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Im Johannesburger Zentrum erstattet eine junge Touristin Anzeige gegen ihren Verfolger. Officer James McDermott wird involviert und nimmt den Mann fest, obwohl er Zweifel an den Aussagen der Frau hegt. Unmittelbar darauf verschwinden die Touristin und ihr Sohn spurlos. Mangels Zeugin muss die Polizei den Verdächtigen freilassen, der wenig später von Interpol als Auftragskiller namens Don Bronski identifiziert wird. Doch Bronski ist bereits untergetaucht und auf der Spur von Mutter und Sohn, in deren Vergangenheit ein düsteres Geheimnis zu ruhen scheint. Vor der Kulisse des Krugerparks entbrennt ein gnadenloser Wettlauf zwischen Bronski und McDermott, der südafrikanischen Polizei-Legende, um das Leben von Mutter und Sohn. Dabei scheint der Verbrecher einen unaufholbaren Vorsprung zu haben.
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Seitenzahl: 224
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Prolog
Teil 1: Die Familie
Teil 2: Die Krankheit
Teil 3: Die Goldstadt
Teil 4: Die Flucht
Teil 5: Der Park
Epilog
Johannesburg (Südafrika), im September 2018
»Entschuldigung, Officer. Sie sind doch Officer?!«
Die junge Frau suchte offenbar Hilfe.
Commissioner James McDermott musterte die Fragestellerin, bei der es sich um eine europäische Touristin zu handeln schien.
Diese hingegen richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf den Polizeianwärter neben ihm, einen schlaksigen jungen Mann namens Jesiah Mallinckrodt.
Mallinckrodt sah überrascht von seinem Handy auf und blieb stumm. Mit einem Seufzer ergriff McDermott das Wort:
»Guten Tag, Madam! Was kann die Johannesburger Polizei für Sie tun?«
»Oh Officer, zunächst muss ich mich bei Ihnen und Ihren Kollegen entschuldigen. Als wir, mein Sohn und ich, vorhin in die Stadt gegangen sind, da haben wir dummerweise das Begleitangebot Ihrer Kollegen ausgeschlagen.«
Sie schaute nun so schuldbewusst, dass ein Lächeln über das entstellte Gesicht des Officers huschte. Er schätzte die Touristin auf Ende zwanzig, wenn auch Frauentyp und Kleidungsstil eine genaue Einordnung erschwerten.
»Ja, Madam, das haben uns die Kollegen der Frühschicht berichtet. Es ist letztlich nur ein Angebot der hiesigen Polizei, dessen Annahme Ihnen natürlich freigestellt ist«, erwiderte McDermott freundlich.
Wegen der wiederholten Überfälle auf Touristen im Johannesburger Zentrum hatte die Polizeidirektion ein Begleitangebot für Stadtausflüge internationaler Gäste beschlossen. Es beschränkte sich auf teure Innenstadthotels und war in den Medien als Augenwischerei gegeißelt worden.
»Wir hoffen, dass Sie trotzdem einen angenehmen Bummel durch unser schönes Johannesburg hatten«, fuhr der Officer fort.
»Wie soll ich es sagen …«, antwortete die Frau zögerlich. »Wir, das heißt ich, ich bin belästigt worden!«
»Das bedauern wir außerordentlich, Madam, das darf ich Ihnen versichern. Ich würde Sie allerdings bitten, etwas konkreter zu werden«, sagte McDermott.
»Jemand hat mich im Gedränge berührt, mehrfach berührt!«, ergänzte die Frau mit Nachdruck.
»Sie würden vermutlich ausschließen, dass das im Gedränge zufällig passiert sein kann? Leider müssen wir diese Fragen stellen«, hakte er nach.
Die Touristin hob nun empört ihre Stimme:
»Aber Officer! Wenn eine Frau am helllichten Tag von einem Unbekannten verfolgt und mehrfach unsittlich berührt wird, dann ist das doch wohl nicht zufällig? Auch nicht in Johannesburg?!«
»Da haben Sie natürlich recht. So etwas darf auf keinen Fall passieren, das ist absolut inakzeptabel«, entgegnete McDermott. »Gott sei Dank sind ja uniformierte Beamte überall im Straßenbild präsent. Konnten Ihnen diese Kollegen denn nicht weiterhelfen?«
Offenbar hatte die Touristin ihre Einkäufe in aller Ruhe beendet, anstatt zügig das Gedränge zu verlassen.
Unerwartet meldete sich nun der Polizeianwärter zu Wort: »Natürlich kümmern wir uns darum, Ma’am. Aber es ist schwierig, im Nachhinein und ohne genaue Personenbeschreibung tätig zu werden.«
»Die brauchen Sie gar nicht«, antwortete die Frau prompt. »Der Mann sitzt dort drüben im Café und beobachtet den Hoteleingang!«
Alle drei richteten ihre Blicke nun auf den gegenüberliegenden Coffeeshop.
