht mehr genug Passagiere und Waren zum Übersetzen, um die zahlreichen Mittenburger Fährbetriebe auszulasten. Einige kleinere Betriebe hatten daher ihr Geschäft inzwischen ganz einstellen müssen, während die größeren damit begonnen hatten, die Anzahl ihrer Boote zu reduzieren und diese aufs trockene Dock zu setzen. Wie die meisten Mittenburger Fährmänner, hatte Tor Olafson das Geschäft seines Vaters als junger Mann übernommen und seine Flotte seitdem kontinuierlich erweitert. Doch nun brach es ihm das Herz, dabei zusehen zu müssen, wie sein Geschäft vor seinen Augen immer weiter zusammenschmolz.

Lange Zeit hatte Tor Olafson geglaubt, dass die beiden Königreiche für immer eng und freundschaftlich miteinander verflochten bleiben würden. Waren sie doch auf so vielfältige Weise symbiotisch verbunden. So teilten sie sich die Insel Pangea zu fast gleichen Teilen auf. Das Königreich Pan im Norden und das Königreich Gea im Süden. In der Mitte getrennt durch das große Atajar-Gebirge, das mit seinen hohen Bergen und seiner ganz besonderen Form für ein sehr spezielles klimatisches Phänomen sorgte. Denn passierte man das Atajar, kam man trotz der relativ kurzen Strecke in vollkommen anderen klimatischen Verhältnissen heraus. Die Jahreszeiten spiegelten sich, war im Norden Sommer, herrschte im Süden Winter und umgekehrt. Nur in der Stadt Mittenburg, dem Verbindungsstück zwischen den beiden Reichen, herrschte das ganze Jahr über ein recht gleichmäßiges, mildes, ja, fast frühlingshaftes Klima.

In den letzten Jahren hatten sich aber immer mehr Streitigkeiten zwischen den beiden Reichen ergeben. Auch bei scheinbar nebensächlichen Themen konnte man sich nicht mehr einigen. Der heikelste Punkt dabei war unbestreitbar die Zugehörigkeit der autonomen Stadt Mittenburg, in der Tor Olafson sein Fährgeschäft betrieb. Die Stadt selbst lag auf einem Hochplateau, ziemlich genau in der Mitte des Atajar und war in allen Himmelsrichtungen, durch natürliche Gegebenheiten, vom Rest der Insel abgeschnitten. An der westlichen und östlichen Seite durch die steilen, abweisenden Felswände des Gebirges. Im Süden und Norden durch die beiden größten Flüsse der Insel, dem weißen und dem schwarzen Schleifer, die bei Mittenburg in unterschiedlichen Richtungen aneinander vorbeiflossen. Ihre Namen hatten sie sich durch die imposanten Schluchten, die sie im Lauf der Zeit in die Felsen des Bergmassivs gefressen hatten, mehr als verdient. Der weiße Schleifer entsprang im westlichen Teil des Atajar, floss südlich an der Stadt vorbei in Richtung Osten und hatte aufgrund des kalkreichen Gesteins eine helle, weißliche Färbung. Die Quelle des schwarzen Schleifers dagegen lag im östlichen Teil des Gebirges. Er passierte die Stadt im Norden und floss gen Westen. Die kohlereichen Gesteinsschichten, durch die er im Laufe seiner Route floss, verliehen ihm eine dunkle, schwärzliche Farbe.

So lag Mittenburg auf einer Insel, die aber gleichzeitig die mit Abstand kürzeste Verbindung der beiden Königreiche darstellte. Da die anderen Bereiche der Grenze deutlich unzugänglicher und nur schwer zu begehen waren, hatte Mittenburg von jeher als Handelszentrum gedient und so die beiden Reiche auf natürliche Weise miteinander verbunden. Doch inzwischen beanspruchten beide Reiche die Zugehörigkeit der Stadt für sich. Und zum ersten Mal in der Geschichte hatte das nördliche Königreich, zu Beginn dieses Jahres, grenznahe militärische Manöver durchgeführt, die sich nur gegen das südliche Königreich richten konnten. Daraufhin hatte der Süden die Zölle für den Import von Waren aus dem Norden deutlich erhöht und der Norden hatte dies im Gegenzug ebenso getan. Das alles hatte die Beziehungen zwischen den beiden Reichen deutlich abgekühlt. Der Handel hatte immer mehr nachgelassen und war inzwischen fast gänzlich zum Erliegen gekommen. Inzwischen wurde in einigen Kreisen sogar offen über Krieg gesprochen. Und die zahlreichen Mittenburger Fährmänner waren die Ersten, die darunter zu leiden hatten. Doch waren sie bei Weitem nicht die Einzigen. So litten auch die zahlreichen ortsansässigen Geschäfte, Gastronomen, Hoteliers, Gaukler und Schausteller aller Art sehr darunter, dass immer weniger Händler und Kaufleute durch die Stadt zogen. Zudem hatten viele von ihnen die aufkommende Wirtschaftskrise zu lange ignoriert und waren daher inzwischen hoch verschuldet.

