Mehr als das - Patrick Ness - E-Book

Mehr als das E-Book

Patrick Ness

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Beschreibung

In welcher Wirklichkeit leben wir?

Ein Junge ertrinkt, verzweifelt und verlassen in seinen letzten Minuten. Er stirbt. Dann erwacht er, nackt, verletzt und durstig, aber lebendig. Wie kann das sein? Und an was für einem seltsamen, verlassenen Ort befindet er sich? Während er versucht zu verstehen, was mit ihm geschehen ist, regt sich Hoffnung bei dem Jungen. Ist das vielleicht doch noch nicht das Ende? Bietet dieses Leben vielleicht doch Mehr als das?

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»Hattet ihr noch nie das Gefühl,

dass da mehr sein muss?

Als ob dort draußen noch mehr wäre,

knapp außerhalb eurer Reichweite,

und ihr müsstet nur irgendwie dort hinkommen.«

PATRICK NESS

MEHR

ALS

DAS

Aus dem Englischen von

Bettina Abarbanell

cbt ist der Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House

Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform

1. Auflage 2014

© 2014 der deutschsprachigen Ausgabe cbt, München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

© 2013 Patrick Ness

Die englische Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel:

»More Than This« bei Walker Books Ltd, UK

Zitatabdrucke von:

»Borrowing Time« von Aimee Mann

sowie: »More Than This« von Peter Gabriel

mit freundlicher Genehmigung von Aimee Mann und Fintage Publishing B.V.

sowie: Peter Gabriel und EMI Music Publishing Ltd./Real World Music Ltd.

Alle Rechte vorbehalten

Übersetzung: Bettina Abarbanell

Umschlagkonzeption: Geviert, Grafik & Typografie, Benjamin Zirnbauer

unter Verwendung eines Motivs von © Shutterstock/Shane White

MP · Herstellung: KW

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN 978-3-641-12515-8

www.cbt-verlag.de

www.mehralsdas-buch.de

– Für Phil Rodak –

You ask a question in the mirror

Alas, no answer could be clearer.

– Aimee Mann

Nothing fades as fast as the future,

Nothing clings like the past.

– Peter Gabriel

Hier ist der Junge. Er ertrinkt.

In diesen letzten Momenten ist es nicht das Wasser, das ihm den Rest gibt; es ist die Kälte. Sie hat alle Energie aus seinem Körper gesogen und seine Muskeln in schmerzhafter Nutzlosigkeit verkrampfen lassen, ganz egal, wie sehr er kämpft, um oben zu bleiben. Er ist stark und jung, kaum siebzehn, doch die Winterwellen rollen unablässig heran, eine, scheint es, größer als die andere. Sie schleudern ihn herum, werfen ihn vor und zurück, drücken ihn tief und immer tiefer hinunter. Selbst in den wenigen angsterfüllten Sekunden, wenn es ihm gelingt, mit dem Gesicht an die Oberfläche zu kommen, zittert er so heftig, dass er kaum eine halbe Lunge voll Luft schöpfen kann, bevor er wieder unter Wasser ist. Es reicht nicht, wird jedes Mal weniger, und er spürt ein schreckliches Verlangen in der Brust, eine verzweifelte Sehnsucht nach mehr.

Er ist jetzt in heller Panik. Er weiß, dass er ein kleines, entscheidendes Stück zu weit vom Ufer abgetrieben ist, um es wieder zurückzuschaffen, zumal die eisige Dünung ihn mit jeder Welle weiter hinauszieht, auf die Felsen zu, die diesen Abschnitt der Küste so tückisch machen. Er weiß auch, dass niemand seine Abwesenheit rechtzeitig bemerken, niemand Alarm schlagen wird, bevor das Wasser ihn besiegt. Und er wird auch nicht durch Zufall gerettet werden. Es sind keine Strandgutsammler oder Touristen da, die sich in die Fluten stürzen und ihn retten könnten, nicht um diese Jahreszeit, nicht bei diesen eisigen Temperaturen.

Es ist zu spät für ihn.

Er wird sterben.

Und er wird alleine sterben.

Das jähe, überwältigende Grauen dieser Erkenntnis steigert seine Panik noch. Er versucht erneut, an die Oberfläche zu gelangen, wagt nicht zu denken, dass es das letzte Mal sein könnte, wagt überhaupt kaum zu denken. Er zwingt sich, mit den Beinen zu strampeln und mit den Armen zu rudern, um seinen Körper wenigstens in eine halbwegs senkrechte Position zu bringen, damit er noch einmal Luft holen kann, Luft, die nur Zentimeter entfernt ist –

Doch die Strömung ist zu stark. Sie lässt ihn verlockend nah an die Wasseroberfläche kommen, um ihn dann herumzuwirbeln und noch ein Stück weiter an die Felsen heranzutreiben.

Die Wellen spielen mit ihm, als er es erneut versucht.

Und scheitert.

Dann, ohne Vorwarnung, scheint das Spiel, das der Ozean mit ihm treibt, dieses grausame Spiel, ihn gerade so lebendig zu halten, dass er die Hoffnung nicht vollständig verliert, plötzlich vorbei zu sein.

Die Strömung nimmt zu und schmettert ihn gegen die mörderisch harten Felsen. Sein rechtes Schulterblatt bricht entzwei, so laut, dass er es selbst unter Wasser, selbst bei der heftigen Brandung knacken hört. Der Schmerz ist so unerträglich stark, so brutal, dass der Junge aufschreit, und augenblicklich füllt sich sein Mund mit eisigem, salzigem Meerwasser. Als er dagegen anhustet, saugt er nur noch mehr Wasser in seine Lunge. Er krümmt sich, blind und gelähmt von dem gewaltigen Schmerz in seiner Schulter. Er ist jetzt außerstande, auch nur versuchsweise weiterzuschwimmen, außerstande, sich zu wappnen, als die Wellen ihn von Neuem herumwirbeln.