»Mmh«, brummte McDermott. »Mir würde es schwerfallen, jemanden über diese Distanz zu identifizieren. Was macht Sie denn so sicher, dass tatsächlich dieser Gast Sie im Gedränge belästigt hat?«
Bevor die Frau antworten konnte, meldete sich Mallinckrodt erneut zu Wort:
»Das ist ja der Kerl, der vorhin ins Foyer gerannt kam. Keine Sorge, Ma’am, dem klopf ich höchstpersönlich auf die Finger!«
Mit schlackernden Hosenbeinen stürmte der Anwärter nun auf die Straße.
McDermott wollte ihm nacheilen, doch die zuvor bestimmt auftretende Touristin warf sich schluchzend an seine Brust.
»Officer, ich mache mir solche Sorgen! Sie müssen mir, Sie müssen uns helfen! Auch mein kleiner Sohn hat solche Angst, wir trauen uns gar nicht mehr auf die Straße. Sind Sie denn nicht dafür da, uns zu beschützen?«
Für einen Augenblick erwog er, die Frau mit Schwung in den nächststehenden Sessel zu befördern. Die Geschichte wirkte konstruiert und der Auftritt melodramatisch. Es roch geradezu nach dem Versuch, die Polizei für eine persönliche Abrechnung zu instrumentalisieren.
Doch der theatralische Hilferuf hatte bereits zu einer beträchtlichen Ansammlung in der Lobby geführt.
McDermott versicherte nun mit sonorer Stimme, dass die gesamte Johannesburger Polizei selbstverständlich zu ihrem Schutz und dem ihres Sohnes bereitstünde.
Gleichzeitig befreite er sich aus der Umklammerung und folgte Mallinckrodt.
*
Der Anwärter hatte den Gast auf die Straße gezerrt.
Für Außenstehende musste es aussehen, als attackiere Mallinckrodt den Mann grundlos.
Tatsächlich versuchte der Anwärter, den ersten Treffer zu landen, bevor der Officer eingreifen konnte.
Geschickt wich das vermeintliche Opfer aus und schickte Mallinckrodt mit einem rechten Haken zu Boden.
Gaffer umstanden die beiden Kontrahenten mittlerweile dicht gedrängt. Einige hielten Handys hoch, um das Spektakel zu filmen.
McDermott warf einen kurzen Blick auf die Armbanduhr, ein Geschenk seiner viel zu früh verstorbenen Frau Catherine.
Nur noch vier Stunden trennten ihn vom Sonntagsspiel der Kaizer Chiefs in Soccer City, Joburgs Fußballstadion. Alles andere als ein schnelles, pragmatisches Ende der Angelegenheit würde seine Pläne für den Abend zunichtemachen.
Mit einer beiläufigen Bewegung löste er die Faltschließe seiner Uhr und ließ diese in die Sakkotasche gleiten. Dann schob er sich zwischen die Kampfhähne, reckte die Dienstmarke weit über den Kopf und brüllte mit donnernder Stimme:
»Polizei Joburg, Officer McDermott. Jetzt mal schön ruhig und die Papiere bitte!«
An eine Verhaftung des Beschuldigten war unter diesen Umständen nicht mehr zu denken.
Im Gegenteil würde sich Mallinckrodt zunächst für das übergriffige Verhalten entschuldigen müssen. Anschließend galt es, die Menge zu zerstreuen und zu hoffen, dass nicht bereits Videos des Vorfalls in den sozialen Netzwerken kursierten.
Als sich McDermott dem Fremden zuwandte, traf ihn dessen wuchtiger Hieb unvorbereitet.
Unbarmherzig prasselten die Schläge nun auf ihn ein.
Hannover, im März 2015
»Mama kommt!«
Das Knarren der Haustür hatte Ines verraten.
Sie beugte sich zu ihrem Sohn, nahm ihn mit Schwung hoch und trat lächelnd in das Wohnzimmer.
Thomas Lindberg blieb stehen und genoss den Anblick.
Seine Frau hatte trotz der Doppelbelastung durch Haushalt und Studium nichts von ihrer mädchenhaften Schönheit verloren. Zudem gelang es ihr immer wieder, Farben und Stoffe auf eine zeitlos elegante Art zu kombinieren. Und das, obwohl die chronisch defizitäre Haushaltskasse keinen Platz für teure Kleider ließ.
Die Begrüßung seiner Frau und die Verabschiedung in die Nachtschicht gingen fließend ineinander über.
Kaum, dass er das Taxi gestartet hatte, kamen bereits die ersten Aufträge herein.
