Mehr als mein Herz - Chris Fabry - E-Book

Mehr als mein Herz E-Book

Chris Fabry

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Beschreibung

Truman Wiley war einmal ein erfolgreicher Journalist. Doch diese Zeiten sind vorbei. Seinen Job ist er los, seine Frau hat sich von ihm getrennt und wegen seiner Spielschulden steht ihm das Wasser bis zum Hals. Er schafft es noch nicht einmal, seinen schwer herzkranken Sohn im Krankenhaus zu besuchen. Da bietet ihm seine Noch-Ehefrau eine Rettungsleine an: Er soll die Lebensgeschichte eines Bekannten aufschreiben, der wegen Mordes zum Tode verurteilt worden ist, seine Unschuld jedoch bis zuletzt beteuert. Und noch viel wichtiger: Der Mann möchte sein Herz Trumans Sohn spenden! Truman lässt sich darauf ein und entdeckt bei seinen Nachforschungen schier Unfassbares. Schließlich wird er vor eine lebensverändernde Entscheidung gestellt ... Ein tief bewegendes Buch, das mit dem Christy Award ausgezeichnet wurde.

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Über den Autor

Chris Fabry hat bereits rund 60 Bücher veröffentlicht und wurde mehrfach mit dem renommierten Christy Award ausgezeichnet. In Deutschland wurde er mit „Junikäfer flieg“ und „Sinfonie des Himmels“ bekannt. Chris Fabry ist Vater von neun Kindern und lebt mit seiner Familie in Arizona.

Die amerikanische Originalausgabeerschien im Verlag Tyndale House Publishers, Inc.,unter dem Titel „Not In The Heart“.© 2012 by Chris Fabry© der deutschen Ausgabe 2014 by Gerth Medien GmbH, Dillerberg 1, 35614 Asslar1. Auflage 2014ISBN 978-3-96122-049-6Umschlaggestaltung: Hanni PlatoUmschlagfoto: Andrew Lever/Shutterstock (Mann),Ron Nickel/Photolibrary (Junge in Krankenhausbett)Satz: DTP Verlagsservice Apel, Wietze

Für alle Suchtkranken und die, die sie lieben

Teil I

Kapitel 1

30 Tage vor der Hinrichtung

Die Probleme mit meiner Frau begannen, als sie sich für Jesus entschied und ich mich für eine Katze.

Manchmal ist das so im Leben. Das ist einer der Gründe dafür, warum ich auf Sanibel Island in dem Cottage lebte, das schon immer mein großer Traum gewesen war, und sie in Tallahassee unseren kranken Sohn pflegte. Aber ganz so einfach ist es nun auch wieder nicht. Es war nicht nur ihre Hinwendung zur Religion, die mich beschäftigte, oder die Hoffnung, Probleme könnten gelöst werden, wenn man sich auf den Glauben einließ.

Besagtes Cottage war eine winzige Hütte, wie sie bei den Klimaerwärmungsfreaks in Mode zu sein schien. Ich hatte es nicht deswegen gekauft, aber ich recycle meine Bierdosen. Mein kleiner Beitrag. In letzter Zeit war es ein nicht unerheblicher Beitrag. Im Cottage gab es ein Schlafzimmer im hinteren Teil und ein kleines Bad, eine Küchenzeile und einen Wohnbereich, den ich als Büro nutzte. Murrow, der Kater, machte es sich normalerweise auf dem Fenstersims gemütlich und starrte mit etwa so viel Interesse hinaus auf den Strand, wie ich für die Zahlung meiner Hypotheken aufbrachte. Es ist nicht so, dass ich nicht zahlen möchte. Ich kann nicht zahlen.

Ich lag auf dem Bett und surfte im Internet, was dem Bewusstsein, dass es mir an einem Ziel und einem Job mangelte, noch zusätzlich Nahrung gab. Die Satellitenfernsehgesellschaft hatte mir vor ein paar Monaten den Saft abgedreht, darum holte ich mir online die neuesten Nachrichten über das nicht passwortgeschützte Netzwerk eines Nachbarn.

Ich hatte die Kürzungen in allen Bereichen kommen sehen. Ich wusste, es würde auch die Nachrichtenredaktionen treffen, aber ich hatte mich in dem Glauben gewiegt, dass ich bleiben könnte, auch wenn alle anderen gehen müssten. Doch ich hatte mich geirrt. Ich bekam eine Abfindung und ein Schulterklopfen. Die Preise auf dem Regal stopfte ich in einen Koffer, der jetzt auf dem Dachboden eines Cottages stand, das ich mir nicht leisten konnte.

Ich klappte meinen Laptop zu und erklärte Murrow, ich würde bald wieder zurückkommen. Als ob ihn das interessiert hätte. Barfuß verließ ich das Cottage und stieg die lange Holztreppe zum Strand hinunter. Wegen dieser Spaziergänge am Strand, bei denen ich den Kopf frei bekommen konnte, hatte ich das Cottage gekauft. Das Rauschen der Wellen, die meine Zweifel und Ängste überrollten. Der Geruch des Meeres und sein salziger Kreislauf von Leben und Tod.

Ein Elternpaar, ganz in Weiß gekleidet, ging mit seinen beiden Kindern am Strand spazieren. Wenn die Wellen heranrollten, quietschten die Kinder vor Freude.

Ich schlug die andere Richtung ein.

Mein Handy klingelte, als ich gerade an einer toten Seemöwe vorbeiging. Kein gutes Omen. „Tru, ich bin’s.“

Die Frau meiner Träume. Die Frau meiner Albträume. Alles, was gut und schlecht in meinem Leben war. Das „Ja, ich will“, das ich nicht mehr gewollt hatte.

„Ellen. Was gibt’s?“

„Wie geht es dir?“ In ihrer Frage schwang ein Hauch von Mitgefühl mit, als würde sie nicht schon über Jahre hinweg ihren brodelnden Zorn mühsam im Zaum halten. Als gäbe es keine andere drängende Frage, und als würde sie nicht gerade die Bühne bereiten für den Gnadenstoß.

„Gut. Ich mache gerade einen Spaziergang am Strand.“

Ich wünschte, du wärst nicht immer noch in meinem Kopf. Ich wünschte, du hättest nicht angerufen. Ich wünschte, ich könnte die letzten zwanzig Jahre im Sand vergraben. Was hast du dir dabei gedacht, einen Typen wie mich zu heiraten? Mein Leben ist eine Sandburg, und meine Tage sind Wind und Wasser.

„Hast du schon was gehört? Irgendwelche Angebote?“

„Keinen Plural in Bezug auf meine Jobaussichten. Nicht einmal einen Singular. Gestern hat sich der Sender aus Des Moines gemeldet. Sie haben sich für jemanden mit längeren Haaren und größeren Lungen entschieden.“

Ich hörte das trockene Lächeln in ihrer Stimme. „Es ist nur eine Frage der Zeit; das weißt du.“

„Ja, genau. Es ist immer nur eine Frage der Zeit, nicht wahr?“

Die Ironie dieser Bemerkung hing zwischen uns, und ich stellte sie mir vor in ihrem Hochzeitskleid … und ohne. Und dann, wie wir uns zum ersten Mal in der Nachrichtenredaktion der Universität getroffen hatten, sie mit einer großen Brille und einer unmöglichen Bluse. Mit ihren Haaren, die nach Meer dufteten und sich anfühlten wie Seide. Mit ihrem scharfen Verstand, dem ansteckenden Lachen und dem Instinkt eines Bluthundes bei jeder Story, die sie verfolgte. Ich dachte, wir würden immer auf derselben Seite berichten, aber irgendwann war es so, dass ich weiter Schlagzeilen nachjagte und sie im realen Leben ankam.

„Ich habe da etwas, das dich interessieren könnte“, erklärte sie.

„Wie alt ist sie?“ Im Umgang mit Menschen, die ich liebe, verhalte ich mich nicht immer geschickt.