Bitte, ist alles, was er denkt. Nur dieses eine Wort, das in seinem Kopf widerhallt.

Bitte.

Die Strömung packt ihn ein letztes Mal. Als wollte sie zum Wurf ausholen, bäumt sie sich auf und schleudert ihn mit dem Kopf voran gegen die Felsen. Das ganze Gewicht eines blindwütigen Ozeans hinter sich, kracht er in sie hinein. Er schafft es noch nicht einmal, die Hände zu heben, um den Aufprall abzufangen.

Sein Schädel birst direkt hinter dem linken Ohr, die Splitter bohren sich in sein Gehirn, der dritte und vierte Rückenwirbel werden zertrümmert, Hirnschlagader wie Rückenmark durchtrennt, Verletzungen, die sich nicht rückgängig machen, nicht heilen lassen. Keine Chance.

Er stirbt.

TEIL EINS

1

Die ersten Sekunden nach seinem Tod sind für den Jungen völlig verschwommen, eine einzige bleierne Verwirrung. Vage empfindet er Schmerz, vor allem aber eine maßlose Müdigkeit, als lägen Schichten um Schichten ungeheuer schwerer Decken auf ihm. Er kämpft blind damit, wirft sich immer ungestümer hin und her, je mehr die unsichtbaren Taue, die ihn zu binden scheinen, ihn (erneut) in Panik versetzen.

Sein Kopf ist nicht klar, alles dreht sich darin und dröhnt und pocht wie im schlimmsten Fieber, ja dem Jungen ist noch nicht einmal bewusst, dass er denkt. Was in ihm vorgeht, ist eher eine Art wilder letzter Instinkt, eine furchtbare Angst vor dem, was kommt, vor dem, was geschehen ist.

Eine furchtbare Angst vor seinem Tod.

Als könnte er ihn noch besiegen, ihm noch entkommen.

Er hat sogar das undeutliche Gefühl, noch in Bewegung zu sein, so als führe sein Körper den Kampf gegen die Wellen weiter, obwohl er schon verloren ist. Er spürt ein jähes Aufbranden, eine Woge des Schreckens, die ihn weiter und weiter und weiter treibt, obwohl er doch inzwischen von seinem Körper losgelöst zu existieren scheint, denn seine Schulter tut nicht mehr weh, während er blindlings durch die Dunkelheit taumelt, offenbar unfähig, überhaupt etwas zu fühlen außer dem angstvollen Drang, sich vorwärtszubewegen –

Und dann ist da etwas Kühles auf seinem Gesicht. Fast wie von einer Brise, dabei scheint das aus so vielen Gründen unmöglich. Aber es bringt sein Bewusstsein dazu – seine Seele? Seinen Geist? Wer kann das sagen? –, in seinem fieberhaften Taumel innezuhalten.

Einen Moment lang ist er ruhig.

Die Düsternis vor seinen Augen verändert sich. Es wird heller. Eine Helligkeit, in die er anscheinend eintreten kann, und er fühlt, wie er sich ihr entgegenneigt, wie sein Körper – so schwach, so nahezu unbrauchbar – nach dem zunehmenden Licht strebt.

Er fällt. Fällt auf festen Untergrund. Von dort geht auch die Kühle aus, und der Junge gibt sich ihr hin, lässt sich davon umhüllen.

Er ist ruhig. Der Kampf ist vorbei. Er überlässt sich dem Vergessen.

Das Vergessen ist fegefeuerhaft und grau. Er ist kaum bei Bewusstsein, irgendwo zwischen Schlafen und Wachen, als wäre er von allem getrennt, unfähig, sich zu bewegen, zu denken oder etwas aufzunehmen, gerade einmal fähig, zu existieren.

Unvorstellbar viel Zeit vergeht, ein Tag, ein Jahr, vielleicht sogar eine Ewigkeit, unmöglich zu sagen. Schließlich beginnt das Licht in der Ferne sich langsam, fast unmerklich zu verändern. Es wird grau, dann hellgrau, und er kommt allmählich wieder zu sich.

Sein erster Gedanke oder eher sein erstes noch kaum in Worte gefasstes Gefühl ist, dass er auf einen Betonblock gepresst zu werden scheint. Undeutlich nimmt er wahr, wie kühl es unter ihm ist und wie hart, als klammere er sich an etwas Solides, um nicht ins Universum zu entschweben. Er verweilt für unbestimmte Zeit bei diesem Gedanken, damit er klarer werden, sich mit seinem Körper, mit anderen Gedanken verbinden kann –

Irgendwo tief in seinem Inneren blitzt das Wort Leichenschauhaus auf – wo sonst wird man auf kühle, harte Blöcke gelegt –, und mit wachsendem Grauen öffnet er die Augen, die geschlossen waren, wie er jetzt erst merkt. Er will rufen, sie dürften ihn nicht begraben, sie dürften ihn nicht aufschneiden, es sei ein schreckliches, schreckliches Missverständnis. Doch seine Kehle weigert sich, Worte hervorzubringen, als hätte er sie seit Jahren nicht benutzt, und er hustet, setzt sich voller Angst auf und schaut mit trübem, vernebeltem Blick wie durch zentimeterdickes milchiges Glas in die Welt.

Er blinzelt wiederholt, um besser sehen zu können. Die verschwommenen Umrisse um ihn herum werden allmählich klarer. Er erkennt, dass er nicht auf der kalten Steinplatte eines Leichenschauhauses liegt –

Sondern –

Sondern –

Wo ist er?