Es gab mehrere Veranstaltungen an diesem Abend, wobei der Ball in der Stadthalle die meisten Fahrten erwarten ließ.
*
Die Uhr war auf 1:30 Uhr gesprungen.
Thomas konnte mit dem Umsatz der ersten Stunden mehr als zufrieden sein.
Erneut lenkte er das Taxi in Richtung Stadthalle.
Dort winkte ihn ein kleiner Mann in gebeugter Haltung mit einer herrischen Geste heran.
Als der Fahrgast in den Fond des Taxis stieg, wurde sein Gesicht kurzzeitig erhellt. Er schien weitaus jünger, als es Haltung und Auftreten hatten vermuten lassen.
Seine hakenförmig gekrümmte Nase, die zwischen zwei buschigen Augenbrauen entsprang, und eine Narbe am rechten Wangenknochen gaben ihm etwas unverwechselbar Düsteres.
Grußlos, ohne Thomas anzusehen, nahm er auf dem Rücksitz Platz und nannte das Fahrziel. Danach wandte er sich seinem Handy zu und telefonierte mit gedämpfter Stimme in einer arabisch klingenden Sprache.
Nach wenigen Minuten beendete er das Telefonat und wandte den Kopf zur Seite.
Anschließend starrte Jamal El-Gadavi in die Nacht.
Schon beim Einsteigen hatte er ihn wiedererkannt.
Jamal war ihm als klein gewachsener Mitschüler aus einer Clanfamilie in Erinnerung geblieben.
Mit seiner vielköpfigen Verwandtschaft war er aus dem Libanon nach Hannover übergesiedelt. Trotz anfänglicher Sprachbarrieren hatte er im Unterricht erstaunlich schnell Anschluss gefunden und die Versetzungen gemeistert.
Von einem Tag zum anderen war Jamal dann nicht mehr in der Schule erschienen. Kurz darauf war zu hören gewesen, dass er wegen einer Messerstecherei verhaftet worden sei. Damit hatten auch die Gerüchte um den Gadavi-Clan Auftrieb erhalten.
Jamals ältere Brüder waren im Stadtteil durch teure Kleidung und schnelle Autos bekannt. Drogengeschäfte, Schutzgelderpressung und Prostitution waren in den Medien als Einnahmequellen des Clans genannt worden.
Die Indizien hatten dafürgesprochen, dass die Tat von einem der älteren Brüder verübt worden war. Aber Jamal war als einziges männliches Mitglied der Großfamilie noch unter das Jugendstrafrecht gefallen. So hatte er nur wenige Jahre Haft zu erwarten.
Auf Geheiß des Clans habe er sich zu der Tat bekannt. So hatten zumindest die Medien spekuliert.
Danach war der Kontakt abgerissen.
*
Sie näherten sich dem Fahrtziel.
Thomas Lindberg setzte den Blinker und verließ den Schnellweg.
Die zwiespältigen Erinnerungen hatten ihn davon abgehalten, seinen Fahrgast anzusprechen. Doch letztendlich siegte die Neugierde.
»Jamal, Jamal El-Gadavi?«, wandte er sich an den Mann auf der Rückbank.
Dieser rückte aus dem Sichtbereich des Rückspiegels direkt hinter den Fahrersitz. Thomas konnte nun dessen Atem im Nacken spüren.
Dicht am Ohr erklang Gadavis raue Stimme: »Und welches neugierige Arschloch will das wissen?«
Thomas zögerte einen Augenblick und nannte dann die Schule, den Jahrgang und seinen Namen.
Mit einem Seufzer ließ sich sein Fahrgast in den Sitz fallen.
»Okay, Thomas, du bist es«, sagte er, als gälte es, das zu bestätigen. »Tut mir leid, hatte mit dir hier nicht gerechnet.« Dabei machte er eine ausholende Bewegung mit dem Arm, als sei das Taxifahren für ihn unaussprechlich.
»Erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt«, antwortete Thomas lakonisch und musterte seinen Fahrgast im Rückspiegel.
Der erwiderte den Blick zunächst schweigend.
»Machst keinen glücklichen Eindruck«, sagte El-Gadavi und hob gleichzeitig beschwichtigend die Hände.
»Geht mich natürlich nichts an …«
Mittlerweile hatten sie das Fahrtziel erreicht. Die Silhouette einer alten Villa war erkennbar, deren Zufahrt durch ein großes, schmiedeeisernes Tor geschützt war.
Er lenkte das Taxi auf den Bürgersteig und hielt an, ohne den Motor abzustellen. Der Spaß an weiterer Konversation war ihm vergangen.
El-Gadavi bezahlte die Fahrt mit einer Einhundert-Euro-Note, wehrte das Wechselgeld ab und stieg aus.
