Mayfair House - Alex Hay - E-Book

Mayfair House E-Book

Alex Hay

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Beschreibung

Ein fesselnder Rachefeldzug einer schillernden Gemeinschaft von Frauen – sehr britisch, amüsant und mit viel Esprit

London, Mayfair 1905: Die Villa der Familie de Vries ist die prachtvollste auf der Park Lane, außen weißer Marmor, innen kostbare Möbel, funkelnde Kronleuchter, Kristallschalen und edle Kunstgegenstände, Silber und Gold glänzen um die Wette. Es ist Mrs Kings ganzer Stolz, für die exzellente Haushaltsführung der noblen Residenz zu sorgen – bis sie beim Tod des Hausherrn nach Jahren treuer Dienste kurzerhand entlassen wird. Doch Mrs King denkt gar nicht daran, sich der Willkür der Erbin de Vries zu fügen. Sie will nur eins – Gerechtigkeit.
Mit einer bunten Truppe von Komplizinnen plant sie den Coup ihres Lebens: In der Nacht des großen Kostümballs werden sie unter den Augen der vornehmen Gäste das Haus bis auf den letzten Silberlöffel ausräumen. Und während sich im Obergeschoss die High Society amüsiert, beginnt ein Stockwerk tiefer der kühnste Raubüberfall, den London je gesehen hat …

Alex Hay erzählt in diesem Heist-Roman voller Eleganz und Esprit die Geschichte eines atemberaubenden Rachefeldzugs und einer schillernden Gruppe Frauen, die sich nehmen, was ihnen zusteht.

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Ähnliche


Cover

Titel

Alex Hay

Mayfair House

Oben lädt Madam zum Ball der Saison, unten planen die Dienstmädchen den Raub des Jahrhunderts

Aus dem Englischen von Regina Rawlinson

Insel Verlag

Impressum

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Die englische Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel The Housekeepers bei Headline Review ein Imprint von HEADLINE PUBLISHING GROUP, London.

eBook Insel Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der 2. Auflage der deutschen Erstausgabe, 2024.

© der deutschen Ausgabe Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH Co. KG, Berlin, 2024Copyright © 2023 Alex Hay

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: Designbüro Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Umschlagabbildungen : iStock by Getty Images, München: Kumer (Tasse)/Julia Urchenko (Frau)

eISBN 978-3-458-77968-1

www.suhrkamp.de

Widmung

Für meine Mutter, die mich zu diesem Buch ermutigt hat

Und für Tom, der es bei jedem Schritt unterstützt hat

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Widmung

1. Freitag, den 2. Juno, 1905 Park Lane, London

2

3. Noch vierundzwanzig Tage

4

5

6. Noch dreiundzwanzig Tage

7. Noch zweiundzwanzig Tage

8. Noch achtzehn Tage

9

10

11. Noch 15 Tage 15 Uhr

12. Am selben Nachmittag

13. Später

14. Noch zwei Wochen

15. Noch zwölf Tage

16. Noch neun Tage

17. Noch eine Woche

18

19. Der Tag vor dem Ball

20. Der Vorabend des Balls 22 Uhr

21. Die Nacht vor dem Ball

1

.

30

Uhr

22. Der Tag des Balls

23. 18 Uhr Noch sechs Stunden bis zum Großen Finale

24. Noch fünf Stunden

25. Noch vier Stunden

26

27. Noch drei Stunden

28. Noch zwei Stunden

29

30. Zwei Monate zuvor

31. Jetzt

32. Noch eine Stunde

33. Vor zehn Minuten

34. Mitternacht Stunde null

35. 1.00 Uhr morgens

36. 2 Uhr morgens

37. 2.30 morgens

38. 3 Uhr

39. 4 Uhr

40. Der Tag nach dem Ball

41

42. Neun Monate später

43. Juni 1906

Anmerkung des Autors

Danksagung

Informationen zum Buch

Mayfair House

1

Freitag, den 2. Juno, 1905 Park Lane, London

Mrs King legte die Messer nebeneinander auf den Tisch. Nicht um Mr Shepherd zu erschrecken, sondern aus Prinzip. Sie pflegte ihre Messer, hielt sie tipptopp in Schuss. Ihre Messer – ihre Küche.

Die Mädchen hatten sich die Hände fast blutig geschrubbt, als müsste der Raum keimfrei gemacht werden. Die Tischplatte war noch feucht.

Das Haus lastete schwer auf Mrs King, dieser Berg aus Marmor, Eisen und Glas, die pochenden, klopfenden Rohrleitungen. Ihr blieben höchstens zwanzig Minuten, bevor man sie vor die Tür setzte. Madam war wach. Gewiss streifte sie schon ungeduldig durch die elfenbeinfarbene Stille der oberen Etage. Ihr Frühstück ließ auf sich warten. Mrs King durfte keine Zeit verlieren – und auch niemanden sonst in Gefahr bringen. Was ihr selbst blühte, kümmerte sie nicht weiter, damit hatte sie längst abgeschlossen, aber ein Ungemach kommt selten allein, und sie wollte keine Unbeteiligten in die Sache hineinziehen. In Windeseile durchwühlte sie eine Schublade nach der anderen. Sie hoffte, ihr würde irgendetwas ins Auge springen, eine Unregelmäßigkeit, ein fehlendes Puzzleteilchen, doch es war alles in perfekter Ordnung.

Es kribbelte ihr im Nacken. In viel zu perfekter Ordnung.

Ein Schatten fiel auf die Wand.

»Mrs King? Ihre Schlüssel, wenn ich bitten darf.«

Dass Mr Shepherd hinter ihr stand, erkannte sie an dem Geruch nach Bratenfett und seinem Herrenduft mit Moschusnote.

Ruhig weiteratmend drehte sie sich zu ihm um.

Obwohl er einen exzellenten Butler abgab, hätte er sich als Pfaffe noch viel besser gemacht. Dafür sorgte seine frömmlerische Ausstrahlung. Er starrte sie mit unverhohlener Schadenfreude an, genoss jede Sekunde.

»Guten Morgen, Mr Shepherd«, sagte sie mit samtweicher Stimme, genau wie jeden Tag.

Mrs Kings Spielregel lautete: Wähle deinen ersten Zug mit Bedacht, danach kannst du die Partie nach eigenem Belieben steuern. Entscheidest du dich falsch, wirst du womöglich in die Ecke gedrängt und zu Hackfleisch verarbeitet. Mr Shepherd schürzte die Lippen. Er hatte einen seltsamen Mund, wie eine hässliche kleine Rosenknospe.

»Die Schlüssel.« Er streckte die Hand aus.

Auch gut, kein langes Palaver. Mrs King umkreiste ihn, ging immer näher auf ihn zu. Sie wollte sich sein Gesicht einprägen. Das würde ihr später noch zupasskommen. Falls ihr an ihrem Vorhaben jemals Zweifel kämen, bräuchte sie sich bloß an seine Visage zu erinnern. Das wäre ihr Ansporn genug.

»Ich muss erst meinen Kontrollgang beenden, Mr Shepherd.«

Der Butler wich einen halben Schritt zurück, um sie sich vom Leib zu halten. »Das dürfte wohl nicht mehr nötig sein, Mrs King.« Er schielte zur Tür.

Die anderen Dienstboten standen im Flur und lauschten, knapp außerhalb des Blickfelds, im Schatten verborgen. Mrs King stellte sie im Geist wie Schachfiguren auf. Chauffeur und Stallknecht kamen in den Hof, die Hausmädchen auf die Hintertreppe, die völlig aufgelöste Köchin – vor Empörung ihr Taschentuch verknotend – in die Speisekammer. William, streng bewacht, in Mr Shepherds Büro unter Arrest, Alice Parker oben ins Nähzimmer, jedem Ärger aus dem Weg gehend. Und alle hatten die Uhr im Auge. Das ganze Haus verharrte in Erwartung, reglos.

»Ich lasse meine Arbeit nicht halb getan liegen, Mr Shepherd.« Sie schlüpfte an ihm vorbei zur Tür. »Das wissen Sie doch.«

Vor ihr stoben erschrockene Gestalten auseinander, duckten sich in Vorratskammern und Büros. Ihre Schnürstiefel polterten hallend über die Steinfliesen. Kalte, feuchte Luft wälzte sich die Hintertreppe herunter. Ob ihr die Kälte fehlen würde? Der penetrante Karbolgeruch? Alles andere als schön, aber so unendlich vertraut? Seltsam, wie sehr man sich im Laufe der Jahre an Dinge gewöhnte. Nicht nur seltsam, sondern regelrecht unheimlich.

Mr Shepherd folgte ihr. Er war wie ein Aal, schwer und tückisch, und er konnte sehr schnell sein.

»Mrs King«, rief er. »Sie wurden gestern Nacht im Quartier der männlichen Dienstboten gesehen.«

»Ich weiß«, sagte Mrs King über die Schulter hinweg.

Vom Küchengang führte eine steile Treppe ins Vestibül hinauf. Sie endete an einer mit grünem Stoff bespannten Tür, der Grenze zwischen den Welten, hinter der die Luft dünner wurde, das Licht milchig verschwommen war. »Sie gehen nicht nach oben!«, befahl Shepherd.

Sich vom Butler herumkommandieren zu lassen, schmeckte ihr ganz und gar nicht. »Ich muss etwas überprüfen«, sagte sie.

Er setzte ihr nach, dass die Treppe bebte.

Komm doch, dachte Mrs King. Fang mich.

»Keinen Schritt weiter.« Er streckte die Hand nach ihr aus, um sie festzuhalten.

Sie blieb stehen. Vor Shepherd würde sie nicht davonlaufen.

Er packte sie so fest beim Handgelenk, dass sich seine Wurstfinger in ihre Adern gruben. Obwohl er aus dem Mund roch, schauderte sie nicht zurück, sondern blickte ihm furchtlos in die Augen. Nichts war ihm verhasster.