Doch nicht nur die Mittenburger wurden durch die wirtschaftlichen Probleme berührt. Auch die zahlreichen Bewohner der beiden Königreiche waren auf vielfältige Weise davon betroffen. Allen voran diejenigen, die im Bereich der großen Handelsrouten lebten. Aber natürlich auch zahlreiche Fabriken, Manufakturen und Handwerker, die nun keinen Zugang mehr zu den dringend benötigten Handelswaren und Rohstoffen hatten, die aber für den reibungslosen Betrieb unverzichtbar waren. So gab es auch innerhalb der beiden Reiche zunehmend Spannungen und die Armut verbreitete sich überall sehr rasch. Und waren die Bewohner beider Reiche früher weithin bekannt für ihre warmherzige Großzügigkeit, so galten sie inzwischen als argwöhnisch, geizig und habgierig. Was diese Entwicklung verursacht hatte und wie sie gestoppt werden konnte, wusste aber niemand so recht. Die allermeisten Bewohner waren ohnehin viel zu sehr mit ihren alltäglichen Problemen beschäftigt, um dies überhaupt wahrzunehmen.

1. Teil – Max und Calisto

2. Auf zum Sommermarkt

In der Nacht vor der Reise zum großen Sommermarkt konnte Max vor Aufregung kaum schlafen. Er kam nicht oft raus aus dem kleinen Dorf Woodwall, in dem er lebte. Seine Mutter war kurz nach seiner Geburt gestorben und sein Vater bereits einige Zeit davor verschwunden, daher wuchs er bei seiner Großmutter mütterlicherseits auf. Dort bestritt er einen sehr gemütlichen Alltagstrott, hauptsächlich bestehend aus Tierpflege, Gartenarbeit, Töpfern, Schnitzen, Lesen und Flötenspielen. Bereits kurz nach Sonnenaufgang verließ Max das Bett, hängte sich seine, an einer Kordel befestigte, Flöte um den Hals und ging hinunter in die Stube. Die Flöte hatte eine ganz eigenartig geschwungene Form und hatte einst seiner Mutter gehört, die aber damit nie besonders viel anfangen konnte. Er spielte schon auf ihr, lange bevor er richtig laufen und sprechen konnte. Von jeher erschien es so, als ob er und die Flöte auf eigentümliche Weise miteinander verschmolzen seien. So trug er sie den ganzen Tag über mit sich herum und spielte auf ihr, wann immer er die Hände frei hatte. Ab nahm er sie nur zum Schlafen und zum Schwimmen.

Unten im Haus angekommen, holte er die alte Teekanne seiner Oma aus dem Regal und stellte sie auf die Anrichte in der Küche. Noch immer musste er den kleinen Schemel verwenden, um das oberste Fach des Regals zu erreichen. Denn für sein Alter war Max ungewöhnlich klein und von schmächtiger, zierlicher, ja, fast zarter Figur. Doch schien ihn das alles nicht zu stören und so gab es nur sehr wenige Situationen und Momente, in denen seine leuchtend grünen Augen nicht vor Freude strahlten. Zufrieden lebte er in seiner ganz eigenen kleinen Welt.

Nachdem Max den alten Holzofen in der Küche angefeuert hatte, ging er hinaus, um frisches Wasser vom Brunnen zu holen, damit seine Oma ihnen damit einen heißen Tee zum Frühstück kochen konnte. Anschließend ging er in den Stall, holte den Esel Albert aus seiner Box und legte ihm das Gespann für den kleinen Fuhrwagen an, den sie bereits in den vergangenen Tagen sorgfältig bepackt und vorbereitet hatten. Als der Esel fertig hergerichtet war, führte er ihn aus dem Stall, was Albert mit fröhlichen Lauten kommentierte. Offenbar freust du dich genauso auf den Ausflug wie ich, dachte Max und ging zurück ins Haus. Dort empfing ihn seine Oma Irma mit einem verschlafenen, aber fröhlichen „Guten Morgen“, während sie frische Pfefferminzblätter aus einem der Blumentöpfe auf der Fensterbank zupfte und in ihre alte Teekanne stopfte. Die Teekanne war für die Oma in etwa das, was die Flöte für Max war. Sie benutzte die Kanne schon seit ihren Kindheitstagen und nahm diese auch stets auf all ihren Reisen mit.

„Du kannst es wohl kaum erwarten, dass es losgeht, was?“, fragte die Oma ohne eine Antwort von Max zu erwarten. „Ich bin im Übrigen heilfroh, dass Du dieses Jahr wieder dabei sein kannst. Es war letztes Jahr ganz schön anstrengend ohne Dich. Ich werde schließlich auch nicht jünger und das Aufbauen und Einrichten des Standes ist mir letztes Jahr doch schon recht schwergefallen. Außerdem wirst Du mit Deiner Flöte bestimmt eine ganze Menge Aufmerksamkeit erregen, was unserem Umsatz bestimmt nicht schaden dürfte. So viele Waren wie letztes Jahr musste ich noch nie wieder mit zurückschleppen.“

Aufgrund einer festsitzenden Erkältung hatte Max im letzten Jahr seine Oma nicht zum Sommermarkt begleiten können, weshalb er dieses Jahr nur umso aufgeregter war. Gerade erst zwölf Jahre alt konnte er sich auch an die letzte Fahrt in die große Stadt, vor zwei Jahren, kaum noch erinnern. Nach einem umfangreichen Frühstück, bei dem die Oma auch noch reichlich Brote für die Reise vorbereitete und einpackte, zogen die beiden den Fuhrwagen aus der Scheune und spannten den Esel davor. Die Fahrt in die südliche Hauptstadt Südeck würde etwa anderthalb Tage in Anspruch nehmen. Ihr Ziel war es, spätestens am frühen Freitagnachmittag vor Ort zu sein, um noch genug Zeit dafür zu haben, den Stand auf Vordermann zu bringen. Am nächsten Morgen wollte man dann für den großen Ansturm bereit sein, der sie mit Beginn des Marktes am Samstagmorgen hoffentlich erwartete.

