Mea Suna - Seelenschmerz - Any Cherubim - E-Book

Mea Suna - Seelenschmerz E-Book

Any Cherubim

0,0
2,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

"Mea Suna! Es ist vorbei", schreie ich verzweifelt, ziehe sie in meinen Schoss und halte sie fest. Sanft streiche ich blutverschmiertes Haar aus ihrem Gesicht. Ihr Kopf fällt nach hinten - Jades leblose Augen starren ins Leere. Manchmal reicht Liebe nicht aus, um das Schicksal aufzuhalten. Jade und Luca versuchen, ein normales Leben zu führen, doch die Zeit als Taluri hat Luca geprägt. Emotionen zuzulassen und mit der Schuld zu leben, ist für den Ex-Killer fast unmöglich. Seine Heimlichkeiten drohen ihre Liebe zu vernichten. Verzweifelt versucht Jade, Luca zu helfen, ihm seine Geheimnisse zu entlocken. Doch sie fürchtet, ihn an seine Vergangenheit zu verlieren. Wut und Verzweiflung lassen Jades Seelenschmerz aufflammen, ihre dunkle Gabe kehrt zurück - stärker und tödlicher als jemals zuvor.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Any Cherubim

Mea Suna - Seelenschmerz

Band 3

Solange ich stehen kann, kämpfe ich für dich, solange ich atme, verteidige ich dich, solange ich lebe, liebe ich dich. Autor unbekanntBookRix GmbH & Co. KG80331 München

Inhalt

 

 

»Mea Suna! Es ist vorbei«, schreie ich verzweifelt, ziehe sie in meinen Schoss und halte sie fest. Sanft streiche ich blutverschmiertes Haar aus ihrem Gesicht. Ihr Kopf fällt nach hinten - Jades leblose Augen starren ins Leere.

 

Manchmal reicht Liebe nicht aus, um das Schicksal aufzuhalten.

 

Jade und Luca versuchen, ein normales Leben zu führen, doch die Zeit als Taluri hat Luca geprägt. Emotionen zuzulassen und mit der Schuld zu leben, ist für den Ex-Killer fast unmöglich. Seine Heimlichkeiten drohen ihre Liebe zu vernichten. Verzweifelt versucht Jade, Luca zu helfen, ihm seine Geheimnisse zu entlocken. Doch sie fürchtet, ihn an seine Vergangenheit zu verlieren.

Wut und Verzweiflung lassen Jades Seelenschmerz aufflammen, ihre dunkle Gabe kehrt zurück - stärker und tödlicher als jemals zuvor.

 

 

 

 

 

 

Kapitel 1

Luca

 

Je länger ich Jade ansehe, desto mehr wird mir bewusst, welches Glück ich habe. Sie liegt vor mir auf unserer Picknickdecke und döst. Sie hier in La Rochelle sicher zu wissen, an meinem heiligen Ort, an dem ich nie Luca der Taluri war, ist für mich die Erfüllung. Sie weiß nicht, dass ich sie beobachte. Die Sonne lässt ihre Haut in einem schimmernden Braunton erscheinen, ihr langes Haar glänzt und ihre vollen Lippen reizen mich, sie zu küssen. Sie hat diesen strahlenden Ausdruck im Gesicht, der mich zufrieden stimmt. Jade ist glücklich - mit mir.

Mit einem Grashalm im Mund hänge ich meinen Gedanken nach und genieße das Meeresrauschen und den Wind, der die Wellen nicht weit von uns an die Felsen schlägt. Es ist ein schöner Sommertag. Jade, Pepe und ich sind schon den ganzen Nachmittag auf der Wiese, die direkt oberhalb vom Strand in der Nähe meines Hauses liegt.

»Luca ... Luca! Spielst du mit mir?« Von weitem winkt mir der kleine Pepe auffordernd zu. Um Jade nicht aufzuwecken, stehe ich auf und laufe zu ihm. »Okay, dann zeig mal deine Ballkünste. Pass mir den Ball zu«, fordere ich. Der Bursche lässt sich das nicht zweimal sagen und schnell finden wir ins Spiel. Voller Eifer luchsen wir uns gegenseitig den Ball ab. Oft muss ich lachen, weil sich der Knirps gar nicht dumm anstellt und ich zeitweise Mühe habe, den Ball zu behalten. Ich muss mir etwas einfallen lassen, um nicht wie ein Idiot vor ihm dazustehen. Lachend nehme ich einfach seinen kleinen Körper, trage ihn wie einen Gegenstand locker unterm Arm und erobere mir so den Ball. Er quiekt und kichert. »Luca! Das ist unfair!«

»Also wirklich! Du bist viel besser als ich - das ist unfair!« Wir haben solchen Spaß zusammen. Mit dem Jungen unter meinem Arm dribble ich den Ball, während er kichernd versucht, sich zu befreien. Kaum lasse ich ihn wieder runter, ergaunert er sich die Pille und schießt sie über die Wiese.

»Ich hol ihn schon«, ruft er und rennt los. Pepe ist wirklich talentiert. Vielleicht sollte er in einer Fußballmannschaft trainieren. Er besitzt gute Reflexe, ist flink und gelenkig - beste Voraussetzungen für ...

Ein merkwürdiges Gefühl unterbricht meine Gedanken. Etwas stimmt nicht. Mein Blick wandert über die Wiese zu Pepe und Jade, die immer noch schläft. Ich kenne diese Emotion - sie bedeutet nichts Gutes. Das ergibt keinen Sinn. Ich halte inne und sehe mich um. Wir sind allein, selten verirrt sich jemand in diese abgelegene Gegend. Versteckt sich jemand dahinten bei den Bäumen? Der Wind lässt die Äste wanken und die Blätter rascheln, aber erkennen kann ich nichts. Verdammt! Was ist hier los? Ich spüre ganz deutlich Gefahr!

»Ich hab den Ball, Luca!« Pepes Lächeln gefriert, als er meinen ernsten Ausdruck erkennt. »Was ist los?«

»Ich weiß es nicht. Wir sollten zum Haus zurück«, sage ich so ruhig wie möglich. »Komm, wir wecken Jade.« Mein Gefühl verstärkt sich. Eigentlich sind wir hier in La Rochelle abgeschieden und sicher.

»Sie ist schon wach«, ruft Pepe.

Jade richtet sich auf. »Was ist denn los?« Sie runzelt die Stirn, spürt die Bedrohung, genau wie ich. Noch bevor ich antworten kann, sehe ich den Grund auf uns zukommen.

»Oh Gott, Luca! Was ist hier los?« Jades Stimme zittert und in ihren Augen sehe ich Angst aufflackern. Aus den Bäumen schießen unzählige, schwarze Maori-Krähen auf uns zu. Ich erkenne sie an den blauen Flecken am Kopf und dem kleinen Spy an ihren Füßen. Sie gleiten krächzend über die Wiese und kreisen über unsere Köpfe. Schützend nimmt Jade Pepe in ihre Arme. »Was hat das zu bedeuten?«

»Ich weiß es nicht.« Doch im Grunde weiß ich es. Die Vögel haben uns im Visier. Wir müssen uns in Sicherheit bringen, die Maoris handeln nicht aus freien Stücken. An ihren Füßen blinkt das kleine rote Licht. Wir werden gefilmt, ausspioniert, wie ich es aus meiner Zeit als Taluri kenne. Sie belauern uns, warten auf einen günstigen Angriffsmoment.

»Wir müssen verschwinden und zwar sofort ... Wir gehen langsam ein Stück über die Wiese. Wenn ich "los" sage, rennt ihr, so schnell ihr könnt.« Pepe hält ängstlich meine Hand. »Hast du mich verstanden?«, frage ich ihn nachdrücklich. Er nickt.

Ich sehe zu Jade. »Im Haus verschließt ihr sofort Fenster und Türen und packt eure Sachen. Wir müssen hier weg. Ich werde versuchen, sie abzulenken.«

»Aber ...!« Mit großen Augen sieht Jade mich aufgebracht an.

»Ich werde nachkommen - versprochen.« Kurz war sie versucht, mir zu widersprechen, aber sie weiß, dass mit jeder Sekunde wertvolle Zeit verstreicht. Schließlich nickt sie. Zögerlich laufen wir über das Gras, behalten die Vögel im Blick. Mit jedem Schritt, den wir machen, krächzen sie wild durcheinander.

