Mea - Johanna Koers - E-Book + Hörbuch

Mea E-Book und Hörbuch

Johanna Koers

5,0

Der Titel, der als Synchrobook® erhältlich ist, ermöglicht es Ihnen, jederzeit zwischen den Formaten E-Book und Hörbuch zu wechseln.
Beschreibung

Er nennt es Liebe. Doch er meint Besitz. Nikki hat es verstanden. Endlich ist sie bereit, Sascha zu verlassen ... Doch diese Rechnung hat sie ohne ihn gemacht: Ihre Absicht, die Beziehung zu beenden, lässt das Monster in ihm endgültig die Oberhand gewinnen. Getrieben von seinem Wahnsinn eine abgelegene Hütte im tiefsten Wald zu ihrem neuen Zuhause zu machen, wird Nikkis Leben zu einem Albtraum. Saschas Besessenheit kennt keine Grenzen. Niemals wird er seine "Mea" freiwillig aufgeben.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 497

Das Hörbuch können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS

Zeit:12 Std. 8 min

Sprecher:Uta Panschow

Bewertungen
5,0 (1 Bewertung)
1
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Vermisst
Das perfekte Versteck
Ich verliere den Verstand
Jagdlust
Vae Victis
Die Frau hinter dem Spiegel
Ein Wettlauf gegen die Zeit
Schockstarre
Verdrängen
Ich beobachte dich
Metamorphose
Mein neues Leben
Verrat
Back to the game
Irrenhaus
Déjà-vu
Quod erat demonstrandum
Es ist alles meine Schuld
Epilog

Mea

Du gehörst mir

Johanna Koers

***

„Alle wissen, dass wir zusammen sind ab heute. Jetzt hör` ich sie, sie kommen. Sie kommen dich zu holen. Sie werden dich nicht finden. Niemand wird dich finden, du bist bei mir.“

(Falco: Jeanny)

Impressum:

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Veröffentlicht im Tribus Buch & Kunstverlag GbR

August 2022

1. Auflage

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2022 Tribus Buch & Kunstverlag GbR

Texte: © Copyright by Johanna Koers

Lektorat: Sandra Zenker

Druck: epubli, ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Coverdesign: Valmont Coverdesign

Bildmaterial: Canva, Pixabay

Layout: Verena Valmont, Johanna Koers

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und wird strafrechtlich verfolgt.

Tribus Buch & Kunstverlag GbR

Mittelheide 23

49124 Georgsmarienhütte Deutschland

Besuchen Sie uns auf:

www.tribusverlag.com

Vermisst

„Bist du sicher?“

„Ja“, sie hatte den Griff der Autotür schon in der Hand, als sie ihrer Freundin ihr Lächeln schenkte.

„Irgendwie fühl ich mich nicht wohl bei der Sache.“

„Mach dir keine Sorgen. Wir sehen uns morgen in der Schule, okay?“, Lisas Nicken war kaum zu sehen. Ein seltsames Gefühl der Furcht hatte sich in ihr breitgemacht, eine innere Unruhe, die sie nicht zuordnen konnte.

„Ruf mich später noch an, ja?“

„Versprochen.“ Nikki lehnte sich vor, gab ihrer besten Freundin einen Kuss auf die Wange, bevor sie ausstieg, die Tür schloss und vor dem Auto auf die andere Straßenseite verschwand.

„Das war das Letzte, was Sie von ihr gehört und gesehen haben?“

„Ja.“ Der Polizeibeamte ihr gegenüber nickte ruhig. Eine Ruhe, die sie nicht teilen konnte. Sie spürte die Tränen, die über ihr Gesicht liefen. Tränen der Panik. „Er hat sie. Er hat ihr etwas angetan.“

„Ich verstehe, dass Sie aufgewühlt sind…“

„Er ist ein schlechter Mensch. Er ist gewalttätig. Sie müssen ihr helfen. “ Diese innere Unruhe, die sie gespürt hatte: Sie hätte sie begleiten müssen. Stattdessen war sie im Auto zurückgeblieben, nach Hause gefahren und hatte ihre beste Freundin direkt in die Arme eines brutalen, besessenen Psychopathen laufen lassen.

„Wir werden das prüfen.“

„Wann? Anstatt mich stundenlang zu befragen, sollten Sie sich lieber diesen Sascha vorknöpfen.“

„Frau Brook, lassen Sie uns unseren Job machen.“

„Dann fangen Sie doch endlich damit an.“

„Meine Kollegen ermitteln bereits. Sie haben uns sehr geholfen und ich möchte Sie bitten, uns für weitere Fragen zur Verfügung zu stehen.“ Der Polizist erhob sich, öffnete die Tür und bot ihr an zu gehen. Lisa wollte etwas sagen, wollte ihn anschreien, damit nur irgendeiner hier seinen Job richtig macht und ihre beste Freundin rettet, doch das erneute Nicken des Beamten Richtung Tür war nicht misszuverstehen: Sie sollte gehen und fürs Erste gab sie nach. Ohne ein weiteres Wort verließ sie die Polizeiwache.

Es war stiller als je zuvor in ihrem Leben; so dunkel, dass sie nicht mal ihre eigenen Hände hätte sehen können und so eng, dass sie sich nicht drehen konnte! Sie fühlte sich wie lebendig begraben. Das Letzte, an das sie sich erinnerte, war sein Gesicht - seine eisblauen Augen, sein ekelhaftes Grinsen - und der Bruchteil einer Sekunde, in dem ihr bewusst wurde, dass sie sein Auto sofort verlassen musste. Dann war alles schwarz geworden. Als sie wach wurde, tat ihr Kopf unendlich weh. Ihr war schwindelig. Die vorübergehende Desorientierung, die sie fühlte, wurde nach kurzer Zeit durch die schockierende Wahrheit abgelöst: Sascha hatte sie mit einem einzigen starken Hieb gegen den Kopf ohnmächtig geschlagen und sie dann in den viel zu kleinen Kofferraum seines Mercedes gesperrt. Getrieben von Überlebenswillen und Panik hatte sie zu schreien begonnen, während sie gleichzeitig wie wild in ihrem persönlichen Sarg mit Armen und Beinen versucht hatte, sich selbst zu befreien – vergebens. Sie hatte geschrien, nach Hilfe, nach Freiheit. Sie hatte um Gnade gefleht, ihn verflucht und ihm ihre Liebe und Treue geschworen – ebenfalls vergebens. Als sie merkte, wie die Luft knapper und das Atmen immer schwerer wurde, wie das Kohlenmonoxid den wenigen Sauerstoff, der ihr blieb, zu verseuchen begann, war sie ruhiger geworden, hatte sie aufgehört zu schreien, zu rufen und zu kämpfen.

Nikki wollte überleben und die größtmögliche Chance hier drinnen nicht zu ersticken war, ruhig und besonnen zu atmen. Also lag sie da… Atemzug um Atemzug, wimmerte leise, spürte jede einzelne Träne ihre Wange hinunterlaufen. Das Gefühl für die Zeit, die bereits verstrichen war, hatte sie längst verloren. Die Gedanken in ihrem Kopf waren in dieser unendlichen Stille unerträglich laut. Doch je mehr sie versuchte, diese inneren Rufe auszuschalten oder zu ignorieren, desto penetranter wurden sie: `Was, wenn er dich hier nie wieder rauslässt? Will er dich bei lebendigem Leib in seinem Kofferraum ersticken lassen? Wie lange wird es wohl dauern, bis der Sauerstoff aufgebraucht ist und jeder Atemzug durch das Kohlendioxid eine elende Qual wird? Wird es wehtun? Wird es schnell gehen oder sich hinziehen? Was, wenn er dich vorher rausholt? Was hat er vor? Suchen deine Freunde schon nach dir? Wo ist er überhaupt? Solltest du ihn nochmal rufen? Warum hast du nicht auf Lisa gehört?´

Erst als sie plötzlich ein anderes Geräusch wahrnahm, hörten die stummen und doch so ohrenbetäubenden Schreie abrupt auf: ein Knacken, ein Rascheln. Dann ein Piepen, das Auto wurde entriegelt. Als sich der Kofferraumdeckel langsam öffnete, war die plötzliche Helligkeit kaum zu ertragen. Während ihre Lider noch nicht wieder ganz geöffnet, sich ihre Augen noch nicht an das Sonnenlicht gewöhnt hatten, hörte sie schon seine Stimme: vertraut und doch so anders als sonst.

„Hast du deinen Dornröschenschlaf beendet?“ Jedes Wort aus seinem Mund erinnerte sie unweigerlich an irgendwelche gruseligen Aufziehpuppen aus einem Antiquitätenladen. Er sprach in einem seltsamen Hoch und Tief der Tonlage - verzogen, gedehnt. Seinen Kopf auf die rechte Schulter geneigt sahen seine Augen sie durchdringend an und ließen ihr keinen Raum für Zweifel: Ihr Trennungswille - ihre Absicht ihn zu verlassen - hatte etwas in ihm geweckt, das noch viel gefährlicher war als die Gewalt, die er schon vorher gegen sie ausgeübt hatte. Sein Blick war ferner und doch eindringlicher als je zuvor und das ekelhafte Grinsen auf seinen Lippen weckte den sofortigen Instinkt schreiend davonzulaufen – ein Impuls, dem sie nicht folgen konnte. „Du weißt, dass ich das tun musste,“ er nickte, um seine Worte zu unterstreichen. `Wartete er tatsächlich auf eine Antwort? Wollte er ihr Okay dafür, dass er sie niedergeschlagen und in seinen Kofferraum gesperrt hatte?´ „Du wolltest mich verlassen. Das kann ich nicht zulassen, Mea.“ Sascha lächelte: ein Lächeln, das ihr ein eiskaltes Schaudern über den Rücken laufen ließ.