Verwirrt schaut er ins Licht, das ihm jetzt wie zunehmendes Tageslicht erscheint, und kneift die Augen zusammen, weil ihn die Helligkeit schmerzt. Er blickt um sich, versucht etwas zu erkennen, sich einen Reim auf alles zu machen.

Er scheint auf einem Steinweg zu liegen, der durch den Vorgarten eines Hauses führt, vom Bürgersteig bis zur Haustür hinter ihm.

Das Haus ist nicht seins.

Und das ist nicht das Einzige, was nicht stimmt.

Er atmet eine Zeit lang schwer, beinahe keuchend, und sein Schädel brummt, aber immerhin sieht er allmählich etwas besser. Er merkt, dass er vor Kälte zittert, und als er die Arme um seinen Körper schlingt, spürt er Feuchtigkeit auf seiner –

Nicht seiner Kleidung.

Er blickt an sich hinunter; die physische Reaktion erfolgt deutlich langsamer als der Gedanke, der sie ausgelöst hat. Erneut blinzelt er, um klarer zu sehen. Es scheinen überhaupt keine richtigen Kleidungsstücke zu sein, sondern bloß weiße Stoffstreifen, die man kaum als Hose oder Hemd bezeichnen kann und die, eher wie Verbände, fest um ihn gezurrt sind. Und an einer Seite sind sie nass vom –

Er hält inne.

Nicht vom Meerwasser, nicht von der durchdringenden, salzigen Kälte des Ozeans, in dem er gerade –

(ertrunken ist)

Außerdem ist nur eine Hälfte von ihm nass. Die andere, die, mit der er auf dem Boden gelegen hat, ist kühl, aber trocken.

Verwirrter denn je blickt er sich um. Die Feuchtigkeit kann nur vom Tau kommen. Die Sonne steht noch tief am Himmel, es muss Morgen sein. Unter sich auf dem Boden sieht er die Umrisse seines Körpers.

Als hätte er die ganze Nacht dort gelegen.

Aber das ist doch nicht möglich. Er erinnert sich an die brutale, winterliche Kälte des Wassers, das dunkle, eisige Grau des Himmels über ihm, das ihn niemals eine Nacht dort draußen hätte überleben lassen –

Doch das war nicht dieser Himmel. Er schaut hinauf. Das dort über ihm ist kein Winterhimmel. Die Kühle kommt nur daher, dass es noch früh am Tag ist, einem womöglich warmen Tag, einem Sommertag vielleicht. Keine Spur von dem bitterkalten Wind am Strand. Kein bisschen wie der Tag, als –

Als er starb.

Er nimmt sich noch einen Moment Zeit, um zu atmen, einfach nur zu atmen, falls das denn geht. Um ihn herum ist Stille, er hört nur die Geräusche, die er selber verursacht.

Langsam dreht er sich wieder zu dem Haus um. Der Anblick wird deutlicher, je mehr seine Augen sich an das Licht gewöhnen – daran, wieder sehen zu können.

Und dann, durch den Nebel und die Verwirrung hindurch, spürt er ein sanftes Beben in seinem wattigen Kopf.

Einen Hauch, eine Spur, einen Anflug von –

Von –

Was, Vertrautheit?

2

Er versucht aufzustehen und das Gefühl verschwindet. Aufstehen ist schwer, überraschend schwer, und es gelingt ihm nicht gleich. Er fühlt sich beängstigend schwach, seine Muskeln widersetzen sich selbst diesem einfachen Befehl. Von der bloßen Anstrengung, aufrecht zu sitzen, gerät er außer Atem, er keucht schon wieder und muss einen Moment ausruhen.

Er greift nach einer robust aussehenden Pflanze am Rand des Wegs, um einen erneuten Versuch zu starten –

Und zieht augenblicklich die Hand zurück, als sich ihm spitze Dornen in die Finger bohren.

Es ist gar keine gewöhnliche Pflanze – eher ein unglaublich hochgeschossenes Unkraut. Die Beete, die den Weg bis zum Haus säumen, sind allesamt völlig verwildert, was dort wächst, überragt die niedrigen Mauern auf beiden Seiten um Längen. Die Sträucher dazwischen sehen fast wie lebendige Wesen aus, die nach ihm greifen und nur darauf warten, ihm etwas anzutun, wenn er ihnen zu nahe kommt. Weiteres Unkraut, enormes Unkraut, einen, anderthalb, ja zwei Meter hoch, ist durch jeden Zentimeter Erdboden und jeden Riss im Pflaster hervorgebrochen, eins davon, ganz zerdrückt, auch dort, wo er gelegen hat.

Er versucht wieder, aufzustehen, schwankt einen Moment lang bedrohlich, schafft es dieses Mal aber. Sein Kopf ist so schwer, dass er ihn kaum gerade halten kann, und das Zittern hat nicht aufgehört. Die weißen Bandagen wärmen kein bisschen, ja sie bedecken ihn gar nicht richtig, wie er alarmiert feststellt. Beine, Rumpf und Arme sind fest umickelt. Doch die gesamte Gegend vom Bauchnabel bis zur Mitte seiner Oberschenkel ist rätselhafterweise nackt und bloß, vorne wie hinten, seine intimsten Teile sind der Morgensonne ausgesetzt. Panisch versucht er, den viel zu knappen Stoff herunterzuziehen, um sich zu verhüllen, doch er liegt zu eng an.

Rasch bedeckt er sich mit der Hand und schaut sich um, ob ihn jemand gesehen hat.

Aber da ist niemand. Keine Menschenseele.

Ist das ein Traum?, denkt er. Die Worte kommen langsam, schwerfällig, wie aus großer Entfernung. Der letzte Traum vor dem Tod?