»Ich habe Angst, Luca.« Pepes kleine, verschwitzte Hand drückt meine.

»Bleib ganz ruhig. Und denk an das, was ich gesagt habe. Wenn ich "los" rufe, rennt ihr so schnell ins Haus, wie ihr könnt.«

Auf halbem Weg lasse ich Pepes Hand los und verlangsame meinen Schritt, während Jade Pepe mit sich zieht. Sie sieht mich noch kurz an. Ihr Blick verrät sie - sie hat Angst, weiß nicht, was hier geschieht.

Das Krächzen der Maoris wird lauter und ich höre das unruhige Flattern ihrer Flügel. Sie machen sich bereit für den Angriff. Jetzt sind es nur noch Sekunden.

»Los!«, schreie ich, als ich die ersten Krähen tiefer fliegen sehe. Sofort rennen wir los. Ich habe noch keine Ahnung, wie ich die Vögel von den beiden ablenken kann, da entdecke ich nicht weit von mir einen Ast im Gras. Blitzschnell laufe ich hin, hebe ihn auf und stürme den Maoris hinterher, die Jade und Pepe folgen. »Schneller«, rufe ich Jade und Pepe zu.

Pepes rote Locken wirbeln wild durcheinander und ich höre seinen ängstlichen Atem, während Jade ihn, getrieben vom Adrenalin, mit sich zieht. Immer wieder blicken sie hinter sich, sehen, wie die Vögel näherkommen. Es trennen sie nur noch wenige Meter. Ich renne schneller. Mit lautem Gebrüll will ich die Krähen vertreiben. Es funktioniert - zumindest ändern einige von ihnen ihre Richtung und greifen mich an. Ich schwinge den Ast, schlage nach ihren Körpern und treffe. Federn fliegen durch die Luft und ihre Leiber fallen dumpf ins Gras. Mitten im Kampf sehe ich, dass Jade und Pepe kaum eine Chance haben. Es sind einfach zu viele. Sie schreien und wehren sich, versuchen mit aller Kraft, die Maoris loszuwerden, die mit ihren spitzen Schnäbeln in die bereits blutbefleckte Haut picken. Vom Adrenalin angepeitscht, rase ich zu ihnen. Pepe schreit und wälzt sich vor Schmerz auf dem Boden. Sechs Vögel sitzen auf ihm und beißen sich tief in sein Fleisch. Zwei der schwarzen Teufel krallen sich in meinen Rücken, doch ich nehme die scharfen Schnäbel kaum wahr. Den Ast schwingend, treffe ich die Krähen, die sich wild an Pepe zu schaffen machen. Ich bin außer mir, die Schreie des Kindes und die Gewissheit, dass auch Jade in großen Schwierigkeiten steckt, machen mich rasend. Sie fressen sich in den kleinen Körper. Pepes Wimmern geht mir durch Mark und Bein. Der alte Hass schleicht sich durch meine Eingeweide, gepaart mit der Flut von neuen Gefühlen, die mich nach wie vor verwirren. Die verbotene Angst wird stärker. Sie bedeutet Schwäche und wird meist von Versagen begleitet - diesen Kampf darf ich nicht verlieren, ich muss die beiden retten. Da bekomme ich den Flügel einer Krähe zu packen und breche ihn aus seinem Gelenk - es knackt. Einem weiteren Vogel reiße ich den Kopf ab und lasse den toten Leib einfach fallen. So mache ich weiter, bis Pepe befreit ist. Schnell wende ich mich schwer atmend zu Jade. Panik ergreift mich, als ich ihren leblosen Körper auf dem Boden liegen sehe. Die Biester haben sie böse erwischt. Sie blutet stark an unzähligen Stellen. Angst und unsagbarer Hass wallen in mir auf. Ich werfe mich auf die Monster, töte eines nach dem anderen, höre erst auf, als das letzte Krächzen verstummt ist. Schwarze, blutige Federn kleben an meinen Händen. Ich zittere, als ich neben ihr niederknie. Sie liegt blutverschmiert und schwer verletzt auf der Wiese.

»Mea Suna! Es ist vorbei! Hörst du mich?«, schreie ich, ziehe sie in meinen Schoss und richte sie auf. Da knickt ihr Kopf nach hinten weg und ihre leblosen Augen starren ins Leere.

 

***

 

»Luca! Luca, wach auf!« Eine sanfte Stimme drang in mein Bewusstsein und rüttelte mich. »Luca ...!«

»Nein!!! Jade!!!« Schreiend schreckte ich hoch. Den unendlich tiefen Schmerz und Jades toter Körper hatte ich noch genau vor Augen. Tränen stiegen auf, die ich krampfhaft zu unterdrücken versuchte. Ich hielt die Luft an und presste meine Hände vors Gesicht. Ich war schweißgebadet und brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, dass das alles nur ein Traum gewesen war. Nur langsam verschwammen die Bilder und eine unsagbare Erleichterung legte sich auf meine Brust nieder, als ich Jade lebendig neben mir spürte.

»Hey, alles in Ordnung?« Ihre Hand fuhr beruhigend über meinen Rücken. Um Fassung ringend, drehte ich mich zu ihr um, umarmte sie und sog tief ihren Duft ein. Ich brauchte das, musste sie fühlen und bewusst wahrnehmen, bis ich die Schrecken der Nacht hinter mir lassen konnte.

»Es war nur ein Traum«, flüsterte sie leise. Sie hatte recht. Ihr war nichts geschehen, sie war gesund und niemand griff uns hier in La Rochelle an. Als ich den ersten Schock verdaut hatte, löste ich mich aus der Umarmung und zog mein nasses Shirt aus.

»Willst du mir davon erzählen?«, fragte sie mit sanfter Stimme.

Ich wollte ihr nicht von meinen Albträumen berichten, sie hatte schon genug durchgemacht. »Nein, es ist vorbei, mir geht es gut. Lass uns weiterschlafen«, sagte ich, legte mich zurück in die Kissen und zog sie in meine Arme.

»Luca, du weißt, dass du mir alles sagen kannst.«

»Ja, das weiß ich.« Ich küsste sie auf die Stirn. »Danke, dass du mich geweckt hast.« Sie kuschelte sich an mich und es dauerte nicht lange, bis ich Jades gleichmäßige Atemzüge hörte. Mein Mädchen schlief, doch ich war hellwach. Innerlich war ich aufgewühlt und musste an die Bilder denken, die mich in dieser Nacht heimgesucht hatten. Ich träumte oft. Meistens handelten die Träume von meiner Vergangenheit, den schrecklichen Dingen, die ich gesehen und getan hatte, von der Zeit als Taluri und meiner Kindheit.

Die Erinnerungen waren unerträglich. Schließlich hielt ich es im Bett nicht mehr länger aus. Kopfschmerzen vermischten sich mit dem Gefühl, nicht länger ruhig liegen zu können. Meine Brust verengte sich, ich musste hier raus. Vorsichtig löste ich mich von Jade, in der Hoffnung, sie nicht zu wecken. Sie seufzte und drehte sich um. Leise verließ ich das Schlafzimmer. Immer wieder hallten Pepes Schreie aus dem Traum in meinem Kopf nach. Seine angsterfüllten Augen, sein Schmerz ... die Bilder quälten mich, sodass ich die Tür des Gästezimmers öffnete, um den kleinen Jungen anzusehen. Ein leichter Frieden empfing mich, er schlief tief und fest - es ging ihm gut. Im Halbdunkeln sah ich seine roten Locken, die vom Mondlicht angestrahlt wurden. Ein Lächeln huschte über meine Lippen. Alles war friedlich.

Leise schloss ich die Tür vom Haus und machte mich auf den Weg zum Strand, lief die Böschung hinunter. Erst als der Wind mir ins Gesicht blies, fühlte ich mich besser. Leichtfüßig kletterte ich die kleine Klippe hinauf und setzte mich nahe der Brandung auf einen Felsblock. Hier konnte ich in Ruhe über vieles nachdenken - ich mochte diesen Platz.

Ich zog das Handy aus meiner Hosentasche und wählte im Menü die gespeicherten Nachrichten. Gezielt suchte ich nach den Mitteilungen meines jüngsten Bruders Miguel. Immer wieder musste ich seine Nachricht durchlesen, denn es war sein letztes Lebenszeichen, bevor man mich informierte, dass er sich erhängt hatte. Seine letzten Worte klangen so verzweifelt und verängstigt. Ich selbst hatte ihm den Spy entfernt und fühlte mich für seinen Tod mitverantwortlich. Die Flut an Emotionen, die nach der Entfernung des Spys auf ihn eingeströmt und die Erinnerungen, die zurückgekehrt waren, hatten ihm den Rest gegeben.