Dann klopfte er gegen die Seitenscheibe und reichte Thomas seine Visitenkarte.
»Ruf mich an, wenn ich etwas für dich tun kann. Jamal vergisst seine alten Freunde nicht.«
Tatsächlich waren sie nie Freunde gewesen.
Lediglich zu Beginn hatte Thomas, als Klassensprecher, den neuen Mitschüler vor Hänseleien in Schutz nehmen müssen. Dieses Problem hatte sich aber mit dem ersten Besuch von Jamals Brüdern in der Klasse erledigt.
Er hegte keinen Zweifel daran, dass El-Gadavi tatsächlich das eine oder andere für ihn hätte tun können.
Aber er ließ das Angebot unkommentiert.
Denn nichts davon hätte seiner Frau gefallen.
»Guten Morgen, gnädige Frau!«
Ines öffnete die Augen.
Es roch nach frisch gebrühtem Kaffee.
Pünktlich hatte ihr Mann sie geweckt und seinen Teil der morgendlichen Vorbereitungen bereits erledigt.
Sie erwiderte den Guten-Morgen-Kuss und lehnte sich an seine Schulter.
»Du bist ein Schatz!«, sagte sie.
»Ich weiß«, antwortete Thomas lachend.
»Wie war deine Nachtschicht, du Ärmster? Haben sie dich sehr geärgert?«
Es war selten, dass ihr Mann über das nächtliche Taxifahren klagte. Für ihn schien es ein notwendiges Übel zu sein, über das er kein unnützes Wort verlor.
Doch an diesem Morgen zögerte er mit der Antwort.
»Nein, kein Stress. Es hat sich auch nicht wirklich gelohnt, eben Sonntagnacht.«
»Aber …?«
»Na ja, vorgestern, Samstagnacht, da war tatsächlich ein skurriler Vogel dabei. Ein ehemaliger Klassenkamerad«, antwortete Thomas und verließ den Raum.
Ines hätte gern mehr erfahren, aber ihr Mann war bezüglich seiner Vergangenheit wenig auskunftsfreudig.
Erneut sah sie auf die Uhr.
Jetzt war es höchste Zeit.
»Verdammter Mist!«
Thomas Lindberg fluchte lauthals.
Dieses Mal war es keine Pfütze mehr, sondern eine veritable Überschwemmung. Zum dritten Mal binnen weniger Wochen bereitete die alte Waschmaschine Probleme.
Kleinreparaturen waren kein Problem für ihn. Aber ein Großgerät instand zu setzen, überschritt eindeutig seine handwerklichen Fähigkeiten. Und den kostspieligen Kundendienst konnten sie sich nicht schon wieder leisten.
In diesem Moment klingelte sein Handy.
Zunächst war nur ein schweres, ächzendes Atemgeräusch zu vernehmen.
Dann erklang die bekannte, harte Stimme:
»Hallo Thomas, ich bin’s, Jamal, Jamal El-Gadavi.
Du erinnerst dich?«
»Klar erinner ich mich, Jamal. Bin nur überrascht.
Woher hast du meine Handynummer?«
»Schön, deine Stimme zu hören. Und bitte entschuldige mein Verhalten bei der Taxifahrt neulich. Es ist das Asthma, das Asthma macht mir zu schaffen, gerade nachts. Ich reagier dann manchmal gereizt, sorry«, fuhr El-Gadavi fort, ohne auf die Frage einzugehen.
»Kein Problem, Jamal, längst vergessen. Tut mir leid, das zu hören, das mit dem Asthma«, erwiderte Thomas.
»Aber was gibt’s?«
»Ich wollte einfach mal nachfragen, wie es dir so geht. Taxifahren, gerade die Nachtfahrten, stell ich mir anstrengend vor. Und nicht ganz ungefährlich«, entgegnete sein Anrufer im Plauderton.
»Tut mir leid, Jamal, das ist gerade kein günstiger Augenblick. Unsere Waschmaschine hat den Geist aufgegeben und ich steh hier mit beiden Füssen knöcheltief im Wasser. Kann ich später zurückrufen?«
»Oh je, oh je! Da störe ich ja wirklich im ungünstigsten Augenblick«, antwortete El-Gadavi mit aufgesetztem Bedauern. »Die Waschmaschine ist kaputt? Sehr ärgerlich! Sicher habt ihr da schon einen Plan, du und deine Frau Ines. Sie heißt doch Ines?«
Der Anrufer wollte offenbar zeigen, dass er über die Familie Lindberg informiert war. Was er damit bezweckte, war Thomas unklar.
»In Sachen Waschmaschine könnte ich sonst behilflich sein«, fuhr El-Gadavi fort. »Ein guter Freund von mir handelt mit Haushaltsgeräten en gros. Import, Export, Riesenladen. Der würde euch sicher einen guten Preis machen, einen sehr guten Preis!«
In diesem Augenblick klingelte es an der Tür.