Anscheinend sind alle Gärten ringsum so verwildert wie dieser. Wo einst Rasenflächen waren, sind jetzt Wiesen mit schulterhohem Gras. Das Straßenpflaster ist voller Risse, aus denen noch mehr fast grotesk hohe Unkrautpflanzen wuchern, manche davon Bäumen gleich.

Entlang der Straße parken Autos, aber sie sind mit dicken Schichten Staub und Dreck bedeckt, alle Fensterscheiben blind, und sie haben fast ausnahmslos vier platte Reifen.

Nichts regt sich. Keine Autos kommen die Straße herunter, und dem Unkraut nach zu urteilen, ist hier schon seit unvorstellbar langer Zeit keins mehr entlanggefahren. Zu seiner Linken geht die Straße weiter, bis sie auf eine andere, wesentlich breitere trifft, eine Art Hauptstraße, auf der Verkehr und reges Treiben herrschen müsste. Doch auch dort tut sich nichts, und er sieht, dass sich in der Asphaltdecke ein gigantisches Loch gebildet hat, zwölf oder sogar fünfzehn Meter breit, aus dem ein ganzer Wald von Unkraut emporzuwachsen scheint.

Er lauscht. Kein einziger Motor ist zu hören, weder auf dieser noch der nächsten Straße. Er wartet einen Augenblick. Und noch einen. Er schaut nach rechts, zum anderen Ende der Straße, und sieht durch die Lücke zwischen zwei Wohnhäusern einen Bahndamm. Instinktiv horcht er auf Züge, die dort vielleicht entlangfahren.

Doch da sind keine Züge.

Und auch keine Menschen.

Wenn es Morgen ist, wie es den Anschein hat, dann müssten jetzt Leute aus den Häusern kommen, in ihre Autos steigen, zur Arbeit fahren. Oder ihre Hunde ausführen, Post austragen, zur Schule gehen.

Die Straßen müssten voll sein, Haustüren auf- und zugehen.

Aber da ist nichts. Keine Autos, keine Züge, keine Menschen.

Und jetzt, da er schon etwas klarer sehen und denken kann, wirkt diese Straße auch architektonisch seltsam auf ihn. Die Häuser sind dicht zusammengedrängt, alle in einer Reihe, ohne Garagen oder große Vorgärten, mit einer schmalen Gasse nach jedem vierten oder fünften Haus. Ganz anders als die Straße, in der er gewohnt hat. Ja, eigentlich sieht sie überhaupt nicht wie eine amerikanische Straße aus. Sie sieht beinahe –

Sie sieht beinahe englisch aus.

Das Wort klappert in seinem Kopf herum. Es fühlt sich an, als sei es wichtig, als versuche es verzweifelt, irgendwo anzudocken, doch sein Verstand ist noch so benebelt, so entsetzt und verwirrt, dass das seine Angst nur verstärkt.

Es ist ein Wort, das falsch ist. Sehr falsch.

Er schwankt ein wenig und muss sich an einem der robuster wirkenden Sträucher festhalten. Er spürt den starken Drang, hineinzugehen, etwas zu suchen, womit er sich bedecken kann, und dieses Haus, dieses Haus –

Er runzelt die Stirn.

Was ist mit diesem Haus?

Zu seiner eigenen Überraschung macht er, ohne sich bewusst dazu entschlossen zu haben, einen unsicheren Schritt auf das Haus zu, der ihn fast zum Straucheln bringt. Er ringt noch immer damit, seine Gedanken in Worte zu fassen. Er kann nicht sagen, warum er auf das Haus zugeht, ob es etwas anderes als Instinkt sein könnte, dort hineinzugehen, fort von dieser absurden, verlassenen Welt, doch all dies, was immer es ist, fühlt sich ohnehin so sehr wie ein Traum an, dass darin wohl auch Traumlogik herrscht.

Er weiß nicht, warum, aber es zieht ihn zu dem Haus hin.

Also geht er darauf zu.

Er erreicht die Stufen vor der Haustür, steigt über einen Riss, der quer durch die unterste Stufe verläuft, und bleibt vor der Tür stehen. Dort wartet er einen Moment, weiß nicht recht, was er als Nächstes tun soll, wie sie sich öffnen lassen oder wie er sich verhalten wird, wenn sie abgeschlossen ist, doch er streckt die Hand aus –

Bei der geringsten Berührung schwingt sie nach innen auf.

Ein langer Flur ist das Erste, was er sieht. Die Sonne scheint inzwischen, sie füllt den klaren blauen Himmel hinter ihm – so warm, dass tatsächlich Sommer sein muss, so warm, dass er sofort spürt, wie sie seine entblößte Haut verbrennt, die zu blass ist, zu hell, um so harschem Licht ausgesetzt zu sein –, und trotzdem versinkt der Flur auf halbem Weg in der Dunkelheit. Ganz am Ende kann er gerade noch eine Treppe ausmachen, die zu den oberen Stockwerken hinaufführt, und links davon die Tür zu den Wohnräumen.

Nirgends im Haus ist Licht, nirgends das leiseste Geräusch.

Er blickt sich noch einmal um. Nach wie vor hört er draußen kein Maschinen- oder Motorengebrumm, und ihm fällt plötzlich auf, dass auch keine Insekten summen, keine Vögel singen, ja dass noch nicht einmal Wind durch die Blätter streicht.

Da ist nichts als das Geräusch seines eigenen Atems.

Einen Moment lang steht er einfach nur da. Er fühlt sich entsetzlich unbehaglich und so schwach, so müde, dass er sich gleich hier auf diese Stufe legen und schlafen könnte, für immer schlafen und nie mehr aufwachen –

Stattdessen betritt er das Haus.

Die Hände links und rechts an den Wänden, tastet er sich langsam vorwärts, in der Erwartung, jede Sekunde aufgehalten zu werden, eine Stimme zu hören, die ihn fragen wird, was er hier in einem fremden Haus eigentlich zu suchen habe.