Zunächst fuhren die beiden mit dem Fuhrwagen ins nahe gelegene Dorf und bogen dort auf die große Straße in Richtung der südlichen Hauptstadt. Die Fahrt verlief ruhig und reibungslos. Am Abend hielten sie an einer Lichtung am Wegesrand. Hier hatten sich bereits andere Reisende versammelt und ihr Nachtlager aufgeschlagen. Die meisten davon waren Händler aus allen möglichen Regionen des Landes. Einige hatten bereits Lagerfeuer angezündet und es herrschte eine ausgelassene, fröhliche Stimmung, bei der es sich Max nicht nehmen ließ, ein wenig auf seiner Flöte zu spielen, während Oma Irma reichlich Tee kochte und an ihre Reise- und Lagergefährten verteilte.

Früh am nächsten Morgen setzten sie ihre Reise fort und die beiden erreichten allmählich die Südecker Vororte. Hier begannen Oma Irma die zunehmend verwahrlosten Zustände aufzufallen. Es schien also zu stimmen, was man sagte, nämlich, dass die Wirtschaftskrise sich im letzten Jahr weiter verschlimmert hatte und das Reich in immer größere Not geriet. „Doch nur mit fehlendem Einkommen alleine“, so dachte Oma Irma, „konnte das Ganze nicht erklärt werden.“ Denn es waren auch viele Kleinigkeiten, an dem sich die Verwahrlosung ablesen ließ, die gar nicht vom Geld abhängig waren. Schmutz und Dreck auf den Straßen und Plätzen. Viele Häuser wirkten verfallen und deren Vorgärten ungepflegt und in einem äußerst bedenklichen Zustand. Fensterläden hingen seitlich schief an den Fenstern herunter, obwohl es vermutlich nur einer kleinen Schraube bedurft hätte, um diese wieder instand zu setzen. Und auch die meisten Wege und Straßen waren seit dem letzten Winter nicht mehr repariert worden. So hatte niemand die Löcher, die der Frost aufgerissen hatte, zugeschüttet und sie kamen daher die meiste Zeit nur sehr langsam voran. Doch das Allerschlimmste, so empfand es Oma Irma, waren die vielen verlotterten und ungepflegten Menschen auf der Straße und nicht wenige von ihnen waren Kinder. Einige davon bettelten gar bei den vorbeiziehenden Fuhrwagen nach Almosen. Aufgrund des anstehenden Sommermarktes herrschte auf den Straßen ein reger Verkehr. Allerdings, so schien es Oma Irma, waren nicht so viele Händler unterwegs, wie in den vergangenen Jahren. Überhaupt schien sich seit dem letzten Jahr einiges zum Schlechten gewandelt zu haben. So konnte sie sich nicht daran erinnern, jemals so viel Armut auf ihrer Reise in die südliche Hauptstadt gesehen zu haben. Und es war noch etwas ganz anderes, das in der Luft lag und sie deutlich wahrnehmen konnte: Angst, Verzweiflung und Hilflosigkeit.

Das alles schien Max kaum zu bemerken. Freudestrahlend saß er neben seiner Oma auf dem Bock des Fuhrwagens und trällerte fröhlich auf seiner Flöte vor sich hin. Er genoss die vielen Eindrücke, die bunten Farben, Geräusche und Gerüche sowie die Gesichter der Menschen, die ihnen auf der Fahrt entgegenkamen. Und umso näher sie der Südecker Stadtgrenze kamen, desto mehr davon strömte auf ihn ein. Und als die beiden schließlich die Stadttore passierten, schien Max kurz davor zu sein, vor Freude und Aufregung zu platzen.

Wie in den vergangenen Jahren baute Oma Irma den Marktstand bei ihrer alten Freundin Renate auf, die sie bereits aus Kindheitstagen kannte. Die beiden waren zusammen in dem kleinen Dorf, in dem Oma Irma noch immer wohnte, zur Schule gegangen und stets beste Freundinnen gewesen. Als junge Frau hatte sich Renate in einen Händler aus Südeck verliebt und war zu diesem in die Stadt gezogen. Schließlich hatten die beiden geheiratet und gemeinsam zwei Söhne großgezogen. Vor einigen Jahren war ihr Mann aber verstorben. Und da beide Söhne inzwischen erwachsen und außer Haus waren, hatte Renate den freigewordenen Platz im Haus dazu genutzt, um eine kleine Pension einzurichten, welche insbesondere zu dieser Zeit des Jahres immer gut besucht war. Aber wann immer es ihre Zeit erlaubte, ging Renate ihrer großen Leidenschaft nach, dem Stricken. Gab es in der Pension nichts zu tun, saß sie auf der Bank vor ihrem Haus und klimperte fleißig mit ihren Stricknadeln. Stellte dabei allerlei Mützen, Schals und Pullover her, die sie in dem kleinen Schuppen seitlich des Hauses, in dem früher die Waren für das Geschäft ihres Mannes gelagert waren, anbot und verkaufte. Nach seinem Tod hatte sie aus dem Geschäft im Erdgeschoss einen behaglichen Frühstücks- und Aufenthaltsraum für die Gäste ihrer Pension gemacht.