„Es ist keine Sie. Es ist ein Er und eine ziemlich gute Story. Eine Story, die dein Leben verändern könnte.“

„Ich stehe nicht auf Männer.“

Seufzend redete sie weiter. „Hast du von Terrell Conley gehört?“

Das war, als würde sie einen Historiker fragen, ob ihm der Name Alexis de Tocqueville etwas sagt. „Ich weiß, dass er auf die Hinrichtung wartet.“

„Richtig. Nächsten Monat.“

„Ich frage mich, wie seine Henkersmahlzeit wohl aussehen wird. Wie entscheiden die das überhaupt? Shrimps oder Steak oder Hummer? Makkaroni mit Käse? Wie kann man eine Mahlzeit genießen, wenn man weiß, dass das eigene Leben in wenigen Stunden zu Ende sein wird? Wie entscheidet man, welchen Film man sich ansehen will? Welchen würdest du aussuchen?“

Sie ging nicht darauf ein. „Ich kenne seine Frau Oleta. Sie wünscht sich, dass jemand die Geschichte aus seiner Sicht schreibt. Die ganze Familie möchte das.“

Ich lachte. „In weniger als dreißig Tagen?“

„Sie haben etwas Geld zusammengekratzt. Nicht viel, aber es könnte vielleicht helfen.“

„Wie viel ist vielleicht?“

„Ich weiß es nicht genau, aber ich dachte, du könntest Gina anrufen und fragen, ob-“

„Ich arbeite nicht mehr mit Gina und der Agentur zusammen. Sie vertritt mich nicht mehr.“

„Das tut mir leid.“

„Nur ein weiteres Schlagloch auf der literarischen Schnellstraße. Übrigens glaube ich nicht, dass Schreiben mein Ding ist.“ Diese Bemerkung war nicht wirklich ernst gemeint, sondern sollte ein Kompliment hervorlocken.

„Aber du bist sehr gut“, kam dann auch prompt das Kompliment. „In letzter Zeit hast du nicht so viel Gelegenheit gehabt, aber …“

„In den letzten Jahren sind nicht viele Politiker an mich herangetreten, die für das Präsidentenamt kandidieren, oder Sportler, die mit Dopingvorwürfen konfrontiert wurden. Das meinst du doch“, erwiderte ich. „Woher kennst du diese Olata?“

„Oleta. Ich habe sie in der Kirche kennengelernt.“

Grmpf. Irgendwie wusste ich doch, dass so etwas kommen würde.

Ich blieb vor einer Sandburg stehen, die mit Hilfe mehrerer Eimer erbaut worden war. Handtücher und Liegestühle waren im Augenblick verlassen. Meerwasser war in den Burggraben gelaufen, und aus einem Bungalow, der wie ein Leuchtturm oben auf dem Felsen stand, drang fröhliches Lachen zu mir herüber. Ein Paar, das sich liebte.

„Du musst doch ungefähr wissen, um welche Summe es sich handelt.“

„Ein paar Tausend. Darüber haben wir nicht viel gesprochen. Das Wichtigste ist doch … das ist nicht nur eine große Chance für dich, sondern auch für Adrian.“

„Jetzt verstehe ich gar nichts mehr. Was hat Adrian damit zu tun?“

„Terrells Frau ist in meiner Bibelgruppe und weiß seit Jahren über Adrians Gesundheitszustand Bescheid. Sie fragt immer nach, wie es ihm geht. Es war Terrells Idee – er möchte sein Herz spenden. Adrian die Chance auf ein neues Leben geben.“

Ich hätte ein Rad schlagen sollen. Unser achtzehnjähriger Sohn sollte die Möglichkeit bekommen, ein normales Leben zu führen? Doch ich war skeptisch, wie gute Journalisten so sind. „Ellen, das ist aussichtslos. Weißt du, wie lange so etwas dauert?“

„Das ist schon vor einer Weile angeleiert worden.“

„Warum hast du mir nichts davon erzählt?“

„Du bist nicht gerade gut erreichbar gewesen.“

„Das Gefängnissystem, die Behörden, sie werden das nie-“

„Der Gouverneur nimmt die Sache ziemlich ernst. Ich habe gehört, er arbeitet mit dem Rechtsausschuss zusammen. Es ist noch nicht genehmigt, aber die Aussichten sind nicht schlecht.“

Der Gouverneur! Meine Nackenhaare richteten sich auf.

„Ellen, in Tallahassee gibt es eine Kanzlei, die alle Gesuche und Gegengesuche einreichen wird, die es nur gibt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass diese Sache Erfolg haben wird.“

„Ja, aber im Augenblick ist das unsere einzige Hoffnung.“ Ihre Stimme zitterte, und zum ersten Mal nahm ich den Lärm im Hintergrund wahr.

„Wo bist du?“

Sie schluckte krampfhaft, und ich stellte mir vor, wie sie eine Träne fortwischte. Darin hat meine Frau jede Menge Übung.

„Wieder im Krankenhaus“, erklärte sie. „Intensivstation.“

Ich fluchte verhalten, aber nicht ins Telefon. Nicht nur wegen der vielen Krankenhausrechnungen, die uns wieder ins Haus flattern würden, sondern weil es hier um meinen Sohn ging. Ich will ehrlich sein – in erster Linie dachte ich an die Rechnungen, aber die Vorstellung, dass er wieder an Schläuche und Monitore angeschlossen war, gab mir den Rest.

„Wie geht es ihm?“

„Nicht gut. Er hängt wieder an den Geräten. Dieselbe Geschichte.“

„Wie lange bist du schon da?“

„Seit gestern Abend. Er hatte Probleme beim Atmen. Und große Schmerzen. Er fragt nach dir.“

Schuldgefühle. Das musste ja kommen, nicht? „Sag ihm, er soll durchhalten, okay?“

„Komm her und besuch ihn. Das würde ihm so viel bedeuten.“

„Ja, das werde ich.“ Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen, obwohl ich wusste, dass ich wegen Adrians extremer Katzenallergie meine gesamte Kleidung säubern müsste. Er reagiert auf Katzenhaare so allergisch wie ich auf die Todeszelle.

Ganz in ihrer Nähe ertönte eine Durchsage, die mich an jene erste Zeit erinnerte, als meine Antipathie gegen Krankenhäuser noch nicht ganz so groß war. Jetzt kann ich mir noch nicht einmal Arztserien im Fernsehen anschauen. Meine Brust zieht sich zusammen, und der Geruch von Alkohol und Desinfektionsmittel mischt sich mit den Schreien eines kleinen Kindes, das Schmerzen hat, und der Erinnerung an einen Mann auf einer Bahre.

Adrians Herzkrankheit wurde durch Zufall entdeckt. Ellen achtete auf gesunde Ernährung, bevorzugte Naturheilmittel, Vollkorn-Seetangsandwiches und Eier von frei laufenden Hühnern, die jeden Abend, bevor sie sich in ihren Nestern schlafen legten, eine Gutenachtgeschichte vorgelesen bekamen. Natürliche Geburt mit einer Hebamme. All diese Dinge. Ihrer Ansicht nach waren Antibiotika des Teufels, und wenn unsere Kinder krank waren, schleppte sie sie nicht sofort zum Arzt. Aber dann musste sie selbst wegen einer Atemwegsinfektion, die einfach nicht besser wurde, doch einmal hin. Adrian war mit dabei, und aus Spaß legte die Ärztin das Stethoskop auch auf seine Brust.

Ellen weinte, als sie versuchte, den Ausdruck auf dem Gesicht der Ärztin zu beschreiben. Bei Adrians Geburt war sein Herzfehler nicht festgestellt worden.

Im Schnellverfahren lernten wir alles über angeborene Herzfehler, und es folgte eine Reihe von Operationen und Behandlungen, die unser Leben von Grund auf verändern sollten. Ellen hasst Krankenhäuser genauso sehr wie ich, aber für seine Kinder tut man eben, was getan werden muss.

„Terrell hat dieselbe Blutgruppe wie Adrian“, erklärte Ellen. „Er ist auch ungefähr genauso groß wie er, vielleicht etwas kleiner, aber das ist ja nur gut.“

„Ellen, du weißt, dass nichts daraus werden kann, nicht? Es gibt so viele Unwägbarkeiten. Und Menschen werden nicht von Ärzten hingerichtet.“

„Natürlich gibt es Richtlinien, aber es spricht nichts dagegen, einem bereits verstorbenen Spender Organe zu entnehmen.“

„Es wird einen Aufschrei geben von allen, die sich für das Leben einsetzen. Ich dachte, du wärst gegen die Todesstrafe.“

„Das bin ich auch, aber Terrell will es so.“

„Das spielt keine Rolle. In China ist es nichts Besonderes, dass Gefangenen Organe entnommen werden, aber wir leben nicht in China.“ Obwohl man beinahe den Eindruck gewinnen könnte, wenn man bei Walmart einkaufen geht.

„Das weiß ich doch. Aber ich weiß auch, dass mein Sohn sterben wird. Und Terrell und seine Frau möchten, dass aus ihrer Tragödie etwas Gutes entsteht. Sie wollen wissen, ob du seine Geschichte aufschreiben würdest. Ich dachte, dass…“

Sie verlor die Fassung, und sie weinen zu hören war, als würde ein einsames Gebet davontreiben und auf die verlassenen Küsten des Himmels treffen. Nicht dass ich glaube, dass es einen gibt, aber Sie wissen schon, bildlich gesprochen.