„Aber ich habe uns an einen sicheren Ort gebracht.“ Er hielt ihr die Hand entgegen, um ihr beim Ausstieg zu helfen, und wirkte dabei tatsächlich aufgeregt wie ein kleines Kind, das seinen Eltern begeistert ein selbstgemaltes Bild unter die Nase hielt und auf ihre Reaktion wartete. Allein der Gedanke, ihn zu berühren, ihm die Hand zu reichen, ließ sie übel werden. Sie war ihm schutzlos ausgeliefert. Die Hand, die er ihr anbot, war das Paradebeispiel für die Macht, die er über sie besaß. Nikki drehte sich auf die Seite, umfasste den Rahmen des Kofferraumes, missachtete seine Hand und stieg ohne Hilfe aus ihrem Gefängnis der letzten Stunden. Die frische Luft war wie eine Wohltat für ihre nach Sauerstoff lechzende Lunge. Sascha nahm ihre Ablehnung kommentarlos hin. Gerade fühlte sie ein Hauch von Genugtuung, als ihr beim Aufrechtstehen schwindelig wurde, sie ihre Hand automatisch an ihren Kopf legte und das Gleichgewicht zu verlieren drohte.

„Na na na“, seine Stimme klang rügend, als sie den Arm, den er stützend um ihre Hüfte gelegt hatte, wegstieß. „Ich will dir nur helfen, Mea.“ Nikki schwieg. Es gab so vieles, das sie ihn an den Kopf werfen wollte: `Fass mich nicht an. Ich will deine Hilfe nicht, bring mich nach Hause´, waren die harmlosesten Dinge, die ihr durch den Kopf gingen, wenn sie an den Mann neben sich dachte, dem sie bis vor ein paar Tagen noch so verfallen war, dass sie nahezu alles hatte mit sich machen lassen. Den sie auf so bizarre, krankhafte, Schaden bringende Weise liebte, dass sie sich immer wieder beschützend vor ihn geworfen hatte.

Als der Schwindel nachließ und sie sich ihren Füßen auf dem Grund einigermaßen sicher war, öffnete sie die Augen: getrocknetes Blut. Instinktiv führte sie die dunkelrote Hand zurück an ihr Haar, das trocken und fest an ihrer Kopfhaut klebte.

Sie konnte die offene Wunde spüren, auch wenn das Blut längst getrocknet war: So stark hatte er sie noch nie geschlagen. Wieder wollte sie etwas sagen, bewegte ihre Lippen, doch kein Ton kam heraus. „Du hast mich sehr wütend gemacht, Mea. Ich hatte keine Wahl.“ Sie schluckte schwer.

„Willst du dich nicht mal umsehen?“ Als er den Kofferraum geöffnet und sich ihre Augen an das Licht gewöhnt hatten, war das Einzige, was sie sah, sein Gesicht. Vage erinnerte sie sich an Baumkronen, die sie hinter ihm Richtung Himmel vermutete, doch es konnte genauso gut eine Einbildung gewesen sein. Nikki schaute sich um: Bäume, Sträucher, Blätter, Äste, eine lange Einfahrt, die allerdings kaum noch als eine solche zu erkennen war. Schon in diesem Moment war es ihr klar: ein Teich… eine Holzhütte! DIE Holzhütte.

„Erinnerst du dich an das letzte Mal, als wir hier waren? Hier sind wir sicher. Nur wir beide.“ Wie ein heftiger Schlag in die Magengrube wurde ihr im Bruchteil einer Sekunde speiübel, war ihr das Atmen unmöglich geworden, verlor sie den Grund unter ihren Füßen und fiel haltlos zu Boden.

Als das Handy neben ihr klingelte, spürte sie sofort die Hoffnung wie einen schnellwachsenden Keim in sich, der elend verkümmerte, als sie Elias` Namen auf dem Display sah.

„Elias…“. Sie hätte ihn anrufen und informieren müssen. Er hätte es von ihr erfahren sollen und nicht von dem Direktor der Schule, der sich heute Morgen an Nikkis Mitschüler*innen gewandt hatte.

„Du warst Samstag mit ihr in der Stadt. Was ist passiert? Was hat sie gesagt? Wo wollte sie hin? Sie verschwindet doch nicht einfach so. Wieso seid ihr nicht zusammen nach Hause?“, sprudelte es aus Elias heraus.

„Sie wollte zu Sascha. Sie wollte das nicht mehr. Sie hatte es endlich verstanden, Elias. Nikki…“

„Also hat er sie?“, unterbrach er sie.

„Ja… Ich meine, ich denke, wer sonst sollte…“

„Hast du der Polizei…?“

„Ich habe der Polizei alles gesagt, was ich weiß. Sie sagten, sie gehen den Hinweisen nach, aber…“

„Ich bin in fünf Minuten vor deinem Haus.“ Der Signalton am Ende der Leitung beendete den Anruf, bevor sie noch etwas sagen konnte. Sie war froh, dass er kam. Schon nachdem sie am Samstagabend nichts von ihr gehört hatte, war das ungute Gefühl in ihr exponentiell angestiegen. Der erste Gedanke, dass Nikki sich sicher wieder von Sascha hatte einlullen lassen und überzeugt worden war, ihm noch eine Chance zu geben, wich immer mehr dem mulmigen Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte. Als sie auch am Sonntagmorgen nichts von ihrer besten Freundin gehört hatte, sie auf keinerlei Anrufe reagierte und auch ihre Eltern nicht wussten, wo sie sich aufhielt, war die Unruhe einer inneren Sicherheit gewichen. Monatelang hatte sie geahnt, dass Sascha nichts Gutes bedeutete. Dass das, was er Liebe nannte, Nikki nicht guttat. Sie war so froh gewesen, als ihre beste Freundin es endlich erkannt hatte. Doch nun hatte sich das Leben in weniger als vierundzwanzig Stunden zu einem Albtraum verwandelt. Lisa wusste nicht, wo Nikki war oder was genau Sascha mit ihr vorhatte, aber eines war ihr vollkommen klar: Das Leben ihrer besten Freundin war in Gefahr.

„Frau Brook?“, Lisa erkannte die Stimme des Polizeibeamten sofort.

„Haben Sie sie gefunden?“, als Antwort auf Elias` erwartungsvollen Blick stellte sie das Mikrofon auf laut.

„Wir wollten Ihnen persönlich mitteilen, dass wir mit dem Lebenspartner Ihrer Freundin gesprochen haben.“

„Ex-Partner“, unterbrach sie den Beamten. „Sie war fertig mit ihm.“

„Wie dem auch sei… Er war sehr betroffen über das Verschwinden von Frau Maier. Er hat sie das letzte Mal am Freitagabend gesehen.“

„Und das glauben Sie ihm?“

„Frau Brook, ich gebe Ihnen Informationen, die ich eigentlich nicht einmal befugt bin, an Sie weiterzuleiten. Ich wollte…“

„Haben Sie seine Wohnung durchsucht?“, sie war zu aufgewühlt, um die Etikette oder irgendwelche Kommunikationsregeln einzuhalten.

„Die Kollegen waren vor Ort.“

„Das war nicht meine Frage! Was ist mit seinem Keller? Ich weiß, dass er in dem Mietshaus einen Kellerraum besitzt. Was ist, wenn er sie dort gefangen hält? Waren Sie dort?“

„Frau Brook“, die beschwichtigende Stimme des Beamten machte sie nur noch wütender.

„Das kann doch noch nicht alles sein? Er spielt Ihnen den liebevollen, besorgten Partner und Sie glauben ihm einfach? Ich habe Ihnen doch erzählt, was er ihr monatelang angetan hat.“

„Wir haben keinerlei Beweise für das, was Sie…“

„Was?“ Sie gab ihm nicht einmal die Chance zu Ende zu reden. Die Angst um ihre Freundin und die - in ihren Augen - offensichtliche Unfähigkeit der Polizei hatten ihre Sorge und ihre Verzweiflung in einen Zustand des Zorns wandeln lassen.

„Es gibt keine ärztlichen Berichte, keine Anzeigen ...“

„Weil sie Angst vor ihm hatte…“, sie war laut geworden: „…und davor, dass man ihr nicht glaubt. Also genau das, was hier gerade passiert. Ich habe sie sogar noch bestärkt zur Polizei zu gehen: dein Freund und Helfer, dass ich nicht lache! Sie tun nichts, um ihr zu helfen. Genau wie Nikki befürchtet hatte: Sie glauben ihm.“

„Wir werden alles dafür tun, ihre Freundin zu finden.“ Trotz des offensichtlichen verbalen Angriffs, den er eben durch das Telefonat abbekommen hatte, blieb der Polizeibeamte ruhig.

„Ach ja? Fahndungsfotos? Zeugen suchen? Ich weiß, dass er sie hat. Sie war auf dem Weg zu ihm, um die Beziehung endlich zu beenden. Er hat sie, egal was er sagt oder behauptet.“

„Wir haben Ihre Aussage hier, wir gehen dem nach, aber wir müssen auch andere Optionen in Erwägung ziehen.“

„Was für Optionen?“

„Die Möglichkeit, dass jemand Unbekanntes sie entführt hat und sie ein zufälliges Opfer ist. Im Moment können wir auch nicht ausschließen, dass ihre Freundin weggelaufen ist.“

„Was? Warum sollte sie das tun? … Wissen Sie was? Vergessen Sie es!“ Ohne das Telefonat zu beenden, warf sie ihr Smartphone an die Wand gegenüber, das mit einem lauten Knall von der Tapete abgefangen wurde und auf den Schreibtisch fiel.