Als Oma Irma und Max am Haus ankamen, erwartete Renate die beiden bereits vor dem Haus und begrüßte sie lachend.

„Na, da seid Ihr aber ganz schön spät dran, Ihr zwei. War wohl mal wieder ordentlich Verkehr auf den Straßen. Dann sollten wir aber mit dem Aufbau keine Zeit verlieren.“

Die beiden alten Freundinnen umarmten sich lange und herzlich. Für Renate war ihre Freundin ein ganz besonderer Gast und so stellte sie ihr gerne ihren kleinen Schuppen seitlich des Hauses zur Verfügung. Hier konnten sie für die Dauer ihres Aufenthaltes unterkommen und außerdem ihren Verkaufsstand einrichten. Renate öffnete das große Tor vom Schuppen und Irma und Max rollten ihren Fuhrwagen hinein. Anschließend stellten sie einen großen Klapptisch hinter dem Tor auf, der gerade noch genug Platz ließ, um den Schuppen an der Seite wieder zu verlassen. Anschließend brachte Max den Esel Albert in eine nahe gelegene Scheune, wo man sich um sein Wohlbefinden kümmern würde. Währenddessen begann Oma Irma, die mitgebrachten Waren am Stand zu platzieren. Alle Arten von gebrannten Schüsseln, Tellern und Töpfen, geschnitztes Holzbesteck, verschiedene Sorten Ziegenkäse sowie jede Menge eingemachte Köstlichkeiten aus ihrem Garten. Erst als es bereits dämmerte, war Oma Irma mit dem Arrangement des Standes halbwegs zufrieden und sie ließ sich erschöpft auf der Bank vor dem Haus nieder. Hier aß sie gemeinsam mit Max und ihrer Freundin zu Abend.

Max schlang das Essen schnell hinunter, da er die Abendstunden noch für einen kleinen Rundgang in der Stadt nutzen wollte. Und als er dann verschwunden war, saßen Oma Irma und Renate noch länger gemeinsam an der Straße, tranken Tee und unterhielten sich. Doch entgegen den letzten Jahren, in denen sie diese Zeit immer sehr unbeschwert genossen hatten, lag in diesem Jahr eine gewisse Schwere über den beiden. Egal, welches Thema sie anschnitten, immer wieder stellten sie fest, dass etwas nicht mehr zu stimmen schien mit den Menschen und der Welt. Etwas war aus dem Gleichgewicht geraten und doch konnten beide nicht so recht bestimmen, was es genau war. Schließlich aber zogen sich die beiden älteren Damen zum Schlafen zurück und irgendwann, kurz nach Mitternacht, schlüpfte auch Max in den Schuppen und legte sich hin, sichtbar erschöpft vom langen Tag.

3. Der Uhrenmacher

Am ersten Morgen des zweitägigen Sommermarktes herrschte in der südlichen Hauptstadt überall auf den Straßen ein reges Treiben. Marktstände hatten sich, ausgehend vom zentralen Marktplatz, wie ein Spinnennetz weit in die Stadt hineingewoben. Händler, Bauern, Handwerker, Künstler, Schausteller und schaulustige Touristen waren von überall aus dem Land angereist, andere kamen von noch weiter her. Die Luft war erfüllt von exotischen Gerüchen und Geräuschen aller Art, die sich fortlaufend vermischten und Meter um Meter neue, sich ständig verändernde und aufregende Kompositionen bildeten. Laute und Stimmen schwirrten wie Insektenschwärme umher, schienen mal hier und mal dort zu landen, um dann weiterzuziehen. Menschen redeten, sangen, riefen und liefen umher. Marktschreier aller Art priesen lauthals ihre Waren an.

Aufgrund der Streitigkeiten zwischen den beiden Königreichen waren in diesem Jahr deutlich weniger Händler, Kaufleute und Besucher aus dem Norden angereist als in den vergangenen Jahren. Insbesondere die Reichen, Berühmten und Bedeutenden konnten es sich aus politischen Gründen kaum erlauben, in der südlichen Hauptstadt gesehen zu werden, da man so riskierte, beim nördlichen König in Ungnade zu fallen. Daher gab es bereits seit geraumer Zeit wildeste Gerüchte darüber, welche bekannten Personen des Nordens nun inkognito die Reise in die südliche Hauptstadt gewagt haben könnten. Gustav Glock interessierte dieser Klatsch und Tratsch wenig. Er war bereits seit Sonnenaufgang auf dem Markt unterwegs und hielt nach interessanten Gegenständen Ausschau. Insbesondere in den frühen Morgenstunden fanden sich oft ganz besondere Schätze und Kleinode und das war genau das, wonach er suchte. In den vergangenen Jahren hatte er einen sicheren Blick entwickelt, Kostbares von dem wertlosen Plunder zu unterscheiden, der sonst hauptsächlich an den Ständen dargeboten wurde. Außerdem kannte er inzwischen die Orte der Händler und Stände, an denen er am ehesten mit einem erfolgreichen Geschäft rechnen konnte. So waren ihm insbesondere die nicht ganz so gewissenhaften und gesetzestreuen Händler lieb. Bei diesen fanden sich nämlich oft Waren mit nicht einwandfreier Herkunft und hier ließ sich der Preis ganz besonders gut drücken. Und aufgrund seiner langjährigen Erfahrung wusste er ganz genau, wie er mit dieser Art von Händlern umgehen musste.