 

»Scheiße Bruder, ich pack das nicht. Ich bin nicht wie du. Nichts ergibt mehr einen Sinn und ich bin müde ... so müde. Bitte verzeih mir. Ich kann einfach nicht anders. Vielleicht werden wir uns eines Tages wiedersehen. Miguel«

 

Seine Worte hallten in mir nach, brachten mich dazu, mich selbst zu hassen. Ich hätte besser auf ihn aufpassen müssen. Aber so durfte ich jetzt nicht denken. Durch Jade wusste ich, dass es Vergebung gab, in ihrer Gegenwart fühlte ich sie. Sie ließ mich tief einatmen und alles Geschehene rückte in weite Ferne. Es fühlte sich leicht und fließend an, fast wie Glück, und trotzdem überkamen mich in manchen Stunden dunkle Gedanken, die mich glauben ließen, kein normales Leben verdient zu haben.

Es war Sommer. Jade und ich waren erst vor ein paar Tagen von unserer Europatour zurückgekehrt. Wir hatten ganz wundervolle Monate in Europa verbracht, bis auf die lächerlichen Drohbriefe, die ich bisher nicht ernst genug genommen hatte.

In La Rochelle wollten wir uns nun ein wenig ausruhen. Pepe durfte ein paar Tage bei uns verbringen. Seit er bei einer Pflegefamilie untergekommen war, konnte er sich langsam von der Vergangenheit erholen. Er wuchs bei den Familos auf, die selbst zwei eigene Kinder in seinem Alter hatten. Prof. Tramonti hatte für Pepe die Familie ausgesucht. Anfangs war ich eher skeptisch gewesen, weil Rosaria und Angelo Familo ausgerechnet in Rom lebten. Trotzdem schafften sie es, dem Kind ein liebevolles Zuhause zu geben. Ich hing an dem Lockenkopf und hatte mich gefreut, als der Anruf von Prof. Tramonti kam, dass der kleine Kerl ein paar Tage bei uns verbringen durfte. Allerdings erinnerte er mich an alles Vergangene, was ich zu vergessen versucht hatte. Das Leben in den Katakomben unterhalb der Villa Ada, unsere Kindheit und die damit verbundenen Grausamkeiten. Tief in mir regte sich immer noch blinde Wut und Verzweiflung, wenn ich an Morgion und Rabas dachte. Obwohl beide tot waren und ich endlich die verschiedenen Emotionen kennenlernen durfte, verblassten die Bilder meiner Vergangenheit nicht. Es war schwer zu begreifen, was man aus uns gemacht hatte - wir mussten mit diesen Erinnerungen leben. Jade half mir durch viele schlimme Momente, aber ich wusste genau, dass meine Brüder Probleme mit ihrem "Normalsein" hatten. Vor ein paar Monaten nahm sich Toni durch einen Kopfschuss das Leben. Er hatte nach Morgions Tod zurückgezogen in Mexiko gelebt, es schien, als würde er klarkommen. Doch die Wahrheit sah anders aus: wir Taluris waren emotionale Krüppel - Marionetten, die sich zwar von den Fäden befreit hatten, aber nicht die Energie fanden, selbstständig durchs Leben zu gehen. Wir waren nicht fähig, in dieser Welt zu bestehen. Die zweite Todesnachricht meines jüngsten Bruders Miguel vor zwei Tagen traf mich so, dass die Albträume wieder stärker und intensiver zurückkehrten. Miguels Tod war schwer auszuhalten. Erst recht, weil er mir kurz zuvor geschrieben hatte, dass er heiraten wollte und zum ersten Mal in seinem Leben wirklich glücklich wäre.

Ausgerechnet diese beiden, Miguel und Toni, hatten schlimme Folter und Ungerechtigkeiten erleiden müssen. Was, wenn ich diese Erinnerungen und Bilder irgendwann nicht mehr ertragen konnte? Was, wenn ich aus meiner neuen Freiheit keine Kraft schöpfen konnte? Was würde dann aus Jade werden oder aus dem kleinen Pepe? Ich empfand Liebe für sie. Dieses Gefühl erfüllte meinen Körper, gab mir Mut. Ich hatte tausend Fragen, die meine Zukunft betrafen, und tausend Fragen, in denen es um meine Vergangenheit ging. Ich wollte wissen, wo meine Wurzeln waren, wer mich geboren hatte. Wo war ich aufgewachsen? Wann war ich zu Morgion gekommen und warum? Gab es jemals eine Familie, die um mich geweint hatte?

Die Kopfschmerzen wurden jetzt etwas besser. Nur der Schmerz in meiner Brust würde wohl nie vergehen.

Kapitel 2

Jade

 

Ich war sofort wach, als meine Hand den leeren Platz neben mir abtastete - er war kühl. Normalerweise wärmte mich Lucas Körper. Ich richtete mich auf und sah mich um. Es war noch dunkel draußen, nur das Mondlicht schimmerte in das Zimmer.

Wo war er?

Ich schlüpfte in eine Shorts, tapste leise durch den Flur, schaute im Wohnzimmer nach. Auch hier war keine Spur von ihm. Nachdenklich ging ich in die Küche, nahm eine Wasserflasche aus dem Kühlschrank, trank ein paar Schlucke und blickte durchs Fenster. Das Meer rauschte friedlich, der Strand war nicht weit vom Haus entfernt. Nur manchmal schäumte die Brandung an der kleinen Felsformation auf. Da entdeckte ich eine dunkle Gestalt, die einsam und allein auf einem der Felsen saß und aufs Meer hinausblickte. Ich wusste sofort, dass das nur Luca sein konnte. Was tat er um diese Zeit da draußen? Hatten die Träume ihn nicht wieder einschlafen lassen? Mein Herz zog sich zusammen, als ich darüber nachdachte, wie fürchterlich seine Vergangenheit für ihn gewesen sein musste. Während unserer Europatour war er nachts oft völlig verwirrt aufgewacht. Es dauerte meistens ein paar Minuten, bis er begriffen hatte, dass alles vorbei und wir in Sicherheit waren. Nachdenklich biss ich auf meine Lippe und beschloss zu ihm zu gehen. Im Schlafzimmer zog ich mir schnell eine dünne Jacke über, schlüpfte in meine Schuhe und verließ das Haus.

Das Rauschen der Brandung war deutlich zu hören und eine warme Brise strich über meine Haut. Ich lief die kleine Erhöhung hinunter, bis ich den Strand erreichte. Noch hatte er mich nicht bemerkt. Das Wasser war hier viel unruhiger und der Wind nahm zu. Vorsichtig kletterte ich die kantigen Felsen entlang.

»Jade? Was machst du hier?« Luca hatte mich entdeckt. Balancierend stieg ich den Felsblock hinauf, auf dem Luca bereits wartete und mir seine Hand reichte. Dankbar ergriff ich sie.

»Das gleiche könnte ich dich fragen«, sagte ich, als ich sicheren Stand unter den Füßen hatte. »Neben mir war es so kalt und leer im Bett.«

Er kratzte sich am Hinterkopf. »Tut mir leid, ich wollte dich nicht stören.« Er hielt meine Hand und wir setzten uns. Seine Stimmung war merkwürdig. Er wirkte traurig, um seine Augen hatten sich viele kleine Fältchen gebildet.

»Konntest du nicht wieder einschlafen?«

Er schüttelte den Kopf.

»Willst du mir davon erzählen?«, versuchte ich es weiter.

Er brauchte eine Weile, bis er mir eine Antwort gab. »Das Übliche.« Ein gequältes Lächeln legte sich auf seine Lippen.

»Manchmal hilft es, wenn man darüber redet«, forderte ich ihn auf, auch wenn ich damit rechnete, dass er mir wieder einmal seine Träume verschweigen würde.

»Das willst du nicht wissen, Jade!«

»Irrtum! Ich will alles von dir wissen, selbst deine schlechten Eigenschaften.«

»Tja, leider habe ich keine«, grinste er.

Ich hob die Brauen und stupste ihn in die Rippen. »Angeber! Soll ich mal anfangen aufzuzählen?«

Jetzt lachte er laut.