Erleichtert beendete Thomas das Gespräch: »Supernett, Jamal, wirklich. Ich bespreche das gleich nachher mit meiner Frau.«
»Na klar. Nur noch ’ne Kleinigkeit, Tommy …«
Zwanglos hatte El-Gadavi seinen Spitznamen aus Schulzeiten benutzt. »Da gibt es diesen alten Bekannten von mir. Guter Mann, quasi ein Freund. Der würde dich gern mal anrufen, in den nächsten Tagen. Natürlich nur, wenn du nichts dagegen hast.«
Wieder ertönte die Klingel.
»Kann er, sicher, kein Problem. Jetzt muss ich aber wirklich nach oben. Bis dann!«, rief Thomas in den Hörer, legte auf und lief zur Tür.
Bei der Rückkehr in den Keller stutze er kurz.
Was konnte Gadavis Freund von ihm wollen?
Darüber hatte Jamal kein Wort verloren.
*
»Wie hast du das bloß hinbekommen?!«
Ines’ Stimme überschlug sich förmlich am Telefon.
»Kannst du zaubern …?!«
Thomas Lindberg war überrascht. Er hatte keine Ahnung, wovon die Rede war.
Wenige Stunden zuvor hatten sie noch gemeinsam die Feuchtigkeit im Waschkeller beseitigt und anschließend Kassensturz gemacht. Weder Kauf noch Reparatur einer Waschmaschine lagen aktuell im Bereich des Möglichen.
»Und dann eine Miele, Wahnsinn! Du hast mich wieder perfekt an der Nase herumgeführt. Ich bin so erleichtert, dass wir dieses leidige Problem endlich gelöst haben. Du kannst es dir nicht vorstellen. Der Lieferservice hat alles angeschlossen und die alte Maschine gleich mitgenommen. Schatz, du bist mein Held!«
Er zählte nun eins und eins zusammen.
El-Gadavi hatte vollendete Tatsachen geschaffen und das Waschmaschinenproblem der Lindbergs auf seine Art gelöst. Für ihn offenbar ein Kinderspiel.
Thomas brachte es nicht übers Herz, seiner Frau die Rückgabe der Maschine anzukündigen.
Das musste er mit El-Gadavi auf andere Art klären.
*
Zwei Tage später klingelte Thomas’ Telefon.
Der Anrufer sprach mit arabischem Akzent und hatte seine Rufnummer unterdrückt.
Es war der angekündigte Anruf und es ging um einen gut bezahlten Kurierdienst.
Dankend lehnte Thomas ab.
Das Marketing-Seminar fällt heute aus!
Verärgert betrachtete Ines den Aushang. Seitdem die Dozentin einen Partner in Süddeutschland hatte, fiel das montägliche Seminar häufiger aus. Die Ersatztermine fanden meist spätnachmittags statt, wenn Ines im Haushalt verplant war.
Sie seufzte und beschloss, die Wartezeit in der Cafeteria zu verbringen. Mit einem Milchkaffee in der Hand machte sie es sich dort am Fenster bequem. Sie nahm einen großen Schluck und lehnte sich zurück.
Eigentlich hatte sie wenig Grund zur Klage. Mit einem wohlgeratenen Sohn und einem liebevollen Ehemann an ihrer Seite.
Versunken beobachtete sie die Choreografie der Regentropfen auf der großen Scheibe. Ihre Gedanken gingen nun noch weiter zurück.
Bis zu jenem nasskalten Wintertag, als sie Thomas Lindberg zum ersten Mal begegnet war.
*
Der Adventsbasar stand kurz vor der Eröffnung.
Es galt, die großen Kaffee- und Teekannen ins Gemeindehaus zu bringen. Ihre Mutter wurde direkt nach Ankunft von einer Damenrunde mit Beschlag belegt und konnte wenig Mithilfe leisten.
Ines hatte sich gerade in den Kofferraum gebeugt, als eine tiefe Stimme direkt hinter ihr ertönte: »Ist das nicht Männerarbeit?!«
Erschreckt fuhr sie hoch und stieß heftig mit dem Kopf gegen den Kofferraumdeckel. Der Schmerz ließ sie aufschreien.
Sie hatte in der Dunkelheit niemanden kommen hören. Wütend fuhr sie den Unbekannten an: »Was fällt Ihnen ein, sich anzuschleichen und einen derart zu erschrecken?!«. Das würde eine ordentliche Beule geben, so viel war klar.
Sie trat einen Schritt zurück, um Distanz zwischen sich und den Mann zu bringen.