»Was haben Sie gestern Nacht getrieben, Mrs King?«

Obwohl dem Butler nur ein paar armselige Härchen über der Stirn geblieben waren, pflegte er sie hingebungsvoll mit Brillantine. Oder er rieb sie jeden Morgen einzeln mit Haarwachs ein.

»Vielleicht bin ich schlafgewandelt.«

»Vielleicht?«

»Ja, vielleicht.«

Mr Shepherd lockerte seinen Griff ein wenig und überlegte hin und her. »Das wäre natürlich etwas anderes. Das könnte ich Madam unter Umständen erklären.«

»Aber vielleicht war ich auch hellwach.«

Mr Shepherd drückte ihre Hand gegen das Geländer. »Die Schlüssel, Mrs King.«

Sie spähte zu der grünen Tür hinauf. Über ihr erhob sich das Haus, riesengroß und unerreichbar. Die Antwort, die sie suchte, lag dort oben. Das wusste sie. Ob versteckt oder zu Schnipseln zerschnitten, sie war da. Irgendwo. Und wartete darauf, gefunden zu werden.

Dann blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als wiederzukommen und sie sich zu holen.

Während sie das Wirtschafterinnenzimmer betrat, verharrte er wie ein Wachtposten in der Tür, raubte ihr das Licht. Schon jetzt schien ihr der Raum der Vergangenheit anzugehören. Er war nicht gemütlich, nur vollgestopft. Auf dem Tisch lag noch das Geschenk des Hausherrn an sie. Vor vier Wochen hatte sie Geburtstag gefeiert, einen schönen halbrunden. Ihren fünfunddreißigsten. Der gnädige Herr hatte ihr ein Gebetbuch geschenkt. Die Dienstboten bekamen immer Gebetbücher von ihm, mit Goldschnitt und Satinbändchen.

Erhobenen Hauptes übergab sie Mr Shepherd die Schlüssel.

»Sind das alle?«

Sie nickte.

»Wir kümmern uns um Ihre Habseligkeiten. Sie können sie später abholen.«

Mrs King zuckte mit den Achseln. Sollten sie ruhig ihre Schlafstube inspizieren, die Betttücher beschnüffeln, die Waschschüssel auslecken. Wenn sie wollten, konnten sie auch gern ihre Wirtschafterinnentracht verschenken. Kleider aus festem Baumwollstoff, schlichte Bänder, enge Kragen, Sachen, mit denen sich jede erdenkliche Person erschaffen ließ. Am besten suchst du dir einen neuen Namen aus, hatte es geheißen, als sie damals ins Haus gekommen war. Und sie entschied sich für King. Das gefiel ihnen gar nicht – aber sie ließ sich nicht beirren. Mit diesem Namen fühlte sie sich stark, unangreifbar. Das »Mrs« hatte sie sich erst später zugelegt, als sie Wirtschafterin wurde. Einen Mr King gab es natürlich auch nicht.

Den marineblauen Mantel und die Hutnadeln behielt sie. Alles andere packte sie in ihre schwarzlederne Gladstone-Tasche. Nur eine Sache gab es noch, derer sie sich entledigen musste. Sie holte einen Stapel Papiere aus der Schublade des Schreibsekretärs und warf sie mit schwungvoller Bewegung in den Kamin.

Mr Shepherd wagte sich einen Schritt ins Zimmer. »Was ist das?«

»Die Menükarten«, sagte Mrs King. Es schnürte ihr die Brust zusammen.

Die seidene Schleife, die das Päckchen zusammenhielt, dunkelte schon im Feuer, von Rot nach Braun und zuletzt nach Schwarz.

»Was für Menükarten?«

Sie drehte sich um und fixierte ihn. Wie gehetzt ließ er den Blick durch den Raum wandern, als wäre er auf der Suche nach etwas Übersehenem, nach Geheimnissen, die sich in den Wänden verbargen.

»Für Miss de Vries’ Ball«, antwortete sie.

»Das wird Madam aber gar nicht gefallen.«

»Ich habe alles veranlasst.« Mrs King lächelte kühl. »Den Rest schafft sie auch ohne mich.«

Das Seidenband im Kamin bestand nur noch aus Erde und Asche. Wie schnell die Verwandlung vor sich gegangen, wie vollständig sie abgelaufen war.

Ohne sie ein zweites Mal anzufassen, eskortierte Shepherd sie durch die Gesindestube, vorbei am Porträt des Hausherrn, das über dem langen Esstisch hing, hinaus in den Stallungshof. Der Rahmen des Gemäldes war mit schwarzem Stoff verhängt. Wie lange Shepherd es wohl noch an der Wand lassen wollte, nachdem die Bestattung längst vorbei und der Master beigesetzt war? Ob er stattdessen ein Bild von Madam aufhängen würde, Lavendeltöne in sanften Ölfarben? Da würde sich das Gesinde schön grausen. Die junge Frau hatte Augen wie eine Beißzange. Wahrscheinlich würde Shepherd den Austausch so lange wie möglich aufschieben. Er hatte seinen Herrn länger betrauert als jeder andere.

Hoffentlich sah der alte Mann von Himmel aus zu – oder wo auch immer sonst er gelandet sein mochte – und bekam alles mit, bis zum bitteren Ende. Hoffentlich hatte man ihm die Augenlider festgeheftet, damit ihm ja nicht entging, was Mrs King mit seinem Haus vorhatte.

Das Haus. Früher hatte sie es bewundert, die größte Residenz in der Park Lane. Ein steinernes Ungetüm aus Säulen und Erkern, sieben Stockwerke hoch, wenn man Keller und Dachböden mitzählte. Ein Neubau in gleißendem Weiß, bezahlt mit Diamantengeld. Es stahl der Umgebung das Licht, ließ die ganze Straße schrumpfen. Die Nachbarn verabscheuten es.

War in London jemals ein Haus mit einem solchen Übermaß an Prunk, Protz und Pracht verziert gewesen? Wüsten aus eiskaltem Marmor, Öden aus glänzendem Parkett. Die Wände mit französischer Seide bespannt, im Rokokostil vertäfelt und durch Pilaster gegliedert. Und alles elektrifiziert: Spannung, die in den Wänden pulsierte, elektrische Kronleuchter, so groß wie Windmühlen. Monumentale Gaskamine. Unendliche Glasflächen, die stechend nach Essig rochen.

Und in allen Räumen echte Schätze: atemberaubende van Dycks, kolossale Kristallschalen, überquellend von Nelken. Kunstgegenstände aus Gold, Silber und Jade, Putten mit Augen aus Rubinen und Zehennägeln aus Smaragden. Mit Zebrafellen bezogene Sofas im Empfangssalon, Bakkarat-Tische aus Elfenbein und Nussbaum, rosa- und onyxfarbene Flamingos vor den Bädern. Die Bibliothek mit der teuersten privaten Büchersammlung in Mayfair. Das Rosenholzzimmer, der Rote Salon, der Ovale Salon, der Ballsaal. Ein Raum wie der andere mit Pfauenfedern und Lapislazuli verziert und einem unerschöpflichen Lilienvorrat geschmückt.

Nichts davon konnte Mrs King heute noch beeindrucken.

Sie gab Mr Shepherd nicht die Hand.

»Ich werde Sie auch weiterhin in meine Gebete einschließen, Mrs King«, sagte er.

»Tun Sie das.«

Vermutlich wurde ihr Zimmer bereits ausgeräumt, schrubbten die Mädchen die Dielen mit kochendem Wasser und Waschsoda, zogen das Bett ab, um die Wäsche zum Waschen zu geben, und löschten jede Spur von ihr aus.

Auf dem Weg nach draußen durfte sie auf gar keinen Fall noch einen letzten Blick über ihre Schulter werfen. Fiel er auf den falschen Menschen, konnte sie sich damit verraten, und was noch gar nicht richtig angefangen hatte, wäre vielleicht schon verdorben. Während sie durch den Hof ging, landete eine Taube auf dem Portikus des monumentalen Marmormausoleums. Ohne von dem Bau irgendeine Notiz zu nehmen oder dem verstorbenen Hausherrn mit einer Verneigung die letzte Ehre zu erweisen, marschierte Mrs King entschlossen durch das Tor auf die Gasse hinaus. Allein.

In der Ferne knatterten Automobile vorbei. Aus einem Riss im Pflaster sprossen Mohnblumen, unbeachtet in den Schmutz getrampelt, reckten sie sich dem Himmel entgegen. Mrs King zupfte ein Blütenblatt ab, umschloss das karmesinrote zarte Etwas mit der Hand, hielt es warm.

Ihr erster Diebstahl.

Beziehungsweise die erste Korrektur. Denn es war kein Diebstahl, wahrhaftig nicht.

2

Abgeschottet in der Stille der Gesellschaftsräume im ersten Stock studierte Miss de Vries die Gästeliste für ihren Ball.

Die Vorbereitungen liefen seit Wochen auf Hochtouren. Der Termin stand fest: der sechsundzwanzigste Juni. Noch drei Wochen und drei Tage, und Miss de Vries zählte jede Sekunde.

Die Idee zu dem Tanzvergnügen war ihr eigentlich schon vor Monaten gekommen, als Vater mit der Fähre zum Kontinent übergesetzt hatte, um in den Heilbädern zu kuren und dem Glücksspiel zu frönen, ohne sich um seine häuslichen Angelegenheiten zu scheren. Er hätte niemals zu einem Fest in die Park Lane eingeladen. Auch nicht zu einem Frühstück oder Lunch, einer Teegesellschaft oder einem Diner. Er lehnte es strikt ab, Miss de Vries wie auf dem Präsentierteller zur Schau zu stellen, um sie dem Meistbietenden feilzubieten.

Dabei ging Vater selbst sehr wohl in die Welt hinaus: zur Royal Regatta und zu diplomatischen Banketten, zu Empfängen der Königin und zu Gymkhanas. Er trug gelb gepunktete Halstücher und geschmacklose Westen und ließ sich auf den Wohltätigkeitsbällen als großzügiger Spender bejubeln. Die Menschen ergötzten sich an Anekdoten über seine Extravaganzen, an den ungeschliffenen Manieren – und an seinen glänzenden Knöpfen.