Während er weiter voranstolpert, weil seine Augen sich nicht so schnell an das sich verändernde Licht gewöhnen können, spürt er unter seinen Füßen allerdings zentimeterdicken Staub und schließt daraus, dass seit langer, langer Zeit niemand mehr hier gewesen sein kann.

Es wird immer dunkler, je weiter er hineingeht, und auch das erscheint ihm irgendwie falsch – dass das grelle Licht, das durch die offene Tür hereinfließt, nichts erleuchtet, sondern die Schatten für seine getrübten Augen nur noch massiver und bedrohlicher macht. Er tastet sich weiter vor, sieht weniger und weniger, bis er die Treppe erreicht, wendet sich von ihr ab – und noch immer nichts, kein Zeichen von irgendwelchen Bewohnern, kein Zeichen von irgendetwas außer ihm selbst.

Er ist allein.

Vor der Tür zum Wohnzimmer hält er, von neuer Angst gepackt, inne. Alles Mögliche könnte sich dort in der Dunkelheit verbergen, alles Mögliche dort schweigend auf ihn warten, doch er zwingt sich, hineinzuschauen, zwingt seine Augen, sich an die Lichtverhältnisse zu gewöhnen.

Als sie es tun, kann er sehen.

In ein paar Strahlen staubigen Sonnenlichts, die durch die geschlossenen Rollos kommen, erkennt er ein schlichtes, einfaches Wohnzimmer, das nach rechts in ein offenes Esszimmer übergeht, von wo aus eine weitere Tür in die Küche und den hinteren Teil des Hauses führt.

Hier stehen Möbel wie in jedem normalen Zimmer, nur dass sie alle so mit dickem Staub bedeckt sind, als wäre eine Schicht Tücher darübergebreitet. Der Junge, noch immer erschöpft, versucht, die Formen mit Wörtern in seinem Kopf zu verbinden.

Seine Augen gewöhnen sich weiter an das Licht, sodass der Raum deutlicher wird, Gestalt annimmt, Einzelheiten preisgibt –

Zum Beispiel das wiehernde Pferd über dem Kaminsims.

Mit irrem Blick, das Maul aufgerissen, gefangen in einer brennenden Welt, schaut es ihn aus einem Bilderrahmen heraus an.

Schaut ihm direkt in die Augen.

Der Junge schreit auf, denn auf einmal weiß er es, ohne den Hauch eines Zweifels, und die Erkenntnis überrollt ihn wie eine Flutwelle.

Er weiß, wo er ist.

3

Er läuft, so schnell ihn seine müden Füße tragen, taumelt den Flur entlang, wirbelt Staubwolken auf und strebt dem Sonnenschein zu wie –

(wie ein Ertrinkender der Luft –)

Undeutlich hört er sich schreien vor Angst, noch immer wortlos, noch immer unartikuliert.

Aber er weiß es.

Er weiß es, er weiß es, er weiß es.

Draußen stolpert er die Stufen hinunter, kann sich kaum noch aufrecht halten, dann gar nicht mehr. Er geht in die Knie und findet die Kraft zum Aufstehen nicht, als wäre die jähe Erkenntnis eine Last auf seinem Rücken.

Voller Panik blickt er sich um, sicher, dass irgendetwas, irgendjemand, hinter ihm herkommt, ihn verfolgt –

Aber da ist nichts.

Nach wie vor keinerlei Geräusch. Weder von Maschinen noch von Menschen, Tieren, Insekten oder sonst etwas. Nichts als eine Stille, die so tief ist, dass er sein eigenes Herz in der Brust schlagen hört.

Mein Herz, denkt er. Und die Worte, klar und scharf, durchschneiden den Nebel in seinem Kopf.

Sein Herz.

Sein totes Herz. Sein ertrunkenes Herz.

Er fängt an zu zittern, als das Grauen dessen, was er eben begriffen hat, das Grauen dessen, was es bedeutet, ihn allmählich übermannt.

Dies ist das Haus, in dem er früher gewohnt hat.

Vor all den Jahren. Das Haus in England. Das Haus, das seine Mutter um keinen Preis jemals hatte wiedersehen wollen. Das Haus, von dem sie weit, weit weggezogen waren, auf die andere Seite eines Ozeans und eines Kontinents.

Aber das ist doch unmöglich. Er hat dieses Haus, dieses Land seit Jahren nicht betreten. Seit der Grundschule nicht.

Seit –

Seit sein Bruder aus dem Krankenhaus kam.

Seit dem Allerschlimmsten, was je passiert ist.

Nein, denkt er.

Oh, bitte, nein.

Er weiß, wo er jetzt ist. Er weiß, warum es dieser Ort sein muss, warum er hier aufwacht, nachdem er –

Nachdem er gestorben ist.

Dies ist die Hölle.

Eine Hölle nur für ihn.

Eine Hölle, in der er allein ist.

Für immer.

Er ist gestorben und in seiner eigenen, persönlichen Hölle wieder aufgewacht.

• • •

Er übergibt sich.

Vornüber auf die Hände gestützt, kotzt er den Inhalt seines Magens ins Gebüsch. Obwohl seine Augen vor Anstrengung tränen, kann er erkennen, dass er eine Art durchsichtiges Gel von sich gibt, das leicht nach Zucker schmeckt. Es hört nicht auf, bis er sich ganz verausgabt hat, und da seine Augen sowieso schon tränen, scheint es bis zum Weinen nur noch ein kleiner Schritt zu sein. Er lässt es zu und sackt mit dem Gesicht nach unten wieder auf den Steinen zusammen.