„Lisa“, beschwichtigend legte Elias seine Hand auf ihre Schulter.

„Ich weiß, dass er sie hat. Ich weiß es.“ Tränen liefen über ihre Wange. So viele Gefühle: Verzweiflung, Ohnmacht, Angst und Wut - unbändige Wut: auf die Polizei, auf ihn, auf ihre Freundin, die so stur war, aber allen voran auf sich selbst: Sie hätte ihre beste Freundin niemals allein lassen dürfen. So war sie leichte Beute für Sascha gewesen. Sie hätte es verhindern können, da war sie sich sicher.

„Hey…schsch…“, Elias konnte die Angst, die Lisa fühlte, nur zu gut verstehen. Innerlich schrie er alles zusammen. In ihm wütete ein Sturm, der ihm vorkam wie der Todesengel selbst. Niemals würde er sich verzeihen, wenn ihr etwas zustoßen würde. Doch er saß einfach nur da und bot Lisa die Schulter, die sie gerade brauchte.

„Ich verstehe es nicht, Elias.“ Sie hob ihren Kopf, sah ihn an.

Ein leichtes Lächeln huschte über ihr von Tränen gerötetes Gesicht. Ein Lächeln, das in Kombination mit ihren weinenden Augen und ihrem angstvollen Blick völlig fehl am Platz wirkte. „Sie hatte doch alles.“ Ein Lächeln, das ein Bild der Vergangenheit in ihr hervorgerufen hatte: eine Erinnerung, die noch kein Jahr her war und die ihr doch vorkam wie aus einer anderen Welt: „Dass er nicht gut ist, war doch von Anfang an klar. Wie er sie angesehen hat. Als wäre sie sein Besitz. Wieso ist sie darauf reingefallen? Dass er Abschaum ist, hat man doch schon zehn Meilen gegen den Wind gerochen. Ich habe versucht, ihm eine Chance zu geben. Für Nikki. Aber er war ekelhaft. Sie hat es nicht wahrgenommen. Er hatte sie voll im Griff. Gott, sie hat so viel für ihn getan, sie hat so oft für ihn gelogen und das Gesetz gebrochen, nur um ihn aus der Scheiße zu reiten. Er hat sie nur benutzt. Sie hätte alles für ihn getan.“

„Nein“, Elias griff nach ihrer Hand. „Das hätte sie nicht. Und genau das wird ihr jetzt zum Verhängnis, befürchte ich.“ Lisa sah ihn verwirrt an: `Was meinte er? Was hatte er von ihr verlangt? Was hatte ihre Freundin ihr nicht gesagt?´„Ich habe Nikki am Donnerstag im Claires getroffen. Sie sah aufgewühlt aus, ich habe mich zu ihr gesetzt.“

„Und? Elias, was weißt du, was ich nicht weiß?“

Das perfekte Versteck

„Du bist zu spät“, wütend stand Sascha vor ihr.

„Es sind nur fünf Minuten“, versuchte Nikki sich zu verteidigen. Eigentlich waren es nicht mal vier Minuten gewesen und im Grunde wusste sie auch, dass ihre Rechtfertigung nichts bringen würde.

„Warst du wieder mit ihr zusammen?“ Sein abschätzender Blick war nicht neu für sie. Er machte kein Geheimnis daraus, dass er die Freunde seiner Partnerin – allem voran Lisa – nicht leiden konnte.

„Wir waren nur einen Kaffee trinken“, sie wagte kaum ihn anzusehen.

„Und da hast du die Zeit vergessen, weil sie dir wichtiger ist als ich.“

„Nein, so ist das nicht.“

„Mea“, sein Ton war harsch. (Anm.: Mea: aus dem lateinischen: meins. Was ihrer Freundin gruselte, hatte Nikki mit einem `es ist doch süß´ abgetan). Sascha, der Schulabbrecher, früher einst ein fleißiger Junge mit Zielen, der sich aus dem Block kämpfen wollte, der es besser machen wollte als `sein alter Herr´… Unweigerlich fragte sich Nikki, was eigentlich aus diesem Vorsatz geworden war.

„Es tut mir leid. Das kommt nicht wieder vor.“

„Das hoffe ich“, er maßregelte sie. Das tat er oft… als wäre sie sein Kind, das er erziehen müsste, das ihn immer wieder enttäuschte.

„Verzeihst du mir meinen Fehler?“, sie unterwarf sich und wusste doch selbst nicht wieso.

„Ich will nachsichtig sein“, er ging einen Schritt auf sie zu, legte eine Hand in ihren Nacken, während er mit der anderen ihren Unterarm packte und sie mit kräftigem Griff heranzog. Sein Atem, der nur wenige Zentimeter vor ihrem Gesicht austrat und nach Zigarette stank, ließ ein Schaudern über ihren Rücken laufen. `Bitte raste nicht aus´ war das Einzige, was sie dachte. „Tu das nie wieder. Lass mich nie wieder warten! Hast du verstanden?“ Stumm stimmte Nikki zu. „Wir wollen doch nicht, dass das unschön wird, oder?“

„Ich verspreche es dir. Ich werde dich nicht mehr warten lassen.“

„Das ist mein Mädchen.“ Er löste den starken Griff an ihrem Unterarm, legte die Hand aus ihrem Nacken an ihre Wange. Behutsam streichelte er darüber, strich ihr Haar hinter ihr Ohr. Er lächelte – sie hatte ihn besänftigt. „Du bist mein Leben und ich will so viel Zeit wie es nur irgendwie geht mit dir verbringen. Das weißt du doch, oder?“

„Ja.“

„Gut.“ Er zog sie in seine Arme, eng an sich. Nikki konnte seinen Herzschlag hören. Vorsichtig küsste er ihre Stirn. „Ich will doch gar nicht ausfallend werden oder sauer sein auf dich.“

„Ich weiß.“

„Du bist doch mein Engel. Ich liebe dich.“

„Ich dich auch.“ Ein Lächeln legte sich auf ihre Lippen.

„Hast du Hunger? Kochst du uns was?“

„Ja, natürlich.“ Er setzte sich an den Tisch, während Nikki im Kühlschrank nach etwas Essbarem zu suchen begann. Eine Zeit lang beobachtet er sie, zog an seiner Zigarette. „Bevor ich das vergesse…“

„Ja?“, Nikki wandte sich ihm zu.

„Falls die Polizei hier vor der Tür auftaucht und fragt, wo ich Mittwochabend war: Ich war den ganzen Abend bei dir. Wir haben gekocht und einen Film gesehen – sag einfach, es war ein Marvel Film.“

„Aber ich war arbeiten im Claires, Sascha.“

„Es wird keiner kontrollieren, wo du warst. Um dich geht es nicht. Bestätige der Polizei einfach, was ich dir gerade gesagt habe.“ Nikki antwortete nicht. „Mea? Das kannst du doch wohl für mich tun, oder?“ Sie wusste, dass er kein Nein duldete – das tat er nie.

„Ja“, sie nickte, bevor sie sich wieder dem Abendessen widmete. Sie stellte keine Fragen mehr. Das hatte sie einmal getan…. Diesen Fehler würde sie nicht wiederholen.

Als Nikki erwachte, war es mitten in der Nacht. Sie wusste nicht, wie lange sie geschlafen hatte. Nach ihrer eigenen Zeitrechnung müsste sie nun fast vier Tage hier sein. Die Dunkelheit machte es ihr unmöglich, etwas zu sehen. Es gab nichts außer Schwarz. Sie wusste, wo sie war. Ein Ort, der ihr vor wenigen Wochen noch romantisch vorgekommen war. Heute das perfekte Versteck. Hier – mitten im Wald – war nichts und niemand, der ihren Hilfeschrei hören könnte – Nikki versuchte es erst gar nicht. Sascha hatte sich nicht mal die Mühe gemacht, die Fenster abzuriegeln, um sie vor Blicken von außen zu schützen: Er wusste besser als sie, dass sich niemand hierher verirrte. In der Ferne konnte sie ein Heulen hören – vielleicht ein Wolf.

Ein Tier, das ihr keine Hilfe sein würde. Nikki kniff ihre Lider zusammen. Langsam hatten sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt, doch das fehlende Licht und die Nacht ließen ihr kaum eine Chance, auch nur Umrisse zu erkennen. Damals – als sie das letzte Mal hier gewesen waren – hatte der Vollmond die Nacht erhellt und die Hütte nie ganz dunkel werden lassen. Sascha hatte gescherzt, dass sicher die Werwölfe unterwegs seien und er besser die Tür gut verriegeln sollte. Und Nikki? Sie hatte sich in seine starken Arme gelegt und das Feuer im Kamin beobachtet.