Während seine Tochter ein einsames Eremitendasein fristete und zu Hause die Wände hochging.

Nach Vaters Bestattung hatte sie Mrs King rufen lassen. Als die Wirtschafterin leise ins Zimmer trat, trug sie einen Trauerflor am Ärmel, ein Anblick, bei dem es Miss de Vries kalt überlief.

»Ich habe die Absicht, einen Ball zu geben«, sagte sie.

Sie rechnete mit Erstaunen, Einwänden, Zweifeln hinsichtlich der Schicklichkeit ihres Vorhabens. Oder noch besser: mit einer Zurückweisung. Die Loyalitäten gegenüber Vater waren im Fluss, die Stimmung fiebrig. Womöglich regten sich im Haus erste Veränderungsbestrebungen. Miss de Vries hätte ein gewisses Maß an Widerstand, ja sogar an Aufsässigkeit durchaus begrüßt. Es böte ihr einen guten Grund, bestimmten Domestiken die Papiere auszuhändigen.

»Haben Madam schon ein Datum im Auge?«, fragte Mrs King gleichmütig.

Die Ballsaison war bereits in vollem Gange: Miss de Vries hatte die Privatführung in der Royal Academy verpasst, und sie besaß kein Kleid für die Rennwoche in Ascot. »Vor Ende Juni. Keinesfalls später«, antwortete sie, obwohl sie genau wusste, was sie dem Personal damit zumutete. Ein Ball war ein Auftritt, ein Entree: Er musste groß, glänzend und aufwändig sein, der beste im Kalender.

»Das sehe ich auch so«, sagte Mrs King verbindlich und nahm, zu Miss de Vries’ großer Verblüffung, souverän die Organisation in die Hand, beinahe so, als hätte sie selbst das Fest geplant. Sie erarbeitete die Speisenfolge und führte die diffizilen Verhandlungen mit der Köchin. Bestellte Blumen, Tischwäsche, Gläser und Karaffen, Lohnkellner, Zelte und Markisen, diverse Zerstreuungen. Stellte eine Liste mit dem benötigten Personal zusammen: neue Stubenmädchen, Aufwärterinnen und sogar eine Näherin, die bei der Anfertigung des Kostüms für die Gastgeberin helfen sollte. Sie versperrte die Hälfte der Zimmer, machte andere zugänglich, stellte die Möbel um, räumte die Schubladen aus, verstaute Sachen in Packkisten.

»Das können Sie doch den Mädchen überlassen, Mrs King«, sagte Miss de Vries leicht pikiert, als die Wirtschafterin eines Tages in einem der Schränke stöberte. »Sie sollten sich nicht überanstrengen.«

Mrs King sah sie mit festem Blick an. »So leicht überanstrengt mich nichts, Madam.«

Die Nachricht wurde ihr von Mr Shepherd überbracht. Am frühen Morgen hatte er sie aufgesucht, zutiefst empört und außer sich.

»Madam müssen es unverzüglich erfahren«, sagte er. »Der Lampenputzer hat beobachtet, wie Mrs King sich heimlich in das Quartier der männlichen Bediensteten geschlichen hat. Es kann sich unserer Meinung nach nur um ein Rendezvous gehandelt haben.«

Miss de Vries trug Schwarz, tiefste Trauer. Keinen Schmuck, das Haar unter Chantilly-Spitze verborgen. Ein Bild der Sittsamkeit und Tugend.

»Mit welchem Kammerdiener?«, fragte sie.

Er zögerte keine Sekunde lang. »William.«

»Wie abscheulich«, sagte Miss de Vries emotionslos. »Wissen die anderen Dienstboten davon?«

»Es steht zu befürchten, Madam.«

»Dann müssen wir ein Exempel statuieren. Sie wird noch heute das Haus verlassen.«

Ein wohliges Kribbeln lief durch ihre Adern. Wieder eine weniger. Nacheinander wurde sie die ganze Bagage los. Shepherd starrte sie an, die Augen flackernd in den Höhlen. Seit sie dem Schulzimmer entwachsen war und Vater ihr die Haushaltsführung überantwortet hatte, verlangte Shepherd Entscheidungen von ihr. Termine, Ausgaben, Lob und Tadel. Im Stundentakt brachte er ihr Visitenkarten, Briefe, Tee, Botschaften, Lieferungen. Es war, als hätte er sich an sie gefesselt, um hinter ihr her zu spionieren. Was er wohl machen würde, wenn sie ihm das glühende Schüreisen aus dem Kamin auf die Haut presste? Auf die Knie sinken, laut schreien, sie anbetteln, ihn ein zweites Mal zu brandmarken?

Diese Leute, Vaters Leute – Mrs King, Mr Shepherd, die Anwälte und die vielen anderen – passten nicht mehr zu ihr. Natürlich hatte Vater es an nichts fehlen lassen, sie Kindermädchen und Gouvernanten anvertraut und ihr auch sonst alles geboten, was man mit Geld kaufen konnte. Aber irgendwann kam man damit im Leben nicht mehr weiter. Sie wollte auf die oberste Sprosse der Leiter, in die höchsten Sphären der feinen Gesellschaft, mit Ministern, Grafen, Herzögen und Prinzen verkehren. Aber dafür brauchte sie den richtigen Ansatz. Sie musste das Totholz auslichten, auf frischem, sauberem Boden neu bauen.

Noch vor dem Frühstück hatte Miss de Vries die Wirtschafterin an die frische Luft befördern lassen. Um zwölf Uhr begab sie sich zum Lunch nach unten. Sie studierte die Gästeliste und nahm letzte Änderungen daran vor. Die Anwälte trafen, wie vereinbart, um vierzehn Uhr ein, angeführt vom grauhaarigen Mr Lockwood, gestriegelt und gebügelt, wortkarg wie immer. Sie hieß ihn, noch zum Tee zu bleiben.

»Ich möchte, dass Sie einen Ehevertrag für mich aushandeln«, sagte sie, während sie ihm eingoss, ganz Herrin des Hauses.

Er nahm die Tasse und kniff die Augen zusammen. »Mr de Vries hat derartige Ansinnen stets zurückgewiesen. Ich wüsste auch nicht, welcher Kandidat dafür überhaupt in Betracht käme.«

Nicht gerade eine wohlwollende Reaktion. »Und wenn wir besonders attraktive Bedingungen anbieten?«

Er überlegte. »Was versprechen Sie sich davon?«

Sie lächelte und senkte die Stimme. »Liebe«, antwortete sie. »Was sonst?«

Wenn sie erst Vaters Besitz veräußert hatte, konnte sie alles erreichen. Eine erstklassige Heirat, einen Adelstitel, eine Adresse am Berkeley Square oder in einer anderen ebenso feinen Wohngegend. Ihr Elternhaus war ihr viel zu neu, zu blitzblank, und es roch nach Motoröl. Sie wollte in einem altehrwürdigen Gemäuer wohnen. In wunderbar altem Grund Wurzeln schlagen. Vaters Adressbuch war ihr zuwider. Stahlmagnaten, Zeitungsbarone und Amerikaner. Sie wünschte sich hochkarätige Bewerber, blaues Blut.

Mr Lockwood schilderte ihr die Vermögenslage. Seine Einschätzung erboste sie. Überschuldet, sagte er. Als hätte sich das de Vries’schen Imperium überfressen.

»Ich bin mir nicht sicher, ob die Geschäftsbücher einer genauen Prüfung standhalten würden«, sagte er. »Besser, Sie warten noch ein, zwei Jahre.«

Noch ein Jahr? Eine ganze Ballsaison? Wo sie bereits sechs verpasst hatte? Was redete der Mann für einen Unsinn? Sämtliche Rechnungen, die im Haus anfielen, wurden pünktlich beglichen. Kredite kamen herein, Zahlungen gingen hinaus. Aber natürlich gab es bei einem Vermögen, das so kolossal wie ihres war, immer wieder finanzielle Schwankungen.

Da half nur ein selbstbewusster Auftritt. Wir müssen Reichtum ausstrahlen, dachte sie. Glanz und Gloria.

Denn schließlich kam sie ganz nach ihrem Vater.

»Ich gebe einen Ball, Mr Lockwood«, sagte sie. »Hatte ich das schon erwähnt?«

Der Anwalt wirkte glatt und geschmeidig, doch dieser Eindruck täuschte. In Wahrheit besaß er so viele Ecken und Kanten, dass man sich an ihm die Haut hätte aufschürfen können, wenn man ihm zu nahe gekommen wäre.

»Das kann ich nicht gutheißen«, entgegnete er. »Es ziemt sich nicht.«

»Ich trauere um meinen Vater, Mr Lockwood. Dieser Tatsache werde ich Rechnung tragen. Sie brauchen sich nicht zu sorgen. Ich habe nicht vor, im Aufzug einer Revuetänzerin herumzulaufen.«

»Müssten nicht eher Sie sich sorgen?« Er musterte sie mit hartem, unerbittlichem Blick. »Ist das Risiko nicht viel zu groß?«

Auf der Straße knallte eine Fehlzündung.

Sie zuckte nicht mit der Wimper. »Was für ein Risiko, Mr Lockwood? Man erwartet schon lange einen Ball in diesem Haus. Ich werde tagein, tagaus deswegen bedrängt.«

»Von wem denn?«, fragte er zweifelnd.

»Die Vorbereitungen laufen bereits. Es käme mir höchst ungelegen, das Fest jetzt noch absagen zu müssen.«

»Sie wissen, dass es meine Pflicht ist, Ihnen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen.«

»Als Anwalt, Mr Lockwood«, sagte Miss de Vries. »Nicht als Anstandswauwau.«

»Der gute Ruf einer jungen Dame ist ein zartes Pflänzchen, das gehegt und gepflegt werden muss.«

»Es gibt nichts Kostbareres«, pflichtete sie ihm bei. »Er ist mit Gold nicht aufzuwiegen. Deshalb muss man ihren Ruf polieren, bis er funkelt und strahlt.«

In Lockwoods Augen blitzte es auf. Erkannte er in ihr den Vater wieder? Vater hätte gesagt: Sie machen, was ich will. Wer zahlt, bestimmt. Für den Anwalt wählte er stets einen besonders vulgären Aufzug, die protzigsten Goldringe, die üppigsten Fuchsien im Knopfloch. Er wollte ihn spüren lassen, wer das Heft in der Hand hielt.