Früher war Gustav Glock einmal ein weithin bekannter und durchaus beliebter Uhrenmacher, doch hatte er diese Tätigkeit vor einigen Jahren abrupt eingestellt, da ihm die Freude daran verloren gegangen war. Seitdem widmete er sich ausschließlich dem Handel. Uhren aller Art, Schmuck, Gemälde, seltene Kunstgegenstände und andere Kuriositäten. Er war ein überaus geschickter Händler und schaffte es immer wieder, einen Handel zum größtmöglichen eigenen Vorteil zu gestalten. So hatte er sich inzwischen einen durchaus zweifelhaften, ja, fast berüchtigten Ruf erworben. Einige nannten ihn gewieft und gerissen, mit allen Wassern gewaschen, andere gar hinterhältig und skrupellos. Doch ohne jeden Zweifel war der Uhrenmacher eine der reichsten und bekanntesten Personen des südlichen Reiches. So hatte er inzwischen eine gewaltige Sammlung an teuren, seltenen oder einfach nur kuriosen Gegenständen in seiner ehemaligen Werkstatt angehäuft. Letztes Jahr hatte er diese sogar vergrößern müssen, um mehr Platz für weitere Gegenstände zu schaffen.

Die Sammlung von Gustav Glock war sicherlich die größte im südlichen Reich und auch weit über die Landesgrenzen bekannt. Ein nicht unerheblicher Teil davon bestand aus Uhren verschiedenster Art, Größe und Form. Viele davon hatte er bereits in seiner Zeit als Uhrenmacher entworfen und selbst gebaut, andere hatte er restauriert oder einfach nur repariert. So besaß er verschiedenste Wanduhren, Standuhren, Kuckucksuhren, Armbanduhren, Taschenuhren und Spieluhren. Uhren, die rückwärtsliefen, Uhren, die sich nachts zusammen mit ihrem Besitzer zu Bett legen konnten, um diesen morgens dann pünktlich aus dem Bett zu werfen. Andere wiederum sangen zu jeder vollen Stunde fröhliche Lieder. Einigen dieser Uhren sprach man geradezu magische Eigenschaften zu. So hieß es zum Beispiel von einer Uhr, dass man mit ihr die Zeit einige Stunden zurückstellen konnte. Ob dies so stimmte, wusste freilich keiner außer dem Uhrenmacher selbst, da der mürrische alte Mann nur wenigen Auserwählten Zutritt zu seiner Werkstatt gewährte. Trotzdem kamen regelmäßig reiche Leute von sehr weit angereist, nur um seine Sammlung betrachten und bewundern zu können. Doch selbst seine treuesten Kunden bekamen diese niemals vollständig zu Gesicht, denn es hieß, er verstecke die wertvollsten Stücke in einem riesigen Tresor, dessen Tür er für niemand anderen als sich selbst öffnete und der auf wundersame Weise in seinem Inneren noch deutlich mehr Platz bieten sollte, als man ihm bereits von außen ansehen konnte.

Nachdem Gustav Glock einige Male mit Adlerblick, suchend und abschätzend, auf dem Marktplatz auf und ab gegangen war, entdeckte er schließlich ein perlmuttfarbenes Amulett, welches gleich seine gesamte Aufmerksamkeit auf sich zog. Vor einigen Tagen hatte ein schlaksiger Junge mit einer kleinen runden Brille am Tor seiner Werkstatt geklopft und hatte nach eben einem solchen Amulett gefragt. Er habe es vor einiger Zeit verpfänden müssen und es nicht rechtzeitig wieder auslösen können. Und nun sei er auf der Suche danach, um es zurückzukaufen, hatte ihm der Junge berichtet. Erst hatte er ihn schroff abweisen wollen, doch als der Junge den Begriff magisch verwendete, um das Amulett zu beschreiben, war er plötzlich ganz still und aufmerksam geworden.

„Das besondere an diesem magischen Amulett ist“, hatte der Junge gesagt, „dass es eine kleine Spieluhr enthält, die man selbst bei genauerer Betrachtung leicht übersehen kann. Hierzu muss man nämlich die beiden kleinen Hebel an der Seite des Amuletts betätigen. Dann springt das Amulett auf und die Spieluhr darin gibt eine kleine Melodie von sich, und zwar jedes Mal eine andere. Noch nicht ein einziges Mal habe ich die Spieluhr das gleiche Stück spielen hören.“

Danach hatte sich der Uhrenmacher das Amulett noch in allen Einzelheiten beschreiben lassen und als der Junge fertig war, diesen schroff mit den Worten abgespeist: „Tut mir leid, ich habe das Amulett nicht, ich kann Dir nicht helfen.“ Anschließend hatte er die Tür zugeschlagen, ohne eine weitere Erwiderung des Jungen abzuwarten.

Und eben dieses Amulett, so hoffte der Uhrenmacher, hatte er jetzt am Stand einer der einheimischen Händler gefunden. Nach einer kurzen beiläufigen Musterung des Amuletts fand er die beiden kleinen, seitlich angebrachten Hebel und sein Herz machte einen freudigen Sprung. Natürlich betätigte er diese nicht, da der Händler offenbar keine Ahnung hatte, welches Kleinod er da zwischen all dem anderen wertlosen Plunder liegen hatte. Nach kurzer Verhandlung einigten sich die beiden daher auf einen Preis, der dem Uhrenmacher äußerst vorteilhaft erschien und ihm ein verstohlenes, schelmisches Lächeln auf sein Gesicht zauberte.