`Keine Angst, ich beschütze meine Mea´, hatte er gesagt – sie hatte nicht geahnt oder nicht ahnen wollen, dass er das eigentliche Monster in ihrem Leben war. Selbst am Samstag, an dem sie endlich aus all dem raus wollte, als sie endlich gemerkt hatte, dass sie die falsche Entscheidung getroffen hatte, und bereit war, ihren Fehler zu begleichen – selbst an diesem Abend hatte sie das Monster unterschätzt. Hatte sie die Gefahr, die von ihm ausging, nicht kommen sehen. Nikki lehnte den Kopf ins Kissen, starrte an die Decke und versuchte, alle Geräusche von draußen auszublenden. Dann horchte sie in die selektive Stille hinein…. Sie war nicht allein. Auf dem Sofa, einige Meter von ihr entfernt, hörte sie ihn atmen. Leise. Regelmäßig. Er schlief. Vorsichtig versuchte sie, ihren Fuß zu bewegen, und spürte das Metall an ihrem Knöchel. Eine Schlinge um ihren Fuß – eigentlich für Tiere gemacht -, die ihren Bewegungsradius in dieser Hütte einschränkte. Sie kam in die Küche, auf das Sofa, an den Kamin, an das Bücherregal - ins Bad kam sie nicht.

Nur mit seinem Einverständnis konnte sie auf die Toilette oder duschen. `Nimm dir eine Schüssel´, hatte er gesagt, als er sie am Sonntagmorgen das erste Mal allein gelassen hatte – `Ich bringe heute Abend was zu essen mit´. Er war nicht laut, nicht böse, nicht wütend. Er redete von ihrer gemeinsamen Zukunft, von ihren Plänen, als würden sie hier Urlaub machen, als würden sie sich eine Auszeit nehmen und die Zeit zu zweit genießen. So wie damals, als er sie an einem Wochenende auf diesen Trip eingeladen hatte: in diese romantische, zurückgelegene Waldhütte an einem kleinen Teich. Ein uriges, kleines Holzhaus, an das er so viele Erinnerungen hatte. Eine Hütte, die seiner Großmutter gehörte, die seit Jahren nicht mehr hierherkam und an der doch so viele Kindheitserinnerungen hingen. Nikki schüttelte den Kopf: Es war wie eines dieser kranken Spiele in den Fernsehserien, bei denen sie sich immer wieder fragte, wer auf solche Ideen kommt. Sie hatte keine Ahnung, was in ihm vor sich ging. Sie hatte keinen Schimmer, wie lange er fähig war, diese Idiotie aufrecht zu erhalten. Fakt war, dass sie hier in dieser Hütte niemand fände - Sie war auf sich allein gestellt. Ob es richtig war oder nicht: Im Moment spielte sie dieses Spiel nach seinen Regeln, sei es aus Angst oder reinem Überlebensinstinkt: Nikki hatte monatelang nicht erkannt, mit was für einem gefährlichen Menschen sie zusammen war. Sie hatte keine Ahnung, zu was er noch fähig war. Also spielte sie. Sie spielte aus Angst vor dem, was passieren könnte, wenn sie aufhörte und seine nicht ausgesprochenen, aber doch so deutlich gemachten Regeln brach.

Als Nikki erwachte, war es mitten in der Nacht. Sie griff nach ihrem Handy, das rechts neben ihr auf dem kleinen Holztisch lag. Es war 3:20 Uhr. Der urig eingerichtete Raum, in dem sie sich befand, war neben dem kleinen Badezimmer und einer noch kleineren Abstellkammer alles, was diese Hütte an Räumlichkeiten besaß. Trotz der Uhrzeit war es nicht dunkel. Der Vollmond fern am Himmel erhellte die ansonsten eingesetzte Finsternis. Die fehlenden Jalousien, Gardinen oder Rollos ließen das Licht des Vollmondes direkt in die Hütte auf den alten und knarrenden Holzboden vor sie fallen. Das Feuer im offenen Kamin an der anderen Seite der Wand war nur noch heiße Glut, dennoch war ihr nicht kalt. Nikki schaute sich im Raum um: Das hohe Bücherregal aus dunklem Eichenholz in der Ecke neben dem Kamin stand voll mit Werken verschiedener Genres und Autoren. Die meisten von ihnen waren älter als sie selbst, einige aus der Nachkriegszeit, den späten Fünfzigern. Alte Kinderbücher aus DDR–Zeiten. Ganz unten im Regal befanden sich Kreuzworträtselblöcke und eine alte Spielesammlung. Vor dem Kamin lag ein runder, rot-grüner Teppich mit orientalischem Muster, auf dem ein ovaler, mahagonifarbener Couchtisch aus der Gründerzeit seinen Platz gefunden hatte. Die drei Sofagarnituren mit Holzrahmen aus Walnuss passten sich perfekt in den Retrostil der rustikalen Holzhütte ein. Das Hirschgeweih an der Wand hinter ihr schaute majestätisch über den ganzen Raum hinweg. Das Bett, in dem sie lag, reichte gerade für zwei Personen und war mindestens so alt wie ihre Großmutter. Unweigerlich hatte Nikki sich gefragt, wie viele Geschichten dieses Bett wohl zu erzählen hätte, wenn es mit ihr sprechen könnte.

Am Fußende des Bettes stand ein rechteckiger Tisch aus Walnussholz mit vier passenden Stühlen. Als sie gestern Morgen mit ihm gemeinsam am Tisch gefrühstückt hatte, waren ihr die eingeritzten Initialen trotz der diversen anderen Macken des alten Gebrauchsgegenstandes sofort in die Augen gefallen: S.B. Sascha Brink. Die kleine Küchennische an der Wand ihr gegenüber hatte zwei kleine Hängeschränke, deren Holztüren mit Glasfenstern versehen und mit einer rot-weiß-karierten kleinen Gardine verziert waren. Der Rest der Küche fügte sich in die Holzoptik der Hütte ein. Es gab einen kleinen Kühlschrank, eine alte Mikrowelle, die nur funktionierte, wenn man den Knopf nicht losließ, und einen Zwei-Platten-Gasherd. Das Modernste dieser Küche war mit Abstand der weiße Wasserkocher. Das kleine Bad war ebenso aus Holz: der Boden, die Wände, die Decke. Selbst das winzige Fenster war eingepfercht in einen rustikalen Eichenrahmen. Das kleine runde Waschbecken in der rechten Ecke hatte Probleme mit dem Warmwasser. Der Badspiegel war bei ihrer Ankunft so verstaubt gewesen, dass sie ihr Spiegelbild nicht hatte sehen können. Die alte Deckenlampe flackerte immer wieder auf. Die runde freistehende Badewanne hatte einen Duschvorhang, dessen Mintgrün sie an das Badezimmer ihrer Urgroßmutter erinnerte. Die Toilette hatte zwar eine gelbliche Verfärbung, war aber ansonsten voll funktionsfähig. Die Kunstblume auf der innenliegenden Fensterbank war sicher schon dreißig Jahre alt und die Kernseife auf der Ablage neben dem Waschbecken hatte ganz bestimmt schon viele Hände gesäubert. Alles in dieser Hütte war alt und roch nach Holz, ohne aber modrig oder verfallen zu wirken. Es war ein ganz eigener Geruch, eine eigene Geschichte, die diese Wände ihr erzählten.

Hier war nichts und niemand in der Nähe: keine Nachbarn, kein Haus. Es gab nur diese Hütte, den kleinen Teich und ganz viel Wald. Die kilometerlange Auffahrt führte vorbei an hohen Bäumen, manchmal tiefliegenden Ästen, viel Moos und unzähligen Sträuchern. Eine Zufahrt, die man wohl kaum als Straße bezeichnen konnte. Der Schotter, der vielleicht vor vielen Jahren noch den Weg zur Hütte hatte zeigen können, war unter all dem natürlichen Grün des Waldes kaum noch zu erkennen. Einzig die Tatsache, dass auf diesem zwei Meter breitem „Weg“ keinerlei Bäume und größere Sträucher wuchsen, ließ eventuell den ein oder anderen sich bis zum Weganfang verirrten Spaziergänger vor Neugierde einige Meter dieses Pfads beschreiten. Bis zur Hütte selbst kam aber wohl keiner zu Fuß, denn selbst mit dem Auto hatten sie noch eine lange Strecke zurückgelegt. Es war wie in einem dieser Märchen, die Nikkis Mutter ihr in ihrer Kindheit vorgelesen hatte: eine abgelegene Waldhütte, ein ums Lagerfeuer tanzender Zwerg, ein Turm versteckt hinter hohen Bäumen und dichtem Gestrüpp, ein Häuschen hinter den sieben Bergen, ein Hexenhaus voll von Lebkuchen und Süßigkeiten fern der Zivilisation. Es gab nur sie und ihn, die Vögel, die am Morgen zwitscherten und den Tag begrüßten. Das ein oder andere Knacken, wenn ein Hase oder ein Fuchs um die Hütte schlich. Die Fische im Teich. Als Sascha ihr gesagt hatte, dass sie das Wochenende ganz allein verbringen würden, hatte sie die tiefe Wahrheit hinter dieser Aussage nicht verstanden: ein Hotel, eine Ferienwohnung, irgendwo am Strand, irgendwo in der Stadt, er und sie unter Massen fremder Menschen: Das war es, an was sie gedacht hatte. Doch sie waren wirklich und wahrhaftig allein. Zwei Seelen unter dem endlos weiten Himmel von Baumkronen. Ein seliges Lächeln legte sich auf ihre Lippen:

Es war unglaublich romantisch in diesem perfekten Versteck, in diesem Unterschlupf, in dem es möglich war abzuschalten, auszusteigen. Ein Wochenende unsichtbar für die Welt zu sein.

„Mea?“

„Ja“, Nikki drehte sich auf die Seite. Das Licht des Vollmonds schien direkt auf sein Gesicht. Seine eisblauen Augen blickten tief in sie hindurch. Ein Schauer kroch über ihren Rücken.