»Die bezauberndste Tugend auf der Welt ist die Bescheidenheit«, sagte Mr Lockwood. »Sie ist ein wertvolles Gut, ein Pfund, mit dem wir auf dem Markt wuchern können.«

»Auf welchem Markt?«

»Dem Heiratsmarkt.«

Er musterte sie abwartend, eine Hand in die Weste geschoben.

Mit einem letzten lauten Knall sprang draußen ein Automobilmotor an.

Natürlich schickte es sich nicht, in den ersten Wochen der Trauerzeit einen Ball zu veranstalten. Was unterstand Lockwood sich anzudeuten, dass sie daran nicht gedacht – oder noch schlimmer –, es nicht gewusst hatte? Sie schäumte vor Wut. Nein, es ziemte sich nicht, aber genau darum ging es ja. Sie musste Rückgrat zeigen, durfte keinen Zollbreit zurückweichen. Keine Wette ohne Risiko. Erst das Risiko verlieh dem Spiel die Würze, den Sauerstoff. Sie wollte die große Bühne mit einem Paukenschlag betreten – und zwar gleich, sofort. Solange ihre Macht noch frisch und neu war.

Der Meinung war sogar Mrs King gewesen, als sie den Ball das erste Mal besprochen hatten. »Madam haben nur das eine Leben. Und wenn es ein Vermögen kostet: Die Welt soll erfahren, dass es Madam gibt.«

Nachdem Lockwood gegangen war, zog Miss de Vries sich in ihre Zimmerflucht zurück. Darin hatte einst ihre Mutter gewohnt, doch es war keine Spur mehr von ihr darin zu finden, nicht die leiseste Erinnerung. Als Mama starb, war Miss de Vries noch so jung, dass sie nicht einmal einen Hauslehrer hatte. Betäubend schwer hing der Duft nach Orchideen in der Luft. Sie atmete ihn tief ein, als Trost und zur Beruhigung. Es war nicht einfach, ihn über längere Zeit zu genießen, denn er wurde viel zu schnell von den üblen Gerüchen vertrieben, die von allen Seiten ins Haus gezogen kamen: vom Bürgersteig, aus den Kellern, aus der Stadt.

Die dumpfen Ausdünstungen bestärkten sie darin, dass ihre Entscheidung goldrichtig war.

3

Noch vierundzwanzig Tage

Petticoat Lane. Die Sonne brannte Mrs King im Nacken. Sie war die ganze Strecke von Mayfair bis nach Aldgate zu Fuß gegangen, um die zwei Pence für die Untergrundbahn zu sparen. Auf dem Trottoir herrschte ein elendes Geschiebe und Gedränge, aber das war es ihr allemal wert. Mit der Person, zu der sie wollte, war nicht gut Kirschen essen, sie hatte für Überraschungen nichts übrig. Man wagte sich nicht leichtfertig in Mrs Bones Revier und auch dann nur, wenn man einen triftigen Grund dafür hatte. Doch Mrs King war für alles gewappnet, und sie kam mit einem unschlagbaren Angebot.

In der Hitze flirrte die Straße vor aufgestauter Energie. Die Luft roch alt und abgestanden – nach Mist, verschrumpeltem Obst und Abwasser. Alles war ein einziges Durcheinander, dominiert von einem Meer aus Schlägerkappen. In der Ferne spielte Musik, ein Fiedler balancierte auf einem Hocker. Das ganze Bild versetzte ihr einen Stich ins Herz. So erging es ihr immer, wenn sie nach Hause kam.

Keine Sentimentalitäten. Sie musste sich zusammennehmen.

Sie zückte ihre Geldbörse, nahm eine Münze heraus und drehte sie zwischen den Fingern. Beobachtete die Marktstände. Eine Einzelgängerin, abgesondert von der Menge. Die Händler taxierten sie heimlich von der Seite, nahmen ihre Witterung auf.

Mrs King hob die Hand, schützte die Augen vor der Sonne. Ihr war klar, dass niemand so recht wusste, wo er sie hinstecken sollten. Sie war weder eine feine Dame noch eine Schullehrerin. Weder Krankenschwester noch Köchin. Eine Abnormität. Stramm geschnürt, den Hut tief in die Stirn gezogen. Einen Hauch Farbe auf den Lippen – rot, die Farbe von Granat. Ihr Schutzpanzer.

Sie verschränkte die Arme.

Und wartete.

Es dauerte nicht lange. Die Nachricht musste sich durch die Wände verbreitet haben, von Hof zu Hof und Gasse zu Gasse. Die Tür der Pfandleihe flog auf. Die Händler schraken zusammen, so laut bimmelte die Ladenglocke. Eine Frau in Witwentracht kam heraus, blinzelte in der gleißenden Sonne.

Mrs King drückte den Rücken durch. »Mrs Bone«, rief sie.

Die so Angesprochene war kräftig, kompakt, täuschend unscheinbar. Geschätzte fünfzig Jahre alt. Die Sonne tat ihr nicht gut. Sie raubte ihr die Farbe, sodass sie aussah, wie aus einem Kellerversteck gekrochen. Wer sie nicht näher kannte, unterschätzte sie leicht. Was ihr mehr als recht war.

Sie kniff die Augen zusammen. Mrs King sah ihr an, wie sich ihr Gedankenkarussell in Gang setzte.

»Na, da brat mir doch einer einen Storch!«, krähte Mrs Bone mit heiserer Stimme. »Was für ein Glanz in unserer bescheidenen Mitte.«

Die Händler gaben sich wieder ganz natürlich. Wandten die Köpfe ab, sahen versonnen zum Himmel, als ob es dort etwas Faszinierendes zu sehen gäbe.

Mrs King überquerte die Straße und begrüßte die andere Frau auf traditionelle Art. Sie senkte einen Fingerbreit das Kinn, deutete einen Kratzfuß an. Wangenkuss, Handkuss. »Guten Tag, Mrs Bone.«

Mrs Bone duftete wie immer: nach Rosenwasser und das Haar nach Holzspänen. »Wie kann ich helfen, mein Kind?«, murmelte sie.

Mit diesem Schmu kam sie bei Mrs King nicht durch. Ganz gleich, in welchen Kalamitäten man steckte, in welche Zwickmühle man geraten war, man bat Mrs Bone nicht um Hilfe. Niemals. Man schlug ihr ein Geschäft vor, ein hübsch geschnürtes Paket. Mrs King richtete sich auf und peilte die Lage. An einer Laterne lehnte ein mageres Kerlchen, die Nase in einer Zeitung. Zerschlissene Manschetten, nackte Fußknöchel. Kein Polyp. Ein Kundschafter, ein Späher. Aber keiner, der bei Mrs Bone in Lohn und Brot stand. Ihre Leute liefen nicht wie Vogelscheuchen herum. Mrs King blickte forschend um sich. An der nächsten Straßenecke lungerte ein weiterer Bursche, neben der Kneipe. Ein dritter stand unter der Dachtraufe.

Eine sehr interessante Beobachtung. Die Marktstände gehörten Mrs Bone, genau wie das Haus. Dieser Teil der Straße war fest in ihrer Hand. Ihr Revier reichte von hier bis ins Hafenviertel, ein weit verzweigtes Netz aus legalen und weniger legalen Unternehmungen, ein perfekt abgegrenztes Territorium. Man betrat Mrs Bones Spielfeld nicht, es sei denn, man suchte Ärger.

Trotzdem spielten heute jede Menge Fremde darauf mit.

»Mächtig viel Betrieb, hier draußen«, sagte Mrs King.

Mrs Bone schnalzte gereizt mit der Zunge. »Immer hereinspaziert.«

Während sie die Tür ins Schloss zog, warf sie vorsichtshalber doch noch rasch einen Blick über ihre Schulter.

Das Leihhaus gehörte zu Mrs Bones legalen Geschäften, ein bescheidenes Ladenlokal, das sich hervorragend für ein Treffen eignete. Nachdem Mrs Kings Augen sich auf das Halbdunkel eingestellt hatten, erkannte sie kreuzbrave Pfänder aus schimmerndem Messing, Silber und Gold.

Mrs Bone drehte das Geöffnet-Schild an der Ladentür um, nahm hinter einem riesigen Schreibtisch Platz und griff im Dämmerlicht zu einem Zettelspieß, auf dessen Metallstift ein ganzer Schwung Quittungen steckte. »Dein freier Nachmittag?«

»Nein.«

»Dann willst du was einkaufen.«

»Das kann man so nicht sagen.«

Mrs Bone blätterte in den Zetteln. »Du steckst in der Klemme.«

»Mir geht es gut. Ich habe Urlaub.«

»Schön für dich.«

»Ja.«

»Da freust du dich sicher.«

»Ja.«

»Ich selber mache ja nie Urlaub. Habe ich gar nicht die Zeit für.«

Mrs King lächelte. »Sie sollten sich auch einmal etwas gönnen.«

»Und ich sollte mich Prinzesschen Spaß-an-der-Freude nennen, aber was will man machen? Ich krieg auch nicht immer meinen Willen.«

Mrs King hob die Augenbraue, knipste ihre schwarze Ledertasche auf und holte eine Ausgabe der Illustrated News heraus, darauf das Lichtbild ihres verstorbenen Herrn, der ihnen strahlend zuzwinkerte. Das berühmte Halstuch mit den Punkten, die leuchtend weißen, lachend gebleckten Zähne. Am oberen Rand der Seite ein schwarzes Schriftband: Wilhelm de Vries, geboren 1850, gestorben 1905.