»Also zum einen wären da deine Socken, die du überall im Haus liegen lässt. Du scheinst eine Vorliebe dafür zu haben, sie unter dem Wohnzimmertisch zu sammeln. Ist das eine Art Reviermarkierung oder so was?«

Jetzt lachten wir beide und ich hakte mich bei ihm unter. »Aber zurück zum Thema. Natürlich will ich von den Dingen wissen, die dich beschäftigen. Und ganz besonders will ich wissen, was dich quält.« Im Mondlicht sah ich, wie sich sein Adamsapfel beim Schlucken bewegte. Es fiel ihm eindeutig nicht leicht, darüber zu sprechen. Geduldig wartete ich, gab ihm die Zeit, die er brauchte. Seit seiner Kindheit wurde ihm eingebläut, niemals Schwäche zu zeigen. Das Gefühl der Angst war ihm verboten worden - logisch, dass er selten darüber sprach.

»Ich träume von Ereignissen, die geschehen sind, bevor ich damals das Spying erhalten habe.«

»Du meinst, als du noch ein Kind warst?«

Er nickte.

»Erzähl mir davon.«

Wieder schluckte er. »In meiner Ausbildung war ich stets der Beste in allen Disziplinen, hielt mich an die Regeln ... Ich funktionierte so, wie es von einem angehenden Taluri erwartet wurde. Aber die anderen wurden oft bestraft, weil sie Schwäche zeigten, oder weil sie die Leistung nicht aufbringen konnten, oder weil Rabas einfach Freude am Quälen hatte ... Ich tat alles, um den Strafen zu entgehen - wir alle taten das. Leider musste ich oft mit ansehen, dass manche keine Chance hatten. Unser Aufseher war für seine ausgefallenen Züchtigungen bekannt.«

Ein Schauer fuhr mir den Rücken hinunter, wenn ich an diesen Dreckskerl Rabas dachte. Ich selbst hatte ihn getötet, dennoch spürte ich, wie er nach wie vor, wie ein Geist in Lucas Seele festhing. Er hatte noch sehr viel Macht über ihn.

»Eines Tages sollten die ersten Taluris ausgewählt werden. Wir waren zweiundzwanzig Jugendliche, kaum älter als zwölf - eigentlich noch Kinder. Wer die Prüfungen bestand, bekam ein spezielles Training und wurde auf das Leben als Taluri und dessen Aufgaben draußen vorbereitet.«

Ich schüttelte den Kopf, konnte mir nicht vorstellen, wie schrecklich seine Kindheit gewesen sein musste. Es war ein Wunder, dass Luca und auch die anderen Taluris noch lebten, geschweige denn sich wie Menschen verhielten.

»Jedenfalls habe ich als Kind viel gesehen und ... getan, was ich niemals hätte sehen oder tun dürfen - kein Kind sollte das. Ich bekomme diese Bilder nicht aus dem Schädel.« Sein Blick war starr aufs Meer gerichtet und ein eisiger Zug lag auf seinen Lippen. Er war immer noch wütend und voller Bitterkeit.

»Es ... tut mir so leid. Ich wünschte, ich hätte dich damals, als ich dich geheilt habe, auch davon befreien können«, entschuldigte ich mich. Für einen Moment sehnte ich meine Gabe zurück. Auch wenn ich nicht wusste, ob diese Heilung bei ihm jemals funktioniert hätte.

»Ist schon gut. Du hilfst mir mehr als du denkst.« Er legte einen Arm um meine Schultern und küsste meine Schläfe. Eine Weile saßen wir so da und blickten aufs Meer hinaus.

»Jade?«

»Hm ...?«

»Bist du glücklich?«

Ich schaute zu ihm auf. »Wie meinst du das?«

»Ich meine, bist du zufrieden so, wie dein Leben jetzt ist?«

Zufrieden? Glücklich? Natürlich war ich glücklich mit ihm. Ein Leben ohne Luca konnte ich mir gar nicht mehr vorstellen. Zugegeben, ich hatte Heimweh - manchmal. Mein Zuhause existierte nur noch in meiner Erinnerung. Luca gab mir Halt und war eine feste Konstante in meinem Leben. Außerdem gab es noch Amy und die Padres in Madrid und Agnes natürlich.

»Solange du bei mir bist, bin ich glücklich. Warum fragst du?«

»Weil ich in letzter Zeit viel nachdenke über ... alles.«

»Ist es, weil du denkst, dass du ein freies Leben nicht verdient hast?« Er zögerte und ich wusste, dass ich ins Schwarze getroffen hatte. »So etwas darfst du nicht denken, Luca.«

»Das allein ist es nicht. Ich frage mich, wer ich war, bevor ich zu Morgion kam. Ich meine, ich hatte doch bestimmt eine Familie oder zumindest eine Mutter, die mich geboren hat. Manchmal ... träume ich von einer Frau. Sie sieht mich lächelnd an. Ich habe das Gefühl, dass sie alles über mich weiß.«

»Kannst du dich denn an jemanden erinnern, bevor du ...«

»Nein, da ist nichts, nur Leere.«

»Wir könnten versuchen, etwas herauszufinden«, sagte ich. Luca blickte mich an. Er schien erstaunt über meinen Vorschlag, aber auch gleichzeitig erleichtert. »Ich kann mir vorstellen, wie du dich fühlst. Als Amy damals entführt wurde und ich nicht wusste, was mit ihr geschehen war, hat mir das auch keine Ruhe gelassen. Einen Versuch wäre es wert.«

»Ja, vielleicht. Na komm, genug von den Horrorgeschichten. Wir sollten noch ein paar Stunden schlafen, bevor der Lockenkopf uns den ganzen Tag auf Trab hält«, beendete er das Thema, stand auf und zog mich mit sich. Arm in Arm liefen wir zurück zum Haus und legten uns schlafen. Ganz eng kuschelte ich mich an ihn. Unser Gespräch hatte mich aufgewühlt und auch in meinem Kopf waren die Erinnerungen an Rom und das, was ich dort erlebt hatte, wieder präsent. Natürlich war mir klar, dass Luca nicht gern über unsere - und besonders über seine - Vergangenheit sprach. Er nutzte jede Möglichkeit, um mich abzulenken. Ich ließ es geschehen, in der Hoffnung, er würde mir eines Tages alles erzählen. Er war sehr verschwiegen, was seine Lebensgeschichte betraf, trotzdem war ich glücklich mit ihm. In den letzten Monaten durfte ich einen ganz anderen Luca kennenlernen. Einen Mann, der leidenschaftlich, witzig und einfühlsam war. Voller Tatendrang hatte er mir Europa gezeigt - jene Orte, die ich einst mit Tom erleben wollte.

Hin und wieder dachte ich an Früher. Dann erinnerte ich mich an den blutigen Moment, als Tom von den Taluris erschossen wurde, an Onkel Finley, der Amy und mich jahrelang belogen und doch gleichzeitig beschützt hatte, und an Mr. Chang, dessen Schicksal ich erst begriff, als er gestorben war. Morgion und sein Helfer Rabas hatten Leid und Tod über so viele Menschen gebracht. Traurigkeit schlich sich in mein Herz, wenn ich an das Vergangene dachte. An jedem einzelnen Tag unserer Reise musste ich an Tom denken. Ich war mir sicher, er wäre genauso begeistert von all den Städten, ihren Kulturen und den Sehenswürdigkeiten gewesen wie ich. Die Berliner Mauer erinnerte mich an Bayville - mein eigenes kleines Gefängnis, das ich mit schönen wie auch schrecklichen Erinnerungen verband. Ich war tief berührt, als ich vor einem kleinen Stück des historischen Gemäuers stand, das ich nur aus dem Geschichtsunterricht kannte. Luca erstaunte mich immer wieder mit seinem unglaublichen Wissen über die einzelnen Gebäude, Denkmäler und Geschichten, die sich um die Bauten rankten. In Griechenland sahen wir uns die Akropolis und die vielen Inseln an. Die weißen Hausfassaden wirkten von Weitem wie schneebedeckte Eilande. In Paris tranken wir französischen Kaffee und aßen Croissants. Natürlich fuhren wir mit dem Aufzug den Eiffelturm hinauf und ließen uns von der Stadt der Liebe berauschen. In der Schweiz überraschte Luca mich mit einem Hubschrauberrundflug über die Alpen und im Frühjahr mit einer kleinen Polarlichtreise ans Nordkap. Nur manchmal spürte ich seine Nervosität. Dann verließen wir überstürzt das Hotel, in das wir gerade eingecheckt hatten. Er war sehr um meinen Schutz besorgt und witterte manchmal hinter jeder Ecke Gefahr - was mich oft zum Schmunzeln brachte.