„Woran denkst du?“

„Daran, dass das hier das perfekte Versteck ist. Es ist wie ein Bunker, der einen unsichtbar werden lässt. Hier findet einen niemand.“

„Du hast recht“, sagte er langsam, während er leicht nickte, ohne seinen einnehmenden Blick von ihr abzuwenden. „Hier gibt es nur dich und mich. Niemand verirrt sich jemals hierher. Hier könnte man eine Leiche vergraben und niemand würde sie je finden.“ Nikki lachte auf.

„Du bist ja SO romantisch.“ Sie schenkte dem eiskalten Blick, der in seinen Augen lag, keine Beachtung. Ebenso hatte sie die tiefe Wahrheit hinter dieser Aussage nicht ernst genommen. Vielleicht hatte er es von langer Hand geplant. Vielleicht hatte sie auch in diesem Moment den Samen für diese Idee selbst in ihn gepflanzt: das perfekte Versteck. Hier neben ihm im Schein des hellen Mondes hatte Nikki keine Ahnung, dass dieser urige Ort, den sie heute so romantisch fand, in wenigen Monaten ihre persönliche Hölle sein würde.

Sie saßen gerade gemeinsam am Esstisch der spärlich eingerichteten Küche, als es laut – ja, fast bedrohlich eindringlich – an der Wohnungstür klopfte.

„Sascha Brink?“, von ihrem Platz aus konnte Nikki die Tür und die Person davor nicht sehen.

„Wer will das wissen?“

„Die Polizei. Dürfen wir reinkommen?“ Erschrocken blieb Nikki am Tisch sitzen, während Sascha die Beamten in den Raum ließ. „Guten Tag“, das war an sie gerichtet.

„Hallo“, nickte sie zögerlich. `Was war passiert? War seiner Familie etwas zugestoßen?´ - die Familie, die sie noch nie gesehen oder kennen gelernt hatte, von der sie nicht mal einen Namen wusste.

„Herr Brink, wo waren Sie gestern Abend in der Zeit von 20:00 bis 22:00 Uhr?“ Es fiel ihr wie Schuppen von den Augen: Das hier war kein Besuch, um eine traurige Nachricht zu überbringen. Ihr Freund Sascha, der Mann, mit dem sie noch keine drei Monate zusammen war, stand unter Verdacht – doch weshalb und für was?

„Wieso interessiert Sie das?“, Saschas provokante Antworten waren für Nikki nicht nur unangenehm, sondern beängstigend. Diese Männer in Uniform, Gesetzeshüter des Landes, erweckten bei ihr – wie wohl bei den allermeisten Menschen – einen gewissen Respekt. Sascha hingegen schien davon unbeeindruckt, mehr noch: Er schien sie zu verspotten.

„Beantworten Sie bitte die Frage!“

„Ich war hier. Zuhause.“

„Allein?“, fragte der Polizist, der Stichpunkte auf einen kleinen Notizblock aufschrieb.

„Nein, mit meiner Freundin.“ Ehe Nikki verstand, was da geschah, hatte sich der Beamte ihr zugewandt.

„Ist sie das?“

„Ja. Das ist meine Freundin.“ Sascha nickte.

„Können Sie bestätigen, dass sie gestern Abend mit ihm hier waren?“

„Ja.“ Im Nachhinein wollte Nikki ihre schnelle Reaktion darauf schieben, dass sie wusste, dass auch nur ein kleines Zögern ihrerseits ein Misstrauen bei der Polizei hervorrufen würde. Die Wahrheit aber war, dass sie genau in diesem Moment nicht eine einzige Sekunde darüber nachgedacht hatte.

„Den ganzen Abend?“

„Ja.“

„Okay“, der Beamte schien zwar nach wie vor argwöhnisch, dennoch nickte er seinem Partner zu, der seinen Notizblock zurück in seine Westentasche steckte. „Das war`s fürs Erste.“

„Sie wissen ja, wo die Tür ist“, Sascha verschränkte die Arme vor der Brust. Er wirkte selbstsicher und siegreich. Ohne ein weiteres Wort fiel die Tür hinter den Polizisten ins Schloss und Sascha und Nikki blieben allein in der plötzlich viel zu stillen und irgendwie seltsam unbehaglichen Wohnung zurück.

„Warum hast du die Polizisten angelogen?“, Sascha hatte sich zurück an den Tisch gesetzt, sich eine Zigarette angezündet und genüsslich einige Züge genommen. Nikki hatte gedankenversunken in ihrem Kaffee gerührt.

„Nun. Die Beiden sahen nicht so aus, als würden sie einem Mann wie mir Glauben schenken. Aber dir, Mea, …“, er legte eine signifikante Pause ein, während er seine Kippe auf den Aschenbecherrand ablegte: „… einer zarten, reinen Blüte glaubt man jedes Wort. Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann. Gut gemacht.“ Er wandte den Blick von ihr ab, nahm die Zigarette wieder zwischen Mittel– und Zeigefinger und genoss einen tiefen Zug.

„Warst du hier Zuhause?“

„Natürlich.“

„Wie kommt die Polizei auf dich?“

„Keine Ahnung.“

„Die müssen doch…“

„Mea!“ Er unterbrach sie in einem harschen Ton. „Zu viele Fragen können gefährlich sein.“ Ihr Mund öffnete sich, sie wollte etwas sagen, doch es kam kein Ton heraus. `Vielleicht´, dachte sie, `redet er mit mir, wenn sich die angespannte Situation wieder beruhigt hatte.´ Sie nahm sich vor, zu einem späteren Zeitpunkt das Gespräch zu suchen.

---

Nikki lehnte am Türrahmen seines Schlafzimmers und beobachtete, wie der durchtrainierte, muskulöse Mann vor ihr die Boxershorts hochzog. Seine Haut war noch nass vom Wasser der Dusche. An seinem kurzen, dunkelblonden Haar konnte sie noch einzelne Wassertropfen erahnen. Sein Undercut und seine Tattoos in Kombination mit seinem Blick durch tiefblaue Augen ließen ihn gleichsam geheimnisvoll wie gefährlich aussehen. Sein breiter Oberkörper glänzte im Licht der Deckenlampe, als er sein weißes T-Shirt überzog. Im Spiegel konnte sie das Seitenprofil seines Gesichts wahrnehmen. Er hatte seinen kurzen Drei-Tage-Bart gerade wieder in die richtige Form gebracht. Die drei schwarzen Kreuze an seinem Hals und der runde schwarze Ring in seinem rechten Ohr waren ihr bei ihrem ersten Treffen sofort aufgefallen. Er hatte sie in der Diskothek angesprochen, in der sie mit ihren Freundinnen feiern gewesen war. Irgendetwas an ihm hatte sie sofort voller Faszination in seinen Bann gezogen. Bis heute wurden ihr die Knie weich, wenn er sie auf diese eine Art ansah, wie nur er es konnte. Als würde die Welt sich nur um sie beide drehen.

Als würde dieser Blick sie beschwören. Es gab Momente, in denen sie sich fragte, ob ihr diese Intensität ihrer Gefühle eigentlich Angst machte. Es war nicht so, dass sie nie verliebt gewesen war – nie geliebt hatte. Im Gegenteil: Sie hatte geliebt, mit ganzem Herzen.

Sie war glücklich gewesen – bis sie in diese Augen gesehen hatte und alles, an das sie geglaubt hatte, alles, was sie dachte, geliebt zu haben, zu wanken begann. Und so hatte sie sich aus ihrer damaligen langjährigen Beziehung ohne große Überlegungen getrennt und war Hals über Kopf in diese Romanze gestürzt.

„Gefällt dir, was du siehst?“ Nikki schrak zusammen.

„Ja.“ Als er sich ihr näherte, seine Hände um ihr Becken legte und sie ruckartig an sich zog, stockte ihr für einen Moment der Atem.

„Sascha?“, es entkam ihr wie ein Hauchen, wo sie doch eigentlich eine ernste Frage stellen wollte: Die Befragung durch die Polizei beschäftigte sie immer noch sehr. Saschas Hand wanderte unter ihr Shirt, öffnete von hinten ihren BH. Sie trug Spitze, so wie er es liebte.

Es gab viele Dinge, die er besonders gerne an ihr mochte: Spitzenunterwäsche - am liebsten in rot -, Stiefel mit hohen Absätzen, deren Schaft bis knapp unter die Knie reichte, Schmuck. Er legte viel Wert darauf, dass sie dieses trug. „Sascha?“, versuchte sie erneut, ihn von seinem eindeutigen Vorhaben abzubringen – Sie musste mit ihm reden.

Diesmal klang ihre Stimme gefasster, nicht wie ein erregtes Flüstern.

„Was?“, ihre veränderte Tonlage war auch ihm nicht entgangen: Sie gefiel ihm nicht.

„Fragst du dich gar nicht, weswegen die Polizei dich beschuldigt hat? Oder wie sie überhaupt auf dich kommen? Ich meine, vielleicht will dich jemand in etwas reinziehen. Wenn du wirklich hier warst…“

„Glaubst du mir etwa nicht?“, er hatte von ihr abgelassen und stand mit verschränkten Armen aufgebäumt vor ihr: groß, stark, mächtig - wie eben vor den Beamten, als würde er sie verspotten, während sie gleichsam seine Wut sehen konnte.

„Doch“, sagte sie so schnell, dass sie sich fast verhaspelte. Irgendetwas an dieser Situation machte ihr Angst.

„Aber was?“, sein Ton war so hart und abwertend wie nie zuvor. Eine Stimme in ihr mahnte sie, ihn auf keinen Fall wütend zu machen.