Eine Zeit lang fühlt es sich an, wie noch einmal zu ertrinken, das Nach-Luft-Ringen, der Kampf gegen etwas, das größer ist als er selbst und ihn mit sich hinabziehen will, das zwecklose Bemühen, da ist nichts, was er tun kann, damit es aufhört, es verschlingt ihn einfach, und er ist nicht mehr da. Auf dem Weg liegend ergibt er sich, so wie auch die Wellen es von ihm verlangt hatten –

(Aber gegen die Wellen hatte er gekämpft, bis zum Schluss, da ist er sich ganz sicher.)

Und dann übermannt ihn die Erschöpfung, die ihm schon zusetzt, seit er zum ersten Mal die Augen aufgemacht hat, und er fällt in den Schlaf.

Und fällt und fällt und fällt –

4

»Wie lange sollen wir noch hier sitzen?«, fragte Monica vom Rücksitz aus. »Mir ist scheißkalt.«

»Hält deine Freundin eigentlich auch mal die Klappe, Harold?«, frotzelte Gudmund und sah in den Rückspiegel.

»Nenn mich nicht Harold«, sagte H leise.

Monica gab ihm einen Klaps auf die Schulter. »Das ist also der Teil der Bemerkung, der dir nicht gefällt?«

»Du wolltest doch mitkommen«, sagte H.

»Was sich als Riesengaudi entpuppt hat«, sagte Monica. »Vor Callen Fletchers Haus im Auto sitzen und darauf warten, dass seine Eltern schlafen gehen, damit wir sein Jesuskind klauen können. Du weißt wirklich, was Mädchen glücklich macht, Harold.«

Die Rückbank wurde in Licht getaucht, weil Monica anfing, wie wild auf ihrem Handy herumzutippen.

»Mach das aus!«, sagte Gudmund und griff vom Fahrersitz aus nach hinten, um es zuzudecken. »Die sehen doch das Licht.«

Monica zog es unter seiner Hand heraus. »Ich bitte dich, wir sind meilenweit weg.« Sie tippte weiter.

Gudmund schüttelte den Kopf und schaute H im Rückspiegel schief an. Es war merkwürdig. Alle mochten H. Alle mochten Monica. Aber für H und Monica zusammen hatte niemand besonders viel übrig. Anscheinend nicht einmal H und Monica selbst.

»Was wollen wir überhaupt damit machen?«, fragte Monica, die immer noch vor sich hin tippte. »Ich meine, mit dem Jesuskind. Im Ernst. Ist das nicht Blasphemie?«

Gudmund zeigte durch die Windschutzscheibe. »Das etwa nicht?«

Sie blickten alle zu der enormen Weihnachtsszenerie, die sich wie eine Besatzungsmacht über den fletcherschen Vorgarten ausgebreitet hatte. Es hieß, Mrs Fletcher ziele darauf ab, nicht nur die Aufmerksamkeit von Halfmarkets Lokalblatt, sondern auch die einer ausgewachsenen Fernsehnachrichtencrew aus Portland oder sogar Seattle zu erregen.

Das Ensemble bot einen Weihnachtsmann und all seine Rentiere aus leuchtendem, von innen angestrahltem Fiberglas dar, aufgehängt zwischen einem Baum in der Nähe des Hauses und dem Dach, sodass es aussah, als setze der schwer beladene Schlitten gerade zur Landung an. Aber das war noch lange nicht das Schlimmste. Lichterketten entsprangen aus jedem erdenklichen Spalt und Vorsprung am Haus und spannten sich bis zu jedem Ast und Mast in Reichweite. In einem Wald aus drei Meter hohen Zuckerstangen lockten mechanische Elfen den Betrachter langsam winkend in die Ewigkeit. Etwas abseits stand ein echter, meterhoher geschmückter Tannenbaum, in den Himmel ragend wie eine Kathedrale des schlechten Geschmacks, am Rand eines Rasens voll tänzelnder, thematisch zu Weihnachten gehörender Tiere (darunter unerklärlicherweise ein Nashorn mit Weihnachtsmannmütze).

Einen Ehrenplatz nahm die Geburtsszene ein, die den Eindruck vermittelte, als sei Jesus in Las Vegas geboren. Es war alles da: Maria und Joseph, die Krippe, Heu, blökendes und muhendes Vieh, kniende Hirten und jubilierende Engel, die aussahen wie mitten in einer Tanznummer erstarrt.

Und genau in der Mitte, von allen umringt, war das angestrahlte Neugeborene mit güldenem Heiligenschein, glückselig reckte es die Hände empor, um der Menschheit den Frieden auf Erden zu bringen. Es ging das Gerücht, dass es aus importiertem venezianischem Marmor gefertigt sei. Das würde sich als tragische Fehlinformation erweisen.

»Also, es ist klein genug, um es zu tragen, dein Jesuskind«, erklärte H Monica, die gar nicht richtig zuhörte.

»Lässt sich leicht mit einem Griff packen«, sagte Gudmund. »Jedenfalls leichter als das Nashorn. Was zum Teufel hat das überhaupt da zu suchen?«

»Und dann gräbst du es bis zur Hüfte in einem anderen Garten ein«, fuhr H fort und hob die Hände wie die Jesuskindstatue, als stecke er selbst halb im Boden.

»Und voilà«, sagte Gudmund lächelnd. »Ein Weihnachtswunder.«

Monica verdrehte die Augen. »Können wir nicht einfach Meth nehmen wie alle anderen auch?«

Alle lachten. Kein Zweifel, sie alle wären froh, wenn sie und H sich endlich trennen würden und alles wieder wäre wie zuvor.