All die Monate waren an uns vorbei gerast. Wir hatten uns von der Leichtigkeit des Lebens treiben lassen und die Freiheit genossen. Es hatte sich wunderbar angefühlt, frei zu sein, keine Angst mehr zu haben - so ganz ohne Mauern und Vorschriften. Ich liebte mein neues Leben. Die Tage waren fast immer nur von Glück und Zufriedenheit beseelt. Wir liebten und verstanden uns auch ohne viele Worte. Wir kochten, putzten und räumten gemeinsam auf. Einzig seine Socken, die er gerne überall liegen ließ, gingen mir auf die Nerven, aber lange konnte ich ihm nie böse sein. Mit seinem Charme brachte er mich wieder dazu, ihm seine Unachtsamkeit zu verzeihen. Niemals hätte ich geglaubt, einmal seine Nähe zu brauchen. Früher hatte er sich mir keine zehn Meter nähern dürfen, weil der Impuls, mich töten zu wollen, durch den Spy zu groß gewesen war. Seit Luca seinen Spy mit den Fingern aus dem Oberarm gebohrt und sich dadurch selbst von Morgion befreit hatte, genoss er meine Gegenwart umso mehr. Aber ich spürte ganz deutlich, dass da etwas war, das Luca von mir entfernte.

 

***

 

Am nächsten Morgen wurde ich durch ein Kitzeln an meiner Nase und leises Gekicher geweckt. Ich öffnete ein Auge und sah Pepe. Er saß mit einer Feder von Gavin in der Hand vor mir und grinste frech. Die Jalousien wurden hochgezogen und Tageslicht erhellte augenblicklich das Zimmer.

»Guten Morgen, Schlafmütze. Zeit zum Aufstehen.«

»Morgen.« Ich gähnte laut und streckte mich. »Wie spät ist es denn?«

»Gleich acht.«

Mitten in der Bewegung hielt ich inne. »Acht? Spinnt ihr? Wieso weckt ihr mich so früh?« Luca öffnete das Fenster und drehte sich lachend zu mir um. »Weil wir heute einiges erledigen müssen, wenn wir morgen nach ... Bayville fliegen wollen.« Er strahlte über das ganze Gesicht.

»WAS!?« Sofort war ich hellwach. »Nach Bayville?« Ungläubig starrte ich Luca an. Er trat zum Bett und setzte sich zu mir. »Der Professor war endlich einverstanden und ich dachte, es würde dir gut tun, Agnes wiederzusehen.«

»Aber ...« Ich war sprachlos. Bayville - mein altes Zuhause. Manchmal vermisste ich es. Seit das Grundstück in die Luft geflogen war, war ich nicht mehr dort gewesen. Alle Informationen, die ich dazu erhalten hatte, stammten von Prof. Tramonti und den Nachrichtensendern. Offiziell hatte man Amy und mich für tot erklärt; niemand außer Agnes und den Padres wussten von unserer Existenz. Dank Prof. Tramonti und Lucas Kontakten, hatten wir mit gefälschten Pässen die Grenzen Europas passieren können, trotzdem war ich ständig nervös gewesen, Onkel Finley war schließlich kein Unbekannter. Auch wenn er damals stets darauf geachtet hatte, dass Amy und ich keine Bilder von uns ins Netz stellten, blieb immer ein Restzweifel bestehen, doch erkannt und erwischt zu werden. Vor ein paar Monaten hatte ich den Wunsch geäußert, nach Bayville gehen zu dürfen, doch zu diesem Zeitpunkt hielten Luca und auch der Professor es noch für zu gefährlich.

»Meine Kontaktperson hat uns heute Früh grünes Licht gegeben ... Du willst doch immer noch nach Bayville, oder?«, fragte Luca jetzt etwas unsicher.

»Äh ... ja, natürlich.« Ich konnte es immer noch nicht glauben. Ich würde wirklich nach Bayville fliegen. Meine Güte! »Oh Luca! Ich weiß, gar nicht was ich sagen soll.«

»Dann sag einfach nichts und freu dich darauf. Agnes kann es kaum erwarten, dich zu sehen. Wir werden ein paar Tage in ihrem Haus verbringen.«

»Agnes und Ron!« Voller Vorfreude warf ich mich in Lucas Arme. »Ich fliege nach Bayville! Ich fliege wirklich nach Hause!« Kurz musste ich schlucken, damit ich nicht anfing zu weinen. Mir war klar, dass ich meine Heimat nicht so vorfinden würde, wie ich sie in Erinnerung hatte, aber das alles nahm ich in Kauf.

Luca löste sich ein wenig aus meiner Umarmung. »Du weißt, dass wir vorsichtig sein müssen, Jade.«

Ich nickte. »Und Pepe? Er kommt doch mit uns oder?« Lächelnd streichelte ich ihm über den Kopf. Auch er schien sich über die Reise zu freuen.

»Natürlich kommt er mit.« Luca war immer für eine Überraschung gut. Ich war völlig durcheinander. Vor ein paar Stunden hatte ich mir Sorgen um ihn gemacht und jetzt lenkte er mich wieder von seinen Problemen ab.

»Komm frühstücken, Süße. Wir haben einiges zutun.«

»Okay, ich spring schnell unter die Dusche.« Pepe und Luca verließen das Schlafzimmer. Bilder aus meiner Erinnerung flackerten auf. Sie schmerzten, weil mir klar wurde, dass es nie wieder so werden würde, wie damals. Alles war vernichtet worden und vieles hatte sich verändert. Aber ich konnte es nicht erwarten, Agnes und Ron endlich wiederzusehen und die Luft in Bayville einzuatmen.

Nach dem Frühstück waren Luca und ich damit beschäftigt, das Haus aufzuräumen und alles für unsere Abreise vorzubereiten. Pepe spielte draußen im Garten mit Gavin. Ich war so aufgeregt und sah ständig nervös auf die Uhr. Die Zeit wollte einfach nicht vergehen.

»Du musst ruhiger werden, Liebling. Unser Flieger kommt erst heute Nacht.«

»Du weißt, dass ich immer Angst habe, wenn wir durch den Zoll gehen müssen.«

»Ich weiß, aber das brauchst du nicht. Wir werden als Familie Whiteman einreisen und Oma Agnes wird uns am Flughafen empfangen«, entgegnete er und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen die Arbeitsplatte neben der Waschmaschine.

Ich war jedes Mal ein Nervenbündel und diesmal hatten wir auch noch Pepe dabei. Was, wenn die Beamten unser Spiel durchschauen würden? Wie immer kaute ich auf meiner Lippe und versuchte dabei, einfach nicht daran zu denken - was aber recht schwierig war. Ich zog die gewaschenen Klamotten aus der Trommel und lud sie in einen Korb.

»Komm mal her, Mea Suna«, forderte Luca mit rauer Stimme, schlang seine Arme um meine Mitte und drückte mich sanft an sich. Sein Duft stieg mir verführerisch in die Nase. »Soll ich dir zeigen, wie schnell du deine Zweifel vergessen kannst?« Seine Augen funkelten schelmisch.

»Ich muss mich um die Wäsche kümmern, sonst fliegen wir heute Nacht mit leeren Koffern. Die macht sich nicht von allein.«

»Du bist eben eine kleine, perfekte Hausfrau«, grinste er.

»Gewöhn dich lieber nicht daran«, zog ich ihn auf. Seine Augen glühten vor Verlangen, was mein Herz schneller schlagen ließ. Schon berührten mich seine warmen Lippen und augenblicklich entspannte ich mich, vergaß alles um uns herum. Luca hatte Macht über meinen Körper. Seine starken Arme legte er auf meinen Rücken und ließ seine Hände wandern. Hitze und das typische Kribbeln, das Luca in mir verursachte, stiegen in mir auf. Er war sanft, doch gleichzeitig spürte ich genau, dass sehr schnell mehr aus seinem Kuss werden könnte. Er forderte und lockte mich, sodass ich keine andere Wahl hatte und mich seiner Leidenschaft hingab. Seine Hände fuhren hinunter zu meinem Hintern, mit leichtem Druck kniff er hinein. Sein Mund wanderte plötzlich meinen Hals entlang und reizte meinen Nacken. Sanft biss er hinein, was mir ein leises Stöhnen entlockte.