„Was dachtest du?“, fragte ich.

„Vielleicht geht es hierbei nicht nur um Adrian. Vielleicht geht es bei allem, was wir in den vergangenen achtzehn Jahren durchgemacht haben, um etwas Anderes. Wenn Terrells Antrag abgelehnt wird und Adrian nicht überlebt … vielleicht kann seine Geschichte dann wenigstens anderen Menschen helfen.“

Ihre Selbstlosigkeit war mehr, als ich ertragen konnte. „Weißt du was? Irgendwelche anderen Menschen, die ein krankes Kind haben, sind mir egal. Die Gefangenen, die für ihre Verbrechen büßen, interessieren mich nicht. Und ich schere mich auch keinen Deut um die Protestler und Politiker, die hier ihre Nische gefunden haben. Mich interessiert nur, dass mein Sohn am Leben bleibt. Ist das zu viel verlangt?“

Mein emotionaler Ausbruch überraschte mich selbst, und ich bemerkte, dass die Familie in Weiß ihre Kinder von mir fort dirigierte.

Doch Ellen blieb ruhig. „Hättest du Zeit, in den kommenden dreißig Tagen an dieser Geschichte zu arbeiten? Mit dem Geld könnten wir zumindest ein paar Rechnungen bezahlen.“

„Wenn sie eine Aufschiebung der Hinrichtung erreichen wollen, müssen sie sich direkt an die Presse wenden. Für ein Buch oder einen Artikel in einer Zeitschrift ist es bereits zu spät. Ihr müsst die Lokalsender für diese Geschichte interessieren und dazu bringen, dass sie darüber berichten –“

„Tru, sie wollen keine Aufschiebung. Terrell möchte Adrian sein Herz spenden. Und jemand muss seine Geschichte aufschreiben, bevor es zu spät ist. Egal wie es ausgeht, es wird eine tolle Story.“

Ich dachte bereits über einen Titel nach: Herzensangelegenheit. Plötzlicher Herztod. Herzliche Grüße aus der Todeszelle.

Sie fuhr fort: „Sie wissen über deine Vergangenheit Bescheid. Was du erlebt hast. Dass du gegen die Todesstrafe bist und aus welchem Grund. Trotz deiner Probleme, Truman, bist du der beste Journalist, den ich kenne. Du gehst einer Sache auf den Grund wie kein anderer. Ich denke, du solltest darüber nachdenken.“

Das Herz der Geschichte. Noch ein guter Titel. Ich merkte durchaus, dass sie mir Honig um den Bart schmierte. Es gefällt mir, wenn mir hübsche Frauen um den Bart gehen. Aber ich hasse die Komplikationen, die eine schöne Frau mit sich bringt.

„Ich schreibe keine evangelikalen Traktate.“

„Warum bist du nur so starrsinnig?“, zischte sie mich an. Ihre Stimme hallte nach, als hätte sie sich in eine Toilette oder ein Treppenhaus zurückgezogen. „Warum betrachtest du das hier als eine Art geistliche Verschwörung gegen dich und nicht als ein Geschenk? Das dir übrigens auf einem Silbertablett gereicht wird. Weise es nicht zurück. Du brauchst doch nicht dieselben religiösen Überzeugungen zu haben wie die Menschen, über die du schreibst. Mit Politikern oder Sportlern bist du doch auch nicht immer einer Meinung.“

„Wenn ich das mache, dann gehe ich der Wahrheit auf den Grund und bringe sie zu Papier. Ohne rosa Brille. So wie ich sie sehe. Und wenn du von mir erwartest, dass ich in jedem zweiten Kapitel den dritten Vers eines frommen Liedes einfließen lasse und das Evangelium nach Terrell zitiere, dann kann ich diesen Auftrag nicht übernehmen. Dann nehmt doch lieber einen von euch Christen.“

„Tru, sie wollen dich, weil du bist, der du bist, und weil du diese Geschichte auf deine Art erzählen wirst. Rede doch einfach mal mit Oleta. Lass es dir von ihr erklären. Wenn dir der Auftrag nicht gefällt, können sie sich immer noch einen anderen suchen. Aber die Zeit läuft ihnen davon.“

Hinter mir versank die Sonne im Meer, und der Wind frischte auf. Ein Sturm war im Anzug, das konnte ich riechen. Vielleicht hatte ich aber auch nur vergessen, ein Deo zu benutzen.

„Ich werde darüber nachdenken.“

Ich war gar nicht lange fort gewesen, doch als ich die Treppenstufen hochstieg, hörte ich, wie sich ein Fahrzeug vom Haus entfernte. Bis ich meine Haustür erreichte, waren die Scheinwerfer bereits in der Ferne verschwunden.

Murrow hockte noch immer auf dem Fensterbrett und schaute mit dem ihm eigenen überheblichen Blick auf mich herab. Menschen sind eine solche Vergeudung von Sauerstoff, schien er zu sagen. Vielleicht hatte er recht. Vielleicht waren wir wirklich vollkommen überflüssig und würden am besten von diesem Planeten getilgt. Aber etwas in mir drängte mich weiterzumachen, wie die Ameise, die vor mir einen Grashalm über den Bürgersteig zerrt, bis eine starke Windbö ihn davonbläst. Die Ameise holt sich einen anderen Grashalm und fängt von vorn an. Allein beim Zuschauen empfinde ich schon eine tiefe Erschöpfung.

An der Haustür klebte ein offizielles Schreiben, in dem mir mitgeteilt wurde, dass die Bank die Zwangsvollstreckung eingeleitet habe und ich das Haus räumen solle. Ich hatte bereits mehrere solcher Schreiben bekommen und heftete sie sorgfältig ab in der Hoffnung, die steigende Flut der Zwangsvollstreckungen würde an meinem kleinen Cottage vorübergehen, bis ich einen neuen Job gefunden hatte.

Ich riss das Schreiben von der Tür ab und putzte mir damit den Sand von den Füßen. Und plötzlich durchzuckte mich ein schrecklicher, gar nicht guter, ganz und gar übler Gedanke: die Zeitung. Mit jeder Androhung einer Zwangsvollstreckung wurde mein Name bei den amtlichen Mitteilungen veröffentlicht. Das bedeutete, dass auch andere erfuhren, wo ich steckte. Andere … sprich, Leute, denen ich Geld schuldete. Böse Menschen.

Wieder rollte ein Wagen vorbei, sehr langsam. Getönte Scheiben. Mit einem leisen Schnurren des teuren Motors.

Ich eilte ins hintere Zimmer, holte alle Koffer hervor, derer ich habhaft werden konnte, und stopfte alles von Wert hinein: Bücher. Fotos von mir mit irgendwelchen Prominenten. Verschwommene Erinnerungen an Auslandsreisen, Kriegsgebiete, Interviews mit Generälen und Würdenträgern, die entweder Ruhm erlangten oder ihr Leben verloren.

Ich widerstand dem Drang, mich hinzusetzen und in Erinnerungen zu versinken. Der vorbeifahrende Wagen hatte mir klargemacht, dass ich keine Zeit verlieren durfte. Ich packte meine Tagebücher und Notizbücher zu den Fotos in die Koffer, stopfte meine Klamotten in einen anderen und verstaute ihn im Kofferraum meines Wagens. Die anderen hievte ich mir auf die Schulter und marschierte über den sandigen Pfad zum Haus der Grahams. Nette Leute. Er hatte bei der Air Force gearbeitet und war mittlerweile pensioniert. Sie waren wegen der Sonne und der Meerluft hergekommen. Jeden Tag gingen sie am Strand spazieren wie zwei treue Hunde, Pfote in Pfote.

Jack und Millie saßen auf ihrer Veranda, und ich fragte, ob ich mir ein wenig Platz in ihrer Garage borgen könnte für einige Koffer. „Ich muss verreisen. Andere Leute werden in meinem Haus leben.“

„Kommen Verwandte zu Besuch?“

„Nein, die Bank will es haben.“

Millie rappelte sich mühsam aus ihrem Schaukelstuhl hoch und blieb eine Weile neben ihrer Haustür stehen. „Wenn du Hilfe brauchst, Truman, kannst du dich jederzeit an uns wenden.“

Jack nickte, und diese Geste trieb mir beinahe die Tränen in die Augen. „Wie viel bist du im Rückstand?“, fragte er.