„Nichts. Vergiss es“, sie setzte ein beschwichtigendes Lächeln auf, machte einen Schritt auf ihn zu, wollte ihren Arm um seine starken Schultern legen, um sich an ihn heranzuziehen, doch er stieß sie weg. „Sascha“, wieder versuchte sie sich ihm zu nähern, doch seine große Hand schlug ihren sich hebenden Arm wie eine Pranke nieder.

„Du vertraust mir nicht.“

„Natürlich vertraue ich dir“, Nikki wirkte fast entschuldigend. Sie fühlte sich wie ertappt in einer Situation, in der doch eigentlich eher er statt sie sich selbst verteidigen sollte.

„Tust du nicht.“

„Ich wollte doch nur, ich meine…“

„Was meinst du?“ Seine Augen funkelten. Nikki fühlte sich wie ein aufgescheuchtes Reh im Licht des Autos: Unfähig sich zu bewegen stand sie einfach da und ließ die Gefahr regungslos auf sich zukommen.

„Wieso bist du so wütend?“, es war mehr ein Flüstern ihres erstarrten Körpers zu sich selbst.

„Was?“, er war laut geworden, sodass Nikki unwillkürlich zusammenzuckte.

„Nichts.“ Sie wagte es nicht, ihn anzusehen.

„Was hast du geflüstert?“

„Nichts, ich…“, sie spürte, wie die Tränen in ihre Augen schossen.

„Nichts?“, er griff um ihren Oberarm, hielt ihn so fest, dass es ihr wehtat.

Mit der anderen Hand hob er ihren Kopf brutal nach oben, während er sie gleichsam durch den Druck am Arm etwas in die Knie zwang – so sah er noch größer, noch mächtiger aus und Nikki fühlte sich unfassbar klein.

„Du tust mir weh.“

„Ich tu dir weh? Ich dir? Wer hat mir denn gerade gesagt, dass er mir nicht vertraut? Meinst du, das tut mir nicht weh?“

Der Griff um ihren Arm wurde noch fester, sie war sich sicher, dass sie die Fingerabdrücke später noch sehen könnte. „Und jetzt schweigen?“

„Was soll ich denn sagen?“, immer noch flüsterte sie aus Angst, ihn sonst zu provozieren.

„Ach, und jetzt so, ja?“

Er war wütend, rasend vor Wut, das war nicht zu übersehen. Nikki ahnte, dass es gleichgültig war, was sie sagte – sie konnte gerade nur verlieren.

„Vielleicht sollte ich besser gehen“, sie wollte sich wegdrehen, sich aus seinem Griff befreien, doch er hielt sie nur noch fester, zwang sie weiter in die Knie, bevor er sie mit einem Ruck zu Boden warf.

„Jetzt willst du abhauen? Ja? Und dann? Bei den Bullen sagen, dass du sie angelogen hast?“

„Das würde…“, weiter kam sie nicht, als die Hand, die sie gerade noch zu Boden geschmettert hatte, sie unter die Schulter packte, auf die Beine zog und Sascha sie voll unkontrollierter Wut ansah.

„Du solltest die Klappe halten“, hörte sie ihn sagen, bevor seine Faust ihre Rippen traf und sie keuchend zu Boden fiel. Sie rang nach Luft, während die Tränen über ihre Wangen liefen. „Ich habe dich gewarnt: Fragen sind gefährlich.“ Mit seinem Fuß stieß er sie zur Seite und ging ohne ein weiteres Wort an ihr vorbei in die Küche, wo er sich an den Tisch setzte und sich eine Zigarette ansteckte. Nikki blieb am Boden liegend zurück. Der blaue Fleck an ihrem Brustkorb färbte sich in den nächsten Tagen grüngelb. Die Fingerabdrücke an ihrem Oberarm wurden von Tag zu Tag blasser. Er hatte sich nie für seinen Wutausbruch entschuldigt, aber er hatte ihr versprochen, es nie wieder zu tun, wenn sie ihn nicht mehr provozierte. Nikki hatte ihm verziehen… dieses Mal… und auch das Mal danach und danach und danach…

„Ich hoffe, du hast Hunger?“, der Geruch der köchelnden Dosenravioli aus dem kleinen Topf war ihr schon beim Öffnen der schmalen Badezimmertür in die Nase gestiegen. Es war das erste Mal, seit sie hier war, dass er ihr erlaubt hatte zu duschen. Minutenlang hatte sie im Badezimmer gestanden, das Wasser laufen lassen. Auf der innenliegenden Fensterbank hatte er ihr alles bereitgestellt: Duschbad, Shampoo – ihr Lieblingsduft: Pfirsich –, Tampons. Er hatte an alles gedacht.

Er hatte ihr Make-up, Lipgloss, Lidschatten, Mascara und Eyeliner gekauft. Als hätte er alles aus ihrem Elternhaus mitgenommen: genau dieselben Marken, genau dieselben Farben. Nikki hatte sich selten geschminkt, wenn überhaupt hatte sie ihre Natürlichkeit durch dezentes Make-up unterstrichen. Sie schminkte sich, wenn sie ausging… sie schminkte sich öfter, seitdem sie mit ihm zusammen war. Er wollte es so, es gefiel ihm… wie ihm vieles gefiel, was sie dann ihm zuliebe umsetzte. Alles war ordentlich in einem kleinen Weidekorb zurechtgelegt, sogar an die Abschminktücher hatte er gedacht. Ihr Parfüm – ein Duft, den sie trug, seitdem Lisa und sie das erste Mal in einer Parfümerie gewesen waren und sie sich in genau diesen Duft verliebt hatte.

Ganz links neben dem alten, langsam rostig werdenden Fenstergriff stand ein kleiner Ohrringhalter, auf dem adrett nebeneinander ihre fünf Lieblingsohrringe hingen. Wie paralysiert hatte sie ihre Hand gehoben, den rosegoldenen Ohrring von Swarovski zwischen ihre Finger gelegt und versucht, das Zittern ihrer Hände zu kontrollieren, um sich den linken Ohrhänger genauer anzusehen: Fünf Diamanten – ihrer hatte nur vier. Schon kurz nachdem sie diese Ohrringe von ihrer Mutter zu Weihnachten bekommen hatte, verlor sie einen Diamant - das hier war nicht ihr Ohrring. Sascha hatte also genau die gleichen Modelle wieder gekauft. Nikki schluckte schwer. Das hier hatte er offensichtlich von langer Hand geplant. Es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bis er sie hierhergebracht hätte. Ihre Absicht, ihn zu verlassen, hatte die Sache lediglich beschleunigt.

Das Zittern ihrer Hand breitete sich über ihren ganzen Körper aus. Einen kurzen Moment überlegte sie, den Griff zu öffnen und über das Fenster zu fliehen… eine verzweifelte, nicht umsetzbare Idee. Durch dieses kleine Fenster würde sie niemals hindurchpassen. Und selbst wenn: Sie würde nie schnell weit genug weg sein… die Straße, die Zivilisation war kilometerweit entfernt. Es war ausweglos. Die Erkenntnis ließ sie frösteln, dann wurde ihr schwarz vor Augen. Sie konnte sich gerade noch am Waschbeckenrand festhalten, um nicht haltlos zu Boden zu fallen.

„Mea?“, das Klopfen an der Tür holte Nikki aus ihrem Trancezustand zurück in die Gegenwart. Ein Klopfen, das sie nur darin bestärkte, dass jeglicher Fluchtversuch zum Scheitern verurteilt war.

„Ja, ich… ich dusche noch“, schnell zog sie ihre Kleidung aus, warf sie in die Ecke und schreckte erneut zusammen: Am Haken neben der Tür hing ihr Bademantel oder zumindest ein Duplikat. Fast stolpernd flüchtete sie in die Wanne, zog den mintgrünen Vorhang zu und ließ die Tränen mit dem heißen Wasser gemeinsam über ihre Wangen zu Boden laufen. Wieder vergingen Minuten. Minuten, in denen sie sich nicht rührte, in denen sie einfach dastand, ins Leere starrte und weinte, ohne es zu merken. Sie war mitten im Nirgendwo. Gefangen von einem Psychopathen, den sie selbst in ihr Leben gelassen hatte. Entführt durch ein Monster, dem sie sich wie eine leichte Beute selbst ausgeliefert hatte. Verschleppt an einen Ort, den sie selbst dem Täter als das perfekte Versteck offenbart hatte.

Die Ironie, die hinter dieser Tatsache lag, war ihr nicht entgangen: Sie war der Einöde des Waldes ausgeliefert, in einer Hütte, in der sie noch vor wenigen Monaten freiwillig mit ihrem Entführer ein Wochenende verbracht hatte. Romantisch hatte sie es gefunden… Nikki lachte auf. `Wie hatte sie so blind sein können?´ Lisa hatte es gewusst: Sie hatte sie gewarnt. `Wieso war sie so stur gewesen?´ Wie ihr Vater es immer sagte, machte sie ihrem Sternzeichen alle Ehre: Nun war der Stier mit seiner Sturheit zielstrebig in die Falle gelaufen. Der sarkastisch verzweifelte Lacher, der ihr entwich, hallte gefühlte Ewigkeiten in dem engen Raum nach, bevor er durch das Rauschen des Wassers übertönt wurde.