Gerade wollte er mich hochheben, um mich auf der Waschmaschine zu nehmen, da hielt er abrupt in seiner Bewegung inne.

»Was ist los?«, wollte ich benommen von ihm wissen und folgte seinem Blick zur Tür. Pepe stand dort und hielt sich die Hände vor die Augen. Sofort befreite ich mich aus Lucas Armen und richtete verlegen mein Shirt.

»Pepe? Was ist denn los?« Warum hielt er sich die Hände vors Gesicht?

»Seid ihr endlich fertig?«

Luca lachte leise. »Du kannst die Augen wieder aufmachen.«

»Ehrlich? Habt ihr aufgehört euch zu ...?«

»... küssen?« Luca und ich grinsten. »Ja, aber nur für den Augenblick«, meinte Luca und zog mich besitzergreifend an sich. Angewidert verzog Pepe sein Gesicht.

Ach du meine Güte! Ich wusste gar nicht, dass ihm das peinlich war. Pepe spreizte zwei Finger seiner Hände, die er immer noch vor seine Augen hielt, und lugte zwischen ihnen zu uns. Erst als er sah, dass Luca und ich uns anständig verhielten, senkte er langsam seine Arme. Sein Gesicht war feuerrot, was Luca noch mehr amüsierte.

»Eines Tages wirst du damit auch nicht mehr aufhören können«, erklärte er ihm.

»Nie im Leben. So etwas brauche ich nicht. Igitt!« Pepe zog eine Fratze. Jetzt mussten wir beide auflachen.

»Na, komm. Spielen wir draußen etwas. Dann kannst du mir erzählen, warum du das Küssen nicht magst.« Beim Wort Spielen erhellte sich Pepes Gesichtsausdruck. Luca gab mir einen letzten Kuss auf die Wange, was Pepe sofort mit Augenverdrehen quittierte.

»Bis später.«

»Viel Spaß euch beiden.«

Die Zwei verließen das Haus und ich machte mich an die Arbeit.

Während ich die Trommel füllte, dachte ich an Agnes. Ich war ihr sehr dankbar dafür, dass sie mir früh gezeigt hatte, wie man eine Waschmaschine bediente. Überhaupt hatte sie Amy und mir einiges beigebracht.

Bei dem Gedanken an Agnes verspürte ich so etwas wie Sehnsucht. Sie war mehr als nur unsere Haushälterin gewesen, für Amy und mich war sie gleichzeitig auch Mutterersatz. Ich hatte es immer geliebt, wenn sie uns abends vor dem Schlafen noch eine Geschichte vorgelesen hatte. Vor ein paar Monaten erfuhr ich, dass Ron und sie auch zu den Padres gehörten. Im ersten Moment fühlte ich mich betrogen und belogen, weil sie von den Padres in unser Haus eingeschleust worden waren, nur um Onkel Finley und uns Mädchen zu überwachen. Aber am Ende konnte sie mir alles erklären und ich ihnen verzeihen. Sie fehlte mir, ihre liebevolle Art und ihre Zuversicht.

Der Tag verging und in wenigen Stunden würden wir abreisen. Gleich nach dem Abendessen sorgte Luca dafür, dass Pepe noch badete, während ich mich in unser Schlafzimmer zurückzog, um mit Amy zu telefonieren. Sie war bestimmt nicht erfreut, dass ich ohne sie nach Bayville reisen würde. Genau wie ich, hatte auch sie den Wunsch geäußert, nach Hause fliegen zu dürfen.

Ich wählte ihre Nummer und schon nach kurzem Klingeln hob sie ab.

»Hi Schwesterchen!«, flötete ich ins Handy.

»Hallo Jade! Was ist los? Du begrüßt mich doch sonst nie mit Schwesterchen.«

»Nichts, was soll los sein?«, log ich. Ich konnte ihr nichts vormachen, sie kannte mich zu gut. »Na, du hörst dich an, als müsstest du mir etwas beichten. Obwohl das eigentlich ja immer mein Part ist.«

Mist! Kurz überlegte ich. »Wir fliegen heute Nacht nach Bayville.«

In der Leitung herrschte Stille.

»Ihr fliegt nach Hause?«, fragte sie leise.

»Ja, wir besuchen Agnes und Ron ... Ich rufe dich an, damit du weißt, wo ich in den nächsten Tagen bin.«

»Aber ... aber ist das nicht gefährlich?«

»Luca hat grünes Licht bekommen ... Vielleicht erlaubt der Professor, dass du uns nachreist?«, versuchte ich sie zu trösten. Ich wusste, dass er das niemals erlauben würde, doch mir fiel auf die Schnelle nichts besseres ein.

»Das glaubst du doch nicht wirklich! Wenn wir beide dort wären, wäre das viel zu gefährlich.« Das stimmte. Trotzdem hörte ich deutlich, wie eingeschnappt sie war. Es war wirklich verrückt! Von uns beiden war Amy immer diejenige gewesen, die Bayville so schnell wie möglich verlassen wollte. Jetzt wollten wir zwei zurück und durften es nicht.

»Wie läuft das Geschäft?«, versuchte ich sie auf ein anderes Thema zu lenken.

»Du meinst Matteo´s Muckibude? Ganz wunderbar«, antwortete sie eine Spur zu schnippisch.

»Was ist los? Habt ihr Ärger?«

Sie seufzte. »Ärger ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck, ... ach, ich weiß auch nicht. Ich bin so genervt von all dem hier.«

Oh, oh! Das hörte sich nicht gut an. »Was ist los?«

»Nichts, es ist nur ...«, druckste sie herum. Sie schwieg erst, doch dann brach ein wahrer Redeschwall aus ihr heraus. »Das Fitnessstudio ist gut besucht. Es ist ja nicht so, dass ich mich nicht für Matteo freue, aber ich habe keine Lust, Tag ein Tag aus auf ihn zu warten. Jetzt will er auch noch eine weitere Filiale eröffnen und hat dann noch weniger Zeit für mich. Draußen ist so schönes Wetter und ich will, dass er etwas mit mir unternimmt. Ach, Jade! Es ist einfach alles anders gekommen, als ich es mir vorgestellt habe. Ich will auch mal abends ausgehen und nicht zuhause versauern. Er sagt, er wäre zu müde, um mich auszuführen, und verschiebt es auf das Wochenende. Doch auch am Wochenende ist er dann meistens wieder im Studio und kommt erst spät zurück. Er hat einfach keine Zeit mehr für uns. Und überhaupt, wenn ich mich dann mit einer Freundin verabrede oder mal im Studio mit einem Mann unterhalte, dann kriegt Matteo gleich einen Anfall und führt sich auf wie in der Steinzeit. Irgendwie habe ich mir unser Leben anders vorgestellt.«

Ich grinste. Typisch Amy. Mir war schon damals klar gewesen, dass so ein Fitnessstudio nicht wirklich das Richtige für sie war, doch sie hatte all meine Bedenken und Einwände über Bord geworfen und sich Hals über Kopf in diese Sache verrannt.

»Jetzt komm bloß nicht mit der Leier, dass du mich gewarnt hast«, fuhr sie mich an.

Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. »Ich habe kein Wort gesagt«, wehrte ich mich. Seit damals hatte ich mir geschworen, dass ich sie nicht länger bemuttern würde. Amy war genauso alt wie ich und musste endlich lernen, zu ihren Entscheidungen zu stehen und Verantwortung zu übernehmen. Trotzdem wollte ich für sie da sein.