Ihre Mutter erschien nun im Eingang und rief besorgt herüber: »Schatz, ist alles in Ordnung?«
»Ja, alles in Ordnung. Hab’ mich nur gestoßen.« Ines hielt sich den Kopf und musterte den Unbekannten. Es war ein junger Mann, wenig älter als sie selbst, mit einem offenen, freundlichen Gesicht.
»Was soll das Anpirschen?«, zischte sie an.
»Eigentlich wollte ich nur helfen. So war das sicher nicht geplant«, erwiderte der Unbekannte.
Dabei zog er sie mit erstaunlich kräftigem Griff heran. »Lass mal sehen«, sagte er und zerteilte ihre Haare in Höhe der Prellung.
Ines verspürte nun, da der Ärger nachließ, eine Benommenheit. Erstaunt ließ sie ihn gewähren.
»Mist, das blutet tatsächlich. Das muss desinfiziert, vielleicht auch genäht werden«, befand der junge Mann.
»Komm, im Gemeindebüro gibt’s einen Verbandskasten.«
Mit diesen Worten dirigierte er Ines in Richtung Eingang und stellte sich dabei vor: »Übrigens, mein Name ist Thomas. Ich arbeite im Sozialdienst der Gemeinde.«
Abrupt machte ihr Helfer halt, ging zum Wagen zurück und entnahm die beiden letzten Kannen. Mit Schwung schloss er den Kofferraum.
»Nein, nein! Der Schlüssel, der Schlüssel liegt doch im Kofferraum!«, rief Ines erschrocken aus und ließ sich auf die Eingangsstufen fallen.
Die Wunde blutete, es war nasskalt und einen Zweitschlüssel für den alten Renault gab es schon lange nicht mehr. Sie musste an ihre Freundinnen denken, die zur selben Zeit irgendwo entspannt feierten.
Am liebsten hätte sie laut geheult.
Reiß dich zusammen!, ermahnte Ines sich selbst.
Sie holte tief Luft und zwang sich, aufzustehen.
Im selben Augenblick verlor sie das Bewusstsein.
*
Im Nebenraum der Pfarrei kam sie wieder zu sich.
Pfarrer, Mutter und Helfer standen um sie herum.
Alle zeigten besorgte Gesichter, insbesondere der Unfallverursacher.
Im grellen Neonlicht ähnelte dieser, mit seinen grünblauen Augen und den Grübchen, einem Winnetou-Darsteller aus alten Karl-May-Filmen.
In der Ferne erklang mittlerweile die Sirene des Krankenwagens und erinnerte Ines an ihre Kopfschmerzen. Als die Sanitäter sie mit der Trage in den Wagen verfrachtet hatten, hörte sie seine Stimme: »Ich fahre mit.«
»Das geht nicht. Hier hinten darf sich nur medizinisches Personal aufhalten«, entgegnete der Sanitäter abweisend. »Wer sind Sie überhaupt?«
»Ich bin der Partner. Ich fahre mit. Dann eben vorne!«, antwortete er ruhig, aber bestimmt.
Erstaunt nahm Ines die Nachricht von ihrer neuen Beziehung zur Kenntnis. Sie wollte Einspruch erheben, aber Schwindel und Übelkeit hielten sie davon ab.
Auch die Sanitäter ließen Thomas nun gewähren.
Erneut riefen sie ihn an.
Es war ein Samstagabend, knapp vier Wochen nachdem Jamal El-Gadavi in sein Taxi gestiegen war.
Der Anrufer stellte sich als Freund eines gemeinsamen Freundes vor, ohne Namen zu nennen. Auch er sprach mit arabischem Akzent und drängte Thomas, eine Tasche mit dem Taxi zu transportieren. Der Tonfall des Anrufers war fordernd.
Wieder lehnte Thomas ab.
*
»Einschreiben! Hier bitte mal quittieren …«
Der Postbote übergab ihm das Schreiben.
Überrascht nahm Thomas Lindberg einen roten Umschlag entgegen. Auf diesem prangte in großen Lettern der Aufdruck ›Letzte Mahnung!‹.
Mit einem mitleidigen Lächeln wandte sich der Postbote zum Gehen.
Ungeduldig riss Thomas den Umschlag auf. Es war die Rechnung über Lieferung und Montage einer Waschmaschine. Der Preis der Maschine war deutlich überhöht und die Zahlungsfrist betrug nur wenige Tage.
El-Gadavi hatte offenbar die Maske fallen lassen.
Tränen liefen über ihre Wangen.
Ines legte die Karte zur Seite.
Ferienhaus in Priwall – Familie Sande, Ihr Vermieter seit 40 Jahren!
Die Buchstaben auf der abgegriffenen Karte waren verblichen, die aktuellen Informationen zum Vermieterhandy und zur E-Mail handschriftlich nachgetragen.