»Ja, ja, ich hab’s schon gehört«, sagte Mrs Bone gepresst.

Mrs King legte den Kopf auf die Seite. »Und?«

»Ich bin ein Christenmensch. Ich bin nicht schadenfroh, wenn einer stirbt.« Ihre Augen verdunkelten sich. »In der Zeitung geben sie ihm diesen Namen.«

»Sie haben noch immer nichts für ›de Vries‹ übrig?«

Mrs Bone zerriss die Quittungen in kleine Schnipsel. »Als Danny O’Flynn ist er geboren. Als Danny O’Flynn ist er gestorben.« Sie schniefte. »Falls er denn gestorben ist. Falls nicht alles bloß ein Riesenschwindel ist. Ein böser Streich.«

Mrs King wusste nur zu gut, wie Mrs Bone zu dem Mann stand, der einen Wilhelm de Vries aus sich gemacht hatte. Ein wunder Punkt, an den man nicht rühren, ein Verhältnis, das man nicht ansprechen durfte.

»Nein, er ist wirklich tot, Mrs Bone.«

»Und was hat er hinterlassen?«

Mrs King warf einen Blick auf die Zeitung. Madam war ebenfalls abgebildet. Das gnädige Fräulein in schönster Maienblüte. Miss de Vries in ihrem Wintergarten. In eine Chiffon-Wolke gehüllt, war sie nur vage als verschwommener Umriss zu erkennen. Die holde Unschuld, die kein Wässerchen trüben konnte.

Mrs King war bei der Sitzung im Wintergarten dabei gewesen. Der Fotograf musste bis lange nach Einbruch der Dämmerung bleiben, während Madam am Fenster posierte, das Gesicht zum Park, und ihm mit versteinerter, unlesbarer Miene wortlos befahl: Geben Sie Ihr Bestes! Die Aufnahme muss perfekt werden!

»Die Tochter.«

Mrs Bones Blick verhärtete sich. »Und sonst?«

»Sonst nichts.«

»Hatte er seine Angelegenheiten geregelt? Das will ich wissen!«

Mrs King seufzte. »Ich habe keine Ahnung.«

»Was willst du dann hier?« Mrs Bone schnippte mit den Fingern. »Ich bin eine vielbeschäftigte Frau. Ich hab keine Zeit für sinnloses Gequatsche.«

Sie wirkte gereizt. Das Kramen in alten Erinnerungen tat ihr nicht gut.

»Vielleicht wollte ich ja nur guten Tag sagen«, antwortete Mrs King ungerührt.

Mrs Bone verdrehte die Augen. »Du führst was im Schilde!«

»Wer? Ich?«

»Du heckst irgendwas aus.« Sie tippte sich an die Schläfe. »Etwas Hinterlistiges. Das ist nicht schön.«

»Ach, was! Wo Sie mir doch selbst alles beigebracht haben, was ich weiß.«

Mrs Bone presste die Lippen zusammen. Das hörte sich für sie nach böswilliger Verleumdung an. Und sie legte sehr viel Wert auf ihren guten Ruf. Sie ließ der Kirche großzügige Spenden zukommen, empfing nur die fadesten Besucher und trug bis heute Trauer um den guten Mr Bone, ihren vor langen Jahren verblichenen Ehemann, den rechtschaffenen Eisenwarenhändler. Ihr tiefschwarzer Gagatschmuck klackerte bei jeder Bewegung.

»Die haben dich rausgeschmissen, was?«, fragte sie.

Mrs King nickte andeutungsweise. »Wegen einer kleineren Indiskretion.«

»Was hast du dir geleistet?«

Mrs King erzählte es ihr. Mrs Bone lüpfte die Augenbraue. »Du hast deinen Verehrer besucht?«

»Es war alles ein riesengroßes Missverständnis.«

»Da ist wirklich was im Busch. Ich hör die Nachtigall doch trapsen.« Mrs Bone seufzte. »Komm mit nach hinten durch.«

Das private Büro lag hinter dem Geschäft und war von der Straße aus nicht einzusehen. Das Fenster ging auf einen schmutzigen Hinterhof hinaus, wo einige junge Männer rauchend beieinanderstanden. Mrs Bone klopfte energisch an die Scheibe. »Besuch!«, rief sie. Die Burschen zuckten zusammen wie erschreckte Tauben, stoben auseinander und waren auch schon im Schatten verschwunden.

Wo das düstere Ladenlokal mit billigen Ringen und Uhren vollgestopft war, bot sich im Büro ein gänzlich anderes Bild. Hier hortete Mrs Bone ihre Schätze, ihre Lieblingsstücke: Novitäten, Raritäten, Kuriositäten. Wie Mrs King wusste, besaß sie im Osten und Südosten von London weitere geheime Häuser, in denen sie neumodische Maschinen, Gemälde, Pelze und Spiegel sammelte. Exotische Artefakte, auf Kredit gekauft und aus den entferntesten Winkeln des Empires herbeigeschafft. Zwischen all den Fußbänken und Beistelltischen, armoires und escritoires war kaum ein Durchkommen.

»Wie laufen die Geschäfte?«, fragte sie höflich.

»Bestens«, sagte Mrs Bone.

Den Eindruck hatte ihre Besucherin ganz und gar nicht. Sie griff nach einer Silberschale und besah sie sich genau. Angemaltes Blech. Die oberste Schicht hätte sie mit den Zähnen abziehen können.

»Sind das Mr Murphys Jungs, die sich da draußen auf der Straße rumdrücken?«

Mrs Bone verzog das Gesicht. »Murphy. Komm mir bloß nicht mit Murphy.«

»Einschüchterung war doch noch nie sein Stil, Mrs Bone. Wieso jetzt auf einmal?«

»Einschüchterung? Wer ist hier eingeschüchtert? Soll er mir seine glotzäugigen Wichte ruhig auf den Hals hetzen. Wann bin ich denn schon mal zu Hause? Die Arbeit hält mich ständig auf dem Trab.«

Mrs King lächelte. Da war etwas Wahres dran. Sie konnte froh sein, dass sie Mrs Bone in der Pfandleihe erwischt hatte, denn sie hielt sich nie lange dort auf. Sie besaß nicht nur die Fabrik draußen am Hafen, sondern überall an der Küste Speicherhallen. Außerdem Zigarettenläden, Friseursalons, Eisenwarenhandlungen und so weiter. Hinzu kamen noch die Laufgeschäfte. Wobei Mrs Bone weder mit schmuddeligen Daguerreotypien handelte noch Bordelle betrieb, sondern sich lieber auf weniger anrüchigen – und noch dazu nützlicheren – Tätigkeitsfeldern engagierte. Ein kleiner Einbruch hier oder da, eine Schlägerei auf Bestellung. Sie hatte Mrs King fast alle Kniffe und Tricks ihres Gewerbes selbst beigebracht und immer ein Auge auf sie gehalten, was sie ihr auch gern unter die Nase rieb: Einer musste sich ja kümmern. Deine Mama hat dir doch noch nicht mal die Haare gekämmt.

»Also, was willst du?«, fragte Mrs Bone. »Mir ein Geschäft vorschlagen?«

»Was sonst?«

Es lag ein fauliger, modriger Geruch in der Luft, als ob das Haus bald unbewohnbar werden würde. Mrs Bone sah aus dem Fenster.

»Hast du was ausgekundschaftet?«

»Ja.«

»Wo?«

»In der Park Lane.«

Mrs Bone machte ein entgeistertes Gesicht. »Wie bitte?«

»Interessiert?«

Mrs Bone hievte sich aus dem Sessel. Sie nahm einen leeren Taubenkäfig in die Hand und schwang ihn langsam hin und her. »Lass die Finger davon«, sagte sie.

»Wovon?«

»So dumm kannst du doch gar nicht sein.«

Mrs King schwieg.

»In der Park Lane.« Mrs Bone schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Hast du denn gar nichts von mir gelernt, Dinah? Man dreht kein Ding, wenn es persönliche Gründe dafür gibt. Niemals.« Sie rieb sich das Kinn. »In der Park Lane?«

»Ja.«

»Ich fass es nicht. Kommst unangekündigt hier anmarschiert und bildest dir ein …« Sie richtete sich zu voller Größe auf. »Ich kenne mein Revier, verflucht noch mal. Es geht nur bis zur Gracechurch Street, weiter nicht. Du glaubst doch wohl nicht, dass ich wegen dem Klimbim in der Park Lane in die Stadt rauf trapse.«

Die Uhren auf dem Kaminsims, ein ganzes Dutzend, tickten hurtig vor sich hin. Nicht eine davon ging richtig.

»Vielleicht ist es an der Zeit, die ausgetretenen Pfade zu verlassen, Mrs Bone.«

»Das hab ich wahrlich nicht nötig!«

Mrs King schlug einen etwas sanfteren Ton an. »Es ist ein großes Haus. Ein größeres gibt es nicht. So viel Marmor haben Sie im Leben noch nicht gesehen. Stühle aus Versailles. Seide. Edelsteine, so groß wie Gänseeier.«

»Meinst du, das weiß ich nicht? Meinst du, ich weiß nicht, was für einen Palast Danny sich gebaut hat?«

Natürlich wusste sie es. Danny O’Flynn hatte sein Geld mit Diamanten gemacht und ein Vermögen angehäuft, das mit dem Verstand nicht mehr zu fassen war: Aktien, Monopole, eine Liquidität, von der selbst Staaten nur träumen konnten. Und darauf aufgebaut: das neue Leben mit dem nagelneuen Namen. Mr de Vries war so brutal reich, dass einem das Herz in der Brust stehenblieb. Einen Millionär rief man ihn. Einen Millionär.

Mrs Bone hatte es ihm nie verziehen.

»Nun denn.« Mrs King breitete die Hände aus.

Die Uhren auf dem Kaminsims glänzten grell.

Mrs King zog einen in ein Tuch eingeschlagenen Gegenstand aus ihrer Tasche. Als sie ihn auswickelte, kam eine silberne Taschenuhr zum Vorschein. Sie baumelte an einer Kette und drehte sich im Licht, sodass die kleinen gravierten Lettern zu erkennen waren: WdV.