„Ich brauche nur ein wenig Platz in der Garage.“

„Was ist mit deiner Katze?“

„Murrow kommt mit mir.“

„Falls wir irgendetwas tun können …“ Jacks Stimme verklang.

„Vielen Dank. Vielen Dank euch beiden. Danke für eure Freundlichkeit.“

„Wir beten jeden Tag für Adrian“, fügte Millie noch hinzu.

Die Garage war tadellos aufgeräumt. Alles hing fein säuberlich an Haken an der Wand oder war ordentlich in die Regale eingeräumt. Ich hätte auch zur Air Force gehen sollen. Im hinteren Teil fand ich ein leeres Plätzchen neben einigen Gartengeräten. Ich verabschiedete mich von Millie und Jack. Auf dem Weg zu meinem Cottage drehte ich mich noch einmal um und schaute zu ihnen zurück. Sie standen wie Wächter auf ihrer Veranda, und das verblassende Licht der untergehenden Sonne warf einen goldenen Schimmer auf sie und ihr Haus.

Als Murrow der Transportbox gewahr wurde, flüchtete er sich unter das Sofa, und ich drohte ihm, ihn an das chinesische Restaurant am Ort zu verkaufen. Eine Dose Katzenfutter und meine sanfte Stimme lockten ihn schließlich in die Box, und los ging es.

Ich schrieb meiner Frau eine SMS: Rufe deine Freundin morgen an. Kann ich Abbys Zimmer haben?

Während ich über die Küstenstraße auf die sich am Horizont zusammenballenden Wolken zufuhr, summte das Telefon in meiner Hemdtasche. Schlüssel unter dem Frosch. Keine Katze. Mit der nächsten SMS kam Oletas Nummer und eine kurze Botschaft: Du bist genau der Richtige für diese Story.

Vielleicht hatte sie recht. Vielleicht war ich genau der Richtige für diese Aufgabe. Ein Verlierer erzählt die Geschichte eines verwandten Geistes. Auf jeden Fall hatte ich nichts Besseres zu tun. Doch während meine Hand, die ich durch das geöffnete Fenster nach draußen hielt, den Widerstand der kühlen Luft spürte, fühlte es sich eher an wie das Ende eines neuen Kapitels, nicht wie der Beginn.

Kapitel 2

29 Tage vor der Hinrichtung

Ich erwachte mit dem unbestimmten Gefühl, dass ich irgendwo war, wo ich nicht sein sollte, in erster Linie deshalb, weil mich Michael Jackson und Justin Timberlake von den Wänden anstarrten. Die rosa Bettwäsche war beunruhigend, aber nicht halb so beängstigend wie das Klopfen an der Haustür und die Tatsache, dass mein Koffer noch im Wagen lag und ich mich wegen des Katzenverbots bis auf die Unterwäsche ausgezogen und meine Sachen draußen gelassen hatte.

Ich sprang aus dem Bett, lief in die Küche und spähte zum Fenster hinaus. Die einzigen Klamotten von mir, die es noch im Haus gab, lagen im Kleiderschrank in Ellens Zimmer. Alles andere hatte ich mitgenommen, der Rest war fortgegeben worden. Im Bad hing Ellens Morgenrock. Adrian hatte ihn ihr vor ein paar Jahren zu Weihnachten geschenkt. In aller Eile warf ich ihn über. Meine Männlichkeit wird durch die Farbe Rosa nicht beeinträchtigt, aber ich versuche, mich in der Öffentlichkeit nicht in Frotteekleidung zu zeigen.

„Mr Wiley?“, rief eine Frau an der Haustür.

Widerstrebend ging ich zur Tür. Dabei fiel mir auf, dass Ellen unser Hochzeitsfoto vom Kaminsims genommen und auf das Klavier gestellt hatte. War das nun ein gutes Zeichen oder noch so eine tote Seemöwe?

Ich öffnete die Haustür. Feuchte Morgenluft schlug mir entgegen. In der Nacht hatte es fast ununterbrochen geregnet. Jetzt schien die Sonne, und draußen herrschte ein Klima wie in einer Sauna. Eigentlich hatte ich Murrow bei Sonnenaufgang aus dem Auto holen wollen. So viel zu guten Absichten.

Vor der Tür stand eine Frau, die ich auf Ende 30 schätzte, obwohl afroamerikanische Frauen für mich immer etwa zehn Jahre jünger aussehen, als sie tatsächlich sind. Sie war geschmackvoll gekleidet. Eleganter brauner Hosenanzug, ausladende Reifohrringe. In einem Arm hielt sie eine ledergebundene Bibel und in der anderen eine prall gefüllte Einkaufstüte. Beinahe hoffte ich, sie würde fragen, ob sie hereinkommen und sich mit mir über die Bibel unterhalten könnte, denn dann könnte ich ihr die Tür vor der Nase zuschlagen, aber ich hatte nicht den Eindruck, dass sie von den Zeugen Jehovas kam.

Verblüfft starrte sie auf meinen Morgenrock. Ihr Blick wanderte weiter zu den Sachen, die ich am Abend zuvor über dem Emaille-Frosch vor der Tür abgeworfen hatte. Ein Teil von mir wollte es erklären, doch dann beschloss ich, sie in dem Glauben zu lassen, der Frosch wäre einfach modebewusst.

„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte ich.

„Das hängt davon ab, ob Sie Truman Wiley sind oder nicht.“

„Der bin ich.“ Ich streckte meine Hand aus.

Sie lächelte und schüttelte sie fest. „Oleta Conley. Ihre Frau sagte, ich solle heute Morgen einfach vorbeikommen. Wir sollten keine Zeit mehr verlieren.“ Sie schob sich an mir vorbei ins Haus, als würde es ihr gehören.

„Ja, kommen Sie doch herein. Ich koche uns einen Kaffee“, sagte ich.

Ich folgte ihr in die Küche. Sie bewegte sich entschlossen, als hätte sie eine Verabredung mit dem Allmächtigen. Die Tüte stellte sie auf einem der Stühle ab. Nachdenklich wanderte ihr Blick über die Schranktüren. „Ich glaube, in diesem Schrank bewahrt Ellen den Kaffee auf“, sagte sie und öffnete gleich beim ersten Mal die richtige Tür.

„Ich ziehe mir schnell mal was über, wenn Sie nichts dagegen haben. Bin gleich wieder da.“

Sie hob die Hand, ohne sich umzudrehen. Als ich zurückkehrte, roch es in der Küche nach frisch gebrühtem Kaffee. Der Duft versetzte mich auf der Stelle zurück in eine glücklichere Zeit mit Ellen, als wir morgens gemeinsam Kaffee getrunken und die Zeitungen studiert hatten. Oleta hatte das Geschirr gespült, das im Spülbecken stand, und saß nun am Tisch und las in ihrer Bibel, die etwa in der Mitte aufgeschlagen war.

„Wie geht es Adrian?“, fragte sie, ohne aufzublicken. „Haben Sie heute schon was gehört?“

„Noch nicht. Ich weiß aber, dass Ellen noch bei ihm im Krankenhaus ist.“

„Ich bete für diesen Jungen beinahe schon so lange, wie ich für meinen Mann gebetet habe. Manchmal erscheint uns Gottes Handeln ziemlich unfair, nicht?“

Ich spähte in die Tüte und brummte eine Art Zustimmung, aber ich hatte nicht vor, mich auf ein solches Gespräch einzulassen.

„Das Material werden Sie als Hintergrundinformation brauchen“, erklärte sie. „Alle Zeitungsartikel und Berichte nach dem Mord und über die Zeit, die Terrell schon im Gefängnis sitzt. Ich habe auch die Prozessprotokolle mitgebracht – zumindest die, die ich bekommen konnte. Ein Video von der Berichterstattung in den Nachrichten aus jener Zeit und eins, das bei der Verhandlung vorgelegt wurde. Ich habe erst kürzlich eine DVD davon brennen lassen. Und das ist eine Aufnahme von Terrells Lebenszeugnis. Seiner geistlichen Reise.“

„Mrs Conley, nicht so schnell. Ich weiß nicht, was meine Frau Ihnen gesagt hat, aber ich habe Bedenken in Bezug auf dieses Projekt.“

„Bedenken? Wenn ich ehrlich bin, habe ich auch Bedenken.“

„Welche?“

„Ein Mann, der seinen Sohn nicht im Krankenhaus besucht, macht mich skeptisch. Ein Mann, der seine Frau im Stich lässt, macht mich skeptisch. Ein Mann, der sein Geld an Spielautomaten verspielt, macht mich skeptisch.“

Wie beleidigend. Ich spiele nicht … nur, wenn ich Kleingeld in der Tasche habe.