Mehrfach hatte sie die Nummer gewählt, um dann jedes Mal wieder aufzulegen.
Der gemeinsame Sommerurlaub an der Ostsee war eine Institution in ihrer Familie und mit zahllosen Erinnerungen verbunden. Etwas so Wertvolles für eine schnöde Autoreparatur zu opfern, brach Ines das Herz.
Zumal sie es ihrer Mutter würde beichten müssen, die sich jedes Jahr auf die unbeschwerte Zeit im Familienkreis freute.
Doch der Kostenvoranschlag der Werkstatt war eindeutig: Die defekte Zylinderkopfdichtung machte eine teure Reparatur unumgänglich.
Ihre Mutter konnte sie unmöglich um Hilfe bitten.
Diese hatte selbst nur eine bescheidene Rente. Als einziger Vermögenswert war ihr das Häuschen verblieben, das sie großzügig mit der Tochter und deren Familie teilte.
Dabei hatten die Eltern mit ihrem mittelständischen Elektrobetrieb einst gutes Geld verdient. Doch Ines’ Vater hatte sich überreden lassen, den Löwenanteil der Ersparnisse einer neuen Vermögensverwaltung anzuvertrauen, die mit hohen Renditen warb. Die Anlageberater hatten ihre Büros später in einer Nacht-und-Nebel-Aktion aufgelöst und waren verschwunden geblieben.
Den letzten Rest der privaten Rücklagen hatte ihre sonst so besonnene Mutter für alternative Krebstherapien des Vaters ausgegeben, von denen nur die skrupellosen Behandler profitiert hatten.
Bei der Erinnerung an die letzten Wochen ihres Vaters hielt Ines inne. Wieder musste sie mit den Tränen kämpfen. Dann griff sie erneut zum Hörer.
Dieses Mal wartete sie, bis abgehoben wurde.
»Lindberg. Guten Morgen, Frau Sande …«
Den Mahnbescheid hatte er verschwiegen.
Das hätte seiner Frau die letzte Hoffnung auf einen Ausweg aus ihrer finanziellen Misere geraubt.
Tatsächlich war keine Besserung in Sicht, ganz im Gegenteil. In der Zwischenzeit war der alte Renault mit Motorschaden ausgefallen.
Ines hatte daraufhin die Stornierung des Familienurlaubs angedroht.
Als letzter Ausweg blieb nur noch das Gespräch mit der Bank.
*
»Warum wollen Sie sich das antun …?«
Ihm gegenüber saß der bullige Filialleiter.
Offenbar war der Kompetenzbereich des Beraters überschritten, mit dem er sich ursprünglich verabredet hatte.
Thomas kannte sein Gegenüber. Bei ihm hatte er als Jugendlicher das erste Konto eröffnet.
»Sie können das Geld haben«, fuhr der Banker fort.
»Ich kenne Sie seit Jahren und habe das Vertrauen. Für mich wäre das ein Federstrich, wirklich kein Problem …«
Hier machte der Mann eine Pause.
»Aber ein Blick auf ihre aktuellen Verhältnisse sagt mir: Abraten! Sie nehmen sich finanziell die Luft zum Atmen. Sie ›gehören‹ dann der Bank. Aus dieser Schuldenspirale findet manch einer nicht mehr heraus …«
Jetzt erst begriff Thomas, warum der Filialleiter den Vorgang an sich gezogen hatte. Tatsächlich hatte nur dieser das Wohl der Lindbergs im Auge.
Der Berater hätte ihm den Kredit aufgedrängt und seine Provision eingestrichen.
Thomas bedankte sich und verließ die Bank.
Auf der Straße hielt er kurz inne und zog den Kreditantrag aus der Tasche, den er bereits vorausgefüllt hatte.
Er zerriss den Antrag in tausend kleine Fetzen und entsorgte alles in einen nahestehenden Mülleimer.
Dann holte er sein Handy heraus.
Er wählte Gadavis Nummer und willigte ein.
»Hast du kurz Zeit …?«
Ines hatte sich seit Tagen vorgenommen, das Gespräch mit ihrer Mutter zu führen.
Sie würde ihr die Absage des Sommerurlaubs irgendwann beichten müssen. Und die alte Dame schätzte es gar nicht, wenn sie wichtige familiäre Neuigkeiten erst mit Verspätung erfuhr.
»Kind, sei mir nicht böse, aber ich will gerade los. Ist denn etwas ganz Dringendes, oder kann es noch etwas warten?«, wollte die alte Dame nun wissen, die im Aufbruch begriffen schien.
Ines war für einen Augenblick versucht, das Gespräch auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben.
Aber genau dann hätte das Risiko bestanden, dass ihre Mutter es von anderer Seite erfuhr.