»Es ist fast elf«, sagte Monica mit einem Blick auf ihr Handy. »Ich dachte, du hättest gesagt …«

Bevor sie den Satz beenden konnte, wurden sie in völlige Dunkelheit getaucht, denn, dem vom Bezirk angeordneten Zapfenstreich gehorchend, den die Nachbarn gerichtlich erwirkt hatten, erlosch das gesamte fletchersche Spektakel. Selbst von ihrem Standort aus weiter unten an der Schotterstraße konnten sie die enttäuschten Rufe aus dem letzten der Wagen hören, die den Abend damit verbracht hatten, Stoßstange an Stoßstange daran vorbeizufahren.

(Callen Fletcher, ein großer, ungelenker Junge, versuchte in der Zeit zwischen Thanksgiving und Neujahr verzweifelt, in der Schule nicht weiter aufzufallen. Für gewöhnlich gelang ihm das nicht.)

»Also schön«, sagte Gudmund und rieb sich die Hände. »Wir warten noch, bis die Autos weg sind, dann schlagen wir zu.«

»Euch ist schon klar, dass das Diebstahl ist, oder?«, sagte Monica. »Die sind total verrückt nach dieser Schau, und wenn das Jesuskind plötzlich abhandenkommt –«

»Werden sie ausrasten«, lachte H.

»Werden sie Anzeige erstatten«, sagte Monica.

»Wir bringen ihn ja nicht weit weg«, sagte Gudmund und fügte verschmitzt hinzu: »Ich finde, Summer Blaydons Haus könnte heiligen Beistand mal ganz gut gebrauchen.«

Monica wirkte zuerst entsetzt, doch dann konnte sie sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Da müssen wir aber aufpassen, dass wir sie nicht bei nächtlichen Cheerleader-Aktivitäten unterbrechen.«

»Ich dachte, du hättest gesagt, das wäre Diebstahl«, sagte Gudmund.

»Stimmt.« Monica zuckte, immer noch grinsend, die Schultern. »Aber ich hab nicht gesagt, dass mich das stört.«

»He!«, blaffte H sie an. »Willst du eigentlich den ganzen Abend mit ihm flirten oder was?«

»Wir halten jetzt sowieso besser alle mal die Klappe«, sagte Gudmund und drehte sich wieder nach vorne. »Es ist gleich so weit.«

Dann wurde es still im Wagen. Kurz quietschte es, als H mit seinem Ärmel über die beschlagene Fensterscheibe rieb. Gudmund wippte vor Aufregung mit dem Bein. Die Autoschlange verzog sich nach und nach, und noch immer herrschte Schweigen, als hielten sie alle unwillkürlich den Atem an.

Endlich war die Straße leer. Bei den Fletchers ging das Verandalicht aus.

Gudmund atmete tief und lange aus und drehte sich mit ernster Miene nach hinten um. H nickte ihm zu. »Auf geht’s«, sagte er.

»Ich komme mit«, sagte Monica und steckte ihr Handy weg.

»Bin nie von was anderem ausgegangen«, sagte Gudmund lächelnd.

Er wandte sich der Person auf dem Beifahrersitz zu.

»Bist du bereit, Seth?«, fragte er.

5

Seth öffnet die Augen.

Er liegt noch immer zusammengekrümmt seitlich auf dem Steinweg, fühlt sich auf dem harten Boden steif und verkrampft. Im ersten Moment rührt er sich nicht.

Seth, denkt er. Mein Name ist Seth.

Es scheint eine Überraschung zu sein, als hätte er es bis zu dem Traum oder der Erinnerung oder was zum Teufel das eben war, vergessen. Alles war so deutlich, dass es fast wehtut, daran zu denken. Und die plötzliche Flut von Informationen, die damit einhergeht, tut ebenfalls weh. Nicht nur sein Name. Nein, nicht nur der.

Er war dort gewesen, und alles wirkte so viel lebendiger, als eine Erinnerung oder ein Traum es hätte sein können. Er war tatsächlich dort gewesen, bei ihnen. Bei H und Monica. Bei Gudmund, der ein Auto hatte und deshalb immer derjenige war, der fuhr. Bei seinen Freunden. An dem Abend, als sie das Jesuskind aus Callen Fletchers Vorgarten geklaut hatten.

Vor kaum zwei Monaten.

Seth, denkt er wieder. Der Name will ihm auf eine merkwürdige Art wieder entgleiten, wie Sand aus einer offenen Handfläche. Ich bin Seth Wearing.

Ich war Seth Wearing.

Er holt tief Luft, und seine Nasenlöcher füllen sich mit dem ekligen Geruch von dem Zeug, das er ins Gebüsch gekotzt hat. Er setzt sich auf. Die Sonne steht jetzt höher am Himmel. Er ist schon seit einer Weile wieder draußen, aber es fühlt sich noch nicht wie Mittag an.

Wenn es so etwas wie Mittag hier überhaupt gibt. Wenn Zeit hier irgendetwas bedeutet.

Sein Kopf dröhnt fürchterlich, und selbst in dem Durcheinander von Erinnerungen, die schwer auf ihm lasten, wird er sich eines starken Gefühls bewusst, das er wohl schon die ganze Zeit über gehabt hat, aber erst jetzt benennen, mit einem Wort bezeichnen kann – jetzt, da die Dinge sich allmählich klären, jetzt, da er seinen eigenen Namen kennt.

Durst. Er ist durstig. Durstiger, als er je zuvor gewesen zu sein meint. So durstig, dass es ihn fast augenblicklich auf die Beine bringt. Er schwankt noch immer, kommt aber ins Gleichgewicht und schafft es, aufrecht zu stehen. Er begreift, dass es dieses Gefühl war, das ihn zuvor dazu getrieben hat, ins Haus zu gehen, ein unerklärlicher, aber nicht zu leugnender Drang.

Jetzt, da dieser Drang einen Namen hat, lässt er sich noch weniger leugnen.