„Ein Mann, der eine Katze mit herbringt, obwohl er weiß, dass sein Sohn allergisch darauf reagiert, macht mich skeptisch.“

„Ich habe sie nicht mit hereingebracht. Adrians Allergie ist der Grund, warum meine Sachen draußen über dem Frosch liegen.“

„Sie haben Ihre Katze während des Wolkenbruchs im Auto gelassen?“ Sie verdrehte die Augen. „Sie werden das hier vermasseln. Das weiß ich einfach.“

„Wenn Sie auf der Suche nach Mr Perfekt sind, dann bin ich nicht Ihr Mann“, sagte ich, schnappte mir die Tüte und hielt sie ihr hin. „Sieht so aus, als müssten Sie sich einen anderen suchen.“

„Genau das war mein Gefühl, bevor ich gehört habe, was Sie in der Vergangenheit bereits alles gemacht und erlebt haben. Und Terrell scheint tödlich entschlossen zu sein, dass Sie das Buch schreiben sollen. Ich habe versucht, es ihm auszureden, doch er hört nicht auf mich. Er meinte, Gott hätte ihm gesagt, Sie wären der richtige Mann.“

Ich dachte über die Ironie der Bemerkung nach, dass ihr Mann „tödlich entschlossen“ sei. Mein Arm mit der Tüte erlahmte. Ich stellte sie auf den Tisch zwischen uns. „Nun, dann wird das wohl eine weitere Enttäuschung in seinem Leben sein.“

„Sie weisen uns ab?“

„Ich denke, das wäre nur fair.“

Sie nahm die Tüte und stellte sie auf den Boden, wohl, um freies Schussfeld zu haben. „Ich wollte nicht zu direkt werden, aber Sie scheinen das zu brauchen. Mir gefällt nicht, was in Ihrer Familie vorgeht, aber ich weiß auch, dass jede Medaille zwei Seiten hat, also bin ich bereit, Ihnen einen Vertrauensvorschuss einzuräumen.“

„Sie brauchen mir gar nichts einzuräumen, Oleta. Und wenn Sie jetzt gehen würden, füttere ich meine Katze und fahre zum Krankenhaus.“

„Mr Wiley, setzen Sie sich.“

„Nein, das ist mein Haus.“

„Das ist nicht Ihr Haus. Sie haben Ihr Haus verlassen und sich mit irgendeinem jungen Ding in Ihre Hütte am Strand zurückgezogen.“

„Hat Ellen Ihnen das erzählt?“

„Warum sonst lassen Männer ihre Familien im Stich?“

„Offensichtlich sind Sie falsch informiert. Ich hatte keine andere. Ich brauchte etwas Zeit für mich, um nachzudenken.“

„Und Sie haben noch nicht genug von Reisen in den Kosovo, nach Bagdad, Afghanistan oder an andere Kriegsschauplätze? Lassen Sie mich Ihnen eine Frage stellen: Wie viele Geburtstagspartys Ihrer Kinder haben Sie verpasst? Wie viele Spiele der Schulmannschaften? Klaviervorspiele? Den Abschlussball Ihrer Tochter?“

Das zeigte, dass sie gar nichts wusste – Adrian hatte nie in einer Schulmannschaft gespielt.

„Und was wollen Sie damit sagen?“, fragte ich.

„Ich will damit sagen, dass Sie ein schlechter Vater gewesen sind. Ob Sie nun eine Geliebte haben oder nicht, ist bedeutungslos. Aber Sie haben die Möglichkeit, das Talent, das Sie bekommen haben, sinnvoll einzusetzen. Sie können etwas tun, das etwas bewirken wird.“

„Und Sie bieten mir die Chance, innerhalb von dreißig oder weniger Tagen zu beweisen, dass Ihr Mann unschuldig ist.“

„Es sind jetzt nur noch neunundzwanzig“, korrigierte sie. „Und es geht nicht darum, irgendetwas zu beweisen.“

Oleta erhob sich und holte sich eine Tasse aus dem Schrank. Sie goss sich Kaffee ein und setzte sich wieder.

„Ich weiß, dass Terrell das Gefängnis nur noch im Leichenwagen verlassen wird“, bemerkte sie. „Mit einem Schildchen an seinem großen Zeh. Ich habe mich damit abgefunden. Und er auch.“

„Dann gibt er also zu, dass er dieses Verbrechen begangen hat.“

„Nein. Er hat diese Frau nicht getötet.“

„Und warum wollen Sie nicht, dass ich Beweise für seine Unschuld finde?“

„Wenn Sie das können, umso besser. Ich hätte Terrell gern wieder zurück, aber ich mache mir in dieser Hinsicht keine Hoffnungen.“ Die Kaffeemaschine gurgelte und zischte. „Ich wäre ja eine Närrin, wenn ich Sie anstellen würde, damit Sie Beweise für die Unschuld meines Mannes finden, wo Ihr Sohn doch auf sein Herz wartet. Wie nennt man das – einen Interessenskonflikt?“

Ich nickte, immer noch stehend. Diese Frau war wirklich eine Bulldogge. Und auch sehr klug. Ich hasse kluge Bulldoggen.

„Mein Ziel ist nicht, diese Hinrichtung zu stoppen. Wenn Gott eingreifen möchte, dann bin ich natürlich einverstanden. Mehr als einverstanden. Aber mein Glaube ist groß genug, um zu erkennen, dass es auf diesem Weg, auf den wir geführt wurden, um mehr geht als um die Frage, ob Terrell schuldig oder unschuldig ist. Josef wurde für etwas, das er nicht getan hatte, ins Gefängnis geworfen, und am Ende hat er seine Familie und das ganze jüdische Volk gerettet.“

Ganz vage erinnerte ich mich an die Geschichte von Josefs buntem Mantel. Der nächste Schluck Kaffee holte mich in die Gegenwart zurück.

„Ich möchte, dass Terrells Geschichte erzählt wird, weil sie einem anderen Menschen vielleicht helfen kann“, erklärte sie. „Die Wahrheit hilft immer weiter. Sie könnte sogar Ihnen helfen.“

„Oh, ich verstehe. Das ist also Ihr Plan. Sie haben sich mit meiner Frau verbündet. Sozusagen Gefängnisdienst von innen nach außen. Terrell möchte meine Seele retten, bevor er in die Todeskammer geht.“

Sie schüttelte langsam den Kopf. „Ellen hat nicht einmal annähernd beschrieben, wie gemein Sie sein können.“

„Ich? Sie werfen mir vor, meine Frau betrogen zu haben, und jetzt bin ich derjenige, der gemein ist?“

Sie erhob sich, goss den Rest Kaffee ins Spülbecken und schaltete die Kaffeemaschine aus, als wäre ich dazu nicht in der Lage.

„Sieht so aus, als wären wir uns auf dem falschen Fuß begegnet“, sagte sie. „Ich entschuldige mich dafür, dass ich-“

„Kein Problem. Ich verzeihe Ihnen. Hier ist Ihre Tüte und ich wünsche Ihnen noch alles Gute.“

„Auf Wiedersehen, Mr Wiley“, sagte sie, ging nach draußen und zog die Tür hinter sich ins Schloss.

Ich blieb in der Küche stehen und schäumte vor Wut, bis ich mein Handy im hinteren Schlafzimmer läuten hörte. Während ich mich meldete, starrte ich Michael und Justin an.

„Bist du wach?“, fragte Ellen.

„Ja, ich habe deine Freundin Oleta kennengelernt.“

„Was ist passiert?“

„Sagen wir, wir kamen nicht sonderlich gut miteinander klar.“

Die Türglocke läutete.

„Tru, du musst ihr nachgehen.“

„Nein, das tue ich nicht.“

„Vermassle das nicht.“

Ich ging zur Haustür. „Sieh mal, es gibt gar nicht genug Geld auf der Welt für diesen Job. Mit Menschen wie ihr kann ich nicht zusammenarbeiten.“

Durch das kleine Fenster in der Tür erspähte ich braune Haare und kreisende Ohrringe.

„Sie ist wieder da; bleib dran.“

„Rede mit ihr, Tru.“

Ich öffnete die Tür. „Ja?“ Es war nicht das höflichste Ja in der Geschichte des Türöffnens, aber mehr war nicht drin.

„Ich dachte, es würde Sie vielleicht interessieren, dass Ihr Wagen fort ist.“

Die Einfahrt, wo ich ihn abgestellt hatte, war leer.