Sie nahm allen Mut zusammen: »Es geht um unseren Sommerurlaub. Ich habe mit unserer Vermieterin telefoniert und muss dir leider sagen …«
»Oh je, das hatte ich dir nicht erzählt«, unterbrach ihre Mutter und trat an Ines vorbei in das Treppenhaus.
»Frau Sande hat angerufen und lässt dich herzlich grüßen. Thomas hat die Miete wohl schon überwiesen und dabei etwas zu viel gezahlt. Ich habe gesagt, dass wir das bei Ankunft regeln können. Jetzt muss ich aber los …«
Eilig öffnete die alte Dame die Haustür und trat ins Freie.
Ungläubig schüttelte Ines den Kopf.
Was in aller Welt hatte das jetzt zu bedeuten?!
Am Ulanendenkmal hielt er an.
Die erste Kurierfahrt für den Clan führte Thomas Lindberg in die Eilenriede, den großen hannoverschen Stadtwald.
Bei Veranstaltungen und am Wochenende war die Straße stärker frequentiert. Zu dieser Zeit aber, um vier Uhr morgens, wirkte die Gegend wie ausgestorben.
Er stieg aus und öffnete den Kofferraum. Vor ihm lag das Transportgut, eine prall gefüllte Sporttasche.
Er sah sich nach allen Seiten um, entnahm die Tasche und ging mit zügigen Schritten zum Denkmal.
Selbst bei Dunkelheit war die Reiterstatue gut erkennbar, da hoch gebaut und unweit der Straße gelegen.
Erneut sah er sich in alle Richtungen um.
Irgendetwas konnte nicht stimmen. Die kleine Lichtung war ungeschützt und mühelos von jedem vorbeifahrenden Fahrzeug aus einsehbar. Da die Straße in Biegungen verlief, wären herannahende Fahrzeuge zudem erst spät erkennbar.
Er wollte seinen Weg gerade fortsetzen, als die Lichtreflexe von Autoscheinwerfern aufblitzten.
Mit einer ansatzlosen Bewegung schleuderte er die Tasche ins Unterholz und trat an einen Busch, den Rücken zur Straße gewandt. Es sollte aussehen, als müsse er einem dringenden menschlichen Bedürfnis nachgehen.
Kurz darauf hörte er den Wagen auf seiner Höhe halten. Er vermied es, den Kopf zur Seite zu drehen.
Aber er hatte das Fahrzeug bereits erkannt.
Es war ein Streifenwagen.
Eilig lief die ausgemergelte Gestalt auf und ab.
Ines Lindberg war auf dem Rückweg von ihrer Seminargruppe und beobachtete das unruhige Verhalten des Mannes.
Nur wenig später fuhr die Stadtbahn ein. Im selben Moment ging ein Schwarzafrikaner an ihr vorbei, nahm ein kleines Stanniolpäckchen aus dem Mund und drückte es der Gestalt in die Hand. Während der Junkie eilig davonlief, stieg der Afrikaner neben Ines in die Bahn.
Routiniert und choreografiert, wie der Handel abgelaufen war, machten Dealer und Junkie das Geschäft offenbar nicht zum ersten Mal.
Verstohlen betrachtete Ines den Dealer, der an der nächsten Haltestelle wieder ausstieg.
Drogenhandel im Stadtzentrum war ein bekanntes Problem, an dem Politik und Polizei seit Jahren scheiterten. So augenfällig wie an diesem Nachmittag war es Ines allerdings noch nicht begegnet.
Nachdenklich blickte sie in die gleichgültigen und müden Gesichter der Mitfahrenden.
Es fiel ihr schwer zu glauben, dass ihr Mann vor vielen Jahren selbst einmal zur Drogenszene gehört hatte.
Doch der Sozialdienst war Teil seiner Bewährungsauflagen gewesen. Ohne diese hätte sich ihr Mann sicherlich nicht auf dem Weihnachtsbasar einer Kirchengemeinde aufgehalten.
Und sie wären einander nie begegnet.
Demonstrativ knöpfte Thomas sich die Hose zu.
Er tat, als habe er den Streifenwagen nicht bemerkt.
Erst danach sah er in Richtung Taxi und Polizei.
Der Beamte am Steuer ließ die Scheibe herunter und rief ungehalten: »Sagen Sie mal, einen besseren Platz zum Pinkeln konnten Sie sich nicht aussuchen? Sie stehen im absoluten Halteverbot!«
»Tut mir leid, Herr Wachtmeister«, antwortete Thomas mit einer Mischung aus Unterwürfigkeit und plumper Vertraulichkeit. »Aber so’ne Blasenentzündung ist wirklich kein Spaß, das könn’se mir glauben!«
Er trat an den Streifenwagen heran und legte eine Hand auf die Dachreling.