4. Calisto

Seit dem Tod seiner Mutter vor gut einem Jahr wohnte Calisto im städtischen Waisenhaus. Vor einigen Tagen war er 14 Jahre alt geworden. Für sein Alter hatte er bereits eine stattliche Größe erreicht. Doch war er vor allem in die Höhe geschossen, während sich seine Breite kaum verändert hatte. Daher war Calisto ein langer und dünner Schlaks, dessen Bewegungen mitunter an einen Clown im Zirkus erinnerten. Auf der Nase trug er eine kleine Brille mit runden Gläsern, die seinem Gesicht eine gewisse gebildete Erhabenheit verlieh. Doch an diesem Vormittag des großen Sommermarktes fühlte er sich alles andere als erhaben. Bereits vor Sonnenaufgang hatte er sich aus dem Waisenhaus geschlichen und war seitdem auf dem großen Markt auf und ab gelaufen. Er suchte nach dem perlmuttfarbenen Amulett, welches ihm seine Mutter nach seiner Geburt geschenkt hatte. Es war ein Vermächtnis seiner Großmutter, die einige Zeit vor seiner Geburt gestorben war. Kurz vor dem Tod seiner Mutter hatte er es in seiner Verzweiflung dem städtischen Pfandleiher übergeben, um von dem Pfand die Medikamente für ihre weitere Behandlung kaufen zu können. Doch die Medikamente hatten seiner Mutter nicht geholfen und ihr Tod hatte seine Welt so vollständig erschüttert, dass er nicht in der Lage gewesen war, das Amulett rechtzeitig wieder auszulösen.

Im Anschluss war Calisto lange Zeit zu gar nichts mehr in der Lage, hatte viel geweint und tagelang reglos herumgesessen und mit leeren Augen in die Luft gestarrt. Schließlich hatten sich die Nachbarn seiner angenommen und ihn in das städtische Waisenhaus gebracht, wo er seitdem mehr schlecht als recht lebte. Es schien, als ob tief in seinem Inneren etwas zerbrochen war und jeder Versuch, es wieder zusammenzusetzen, war bisher vergebens geblieben. Geistig abwesend und teilnahmslos besuchte er seitdem den täglichen Unterricht in der Schule im Waisenhaus. Die anderen Kinder nahm er dabei kaum wahr. Doch seit einiger Zeit hatte er so etwas wie eine leise Hoffnung verspürt. Woher diese kam, konnte er sich selber nicht erklären, doch war er inzwischen fest davon überzeugt, dass er wieder zu sich finden würde, wenn er nur das Amulett wieder in seinen Besitz bringen konnte. So hatte er vor zwei Wochen damit begonnen, überall in der Stadt danach zu suchen. Hatte allerlei Geschäfte und Händler abgeklappert, war sogar beim berühmten Gustav Glock gewesen. Doch all seine Bemühungen hatten bisher keinen Erfolg gebracht. Der große Markt bot ihm nun eine einmalige Gelegenheit, danach zu suchen. Er hoffte, das Amulett zurückzukaufen, bevor es ihm ein anderer wegschnappte. Und während er zwischen den Ständen auf und ab ging, sah er Gustav Glock an einem Stand mit einem Händler sprechen. Und da war es, das Amulett. Endlich hatte er es gefunden.

Als er eiligen Schrittes zum Stand hinübergeeilt war, stammelte Calisto nur noch: „Mein Amulett!“ und griff danach. Doch da hatte es der Uhrenmacher bereits mit einer schnellen, geschickten Handbewegung in der Innentasche seines Jacketts verschwinden lassen. Nun sah er den Jungen ernsthaft an und sagte: „Tut mir leid, mein kleiner, Du kommst zu spät, ich habe dieses Amulett gerade rechtmäßig von diesem ehrenwerten Händler erstanden. Ich habe den vereinbarten Preis bereits bezahlt und damit ist das Geschäft abgeschlossen.“

Bei dieser Bemerkung nickte der Händler dem Uhrenmacher unterstützend zu und Gustav Glock setzte seine Rede fort. „Wenn Du es haben willst, dann musst Du es von mir kaufen. Allerdings glaube ich kaum, dass Du genug Geld haben wirst, es zu bezahlen. Also bitte ich Dich nun, mich zu entschuldigen. Ich wünsche noch einen schönen Tag.“

Mit diesen Worten drehte sich der Uhrenmacher abrupt um und verschwand in der Menge. Nachdem er gegangen war, blieb Calisto noch einige Zeit unschlüssig und zweifelnd am Stand des Händlers stehen, bevor er sich schließlich mutlos und entkräftet auf den benachbarten Bordstein setzte und bitterlich zu weinen begann, den Kopf in den Schoß gebeugt.