Oleta wandte sich zum Gehen, und ich rief ihr nach: „Haben Sie gesehen, wer ihn abgeholt hat?“

„Ein Mann mit einem Abschleppwagen.“

Ich drückte mir das Telefon ans Ohr. „Ich rufe zurück.“

Kapitel 3

Ich wünschte, ich könnte sagen, dass ich in diesem Augenblick nur an Murrow gedacht habe, aber ich will nicht lügen. Eine oder zehn Sekunden vor ihm kam mir mein Laptop in den Sinn. Ich schlüpfte in meine Schuhe, die vor der Tür standen, und rannte hinaus auf die Straße. Das bedrückende Gefühl, dass ich den Wagen nicht zurückbekommen würde, wollte nicht weichen. Niemals.

Oleta saß in ihrer schon etwas betagten Limousine und wartete. Ich rannte auf den Bürgersteig und versuchte mich an die Namen unserer Nachbarn zu erinnern. Da war Todd mit dem makellosen Rasen, der Unkraut mit der Pinzette auszupfte und an jedem Wochenende seine Flagge hisste. Ich erinnerte mich auch an eine ganze Reihe anderer, aber die Aussicht, an ihre Türen zu klopfen, begeisterte mich nicht gerade.

Hallo, hier ist Truman aus Ihrer Straße. Erinnern Sie sich noch an mich? Ich bin der Mann, der, nachdem er seinen Job verloren hat, seine Frau und Kinder verließ und wie ein Einsiedler gelebt hat. Können Sie mir vielleicht helfen? Es gibt ein paar Dinge, zu denen kann man sich einfach nicht durchringen.

Das Auto fuhr vor und hielt an. Oleta beugte sich herüber und öffnete die Beifahrertür. Der Motor hörte sich an, als litte er gleichzeitig an Arthritis und Hexenschuss und vielleicht noch an Darmkoliken. Aber Oleta besaß wenigstens noch einen fahrbaren Untersatz, im Gegensatz zu mir.

„Wollen Sie da stehen bleiben oder steigen Sie jetzt ein?“, schnauzte sie mich an.

Ich schluckte meinen Stolz hinunter.

Das Wageninnere sah nicht viel besser aus als das Äußere. Auf dem Boden eine erkleckliche Anzahl Tüten von Burger King und McDonald’s. Zwei leere Coladosen in den Haltern. Die zwischen die Sitze geschobenen Verkaufsschilder machten es richtig gemütlich.

„Haben Sie Probleme mit Ihrem Wagen?“, fragte sie mit vorgetäuschter Anteilnahme. „Wurde er deshalb abgeschleppt?“

„Es handelt sich um eine Sachpfändung. Das kenne ich schon.“

Sie schwieg, und ich bemerkte, dass christliche Musik durch den einen Lautsprecher kam, der noch funktionierte. Zufällig der auf meiner Seite. Irgendetwas von Gott, der in der Wüste und Wildnis seinen Segen schenkt, blablabla. Hatte Oleta extra eine Kassette eingelegt, um mich zu erreichen? Nein, ein Moderator mit tiefer Stimme informierte uns über die Zeit und die gegenwärtigen Temperaturen.

Sie nannte mir die Adresse des nächsten Abschlepphofs. „Ich habe den Wagen in diese Richtung fahren sehen, aber wenn er doch woanders hin ist, müssen Sie allein weitersuchen. Ich darf nicht zu spät zur Arbeit kommen.“

„Wo arbeiten Sie?“

Sie nannte mir die Straße.

„Nein, ich meinte, was arbeiten Sie?“

„In einer Immobilienfirma. Aber früher war ich bei einem Abschlepphof angestellt. Ich weiß also, wie das funktioniert. In den vergangenen Jahren habe ich jede Arbeit angenommen, die ich kriegen konnte, um die Familie über Wasser zu halten.“ Sie lachte scheppernd.

„Sie und Terrell haben Kinder?“

„Wir hatten zwei Kleine, als er verhaftet wurde. Wegen ihnen hatte ich ihn davongejagt. Seine Trinkerei wurde einfach zu viel. Ich habe mir immer eine große Familie gewünscht, wissen Sie. Viele Kinder, die zum Weihnachtsessen kommen, und …“ Ihre Stimme verklang, als wir an einem Stoppschild anhielten. „Die beiden sind jetzt erwachsen und aus dem Haus. Es ist mir nicht gelungen, sie so zu erziehen, wie ich es mir vorgestellt hatte, aber insgesamt kommen sie ganz gut zurecht.“

„Das ist schon eine Leistung.“

Sie beschleunigte, um die Grünphase der Ampel noch zu erwischen, und warf einen Blick auf ihre Uhr. Vor uns entdeckte ich einen Abschleppwagen, aber er hatte nicht meinen Wagen im Schlepptau.

Ich starrte zum Fenster hinaus und spürte ihren Blick auf mir. Abscheu, aber auch Mitgefühl lagen darin. Das war ungewohnt für mich. Ich mochte die Bewunderung der Leute lieber und hörte sie gern sagen: „Sind Sie nicht der Mann aus dem Fernsehen?“

Ihre Stimme, so sanft, als würde sie beten, drang über die Musik und das Geratter der Klimaanlage hinweg an mein Ohr. „Ich möchte mich dafür entschuldigen, dass ich Sie so hart angegangen bin. Dazu hatte ich kein Recht. Ich kann mir das nur so erklären, dass ich immer noch so zornig auf Terrell bin. Seine vielen schlechten Entscheidungen haben ihn dahin gebracht, wo er jetzt ist. Ich habe meinen Zorn an Ihnen ausgelassen.“

„Welche Entscheidungen?“

„Ach, Sie wissen schon, die Leute, mit denen er sich abgegeben hat. Die Abhängigkeit von Alkohol und Drogen und seine Weibergeschichten. Meine Bekannten und Freunde haben mir geraten, mich von ihm scheiden zu lassen, aber dazu konnte ich mich nicht durchringen. Und in vieler Hinsicht ist mein Leben jetzt besser geworden wegen dem, was wir erlebt haben. Ich weiß nicht, ob ich jemals zu Gott gefunden hätte, wenn wir nicht all das hätten durchmachen müssen. Und er ganz bestimmt nicht, davon bin ich überzeugt.“

Asphalt und Palmen und die immer höher steigende Sonne. Darauf konzentrierte ich mich, während ich ihren Glaubensangriff über mich ergehen ließ.

„Ich kenne Ihre Seite der Geschichte nicht, und ich hätte nicht so auf Sie losgehen sollen. Das war nicht gerade der beste Weg, Sie für meinen Auftrag zu gewinnen.“

„Es ist schön, dass Sie das sagen.“

Aber wie jeder Christ, den ich kenne, wusste sie nicht, wann sie aufhören sollte. „Ich identifiziere mich sehr stark mit Ihrer Frau. Ich sehe ihren Schmerz. Sie steht wegen Adrian kurz vor einem Zusammenbruch, das merke ich. Um ehrlich zu sein, als Sie die Tür geöffnet haben, hatte ich beinahe erwartet, einem Ungeheuer gegenüberzustehen. Ich habe Sie im Fernsehen gesehen, aber ich rechnete damit, die Mr-Hyde-Seite zu sehen zu bekommen, falls Sie verstehen, was ich meine.“

„Ich kann auch durchaus ein Ungeheuer sein.“

Ihr Lachen war ein gurgelndes Glucksen, das tief aus ihrem Inneren kam. „Das kann ich mir vorstellen.“

„Und ich war auch nicht gerade höflich zu Ihnen“, lenkte ich ein.

Sie bog nach links ab, und wir fuhren in einen Stadtteil, den ich tunlichst meide – die Schaufenster mit Brettern vernagelt, Riegel an den Fenstern. Die Leute versuchten vergeblich, sich im Schatten zu halten, während die Sonne immer höher stieg und der Asphalt auf den Straßen schon beinahe Blasen warf.

„Wurde Ihnen schon einmal ein Wagen gepfändet?“, fragte sie.