»Hast du mit ihm darüber gesprochen?«

»Natürlich habe ich das, mehr als einmal. Ich beschwere mich bei ihm, sage ihm, was mir nicht passt, und er braucht mich nur anzufassen und treudoof zu schauen, dann ... du weißt schon. Ich kann ihm dann einfach nicht widerstehen.«

»Dann rede eben noch mal mit ihm, Amy. Versuche einen Kompromiss auszuhandeln.«

»Ja, vielleicht sollte ich mir etwas einfallen lassen.«

»Du wirst sehen, es lohnt sich, nicht immer gleich den Kopf in den Sand zu stecken. Aber sonst ist zwischen euch alles klar, oder?«

»Ja ... eigentlich schon.«

»Vielleicht ist das nur eine Phase und ändert sich wieder.«

»Das hoffe ich, weil ich das sonst nicht länger aushalte. Okay, ich muss schluss machen. Meld dich, wenn du in Bayville bist, und grüße Agnes ganz lieb von mir.«

»Mach ich. Pass auf dich auf, kleine Schwester.«

Nachdenklich starrte ich auf das Handy in meiner Hand. Ich wusste, dass es irgendwann zu Spannungen kommen würde, aber all die Monate hatte ich gehofft, dass die Beziehung zwischen meiner Schwester und Matteo funktionieren würde. Amy war eigensinnig, rebellisch und ein absoluter Freigeist. Schon Onkel Finley hatte es nicht leicht mit ihr gehabt. Selten hielt sie sich an Regeln, ständig suchte sie sich einen Schlupfwinkel, um unserem damaligen Leben in Bayville zu entfliehen, wenn auch nur für ein paar Stunden.

 

***

 

Pepe gefiel mir in seinem Schlafanzug. Er war weiß und hatte kleine Bärchen aufgedruckt. Das Muster erinnerte mich an meine Kindheit, ich hatte damals einen ganz ähnlichen gehabt.

»Hast du Zähne geputzt?«, fragte ich den Lockenkopf, als ich sein Zimmer betrat.

»Schon längst«, antwortete der Knirps und rutschte im Bett ein Stück zur Seite. Gleich neben der Tür stand sein kleiner Koffer, den ich noch am Nachmittag gepackt hatte. Seine Kleidung für die Reise würde er erst im Flieger anziehen.

Wie fast jeden Abend setzte ich mich noch ein paar Minuten zu ihm und er kuschelte sich an mich. Pepe war mir schon nach unserem ersten Treffen ans Herz gewachsen. Er hatte viel durchgemacht. Wenn ich daran zurückdachte, wie er damals versucht hatte, mich zu befreien, fuhr mir ein eiskalter Schauer den Rücken hinunter. Ich hatte Angst gehabt, dass Rabas ihn getötet haben könnte. Doch Luca, Noah und die anderen Taluris konnten die Kinder befreien.

»Jade?«

»Hm ...?«

»Wird Gavin mit uns kommen?«

»Ja, natürlich.«

»Und wie? Er kann doch nicht diesen weiten Weg nach Amerika fliegen.«

Der Lockenkopf dachte wirklich mit, das gefiel mir. »Natürlich kann er das nicht, er würde wahrscheinlich mitten über dem Meer abstürzen. Deshalb nehmen wir ihn einfach im Flieger mit. Luca hat schon alles organisiert«, erklärte ich ihm.

Seine Augen erhellten sich. »Er kommt mit? Das ist ja super! Dann kann ich auch bei Agnes mit ihm spielen.«

»Ja, das kannst du.«

»Yiepiehhhh!« Pepe klatschte in seine kleinen Hände und freute sich so sehr darüber, dass ich kichern musste.

»Weißt du, wenn ich wieder bei meiner anderen Familie bin, dann werde ich Luca und dich vermissen.«

Mein Herz ging auf, als mir klar wurde, dass er Luca und mich als einen Teil seiner Familie bezeichnete. Liebevoll streichelte ich ihn. Er sah zu mir auf und lächelte breit, sodass seine Zahnlücke zum Vorschein kam. Sein kleines Gesicht war so süß und ich liebte jede einzelne Sommersprosse auf seinen Wangen. Sogar seine Zahnlücke fand ich toll. Es gab kein perfekteres Kind in meinen Augen. Pepe war für mich ein Held - genau wie die anderen Taluri-Kinder. Ich bewunderte, wie stark er doch im Grunde war.

»Wir werden dich auch sehr vermissen. Aber hey, Luca und ich werden dich zu uns holen, wann immer wir können.«

»Ehrlich?« Sein Gesicht erhellte sich.

»Natürlich. Solange es uns erlaubt ist.«

»Du ... du bist noch viel netter als Rosaria.«

Jetzt hatte ich einen Kloß im Hals, schluckte ihn aber schnell wieder runter. »So? Ist sie denn manchmal streng mit dir?«, wollte ich wissen.

Er zuckte mit den Schultern. »Eigentlich ist sie nett, aber Sebastiano bekommt oft Ärger und meistens schiebt er es mir in die Schuhe, wenn er etwas angestellt hat.«

»Oh, das ist aber nicht nett von ihm. Hast du das Rosaria gesagt?«

»Nein! Sebastiano ist mein Freund.«

Verdutzt sah ich ihn an. »Aber ein Freund tut so etwas nicht, Pepe.«

»Ich weiß, aber so schlimm war es nun auch nicht. Rosaria hat mit mir geschimpft und nach einer Stunde war sie wieder nett zu mir. Außerdem hat Sebastiano gesagt, er wird es nicht wieder tun.«

»Na, wenn er es wirklich ernst meint, dann sollte er für seinen Fehler einstehen und es seiner Mutter erzählen.«

»Weißt du, mir macht das nichts aus. Manchmal hat mich Rabas in ein Steinverlies eingesperrt. Das war viel schlimmer, weil es dort ganz dunkel war und ich solchen Hunger hatte.«

Ich schluckte und brachte im ersten Augenblick kein Wort heraus. Sollte ich ihn näher darüber ausfragen oder würde ich damit vielleicht die Erinnerungen wieder wachrütteln? »Ich weiß, mein Schatz«, flüsterte ich. »Ich verspreche dir, dass du so etwas nie wieder erleben musst.« Fest drückte ich ihn an mich. Eine Weile lagen wir schweigend da, bis ich hörte, dass Pepes Atem ruhig und gleichmäßig ging. Vorsichtig löste ich mich aus seinem Griff und stand leise vom Bett auf. Ich deckte ihn behutsam zu und hauchte einen kleinen Kuss auf seine Wange. Das kleine Nachtlicht neben seinem Bett löschten wir nie. Pepe hatte Angst im Dunkeln, was ich absolut nachvollziehen konnte. Nachdenklich verließ ich das Zimmer und ließ die Tür einen Spalt offen.

»Schläft er?«, fragte Luca, als ich das Wohnzimmer betrat und er mir ein Glas Rotwein reichte.

»Ja. Gerade ist er in meinen Armen eingeschlafen. Er ist wirklich der unglaublichste Junge, den ich kenne. Er ist so tapfer«, sagte ich voller Bewunderung.

»Ja, das ist er.«

»Weißt du, was er mir gerade erzählt hat?« Luca und ich setzten uns auf das Sofa. Leise Musik lief im Hintergrund und er hatte ein paar Kerzen angezündet.

»Nein, was denn?«

»Das Rabas ihn manchmal eingesperrt und hungern lassen hat.« Ich war immer noch entsetzt und völlig ergriffen, suchte in Lucas Augen die gleiche Fassungslosigkeit, doch er senkte seinen Blick. »Ja, das kam vor. Das ... und noch einige andere Grausamkeiten.«

Bisher hatten wir nie viel über die Ereignisse von damals gesprochen, weil ich wusste, dass Luca damit Probleme hatte. Ich wollte ihn nicht drängen. Außerdem konnte ich selbst nicht einschätzen, ob ich bereit war, all diese Horrorgeschichten zu ertragen.

»Du meinst, du wurdest auch ... dort eingesperrt?«, fragte ich vorsichtig.

Er schüttelte den Kopf. »Nein, ich nicht. Aber Matteo und ein paar andere. Und das Steinverlies war noch die harmlosere Variante.«

Ich konnte mich noch genau an meine erste Begegnung mit Pepe erinnern. Da hatte er versucht, mich von den Ketten zu befreien, mit denen ich gefesselt war. Leider wurde er von Rabas und Morgion erwischt. Rabas hatte ihn wie ein Stück Vieh am Schopf gepackt und aus dem Raum gezogen. Daraufhin hörte ich Pepes Schreie, und als Rabas einige Zeit später völlig blutverschmiert zurück in den Raum kam, glaubte ich, er hätte ihn totgeschlagen.

»Wieso wurdest du verschont?«

Luca zuckte mit den Schultern. »Ich war einer von Morgions Lieblingen. ... Aber lass uns nicht heute Abend darüber sprechen.« Er lehnte sich zurück und nippte an seinem Wein. »Ich würde viel lieber mit dir besprechen, wie das heute Nacht abläuft.«

Sofort sprangen meine Gedanken um. Natürlich, unsere Abreise stand kurz bevor.