Als Nikki aus der Wanne ausstieg, konnte sie sich nicht daran erinnern, dass sie ihre Haare überhaupt gewaschen hatte. Einzig der Duft nach Pfirsich, der sich um ihre Nase hüllte, war ohne Zweifel Zeuge, dass sie das Shampoo benutzt hatte. Als sie ihre Hand hob, um den Spiegel mit ihrem Handrücken vom heißen Wasserdampf zu befreien, blickte sie in leere, rote Augen. Ein erschreckendes schwarzes Loch lag im Blick dieser Frau im Spiegelbild. War es Angst? Verzweiflung? Nikkis Blick ging rüber zu der Fensterbank, auf der sich all die Utensilien befanden, die sie selbst nutzte und doch nicht ihr gehörten. Dinge, die sie nicht anrühren wollte, nicht anrühren würde: Genau wie diesen Bademantel an der Wand hinter der Tür. Entschlossen zog sie ihre Kleidung wieder an, nahm den Schlüssel zwischen Daumen und Zeigefinger, wollte ihn gerade nach rechts drehen, als sie innehielt: `Wem wollte sie etwas beweisen? Wollte sie sich ihm ernsthaft widersetzen, in dem sie die bereitgestellten Sachen ignorierte?

Hatte sie nicht lange, bevor er sie an diesen Ort gebracht hatte, zu spüren bekommen, wozu er fähig war?´ Es wäre nicht klug, ihn zu provozieren oder ihn gar wütend zu machen. Hier war sie ihm schutzloser ausgeliefert als je zuvor. Nikki ließ den Schlüssel los, zog ihre Kleidung aus und warf den Bademantel über, der so fremd und so neu roch, dessen Fleece nicht ansatzweise so weich war wie ihrer zuhause. Dann stellte sie sich vor den Spiegel, öffnete das dezente Make-up, puderte sich das Gesicht, zog ihre Lippen mit dem leicht roséfarbenen Lipgloss nach. Ein Lipgloss, der sich so natürlich der Farbe ihrer Lippen annahm, dass man ihn kaum sehen konnte. Aus der achtfarbigen Palette des Lidschattens wählte sie olivgrün, trug Eyeliner und Mascara auf. Die Frau im Spiegel, die sie anstarrte, war ihr plötzlich fremd.

Unwillkürlich fragte sie sich, wann sie eigentlich zu dieser Frau geworden war: die Frau, die sich Hals über Kopf von dem Mann, der immer für sie da war, trennte, um in die Romanze mit einem Bad Boy zu fliehen, mit dessen Abgründen sie schnell Bekanntschaft gemacht hatte. Die Frau, die plötzlich rote Spitzenunterwäsche trug und sich schminkte. Die kniehohe Stiefel anzog, aber nicht mehr im Rock zur Schule gehen durfte. Die Frau, die es eigentlich besser wusste und die doch monatelang bei ihm geblieben war. Die Frau, die allein zu ihm gegangen war, um die Beziehung zu beenden… Die Frau, die hier im Badezimmer stand. Nikki starrte sie im Spiegel an. Sie verabscheute ihre naive Art, während sie gleichzeitig Mitleid mit sich selbst hatte.

Dann wandte sie den Blick ab, nahm sich ein Paar Ohrringe, steckte sie an und verließ das Bad, ohne der fremden Frau im Spiegel noch einmal in die Augen zu sehen.

„Hast du Hunger?“, wiederholte er seine Frage. Der kleine Topf wackelte auf dem Gasherd, während die kleinen Flammen ihn bedrohlich umgaben. Unweigerlich fühlte sich Nikki dem Topf loyal verbunden. Auch sie stand mitten im bedrohlichen Feuer, dem sie nicht entkommen konnte. Sie konnte sich ihm nur ergeben.

„Ja.“

„In dem Schrank sind Teller.“ Mit dem Kopf deutete er die Richtung und sie kam der stillen Aufforderung nach, den Tisch zu decken, als ihr Blick auf das Bett fiel, auf dem er Kleidung ausgebreitet hatte: Kleidung für sie.

„Du hast mir Klamotten gekauft?“, sie versuchte so neutral wie möglich zu klingen, keine Angst zu zeigen, aber auch nicht zu sicher zu wirken.

„Ja. Die brauchst du doch. Und sie gefallen mir.“ `Natürlich´, dachte Nikki. Sie gefielen ihm: Es war nie wichtig, was sie wollte oder was sie mochte. Dass war es seit Monaten nicht, sie hatte es nur nicht erkannt oder nicht sehen wollen.

„Darf ich?“

„Natürlich“, sagte er, als hätte sie jede Freiheit der Welt. Als wäre sie nicht Opfer seiner Entführung. Als wäre sie freiwillig hier. Nikki betrachtete die Kleidung: Kaum etwas davon hätte sie sich gekauft, bevor sie Sascha kennen gelernt hatte. Rot war mit Abstand seine Lieblingsfarbe.

„Zieh dich an.“ Sein Befehlston ließ sie zusammenschrecken. `Hatte sie sich falsch verhalten? Falsch agiert? Falsch reagiert?´

„Okay“, sie nickte hastig, wählte die erstbeste Kombination aus.

„Die Dessous zuerst“, sie folgte seinem Blick auf den kleinen Nachttisch: rote Spitze. Nikki nahm die Dessous und die gewählte Kleidung und stand doch regungslos im Raum. Obwohl er sie bereits hunderte Male nackt gesehen hatte, war das gerade das Allerletzte, was sie wollte. Als hätte sie eine Wahl…

„Worauf wartest du? Das Essen wird kalt.“ Für eine Millisekunde schloss sie die Augen, seufzte, unterdrückte die Tränen, bevor sie ihren Kopf hob und nach seinen Regeln spielte: Sie schenkte ihm ein Lächeln, legte die Kleidung beiseite und zog langsam den Bademantel über ihre Schultern und ihre Arme, bis er zu Boden fiel. Sie hatte ihm den Rücken zugewandt und doch spürte sie seine Adleraugen tief in ihrem Nacken. `Bitte komm nichtnäher, bitte komm nicht näher, bitte fass mich nicht an´,betete sie in Gedanken und versuchte, ein Mittelmaß zu finden zwischen dem Wunsch, sich so schnell wie möglich anzuziehen, und der Angst ihn zu provozieren, wenn sie ihm zu hastig war. Sascha schwieg und Nikki spürte zumindest einen Hauch Erleichterung, als sie wieder angezogen neben ihm am Küchentisch saß.

„Sascha?“

„Was?“, die Fragen schossen nur so durch ihren Kopf. Wichtige Fragen, elementare Fragen, Fragen, deren Antworten sie fürchtete: `Wie lange werden wir bleiben? Was hast du mit mir vor? Willst du mich hier für immer festhalten? Wie soll es weitergehen? Ist das hier der Anfang vom Ende?´

„Danke für die Kleidung und die Ohrringe und die Schminke und… den Bademantel“, sagte sie stattdessen und stocherte weiter in ihrem Essen rum.

„Sehr gerne. Ich möchte doch, dass du dich in unserem neuen Zuhause wohl fühlst“… - und wie, als hätte er all ihre Fragen gehört, hatte er ihr soeben die Antwort gegeben: Das hier sollte ihr neues Zuhause sein. Er hatte nicht vor, sie jemals wieder zurückzubringen.

Ich verliere den Verstand

„Guten Morgen“, sie betrachtete die Frau gegenüber, die ihr mit der rechten Hand freundlich zuwinkte. Sie lächelte.

„Wie geht’s dir heute?“, den Kopf zur Seite geneigt sah sie sie fragend an.

„Danke, gut. Und dir?“

„Mir geht’s wie dir. Mir geht es immer wie dir.“ Die Augen der Frau sahen sie mitleidig an, oder?

„Was machen wir heute?“

„Sag du es mir!“ Nikki schaute sich im Raum um. Bücher im Regal, das Feuer im Kamin, das Kreuzworträtsel auf dem kleinen Couchtisch, das sie vorhin angefangen und doch nicht beendet hatte. Unweigerlich dachte sie an das gesuchte Wort, das ihr einfach nicht einfallen wollte.

„Eine Gewürzpflanze mit sieben Buchstaben. Na?“, auffordernd blickte sie in die Augen der Braunhaarigen vor sich.

„Keine Ahnung.“

„Ach komm, streng dich mehr an.“

„Cayenne, Thymian.“

„Nein, passt nicht. Der erste Buchstabe ist ein `M´“, nachdenklich legte Nikki eine Hand an ihr Kinn. Die Frau vor ihr tat es ihr gleich.

„Melisse.“

„Daran habe ich schon gedacht, aber das passt nicht. Eigentlich muss es auf `n´ enden. Es sei denn die englische Grafschaft mit vier Buchstaben ist nicht Avon.“

„Welche englischen Grafschaften mit vier Buchstaben kennst du noch?“

„York. Aber der Anfangsbuchstabe muss `A´ sein, denn ich bin mir ziemlich sicher, dass ein Einmannruderboot mit fünf Buchstaben ein Kajak ist.“

„Da hast du wohl recht.“

„Ich weiß.“

„Ich weiß“, echote die Frau.

„Also… Kajak, Avon… Die Gewürzpflanze hat am Ende ein `n´.

„Du denkst an Majoran?“

„Tue ich.“

„Und?“

„Wenn es Majoran ist, dann muss ich einen Speisefisch finden, der mit `J´ anfängt. Der wiederum fällt mir nicht ein.