5. Max trifft Calisto

Oma Irma hatte einen groben Zeitplan für die Betreuung des Standes erstellt. Nachdem sie zusammen mit Renate gefrühstückt hatten, gingen Oma Irma und Max zusammen zur Scheune, öffneten das große Tor und nahmen noch kleinere Verschönerungen am Aufbau des Standes vor. Danach hatte Max erst einmal frei. Zu dieser Zeit des Tages war der Ansturm von Kundschaft noch sehr überschaubar und Oma Irma traute sich zu, dies alleine zu bewältigen. Um spätestens 11 Uhr sollte Max dann aber wieder am Stand sein. Also nutzte Max die Gelegenheit, um den Markt weiter zu erkunden. Fröhlich beschwingt und äußerst aufgeregt lief er umher, blieb mal hier und mal dort stehen, musterte die verschiedenen Waren und spielte zwischendurch beim Herumlaufen auf seiner Flöte.

Schließlich fiel Max ein Junge auf, der, unbemerkt und unbeachtet von der vorbeiziehenden Menschenmenge, weinend auf dem Bordstein saß. Der Junge mochte wohl zwei oder drei Jahre älter sein als er, dachte Max und beobachtete den Jungen einige Zeit. Schließlich setzte er sich neben ihn auf den Bordstein, nahm seine Flöte und begann darauf zu spielen. Es dauerte nur einen kurzen Moment, bis der andere Junge seinen Kopf hob und kurz seine Brille absetzte, um sich mit einer Hand umständlich einige Tränen aus seinem Gesicht zu wischen. Seine Verzweiflung schien weitestgehend verflogen und einer interessierten Neugier gewichen zu sein. Und fast spitzbübisch blickte er zu Max hinüber, um diesen zu mustern. In vielfacher Weise schien Max das genaue Gegenteil von Calisto zu sein. So war er deutlich kleiner, hatte leuchtend grüne, lebendige Augen und langes, zotteliges, pechschwarzes Haar. Seine Kleidung war bereits reichlich verschlissen und abgetragen, doch wirkte sie keinesfalls ärmlich.

Calisto spürte, wie das Flötenspielen bei ihm eine lange verschlossene Tür öffnete, wenn auch nur einen kleinen Spalt. Und er spürte sofort, dass die einfache Melodie, die der Junge auf seiner Flöte spielte, ihn an die Melodien aus dem Amulett seiner Großmutter erinnerte. Und das hatte eine ungemein beruhigende Wirkung auf ihn. Doch auch bei den anderen Menschen um sie herum schien das Flötenspiel seine Wirkung zu entfalten. Die Hektik und Unruhe, die vorher an dieser Ecke des Marktes herrschte, schien sich in ein harmonisches Gleiten gewandelt zu haben. Einige vorbeiziehende Menschen waren sogar stehen geblieben, um dieser einfachen und doch wunderbar versponnenen Melodie zu lauschen, die schwerelos über allen anderen Dingen zu schweben schien. Doch noch ehe sich eine größere Menschentraube bilden konnte, unterbrach der Junge sein Spiel.

„Ich heiße Max“, sagte er und reichte Calisto die Hand.

„Hallo Max“, antwortete Calisto, „ich bin Calisto. Freut mich, Dich kennenzulernen.“

Das ungleiche Paar schüttelte sich die Hand. Calisto, der dünne, lange Schlaks mit kurzen blonden Haaren und silbergrauen Augen und Max, der kleine, schmächtige Junge mit den leuchtend grünen Augen und den pechschwarzen, langen, zotteligen Haaren. Calisto rückte sich seine Brille zurecht und schaute ein wenig verlegen zur Seite, offensichtlich war er sich seiner Sache nicht mehr so sicher. Doch Max schaute ihn weiterhin unverhohlen und freundlich an. Es schien fast so, als hätten die beiden bereits in diesem Moment Freundschaft geschlossen.

„Wie hast Du das gerade gemacht?“, fragte Calisto schließlich.

„Was meinst Du?“

„Na, das mit der Flöte! Als ich Dich gerade habe spielen hören, hatte ich das Gefühl, dass alles gut werden würde. Wo hast Du gelernt, so zu spielen?“

„Ich habe diese Flöte schon, solange ich denken kann, und genauso lange spiele ich auch schon darauf. Aber es stimmt, mein Flötenspiel hat auf viele Menschen eine Wirkung, die mich selbst oft erstaunt. Ist ja nur eine einfache Flöte. Jedenfalls habe ich Dich gerade so traurig da sitzen sehen und deshalb angefangen zu spielen, um Dich aufzumuntern. Mann, Du sahst ganz schön verzweifelt aus.“

„Danke, das hat ganz hervorragend funktioniert. Ich weiß nicht, was ich ohne Dich gemacht hätte.“

„Keine Ursache, gerne geschehen. Willst Du mir erzählen, welche Laus Dir über die Leber gelaufen ist?“

„Der Uhrenmacher“, sagte Calisto. „Er hat das Amulett meiner Mutter. Endlich habe ich es wiedergefunden und dann schnappt er es mir vor meiner Nase weg. Und ich konnte nichts dagegen tun. Verdammt!“

„Hat er es Dir gestohlen?“

„Nein, das ist ja das Schlimme, sonst könnte ich ihn ja wenigstens anzeigen. Aber er hat das Amulett rechtmäßig von einem Händler erworben. Ich musste es vor einiger Zeit verpfänden, weil ich Geld für die Medizin meiner Mutter brauchte. Und leider konnte ich es nicht mehr rechtzeitig auslösen nachdem…“

An dieser Stelle stockte Calisto und rang wieder mit den Tränen.

„Nachdem was?“, fragte Max.