»Wie wäre es mit einem Vorschuss?«, fragte Mrs King. »Auf geleistete Dienste?«

Mrs Bone hatte kaum einen Blick für die Uhr, sah überhaupt nur sekundenschnell hin. Das Silber spiegelte sich in ihren Augen. »Wie oft soll ich es dir noch sagen? Ich drehe keine Dinger, wenn was Persönliches mit reinspielt.«

Mrs King nahm ihr das nicht ab. Mrs Bones geschäftliche Operationen waren durch und durch persönlicher Natur. Sie setzten sich aus hunderttausend ineinandergreifenden kleinen Kettengliedern zusammen, aus Geschenken und Gefälligkeiten, die man austauschte, aus Feindseligkeiten, die aufflammten und wieder beigelegt wurden. Und genau darauf baute Mrs King, denn auch ihre Motive waren rein persönlich, wenngleich man es ihnen nicht auf Anhieb ansah. Sie beflügelten ihren Verstand, trieben ihr das Blut durch die Adern, durch jeden einzelnen Muskel in ihrem Körper. Sie hatte fast einen ganzen Monat an ihrem Plan getüftelt, obwohl er schon seit Jahren immer mehr Gestalt angenommen hatte. Bestimmt spukte er auch schon länger in Mrs Bones Kopf herum. Ein atemberaubender Coup. Die vielen Kostbarkeiten, die sinnlos in der Park Lane herumstanden. Mrs King beabsichtigte, sie sich zu holen, und zwar alle, wie sie da waren, jedes einzelne Stück.

Mit ruhiger Stimme sagte sie: »Wenn Sie kein Interesse haben, suche ich mir jemand anderen.«

In Mrs Bones Gesicht zeichnete sich eine seltsame Reaktion ab: Ihre Lippen kräuselten sich, aber nicht aus Verärgerung, sondern genüsslich, als liefe ihr das Wasser im Mund zusammen.

Abschätzig musterte sie die Uhr. »An was für Dienste hättest du denn gedacht?«

»Hauptsächlich an finanzielle.«

»Immer wollen alle an mein Geld. Aber hast du auch eine Truppe beisammen?«

»Natürlich können wir noch mehr Leute gebrauchen, aber die wichtigsten habe ich im Boot. Und Alice Parker ist schon vor Ort.«

»Alice Parker? Die komische Nulpe? Das gefällt mir gar nicht. Wer ist deine rechte Hand?«

»Winnie Smith.«

»Nie gehört. So heißen nur Memmen. Glaub bloß nicht, dass ich mein Geld irgendwelchen wildfremden Waschlappen hinterherschmeiße.«

Mrs King übergab ihr die Taschenuhr. »Ich halte am Sonntag eine Einsatzbesprechung ab. Da können Sie alle unter die Lupe nehmen.«

»Am Sonntag? Diesen Sonntag?«

»Wozu Zeit verlieren?«

Mrs Bones Augen gluckste leise in sich hinein. »Ich müsste deine Zahlen sehen.«

»Selbstverständlich.« Mrs King zog einen dünnen Briefumschlag aus der Jackentasche.

Mrs Bone riss ihn ihr aus der Hand. »Und was fällt dabei für mich ab?«

»Ein Siebtel, dasselbe wie für alle«, sagte Mrs King. »Weil die Sieben eine Glückszahl ist.«

»Ein Siebtel?« Mrs Bone hielt die Uhr ans Licht, ließ sie langsam hin und her schwingen. »Zu diesem Coup haben sich sieben Schwachköpfe von dir beschwatzen lassen?«

Die jüngere Frau trat auf sie zu und drückte ihr ein Küsschen auf die Wange. »Noch nicht, aber wenn Sie dabei sind, wären wir schon zu viert. Laden Sie uns doch für Sonntag ein, und holen Sie auch gleich noch Ihre besten Mädels dazu. Ich brauche zwei, die tüchtig anpacken können, als Verbindungsleute im Haus.«

Mrs Bone stemmte die Arme in die Hüften. »Aha, verstehe. Du bildest dir ein, du kannst einfach hier aufkreuzen, auf meinen Nerven rumreiten, mir den Nachmittag verderben, mich nach deiner Pfeife tanzen lassen …«

Mrs King richtete ihre Jacke, rückte sich den Hut zurecht. »Sonntag, Mrs Bone. Sie bestimmen, wo. Sie bestimmen, wann.«

Die alte Ganovin schob sich den Umschlag in den Ärmel, pendelte mit der silbernen Uhr. Ihre Augen blitzten. »Zähl mich lieber nicht mit«, sagte sie. »Noch nicht. Noch lange nicht.«

4

Weiter nach Spitalfields. Über der Commercial Street stieg eine Staubwolke in die Luft. Mrs King lehnte an einem Obstkarren und aß einen Apfel. Sie wartete auf ihre Adjutantin, ihre rechte Hand. Ihr Blick hing an dem Hutgeschäft auf der anderen Straßenseite. Das Ladenschild glänzte in der Sonne: Mr Champion, Modist. Normalerweise hätte sie es kaum ausgehalten, die Zeit mit Warten zu verschwenden. Aber seit sie ihre Stellung verloren hatte, konnte sie sich den Tag frei einteilen. Heute verfolgte sie ein ganz besonderes Ziel, ein sehr spezielles Vorhaben.

Niemand beachtete sie, nur ein kleines Mädchen in einer lehmbekleckerten Schürze starrte sie mit hungrigen Augen an. Mrs King warf ihr eine Sixpence-Münze zu.

»Dafür, dass du so gut aufpasst«, sagte sie. Mit einem Satz war die Kleine bei dem Geldstück, klaubte es vom Kopfsteinpflaster und lief blitzschnell davon.

Mrs King brauchte nicht auf ihre Armbanduhr zu sehen. Sie wusste ganz genau, wie spät es war. Während sie die Apfelkerne mit den Backenzähnen zermalmte, zählte sie im Geiste die Sekunden.

Fünf Minuten später kam Winnie Smith um die Ecke. Sie schob einen riesigen Kinderwagen zu Mr Champions Geschäft. Darin lagen keine Wickelkinder, sondern Hutschachteln, zu schwankenden Türmen gestapelt. Beim Anblick der vertrauten Gestalt wurde es Mrs King warm ums Herz. Winnie in einem mehr schlecht als recht geflickten violetten Kleid, den Hut traurig schief auf dem Kopf, lenkte den Wagen wie einen Panzer. Etwas knackte, der Stoßdämpfer oder eine Speiche, und sie geriet ins Taumeln. Mrs King schloss die Augen.

Sie schluckte den letzten Apfelbissen, schleckte sich die Finger ab und schlenderte über die Straße.

Winnie hievte gerade den Kinderwagen den Bordstein hoch, als sie Mrs King erblickte. »Heute?«, fragte sie ungläubig.

»Was du heute kannst besorgen …« Mrs King schmunzelte.

Winnie holte tief Luft und rückte ihren Hut gerade. »Aber ich habe einen Termin.«

Mrs King musste daran denken, wie sie sich vor zwanzig Jahren kennengelernt hatten. In der Küche des Hauses in der Park Lane. Damals wirkte die fünf Jahre ältere Winnie wie die perfekte ältere Schwester auf sie. Ein mutiges, verlässliches Mädchen, dem man rückhaltlos vertrauen konnte. Und das galt noch immer, obwohl sie heute wie eine Getriebene aussah.

Sie stupste sie an. »Vergiss deinen Termin, Winnie. Wir haben Wichtigeres zu tun.«

Winnie wuchtete den Kinderwagen komplett aufs Trottoir. Stur schüttelte sie den Kopf. »Zehn Minuten. Dann gehöre ich dir.«

Mit ihrer properen, kreuzbraven Erziehung war Winnie voller Skrupel. Mrs King schnaubte. Sie sah in den Wagen und klappte eine der Hutschachteln auf. Ihr Blick fiel auf ein zerdetschtes, zerquetschtes Etwas, das von Form und Farbe her einem Pudding glich, verziert mit scheußlichen braunen Schleifchen.

»Sehr hübsch«, sagte sie.

»Nicht anfassen! Die Kreation heißt Savoy.« Winnie strich behutsam darüber. »Champagnerfarbener Satin, schokoladenbrauner Samt. Und eine mit Seide veredelte geflochtene Litze. Siehst du? Die kommt unter die Krempe.«

»Ist sie aus Haaren geflochten?«

»Es ist halt eine Litze.«

»Aus wessen Haaren?«

Winnie schob Mrs King beiseite und drückte energisch den Deckel wieder auf die Schachtel. »Das ist der neueste Schrei aus New York.«

Mrs King verschränkte die Hände auf dem Rücken. »Wie viel willst du dafür haben?«

Winnie zögerte.

Ihre Freundin lächelte. »Ich helfe dir beim Verhandeln.« Winnie war seriös und integer, der fleißigste Mensch, den Mrs King kannte. Aber hin und wieder musste man eben auch bei ihr mal die Peitsche auspacken.

Winnie machte ein ärgerliches Gesicht. »Dinah …«

»Keine Bange. Ich will die Sache nur ein bisschen beschleunigen.«

»Aber wozu? Es ist nicht nötig, dass du dich einmischst.«

Mrs King musterte sie skeptisch und stieß mit dem Fuß die Ladentür auf, dass die Glocke aufgeschreckt losbimmelte. Winnie bugsierte mit Mühe den Wagen hinein. Sie seufzte. »Übertreib’s nicht, Dinah.«

Im Geschäft war es hell, in den Regalen stapelten sich eierschalenfarbene Seidenbänder und Ballen aus Satinstoffen. Mrs King hatte keinen Sinn für solch mädchenhaften Krimskrams. Von Musselin bekam sie Zahnschmerzen. »Ich bin in der Pause«, tönte es aus dem Hinterzimmer. »Kommen Sie später wieder.«

»Aber heute ist Ihr Glückstag«, sagte Mrs King.