»Prof. Tramonti hat alles organisiert. Wir werden später von einem Fahrer abgeholt und durch einen VIP-Eingang zur Maschine gebracht. In New York am Zoll geben wir uns als eine reiche, junge Familie aus.«

Ich nickte, versuchte das Grummeln in meinem Bauch zu ignorieren. Aufgeregt zog ich meine Beine aufs Sofa. »Du wirst dort in der Öffentlichkeit wieder deine Perücke tragen müssen. Ich habe die Sachen im Schlafzimmer schon bereitgelegt.«

Seufzend nahm ich einen Schluck vom Wein. Das letzte Mal, als ich dieses Ding getragen hatte, war ich auf dem Weg nach Madrid gewesen. Stundenlang hatte ich die juckende und kratzende Perücke ausgehalten, aber auch diesmal würde ich das für Bayville erdulden.

»Es wird gutgehen. Vertrau mir, Liebling«, versicherte Luca und zog mich auf seinen Schoß. »Es gibt noch etwas, worüber ich mit dir sprechen will.«

Neugierig sah ich ihn an. »Und was?«

»Ich habe über deinen Vorschlag nachgedacht. Ich würde gerne erfahren, was aus meiner Familie geworden ist. Ich meine, ich hatte Eltern, vielleicht sogar Geschwister. Bevor ich krank und in Morgions Katakomben gebracht wurde, lebte ich bei Menschen, die mich großgezogen haben- die mich vielleicht einmal geliebt haben. Ich würde das einfach gerne wissen.«

Ich strich eine Haarsträhne aus seiner Stirn, während sein Blick auf meinem Gesicht ruhte. »Dann solltest du versuchen, sie zu finden«, sagte ich leise. »Ich werde dich dabei unterstützen.«

»Auch, wenn das bedeuten würde, dass wir beide uns eine Weile nicht sehen könnten?«

Ich runzelte die Stirn. »Wie meinst du das?«

»Ich weiß nicht ... vielleicht muss ich selbst ein paar Nachforschungen betreiben, um an mehr Informationen zu kommen. Vielleicht muss ich für längere Zeit an ein paar Orte reisen, an die ich dich nicht mitnehmen kann.«

Ohne mich? Aber das konnte er doch nicht ernst meinen!

»Ich will aber dabei sein, Luca. Ich will an deiner Seite bleiben.« Ohne ihn zu sein, wäre schrecklich für mich. Ich brauchte ihn und wollte auch diesen Teil seines Lebens mit ihm erforschen. Schmollend senkte ich meinen Blick und sah auf seine Brust.

Er hob mit einem Finger mein Kinn an. »Sieh mich an, Mea Suna. Ich mache dir einen Vorschlag: Ich werde meine Kontakte spielen lassen und wir warten ab, was die herausfinden. Und dann entscheide ich, ob ich selbst ein paar Nachforschungen vornehmen werde oder nicht.« Nur wiederstrebend wanderten meine Augen über seine vollen Lippen und seinen Dreitagebart bis zu seinen dunklen Augen. »Als ich dich das erste Mal gesehen habe, wusste ich, dass du mein Leben verändern würdest. Wir beide haben viel durchgemacht, um jetzt hier sein zu können. Niemand auf der Welt verursacht solche Gefühle in mir wie du. Das alles ist immer noch neu für mich. Seit ich den Spy nicht mehr in mir trage und du mich geheilt hast, kann ich auf eine ganz neue und viel intensivere Art fühlen. Das macht mir manchmal Angst und doch weiß ich, dass ich diese Emotionen niemals mehr vermissen möchte.

Ich habe viel über uns nachgedacht und ich will nie wieder ohne dich sein. Aber um meinen inneren Frieden endlich zu finden, muss ich tief in meiner Vergangenheit graben. Es gibt so viele Fragen, auf die ich noch keine Antwort habe. Zum Beispiel, was aus meiner Familie geworden ist. Ich will herausfinden, wer ich wirklich bin. Außerdem frage ich mich, ob ich dich glücklich machen kann.«

»Das kannst du«, unterbrach ich ihn. »Luca, wir gehören zusammen.«

»Aber ich muss trotzdem all die Dinge wissen, verstehst du?«

»Natürlich verstehe ich das. Ich wollte dir damit nur sagen, dass ich dich so nehme, wie du jetzt bist. Auch mit deiner Vergangenheit, egal, wie grausam und schrecklich sie war, denn das warst nicht du. Luca, den Taluri gibt es nicht mehr.« Sein Blick ging mir durch und durch und ich wusste, dass meine Worte ihm viel bedeuteten, aber für mich war das die Wahrheit. Er war ein Opfer und was er als Taluri getan hatte, konnte man ihm nicht zur Last legen.

Luca schloss die Augen. »Womit habe ich dich verdient?«, flüsterte er. »Ich liebe dich, Mea Suna, mehr als du dir vorstellen kannst ... aber ich brauche das für mich. Ich muss wissen, was aus meiner Familie geworden ist. Ständig kreisen diese Gedanken in meinem Kopf.«

Natürlich verstand ich seinen Wunsch, schließlich hatte ich ihn dazu ermuntert und ich würde ihn auch unterstützen, aber ich hatte Angst davor. »Und was, wenn du herausfindest, dass sie ...«, ich wagte kaum, meinen Gedanken auszusprechen.

»... tot sind?« Er nickte. »Damit muss ich rechnen. Aber dann weiß ich wenigstens, woran ich bin. Und vielleicht erfahre ich etwas über sie oder sogar über mich selbst.«

»Alle Unterlagen über dich wurden doch vernichtet. ... Aber vielleicht weiß Prof. Tramonti etwas darüber«, überlegte ich.

»Ja, du hast recht. An den Professor habe ich noch nicht gedacht, das ist eine gute Idee. Zusätzlich kenne ich ein paar Leute, die mich unterstützen könnten.«

Ich nickte ihm aufmunternd zu. Es war so schön zu sehen, wie seine Augen zu leuchten begannen. Luca schien voller Vorfreude und ich konnte nur hoffen, dass er keine Enttäuschung erleben musste. Davon hatten wir mehr als genug ertragen.

Plötzlich veränderte sich die Atmosphäre zwischen uns und ein belustigter Ausdruck lag auf seinem Gesicht. »Jetzt möchte ich noch etwas ganz anderes herausfinden«, sagte er mit einem spitzbübischen Grinsen. Seine Hand glitt unter mein T-Shirt. Überrascht, wie schnell er das Thema wechseln konnte, hielt ich inne. Seine Finger wanderten von meinem Bauch zu meinem Busen. Mit seiner Berührung weckte er tausend Impulse.

»Ich glaube, das kennst du mittlerweile sehr genau«, neckte ich ihn.

»Und doch ist es immer wieder ein neues Abenteuer«, antwortete er grinsend. Ein wohliger Schauer fuhr wie eine Welle durch meinen Körper und entlockte mir ein leises Stöhnen. Er zog das Shirt hoch und strich mit seiner Zunge über meine Brust. Er umkreiste die Brustwarze, biss zärtlich hinein. Ich konnte nicht anders und warf meinen Kopf in den Nacken. Ich genoss seine Berührungen und die Gefühle, die er in mir auslöste.

Meine Hände fuhren durch sein dichtes Haar und am liebsten hätte ich ihn fest an mich gepresst. Noch bevor ich mich versah, hatte mich Luca schon auf das Sofa gelegt. Sein Mund war meinem so nah, ich schmeckte seinen Atem - süß und nach Rotwein. Endlich senkte er seine Lippen auf meine. Er küsste mich wild und unbeherrscht. Ich drängte mich ihm entgegen, wollte mehr - viel mehr. Ungeduldig konnte ich es kaum erwarten, ihn endlich in mir zu spüren. Seine Finger glitten über meine Hüfte, hinab zu meinem Schenkel. In mir loderte ein Feuer - es knisterte, bis ich schließlich wimmerte.

»Luca, ich will dich ... jetzt ... bitte!« In seinen Augen las ich die gleiche Gier und sofort richtete er sich auf und nahm mich hoch, als wäre ich leicht wie eine Feder. Meine Beine schlang ich dabei um seine Mitte und küssend trug er mich den Flur entlang in unser Schlafzimmer. Doch statt mich auf dem Bett abzulegen, drückte mich Luca gegen die Wand.