„Nachdem meine Mutter gestorben ist“, sagte Calisto, während ihm nun wieder dicke Tränen die Wangen herunterliefen.

„Das tut mir leid“, sagte Max und begann erneut auf der Flöte zu spielen, bis sich Calisto wieder beruhigt hatte. Und so setzte dieser dann nach kurzer Zeit fort: „Naja, jedenfalls konnte ich das Amulett nicht rechtzeitig auslösen und so hat es der Pfandleiher schließlich verkauft, konnte sich aber nicht mehr erinnern an wen. Seitdem bin ich auf der Suche danach und jetzt taucht es bei diesem Händler wieder auf, der nicht einmal ansatzweise wusste, um was es sich dabei handelt. Und der Uhrenmacher hat es sich für einen Spottpreis unter den Nagel gerissen, nur weil ich ein paar Minuten zu spät gekommen bin. Aber ich bin ja auch selbst schuld, ich hab ihm ja selber noch von der Spieluhr darin vorgeschwärmt.“

„Eine Spieluhr?“, fragte Max interessiert.

„Ja, im Amulett ist eine Spieluhr versteckt, die man nur findet, wenn man von ihr weiß. Es spielt allerlei Melodien, die deinem Flötenspielen irgendwie sehr ähnlich sind.“

„Ok, das war allerdings ein ganz schönes Pech. Aber sieh es doch mal positiv“, sagte Max, „immerhin weißt Du jetzt, wo sich Dein Amulett befindet. Und vielleicht gibt es Dir der Uhrenmacher ja doch noch zurück, wenn er Deine Geschichte dazu hört?“

„Du träumst wohl. Der Uhrenmacher ist ein knickriger, alter Stinkstiefel! Ich war ja schon bei ihm und hab ihm meine Geschichte erzählt, dem alten Griesgram. Der wollte mir erst gar nicht zuhören, erst als ich ihm von meinem Amulett erzählt habe, ist er dann plötzlich ganz freundlich geworden. Hat dann behauptet, wenn er mir bei der Suche helfen solle, müsse ich ihm schon alles über das Amulett erzählen, damit er es auch erkennen könne, wenn er es fände.“

„Und da hast Du ihm die Sache mit der Spieluhr verraten. Ich verstehe.“

„Ja, und jetzt hat er das Amulett und wird es mir ganz sicher nicht mehr freiwillig zurückgeben.“

„Vielleicht, aber vielleicht auch nicht“, überlegte Max. „Du solltest auf jeden Fall noch mal bei ihm vorbeigehen. Auch wenn er es Dir nicht verkaufen will, kannst Du doch zumindest herausfinden, was er dafür haben will. Wenn Du willst, komme ich gerne mit.“

Calisto lächelte, würde er doch vermutlich alleine nicht den Mut aufbringen, tatsächlich noch einmal zum Uhrenmacher zu gehen.

„Ja, das wäre toll“, antwortete er daher. „Als ich Dich da gerade so hab spielen hören, da hatte ich auch schon diese Idee. Vielleicht lässt er sich ja erweichen, wenn Du ihm was auf Deiner Flöte vorspielst.“

„Probieren können wir es, auch wenn es vermutlich schwierig sein wird, den Uhrenmacher zu finden, solange der Markt andauert“, antwortete Max, als schließlich die Kirchturmuhr zu schlagen begann.

„Auweia“, sagte Max und sprang plötzlich auf, „ich muss zurück zum Stand. Komm doch einfach mit. Du musst auch unbedingt meine Oma kennenlernen und ihr Deine Geschichte erzählen. Die hat sowieso immer die besten Ideen. Und außerdem kocht sie den besten Tee der Welt.“

„Okay, dann komme ich mit“, sagte Calisto und die beiden Jungen machten sich schnellen Schrittes auf den Weg. Unterwegs fragte Calisto mit leicht traurigem Unterton, „Du bist nicht von hier, oder?“

„Stimmt, ich komme vom Land“, antwortete Max, „ich bin mit meiner Oma nur für den Markt in die Stadt gekommen. Spätestens Dienstag oder Mittwoch reisen wir wieder zurück.“

„Musst Du denn nicht zur Schule gehen?“

„Nein, muss ich zum Glück nicht mehr. Ich hab mich da auch nie richtig wohlgefühlt. Viel zu viel rumsitzen, ich bleibe lieber in Bewegung“, sagte Max, woraufhin ihn Calisto erstaunt ansah.

„Aber immerhin habe ich in der Schule Lesen, Schreiben und ein bisschen Rechnen gelernt. Und meine Oma geht jede Woche zusammen mit mir in die Bibliothek und leiht alle möglichen Bücher aus. Solange ich jede Woche mindestens eines davon lese, sagt sie, muss ich nicht wieder zurück in die Schule.“

„Wow, das ist ja toll, ich wünschte, ich hätte auch so eine Oma.“

6. Am Stand

Am Stand angekommen quittierte Oma Irma die verspätete Rückkehr von Max mit einem theatralischen Kopfschütteln, konnte sich aber danach ein kurzes Lächeln nicht verkneifen, als sie sagte: „Na, ganz schön spät dran, mein Lieber. Aber gut, dass Du endlich da bist. Du musst unbedingt ein wenig Flöte spielen. Irgendwie sind die Menschen so gehetzt und unruhig. Ich habe noch fast gar nichts verkauft. Aber wen hast Du denn da mitgebracht?“