»Ich bin’s bloß, Mr Champion. Winnie Smith«, rief Winnie, gegen die Ladentheke rumpelnd. »Wir haben einen Termin!« Sie warf Mrs King einen warnenden Blick zu: Keinen Mucks mehr!

Wie Mr Champion da in seinem Büro saß, umgeben von Korbgeflecht und Drähten, glich er mit seinen rosa glänzenden Bäckchen einem Schinken in einem Picknickkorb. Es roch nach getrockneten Früchten und Essig. Er zuckte zusammen, dass ihm fast die Brille von der Nase sprang. »Nein, nein, nein«, rief er. »Bleiben Sie mir vom Leib. Wie oft muss ich es Ihnen noch sagen? Ich kaufe Ihren Plunder nicht mehr.«

Winnie schnappte sich eine Hutschachtel vom Stapel, der Deckel segelte zu Boden. »Eine Minute, Mr Champion. Nur eine Minute, bitte.« Sie stemmte die Füße fest auf den Boden. »Schauen Sie sich dieses Modell an. Es heißt Navy. Blaue Rosetten, sehen Sie? Ich habe ihn mit blauen Veilchen dekoriert, aber ich könnte natürlich auch weiße Blüten nehmen …«

Mr Champion stieg die Zornesröte ins Gesicht. Er zeigte auf den Kinderwagen. »Schaffen Sie dieses Monstrum hinaus!« Er wandte sich an Mrs King. »Und wer sind Sie?«

Mrs King knackte lächelnd mit den Fingerknöcheln. »Mrs Smith’ Agentin.«

»Ein Schnupperangebot, Mr Champion«, warf Winnie rasch ein. »Was meinen Sie? Vielleicht würden Ihre Kundinnen ja gern mal etwas Neues ausprobieren.«

»Meine Kundinnen kaufen Qualität.« Der Modist taxierte Winnie von oben bis unten, und Mrs King wusste genau, was er sah: verschossenes Kleid, grauer Teint, Tränensäcke unter den Augen. Nichts Respektgebietendes oder gar Angsteinflößendes. »Und jetzt verschwinden Sie.«

»Haben Sie ihr die letzte Lieferung abgenommen, Mr Champion?«, fragte Mrs King.

Er fasste sie ins Auge, grinste höhnisch. »Das glaube ich kaum.«

»Das stimmt nicht, Mr Champion«, protestierte Winnie verstört. »Ich habe Ihnen meine beste Ware gegeben.«

»Nicht auszuschließen, dass Sie irgendwelche alten Lumpen bei mir abgeladen haben. Ich kann mich nicht erinnern.«

»Sie haben bestimmt noch die Lieferscheine«, sagte Mrs King.

»Ganz bestimmt nicht.«

Er hatte einen Teint wie Rindertalg, eine Farbe, von der einem übel werden konnte. »Dürfte ich das überprüfen?«, fragte sie.

»Ob Sie …?« Er schnappte nach Luft. »Nein. Das dürfen Sie nicht. Sie dürfen die Ladentür zumachen. Von außen.« Sein Blick zuckte zwischen den Frauen hin und her. »Hören Sie mal, was soll das? Wollen Sie beide mich hier aufs Kreuz legen? Raus mit Ihnen, aber dalli!«

Winnie hob bestürzt die Hände. »Mr Champion …«

»Fünf Guineen«, sagte Mrs King.

Er riss die Augen auf. »Wie bitte?«

»Fünf Guineen für das Modell Navy. Oder ich will das Einlieferungsbuch sehen.«

Mr Champion lachte verächtlich. »Passen Sie auf, dass ich nicht den Konstabler rufe.«

»Tun Sie sich keinen Zwang an.« Mrs King ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Dann kann ich ihm gleich melden, was hier vor sich geht. Sie betrügen ehrbare Frauen um das Geld, das ihnen zusteht.«

»Sagen Sie das noch einmal«, knurrte er. »Und Sie werden in Ihrem Leben keiner Menschenseele in dieser Stadt mehr irgendetwas verkaufen.«

»Das Einlieferungsbuch, bitte.« Mrs King stemmte die Hände auf den Tisch.

Tiefes Schweigen war die Antwort. Winnie hielt den Atem an.

»Drei Guineen«, knurrte Mr Champion schließlich.

Manchmal staunte Mrs King über sich selbst. Mit welcher Leichtigkeit es ihr gelang, sich durchzusetzen, sich Geltung zu verschaffen. Es war nicht sehr sympathisch. Sie kam sich dabei eiskalt vor, als ob sie die ganze Welt verachtete. Aber es ging nicht anders. Irgendjemand musste wieder geraderücken, was im Leben schieflief.

»Abgemacht.« Sie achtete darauf, dem Mann nicht zu nahe zu kommen.

Unter lautem Geklimper und Geklapper zählte er das Geld ab. »Das ist Diebstahl und sonst gar nichts. Lasst euch nie wieder hier blicken. In dieser Gegend kriegt ihr keinen Fuß mehr auf die Erde, das kann ich euch flüstern …«

Aber er zahlte ihnen die drei Guineen aus.

Winnie schob den Kinderwagen auf die Straße. »Du liebes Lottchen!«

Mrs King ließ krachend die Ladentür zufallen. »Bitte schön.« Sie drückte ihrer alten Freundin die Münzen in die Hand.

Winnie schien sich lange nicht entscheiden zu können, ob sie sich nun bedanken sollte oder nicht. Sie kniff die Lippen zusammen. »Darauf brauche ich erst mal einen Sherry«, sagte sie schließlich.

»Geh du voran.« Mrs King nahm ihr den Kinderwagen ab. »Ich kümmere mich um den Nachwuchs.«

Zügig ausschreitend, begaben sie sich nach Bethnal Green, begleitet von den wütenden Blicken der Männer, denen der schlingernde, kippelnde Wagen über die Zehen rollte. Es dunkelte bereits; langsam und schicksalsergeben ging die Sonne unter. Die Dämmerung verfehlte ihre Wirkung nicht. Sie weckte Mrs Kings Jagdinstinkt, und dem stand der Sinn nach einer ganz bestimmten Beute. Sie war nicht die einzige Wirtschafterin, die jemals im Haus in der Park Lane tätig gewesen war. Bis vor drei Jahren hatte Winnie diesen Ehrentitel innegehabt. Ein überaus nützliches Objekt aus jener Zeit war bis heute in ihrem Besitz.

Winnie wohnte in einer trostlosen Mansarde unter dem Dach eines schmalen Gebäudes mit feuchten Wänden, beengt und niedrig, aber pieksauber. Während Mrs King den Blick über die mit Chlorbleiche geschrubbten Dielenbretter wandern ließ und sie mit dem blank gebohnerten Parkett im Empfangssalon der Park Lane verglich, wurde sie von einer heißen Wut gepackt. Und das sollte die Freiheit sein? Sie jedenfalls hatte nicht vor, so zu enden.

Winnie korkte die Sherryflasche wieder zu. Die Frauen stießen an, tranken.

»Hast du es?«, fragte Mrs King.

Winnie seufzte. »Augenblick.«

Sie huschte hinaus und kam mit einem großen, in Seidenpapier eingeschlagenen Gegenstand wieder zurück. »Da, bitte.«

Mrs Kings Herz schlug schneller. Endlich! Das wunderbare, in Leder gebundene Buch mit den goldenen Intarsien im graugrünen Deckel und den dicken, festen Seiten, die beim Umblättern raschelten.

Das Inventarbuch.

»Du alte Diebin, du.« Mrs King nahm es an sich.

»Ich hab es nicht gestohlen«, sagte Winnie mit fester Stimme. »Es gehört mir quasi, weil ich es ja selber geschrieben habe. Ich hatte jedes Recht, es mitzunehmen.«

In dem Buch war das gesamte Inventar des Hauses verzeichnet. Jedes Gemälde, jeder Stuhl, jeder Zahnstocher. Die Seiten rochen wie Haferschleim, nach nassem Getreide. Ovaler Salon. Rosenholzzimmer. Langer Salon. Ballsaal. Zeile um Zeile, Seite um Seite, bis hinunter zur kleinsten Speisekammer. Ein Satz Löschhütchen, Zinn. Ein Paar Kerzenformen, Zinn. Zwei Paar Petroleumlampen, blau. Zwei Paar Petroleumlampen, gelb. Mrs King sah sie vor sich. Butterfarben, violett marmoriert. Zunderbüchse. Drei Satz messingne Kerzenhalter. Drei Satz Kerzenschachteln – Putzkammer.

Es schnürte ihr fast den Atem ab. Sie legte die Hand auf die Seite, deckte die Wörter zu. All das konnte sie verschwinden lassen.

»Gut«, sagte sie ausdruckslos. »Danke.« Sie klappte das Buch mit einem lauten Knall zu, presste die Hände auf den Deckel, nahm es in Besitz.

»Gern geschehen.« Winnie sah sie lächelnd an. Dann wurde ihr Blick hart. »Wie sieht es aus? Rückt deine alte Tante mit der Kohle raus?«

»Pass bloß auf, dass Mrs Bone das nicht zu Ohren kommt: Deine alte Tante. Dafür macht sie Hackfleisch aus dir.«

»Aber gibt sie uns das Geld nun oder nicht? Ohne flüssige Barmittel können wir nichts machen, Dinah.«

Mrs King lachte. »Nun hör sich einer die liebe Winnie an. Lass die flüssigen Barmittel mal meine Sorge sein. Du siehst inzwischen zu, dass du unsere letzte Kumpanin ins Boot holst. Spätestens am Sonntag muss die Truppe vollzählig sein. Keinen Tag später.«

Winnie blätterte in ihrem Notizbuch. Hunderte von Anweisungen an sie selbst liefen kreuz und quer über das Papier – Pfeile, Streichungen und Kritzeleien.

»Hoffentlich verbrennst du das Buch hinterher«, sagte Mrs King.