„Zum Glück kann ich sagen, dass dies das erste Mal ist.“

„Nun, die schlechte Nachricht ist, Sie haben Ihren fahrbaren Untersatz verloren, aber das, was sich im Auto befindet, ist noch immer Ihr Eigentum. Das können sie Ihnen nicht wegnehmen. Es erstaunt mich, dass der Wagen überhaupt abgeschleppt wurde, obwohl sich doch offensichtlich ein Tier darin befand.“

„Vielleicht haben die Abschlepper das nicht gesehen. Ich hatte die Box hinter den Vordersitz gestellt und mein Hemd darüber gelegt, damit die Sonne nicht direkt auf den Kater herunterknallt. Falls ich verschlafe.“

Sie kräuselte die Lippen. „Sie hätten sich einen Wecker stellen sollen.“

„Ja, das wäre wohl besser gewesen.“

„Nun, falls wir ihn finden, können Sie vielleicht – sehen Sie nur! Hier sind wir richtig.“

Mein BMW wurde gerade in einem großen Bogen auf einen umzäunten Parkplatz gezogen. Irgendwie erinnerte mich der Anblick an eine Filmszene. Der Abschlepphof schien den Ausdruck Schrottplatz noch aufzuwerten. Oleta drehte, parkte ihr Auto vor dem Büro und begleitete mich hinein.

Das Mädchen am Schreibtisch kannte sie nicht, aber aus den Tiefen des Gebäudes ertönte ein Schrei: „Oleeeeeta! Was machst du denn hier, Mädchen?“

Ich beobachtete durch die Fensterscheibe, wie ein bärtiger Mann in einem verdreckten Overall den Wagen loshakte, nachdem er mit Oleta gesprochen hatte. Als ich meine Schlüssel aus der Tasche zog, schnippte Oleta mit den Fingern und warf mir einen warnenden Blick zu. „Sie bleiben, wo Sie sind.“

Warten ist wider meine Natur. Meine Spezialität ist es, aktiv zu sein, ob es nun darum geht, eine Nachrichtenquelle aufzuspüren oder an Menschen vorbeizukommen, deren Aufgabe es ist, mich an einem Interview zu hindern. Ich sah zu, wie der Mann die Ketten von der Ladefläche seines Abschleppwagens löste und die vordere Tür öffnete. Kurz darauf trat er mit der mit meinem Hemd abgedeckten Transportbox ins Büro.

„Ich brauche Wasser – ich glaube, ich habe hier eine dehydrierte Katze“, rief er mit breitem Südstaatenakzent.

„Welcher Idiot lässt denn bei dem Wetter seine Katze im Wagen?“, fragte die Frau am Schreibtisch.

Oleta deutete auf mich. „Er. Aber urteilen Sie nicht vorschnell. Wir sind schon seit einer halben Stunde hinter Ihnen her.“

Der Mann blickte mich an. „Ich schleppe niemals ein Fahrzeug ab, wenn ein Tier darin sitzt. Ich habe es nicht gesehen.“

Ich nickte. „Das glaube ich Ihnen. Bekomme ich denn jetzt meinen Wagen zurück?“

Er lächelte und zeigte seine Zähne; einige waren dunkel, einige nicht mehr vorhanden. „Tut mir leid, das habe ich nicht zu entscheiden.“

Oleta tippte mir auf die Schulter, und ich nahm die Box mit Murrow und holte den Laptop und meinen großen Koffer aus dem Kofferraum. Wir stiegen wieder in den Lincoln und fuhren davon. Doch sie steuerte nicht ihr Immobilienbüro an, sondern wendete, und kurz darauf standen wir vor dem Tallahassee General Hospital.

„Ich kann da nicht reingehen“, sagte ich.

„Doch, das können Sie. Ihr Sohn liegt dort.“

„Sie verstehen nicht.“

„Nun, ich verstehe, dass ich zu spät zur Arbeit komme und Ihnen meinen Wagen nicht leihen kann. Gehen Sie und besuchen Sie Ihre Frau und Ihren Sohn.“

Ich öffnete die Beifahrertür und schnappte mir Murrows Box.

„Lassen Sie den Kater bei mir“, erklärte sie. „In der Nähe des Büros gibt es eine Tierhandlung. Ich werde Futter und ein Katzenklo für ihn besorgen. Sie dürfen ihn sowieso nicht mit auf die Intensivstation nehmen.“

Murrow schien ziemlich verärgert zu sein. Aus irgendeinem Grund erschien es mir grausam, ihn einer Fremden mitzugeben, aber vielleicht versuchte ich auch nur, mich an etwas zu klammern, was ich kannte.

„Also gut. Das wäre eine große Hilfe. Ich komme vorbei und hole ihn ab, sobald ich mir einen Wagen besorgt habe.“

„Nehmen Sie das mit.“ Sie reichte mir die Papiertüte und schrieb ihre Telefonnummer und Adresse darauf. „In der Zwischenzeit könnten Sie das Material sichten.“

Es herrschte viel Betrieb in der Einfahrt des Krankenhauses, beinahe wie auf dem Flughafen, und eine längere Unterhaltung schien nicht angezeigt. Ich stand mit dem Rücken zu ihr und der geöffneten Tür auf dem heißen Asphalt, den Laptop in den Armen, und überlegte.

„Ellen sagte, sie wären bereit, einen Vorschuss zu zahlen.“

Sie kramte in ihrer Tasche und zog einen Umschlag hervor. „Der Scheck ist auf Sie ausgestellt. Vermutlich ist es nicht so viel, wie Sie sonst bekommen, aber es ist ein Anfang.“

Ich nahm den Umschlag, doch sie hielt ihn fest, bis ich gezwungen war, ihr in die Augen zu schauen. „Dieses Geld zusammenzubekommen hat lange gedauert.“

Ich öffnete die Klappe und sah mir die Summe auf dem Scheck an. Sie hatte recht – es war nicht einmal ein Drittel des Vorschusses für mein letztes Buch, aber das lag auch schon ein paar Jahre zurück. Auf jeden Fall könnte ich einige der Schulden damit begleichen. Wenn man kein Einkommen hat und durch einen Sumpf von Rechnungen watet, sind alle Scheine Gold. Ich brachte es nicht über mich, sie darauf hinzuweisen, dass dies eine ungewöhnliche Vorgehensweise war. Aufträge für ein Buch wurden normalerweise über Agenten vergeben, nicht persönlich; Verträge müssen geschlossen, ein Verlag gefunden werden. Und vom Zeitpunkt des ersten Federstrichs an dauert es mindestens ein Jahr bis zur Fertigstellung.

„Wenn Sie so viel Geld gespart haben, warum haben Sie nicht früher einen Ghostwriter engagiert?“

„Es wird Ihnen schwer fallen, das zu glauben, aber Gott hat mich mit diesem Geld beschenkt. Er hatte mir aufgetragen, Geld zu sparen, aber bei unserer angespannten finanziellen Situation ging das einfach nicht. Doch er hatte einen Plan. Es ist mir einfach zugefallen, und ich wusste sofort, dass es für jemanden bestimmt war, der Terrells Geschichte aufschreiben sollte. Und wenn ich mich an Sie gewandt hätte, als es Ihnen noch gut ging, hätte ich Sie sicher nicht dafür interessieren können.“

Sie ließ den Umschlag los. „Ich glaube, wir werden auf die schwierigen Zeiten in unserem Leben vorbereitet in einer Weise, die wir uns nicht einmal vorstellen können. Sie sollen hier sein, Mr Wiley. Sie sollen dieses Buch schreiben. Und ich bin davon überzeugt, dass der Allmächtige dieses Projekt in Ihre Hände gelegt hat. Darum lasse ich los.“

Wirklich ein großer Glaube.

„Falls ich beschließe, den Auftrag anzunehmen, wann kann ich mich mit Terrell treffen? Es gibt doch sicher eine Besucherliste, richtig?“

Sie lächelte. „Sie stehen bereits drauf. Ich denke, Sie könnten ihn noch in dieser Woche besuchen. Der Gefängnisdirektor wird natürlich nicht gerade begeistert sein, dass Sie Reporter sind.“

„Ich bin kein Reporter. Ich bin ein Freund der Familie.“

„Das ist gut. Und Sie sind der Vater des Jungen, dem Terrell helfen möchte.“

Ein Sicherheitsbeamter bedeutete Oleta mit einem Handzeichen, weiterzufahren.

„Sie hoffen, dass ich seine Unschuld aufdecke.“

„Zweifellos werden Sie feststellen, dass er unschuldig ist, denn das ist die Wahrheit. Aber Freiheit bedeutet nicht zwangsläufig, dass die Gefängnistore weit aufschwingen. Ich erwarte kein Wunder in letzter Minute. Ich vertraue Gott, dass er tut, was das Beste ist.“

„Und das wäre?“

„Dass alles zu unserem Besten zusammenwirkt.“

Gehört hatte ich das schon mal, doch erlebt hatte ich mein Leben lang etwas ganz anderes. Gott, falls er tatsächlich dort oben existierte, hatte nie etwas zu meinem Besten gewirkt. Oder zum Besten meiner Frau, meines Sohnes oder meiner Tochter.