Er sieht sich wieder diese merkwürdige, stille, verwaiste Umgebung an, in all ihrer angestaubten Verwahrlosung. Das Gefühl von Vertrautheit, das sich vorhin angedeutet hatte, ist jetzt viel bestimmter, viel klarer.

Es ist seine Straße, ja, die Straße, in der er gewohnt hat, als er klein war, eine Straße, wo er einmal zu Hause gewesen war. Links führte sie zur High Street mit ihren Geschäften und rechts ging es zu den Pendlerzügen. Er erinnert sich vor allem daran, sie gezählt zu haben. Frühmorgens, in jenen Tagen, bevor sie aus dem kleinen englischen Vorort auf die andere Seite der Welt an die eiskalte pazifische Nordwestküste gezogen waren, als er dauernd wach lag, nicht schlafen konnte und Züge zählte, als würde das helfen.

An der gegenüberliegenden Wand das leere Bett seines jüngeren Bruders.

Er schaudert beim Gedanken an diesen Sommer und schiebt ihn weg.

Denn auch jetzt ist es Sommer, oder?

Er wendet sich wieder dem Haus zu.

Seinem alten Haus.

Unverkennbar.

Es sieht verwittert und ungepflegt aus, die Farbe blättert von den Fensterrahmen ab, die Wände sind vom Regen aus undichten Rinnen beschmutzt wie die aller anderen Häuser in der Straße auch. Irgendwann ist der Schornstein teilweise eingestürzt und ein kleiner Haufen Schutt die Dachschräge bis zur Kante heruntergerutscht, als hätte es nie jemand bemerkt.

Was ja vielleicht auch stimmt.

Wie ist das möglich?, denkt er; der Durst macht es ihm schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Wie ist das bloß möglich?

Das Bedürfnis nach Wasser ist jetzt beinahe wie ein lebendiges Wesen in ihm. Er hat noch nie etwas Ähnliches empfunden, seine Zunge ist dick und trocken, seine Lippen haben Risse und Schrunden und bluten, als er sie mit der Zunge zu befeuchten versucht.

Das Haus ragt drohend vor ihm auf, als warte es schon auf ihn. Er möchte nicht wieder hineingehen, kein bisschen, doch es hilft nichts. Er muss etwas trinken. Unbedingt. Die Eingangstür steht noch offen, seit er in Panik aus dem Haus geflüchtet ist. Er erinnert sich an seinen Schock, als er das Bild über dem Kaminsims sah, wie ein Schlag in die Magengrube war das, der ihm unmissverständlich klarmachte, in welcher Hölle er aufgewacht war –

Aber er erinnert sich auch an den vom Wohnzimmer abgehenden Essbereich und an die Küche dahinter.

Die Küche.

Mit ihren Wasserhähnen.

Er geht langsam wieder auf den Eingang zu und die drei Stufen hinauf, erkennt jetzt auch den Riss in der untersten Stufe wieder, ein Riss, der nie groß genug war, um repariert zu werden.

Er schaut ins Haus und weitere Erinnerungen stellen sich ein. Diesen Flur, noch immer in Schatten gehüllt, ist er als kleiner Junge unzählige Male entlanggerannt, von der Treppe kommend, die er jetzt in der Tiefe des Hauses gerade noch ausmachen kann. Er weiß, dass sie zu den Schlafzimmern im Stockwerk darüber führt und noch weiter, bis zum Dachboden.

Dem Dachboden, wo früher sein Zimmer war. Das Zimmer, das er mit Owen geteilt hat. Das er mit Owen geteilt hat, bevor –

Erneut unterbricht er seine Gedanken. Er krümmt sich fast vor Durst.

Er muss etwas trinken.

Seth muss etwas trinken.

Wieder denkt er seinen Namen. Seth. Ich bin Seth.

Und ich werde sprechen.

»Hallo?«, sagt er, und das Wort ist ein scharfer Schmerz, weil der Durst seine Kehle in eine Wüste verwandelt hat. »Hallo?«, probiert er es noch einmal, ein bisschen lauter. »Ist da jemand?«

Keine Antwort. Und nach wie vor auch sonst kein Geräusch; nur sein Atem sagt ihm, dass er nicht taub geworden ist.

Er steht in der Tür, rührt sich noch nicht von der Stelle. Dieses Mal ist es schwerer hineinzugehen, viel schwerer, seine Angst ist konkret, Angst vor dem, was er dort vielleicht vorfindet, Angst vor der Frage, warum er hier ist, was das bedeutet.

Was es bedeuten wird. Für immer und ewig.

Doch der Durst ist jetzt ebenfalls konkret, und Seth zwingt sich, über die Schwelle zu treten, wobei er wieder Staub aufwirbelt. Seine Bandagen sind inzwischen nicht mehr annähernd weiß, seine Haut schmutzig gestreift. Er geht weiter hinein und bleibt kurz vor dem Treppenabsatz stehen. Er versucht, das Licht dort anzuknipsen, doch der Schalter klackert nur nutzlos. Er wendet sich von der Treppe ab, noch nicht bereit, sich ihrer Dunkelheit zu stellen oder auch nur richtig hinzuschauen. Fürs Erste nimmt er all seinen Mut zusammen, um das Wohnzimmer zu betreten.

Er holt tief und trocken Luft, hustet gegen den Staub an.

Und geht durch die Tür.

6

Es ist alles so wie vorher. Versprengte Sonnenstrahlen sind die einzige Beleuchtung, denn die Lichtschalter funktionieren auch in diesem Zimmer nicht. Einem Zimmer voll mit den Möbeln seiner Kindheit, wie ihm jetzt endgültig klar wird.

Da sind die fleckigen roten Sofas, ein großes und ein kleines, die sein Vater nicht ersetzen wollte, solange die Jungs noch in einem Alter waren, in dem sie alles dreckig machten.

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