»Das kann uns nicht verraten. Es ist alles in Geheimschrift.«

»Was sonst?«, meinte die Freundin liebevoll.

Vor vier Wochen hatte Mrs King den Plan zum ersten Mal zur Sprache gebracht, anfangs nur vage und andeutungsweise, ohne das Kind beim Namen zu nennen, sich behutsam an ihr Vorhaben heranpirschend. »Du willst einen Raub begehen?«, fragte Winnie ungläubig, als ihr dämmerte, worauf sie hinauswollte. Mrs King ruderte zurück: Hoppla, Win! Nicht so hastig, immer langsam mit den jungen Pferden … Aber Winnies Miene verdüsterte sich, während sie in Gedanken in die finstersten Winkel ihrer Erinnerung hinabsank.

»Was hältst davon?«, fragte Mrs King sie schließlich geradeheraus. Winnie brauchte das Geld, so viel stand fest. Ihre Freundin dachte an die Worte, mit denen Winnie sich aus der Park Lane verabschiedet hatte: Ich muss meinen eigenen Weg gehen. Ich muss etwas aus meinem Leben machen. Es lag etwas Verzweifeltes, Gehetztes, Unerklärliches darin. Sie ging mit großen Schritten auf die Vierzig zu und hatte fast ihr ganzes Leben im Haus de Vries gearbeitet. Doch auch nach ihrem Abschied lag nicht gerade eine rosige Zukunft vor ihr. Sie hatte keine grandiosen Ziele und konnte sich mit dem Verkauf der Hüte gerade so über Wasser halten.

»Wenn das irgendwer durchziehen kann, dann du«, hatte sie mit leuchtenden Augen zu Mrs King gesagt. »Du kennst genau die richtigen Leute.« Und sie lächelte dabei.

Weil dieser Coup der reine Wahnsinn war. Und wie auch nicht? Die besten Spiele waren immer kühn und verrückt. Wie die Beleuchtung eines Märchenstücks im Theater: Magnesiumdrähte und Kalklicht, die vor den Augen des Publikums zischten und knallten. Davon ließen sich selbst nüchterne Zeitgenossen wie Winnie mitreißen.

Mrs King nickte. »Und ob ich die richtigen Leute kenne.« Sie grinste.

Winnie hatte vor Dinahs außerhäuslichen Interessen stets die Augen verschlossen. Sie war nicht dumm. Weil sie sich ein Zimmer mit ihr teilte, fiel ihr auf, dass sie kleinere Aufträge für Mrs Bone erledigte, dass sie zum Beispiel Botschaften oder Essenskörbe überbrachte. Auch das Verschwinden von Gegenständen aus dem Haushalt durch die Hintertür entging ihr nicht – Handschuhe aus Robbenfell, ein Sonnenschirm mit Griff aus Schildpatt, himmlische Schaumseifen …

Als sie einmal einen Ballen feiner Spitze in Dinahs Kleiderschrank fand, fragte sie streng: »Woher hast du das?«

»Habe ich mir gekauft«, antwortete Dinah wahrheitsgemäß. Natürlich stellten diese kleinen Nebentätigkeiten ein Risiko dar. Aber sie lohnten sich auch.

Mrs King hatte nie Angst gehabt, dass Winnie sie verraten könnte. Die Frauen waren einander unverbrüchlich in Freundschaft verbunden. Mit angestrengter Miene lockerte Winnie an der Rückwand des Schranks ein Brett. »Hier kannst du deine Schätze verstecken, wenn du meinst, dass das nötig ist.« Sie hielt kurz inne. »Aber ich würde dir raten, du legst deine Kröten auf die Seite. Vielleicht brauchst du sie eines Tages noch.«

Mrs King nahm sich den Ratschlag zu Herzen. Sie kaufte keine Duftwässerchen und Armbänder mehr, sondern sparte ihr Geld in alten Strümpfen.

»Am Sonntag also.« Winnie trug das Datum in ihr Notizbuch ein. »Das ist aber schon sehr bald, Dinah.«

»Je eher desto besser.«

Die Freundin machte ein ernstes Gesicht. »Wahrscheinlich hast du recht.«

Mrs King legte ihr die Hand auf den Arm. »Du gibst bestimmt eine fantastische Diebin ab, Win.«

Winnie runzelte die Stirn. »Veralber mich nicht.«

»Ich dich veralbern?«, antwortete Mrs King. »Die blutrünstigste Räuberin, die ich kenne? Niemals.«

Winnie hatte einen Ausdruck in den Augen, der sie plötzlich sehr viel älter erscheinen ließ. »Und du bist die einzige Frau, die ich kenne, die aus Jux und Tollerei ein ganzes Haus leerräumen will, bis auf den letzten Teelöffel.« Sie musterte Mrs King nachdenklich. »Erinnere mich daran, dir nie in die Quere zu kommen.«

»Das würdest du doch sowieso nicht machen.« Sie tippte auf ihre Taschenuhr. »Und jetzt komm. Die Arbeit wartet auf dich, du Meisterdiebin. Die Uhr tickt.«

5

Winnie betrat das Paragon-Theater durch den Eingang in der Mile End Road. Während sie durch das Foyer ging, sah sie ihr Gesicht in den großen Spiegeln, die hochroten, heißen Wangen. Statt der alten Gaslampen leuchteten nagelneue elektrische Kronleuchter, an den Wänden hingen chinesische Drucke. Glänzendes Glas und rote Samtgirlanden taten ein Übriges. Winnie war recht angetan. Sie atmete tief durch und steuerte auf dem kürzesten Weg den Zuschauerraum an.

Mrs Kings Anweisungen hatten an Deutlichkeit nichts zu wünschen übriggelassen: »Wir brauchen ein Schauspielgenie, ein geborenes Täuschungstalent.«

»Wen hattest du im Sinn?«

»Was dachtest du denn?«

»Das kann nicht dein Ernst sein!«, sagte Winnie. »Die Frau ist doch völlig unberechenbar.«

»Sie ist die ideale Besetzung. Du kennst sie am längsten. Wenn du sie fragst, macht sie bestimmt mit.«

Winnie schüttelte den Kopf. »Das ist keine gute Idee.«

»Unsinn. Ich setze mein ganzes Vertrauen in dich. Und jetzt: Ab mit dir«, fügte Mrs King hinzu, als sie immer noch zögerte.

Winnie brachte es nicht über sich, ihr zu sagen, warum es ihr vor diesem Zusammentreffen graute. Sie fürchtete sich davor, an Abgründe zu rühren, deren Dimensionen sie bestenfalls erahnen konnte. Außerdem hatte sie geschworen, das Geheimnis zu wahren. Deshalb nickte sie nur stoisch. »Na gut. Ich werde sehen, was ich ausrichten kann.«

Jetzt hatte Winnie plötzlich eine Hand auf dem Arm. »Madam!« Ein Platzanweiser versperrte ihr den Weg. »Haben Sie eine Eintrittskarte?« Er taxierte abschätzig ihren schäbigen Mantel.

Sie marschierte zurück ins Foyer. Mit dem gesamten Geld, das sie von Mrs King bekommen hatte, mietete sie eine Loge. Eine notwendige Auslage – auch wenn sie an die Kosten gar nicht denken durfte.

Ein Programmheft bekam sie – gratis – dazu. Immerhin etwas. Es war auf Seide gedruckt und hatte die Farbe von Pfirsich mit Sahne. Winnie fuhr mit dem Finger die Liste der Darsteller ab, auf der Suche nach einem ganz bestimmten Namen: Hephzibah Grandcourt. Vergeblich.

Stirnrunzelnd blickte sie über die Logenbrüstung nach unten. Im Publikum tummelten sich schrecklich viele Krämer und Besteckvertreter. Die Männer trugen auffallend bunt gemusterte, schottisch karierte Jacken und hatten ihre Regenschirme in den Zuschauerraum mitgenommen. Aber wer im Glashaus saß … Wirkte doch sie selbst mit der in Auflösung begriffenen Frisur noch seltsamer, wie ein Brocken Kohle in einer Schmuckschatulle.

Ein zweiter Platzanweiser sah zu ihr herein. »Darf es etwas von der Speisekarte sein?«

»Brandy«, sagte sie, ihren ganzen Mut zusammennehmend. Genauso gut hätte sie einen Krug Starkbier bestellen können.

Der Mann zwinkerte ihr zu. Winnie wusste nicht, ob das die Sache besser oder nur noch schlimmer machte. Ihre Beine schlotterten. Das schlechte Gewissen.

Dann ging die Tür auf. Das Rascheln schwerer Seide.

»Unten ist alles in heller Aufregung«, sagte eine Stimme über ihre Schulter hinweg. »Eine Scheuerfrau hat sich die besten Plätze im Haus unter den Nagel gerissen.«

Winnie wappnete sich und drehte sich um.

Ihr erster Eindruck galt nicht der Frau, die vor ihr stand. Sondern der Frau, die sich in ihr verbarg. Wenn man sich sehr konzentrierte, erkannte man mit einiger Anstrengung das frühere Küchenmädchen aus der Park Lane wieder. Ein gewöhnlicher Hausspatz im prachtvollen Gewand eines Paradiesvogels. Sie trug ein strahlendes Lächeln zur Schau, eine eng anliegende Perlenkette um den Hals, das seidige Haar dramatisch in die Höhe frisiert. Aber die Augen waren noch die gleichen: riesengroß und kornblumenblau.

»Hallo, Hephzibah.« Winnie benutzte ihren neuen Namen mit Bedacht. Das war das Mindeste, was sie ihr schuldig war.

Hephzibah Grandcourt zuckte mit keiner Wimper. Als Schauspielerin hatte sie ihre Gesichtszüge perfekt unter Kontrolle. Diese Fähigkeit hatte sie schon damals in der Park Lane besessen, als ihre Hände noch gelb von Kernseife waren und sie immer nach Ammoniak roch. Ihre Ausstrahlung war die gleiche gewesen wie heute. Und heute drückte ihre Miene Verärgerung aus.