„Tricky.“

„Du sagst es.“ Nikki zeigte mit dem Finger in Richtung ihres Gegenübers, um ihre Beipflichtung mit gestischem Ausdruck zu unterstreichen. Wieder imitierte die Frau vor ihr ihr Verhalten. Nikki senkte die Hand. „Es muss eine Lösung geben.“

„Es gibt immer eine Lösung; so sind Kreuzworträtsel konzipiert. Du musst nur lang genug überlegen.“

„Ich komm aber nicht drauf. Deshalb habe ich dich gefragt.“ Der Gesichtsausdruck ihres Gegenübers ließ Argwohn erkennen.

„Was?“

„Nichts, Nikki.“

„Warum schaust du so?“

„Ich schaue nur so wie du auch.“ Nikki schüttelte den Kopf, die Frau tat es ihr gleich.

„Was?“

„Nichts, Nikki. Nichts, was du nicht schon weißt.“ Sie lächelte ihr sanft zu.

„Kannst du mir die Illusion nicht einfach lassen?“

„Nikki, ich tue nichts, was du nicht willst.“ Sie seufzte…ebenso wie Nikki.

„Ich brauche dich.“

„Und ich bin hier.“

„Ja.“ Es tat gut, dass ihr Lächeln erwidert wurde. Vorsichtig hob sie ihre Hand, hielt sie der anderen Frau entgegen, bis ihre Finger den kalten, glatten Spiegel berührten. Sie sah die Tränen, die aus den Augen der anderen Frau flossen, sie schmeckte das Salz auf ihren Lippen. „Du…“

„Ich?“

„Ich werde verrückt!“

„Nein, Nikki…“

„Doch“, sie lachte auf, während sie weinte und ihre Hand immer noch am Spiegel an der Hand ihres Gegenübers ruhte. „Die Maya hatten recht.“

„Das Urvolk, das den Weltuntergang vorausgesagt hat? Die Welt steht noch, Nikki.“

„In diesem Spiegelkabinett siehst du eine Menge Dinge. Reibe dir die Augen! Nur du allein bist da“, zitierte sie den persischen Mystiker Rumi.

„Tu es.“

„Was?“

„Reibe dir die Augen.“

„Okay“, Nikki gehorchte, während die Frau es ihr gleichtat.

„Und?“

„Ich sehe dich.“

„Siehst du. Du bist nicht allein. Halten wir es lieber mit Mark Twain `Trenne dich nicht von deinen Illusionen. Wenn sie verschwunden sind, wirst du weiter existieren, aber aufgehört haben zu leben.´ Und du willst doch überleben, Nikki, oder?“ Nikki stimmte ihr stumm zu. „Siehst du. Die Maya hatten Unrecht. Wieder mal.“

„Die Maya!“, Nikki sprang vom Stuhl auf, berührte das Tischbein, sodass der Spiegel, den sie vorsichtig an die große Vase auf dem kleinen Holztisch angelehnt hatte, einen kurzen Augenblick bedrohlich zu wackeln begonnen hatte. „Das ist es! Makulan.“

„Was?“

„Makulan. Mexikanischer Blattpfeffer. Die Maya nennen ihn Makulan. Die Gewürzpflanze.“

„Sowas wissen wir?“ Die Frau im Spiegel sah sie verwirrt an. Nikki lachte auf.

„Ja. Sowas wissen wir. Wir sind klug.“

„Gut.“ Nikki schenkte ihrem Spiegelbild ein Grinsen, bevor sie ihr den Rücken zuwandte, an den kleinen Couchtisch verschwand und Makulan als Lösungswort eintrug. Sie dachte nicht mehr darüber nach, dass sie gerade noch mit ihrem eigenen Spiegelbild gesprochen hatte. Die Einsamkeit zermürbte sie. Sie hasste es, allein zu sein. Wie damals nach der Trennung ihrer Eltern, als ihre Mutter und ihr Bruder ausgezogen waren. Als sie aus der Schule kam, war das Haus leer.

Sie hatte oft vor sich hingeredet – ohne Sinn. Nur, damit die Stille nicht zu unerträglich wurde.

„Frau Brook, wie kann ich Ihnen helfen?“, der Polizeibeamte deutete auf den Stuhl vor dem Schreibtisch.

„Danke, ich bevorzuge es zu stehen.“

„Ganz wie Sie wünschen.“

„Es ist zwei Wochen her. Vierzehn verdammte Tage und Sie haben sie immer noch nicht gefunden.“

„Wir tun unser Möglichstes, um ihre Freundin zu finden.“

„Sie sollen Sascha Brink verfolgen. Ich bin mir sicher, dass er Sie zu ihr führen wird.“

„Wir haben Herrn Brink besucht. Sie wurden darüber von mir persönlich in Kenntnis gesetzt. Herr Brink ist aktuell nicht in der Stadt.“

„Was? Und das finden Sie nicht verdächtig?“, Lisa kochte vor Wut. Sie war verzweifelt, sie hatte Angst. Sie hatte die blauen Flecken ihrer Freundin gesehen. Den blau-lila übersäten Unterarm. Seine Finger, die sich durch den festen Griff auf ihre Haut abgezeichnet hatten, ihre grün–gelb verfärbten Rippen. Sie hatte eine Ahnung davon bekommen, zu was dieser Mann fähig war, der Frau anzutun, die er angeblich liebte und die immer wohlwollend ihm gegenüber gewesen war. Was erst würde er Nikki nun antun: jetzt, nachdem sie ihm offenbart hatte, ihn zu verlassen. Sie hatte ihn wütend gemacht. Zwei Wochen voller Angst waren bereits vergangen.

Wie erst musste es Nikki gehen, allein in seiner Gefangenschaft? Wie viel Angst musste sie haben?

„Kommst du noch mit ins Claires?“, das Volleyballtraining war gerade beendet. Während alle anderen Mädchen sich schnell umgezogen hatten und die Kabine nach und nach verließen, hatte Nikki noch in der Halle aufräumen geholfen und sich Zeit gelassen. Im Bademantel stand sie vor ihrem geöffneten Spint und schaute beschäftigt auf ihr Handy, während sie eigentlich nur darauf wartete, dass auch die letzten ihrer Teammitglieder den Raum verließen. „Wir wollten mit einigen aus dem Team hin.“

„Ja, klar“, sie lächelte ihrer besten Freundin über die Schulter zu. „Aber nur kurz, ich möchte Sascha nach seinem Feierabend abholen. Und ich will ihn nicht warten lassen.“ Lisa gefiel die Antwort nicht. Sie mochte ihn nicht, diesen Sascha. Sie konnte nicht verstehen, was ihre beste Freundin an ihm fand. Er war absolut selbstverherrlichend und besitzergreifend. Den Kommentar, den sie gerne abgeben wollte, verkniff sie sich. Nikki ließ nichts auf ihn kommen: Genau die Verherrlichung, die er für sich in Anspruch nahm, bediente sie durch und durch – zu Lisas absoluten Unverständnis.

„Okay. Dann warte ich auf dich.“

„Das ist nicht nötig. Ich komm nach. Geh ruhig mit den anderen vor.“

„Alles klar“, Nikki war noch keine drei Monate mit Sascha zusammen, doch sie selbst – und somit auch ihre Freundschaft - hatte sich schon in dieser kurzen Zeit verändert.

Nicht, dass sie nicht mehr beste Freundinnen waren und sich nicht mehr unglaublich nahestanden! Aber Lisa wurde das Gefühl nicht los, dass Nikki ihr nicht mehr alles anvertraute, ihr Dinge verschwieg. Nikki lachte weniger, schwieg häufiger – sie war stiller geworden. Lisa nahm ihren Rucksack, schloss ihren Spint und verschwand mit den letzten beiden anderen Teammitgliedern aus der Umkleidekabine. Nikki blieb allein zurück – endlich. Sie seufzte, zog den Bademantel gerade runter, als sie durch den kleinen Spiegel an der Innentür ihres Spints die Tür zur Kabine aufgehen sah.

„Ich habe den Schlüssel ver…“

Nikkis Bemühungen, den Bademantel hastig wieder über ihre Schultern zu ziehen und alles zu verdecken, waren umsonst gewesen.

„Was zur Hölle…“, der Schock stand Lisa buchstäblich ins Gesicht geschrieben. Nikki konnte es ihr nicht verübeln.

„Ich habe mich vor kurzem gestoßen. Ich bin gefallen und ungünstig gegen ein Regal geknallt.“ Ihr war klar, dass es wie eine billige Ausrede klang, die Lisa ihr wohl niemals abnehmen würde. Trotzdem war es genau das, was sie sich selbst so gern als Wahrheit einreden wollte. Lisa sagte nichts, aber im Spiegel konnte Nikki sehen, dass sich die Augen ihrer Freundin mit Tränen gefüllt hatten. „Es ist nicht so schlimm wie es aussieht.“

„Wenn du gefallen bist, …“, Lisa schloss die Tür hinter sich, „…warum hast du dann nichts davon erzählt?“, natürlich glaubte sie ihr kein Wort.

„Ich habe doch gesagt, es ist halb so wild. Ich habe es einfach vergessen.“

Nikki lächelte beschwichtigend: „Ich bin über meine Schuhe gestolpert.“ Sie versuchte betont witzig zu klingen, was unweigerlich die Frage aufwarf, wem sie hier eigentlich etwas vormachen wollte.

„War er das?“, Lisa spürte, wie ihre Hände zitterten, was sie instinktiv dazu veranlasste, sie zu Fäusten zu ballen, um dem Zittern ein Ende zu setzen.

„Was?“

„Hat Sascha dir das angetan?“, der Versuch ruhig zu bleiben scheiterte gänzlich. Unweigerlich drehte sie sich um, um sicher zu gehen, dass niemand sie hörte.