„Mr Wiley, Gott hat einen Plan. Er hat Sie aus einem besonderen Grund hierher gebracht. Er hat Sie in die Tiefe geführt und an die Grenze Ihrer selbst, damit er etwas Neues beginnen kann.“

Na, wunderbar! Gott ist wirklich gut. Ich konnte mich kaum bezähmen, nicht in Hallelujarufe auszubrechen. Ich stopfte den Umschlag in die Tasche, stieg aus dem Wagen aus und beugte mich zum Fenster hinunter. „Lassen Sie Ihrem Mann eine Nachricht zukommen. Richten Sie ihm aus, er möge sich möglichst ausführliche Notizen über den Fall machen, alles aufschreiben, woran er sich noch erinnert. Einzelheiten. Dinge, die er den Menschen mitteilen möchte. Letzte Worte. Zehn Lebenslektionen aus der Todeszelle. Was auch immer.“

Gespräche mit dem elektrischen Stuhl.

„Dann übernehmen Sie den Auftrag also?“, fragte sie.

Ich nickte. „Wir sollten einen Vertrag aufsetzen.“

Der Sicherheitsbeamte verlor die Geduld. Er kam auf uns zu, und sein Gang verriet uns, dass wir am besten freiwillig verschwinden sollten.

„Wir brauchen keinen Vertrag“, erklärte sie. „Sie geben mir jetzt Ihr Wort, dass Sie das zu Ende bringen, bevor Terrell …“ Sie konnte den Satz nicht zu Ende sprechen.

„Abgemacht“, sagte ich. „Es wird nichts an dem ändern, was geschehen wird, aber wenigstens steht seine Geschichte dann so auf dem Papier, wie er sie erzählt haben möchte. Dass sie veröffentlicht wird, kann ich nicht versprechen. Aber ich werde sie schreiben, und ich werde es gut machen. Ich werde dafür sorgen, dass sie lesbar und fesselnd ist.“

Sie wischte sich eine Träne von der Wange und nickte. „Ich glaube Ihnen. Danke.“

Die schwierigsten Fragen fallen einem manchmal erst im letzten Augenblick ein. Fragen, die man einem Präsidenten zuruft, der auf einen Helikopter zugeht, oder einem Gefangenen in Handschellen, der zum Streifenwagen geführt wird.

„Warum tut er das für meinen Sohn?“, fragte ich sie.

Sie blickte mich mit ihren müden Augen an, in denen Tränen glitzerten. Eine schwarze Frau mittleren Alters, die eineinhalb Höllen durchlebt hatte. „Er tut es nicht speziell für Ihren Sohn. Er tut etwas Gutes, das dem Schlechten einen Sinn geben soll. Ihr Sohn ist nur der Empfänger der Gnade Gottes.“

Ich nickte und drehte mich zum Krankenhaus um.

Kapitel 4

Ellen Wiley saß am Bett ihres Sohnes und fühlte sich unendlich hilflos. Wieder einmal. Sie hatte schon so viel Zeit in Krankenhäusern, Arztpraxen und Untersuchungsräumen verbracht, auf Ergebnisse gewartet und Gott angefleht, diesen Wahnsinn doch endlich zu beenden. Aber das hatte er nicht getan. Er hatte sie diesem Labyrinth von Ärzten, Krankenschwestern und Pflegern überlassen. Und das Ergebnis war das ausgezehrte Gesicht ihres Sohnes, kraftlos und bleich.

Sie hatte sich ihr Leben anders vorgestellt. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätten sie und Truman vier Kinder bekommen, ein schönes Haus und genug Geld gehabt und ihr Leben genossen bis ins hohe Alter. Am Wochenende hätten sie ihre Enkel zu Besuch gehabt. Sie hätten lange Spaziergänge am Strand gemacht und wären in den Armen des anderen gestorben.

Die einzigen Spaziergänge, die sie jetzt machte, unternahm sie allein, zum Schwesternzimmer oder zur Cafeteria, um sich etwas zu essen zu holen, das sie dann doch nicht bei sich behalten konnte. Es war lange her, seit Truman sie in den Armen gehalten hatte. Und schon lange hatte sie nicht mehr den Wunsch verspürt, ihn in den Armen zu halten.

Den Ton des Herzmonitors hatte eine der Schwestern abgeschaltet, doch Ellen hörte das Piepen trotzdem. Es verfolgte sie im Schlaf. Sie hörte es sogar, wenn sie gar nicht im Krankenhaus waren. Ihre Tage waren bestimmt von einem ununterbrochenen Strom von Tabletten, Spritzen und Monitoren – und das alles lag absolut und unwiderruflich außerhalb ihrer Kontrolle.

Auf der Intensivstation eines Krankenhauses wie diesem hatte sie die Mutter eines Kindes kennengelernt, das an einer ähnlichen Herzerkrankung litt wie Adrian. Im Gegensatz zu Ellen, die ständig in Angst und Sorge lebte, strahlte diese Frau inneren Frieden und Ruhe aus. Im Laufe der folgenden Wochen, während die Gesichter der Ärzte zunehmend grimmiger wurden, saß Ellen mit dieser Frau zusammen, trank Unmengen Kaffee und beobachtete, wie die Familie mit unerschütterlichem Glauben den Tod ihrer Tochter durchlebte.

Ellen weinte bitterlich über den Verlust, mehr als die Mutter, und sie wunderte sich über die Reaktion dieser Familie. Als die Frau nach der Beerdigung zu ihr kam, um sich nach Adrian zu erkundigen, bat Ellen sie, ihr zu erklären, wie es sein konnte, dass sie trotz ihres Verlustes so gelassen wirkte.

An jenem Tag wurde Ellen klar, dass sie das haben wollte, was diese Frau besaß. Vorher war ihr einziger Wunsch gewesen, ihre Probleme zu überwinden und dann zurückblicken zu können auf eine schwierige Zeit. Ihre Eltern lebten nach der Devise: „Gott hilft denen, die sich selbst helfen.“ Die politische Karriere ihres Vaters war im alten Virginia legendär, und ihr geistliches Leben als Familie war nur eine Fassade der Religiosität. Sobald Ellen ihr Elternhaus verlassen und ihr Studium an der Universität von Virginia aufgenommen hatte, warf sie die Kirche samt allen Regeln, Geboten und Konventionen über Bord. Sie rebellierte nicht, sondern lebte, wie ihre Eltern es ihr vorgelebt hatten, ohne einen Glauben vorzutäuschen, den sie nicht besaß.

Nach mehreren gescheiterten Beziehungen hatte sie in Tru ihren Seelengefährten kennengelernt, und erst da hatte sie das Gefühl, dass ihr Leben vollständig war. Komplett. Mit keinem anderen ihrer Freunde hatte sie den Rausch des Miteinanders so intensiv erlebt wie mit ihm. In ihrem gemeinsamen Leben, so stellte sie sich vor, würden sie gemeinsam als Journalisten Karriere machen; sie im Bereich der Printmedien, er in der Fernsehberichterstattung, und sie würden in Washington ein angenehmes, aber auch spannendes Leben führen. Später dann könnte sie eine Kolumne schreiben und er vielleicht eine Talkshow am Sonntagmorgen machen.

Und dann kam 1989 Abigail, ganz unerwartet, auf die Welt. Die süße Abby, ihr Kind der Liebe, Kind der Hoffnung, Kind der Krise. Eine Abtreibung hatte Ellen nie in Betracht gezogen, Truman dagegen schon. Aber vier Jahre später, als Ellen durch den Mittelgang der Kirche schritt, streute Abby ihnen Rosenblätter hin, und Ellen wusste, dass ihre Entscheidung richtig gewesen war.

Niemand hatte zu der Zeit eine Ahnung davon, dass Adrian bereits in ihrem Leib heranwuchs. Und dieses herzkranke Kind würde ihr schließlich zu etwas verhelfen, das viel größer war als ihr eigener Plan.

Jetzt, wo es so schlimm um ihn stand, betete sie manchmal, Gott möge Adrian nicht heilen, sondern ihn einfach zu sich nehmen. Seinem Leiden ein Ende setzen. Nicht ihrem, sondern seinem. Sie wusste, wo er hingehen würde, vollständig heil, vollkommen glücklich auf der anderen Seite des Vorhangs. Dieses selbstlose Gebet dauerte nur einen kurzen Augenblick, dann flehte sie Gott wieder an – um nur noch einen weiteren Tag, eine weitere Stunde.

Wenn sie an Abigail und Truman dachte, war ihr innerer Konflikt noch größer, falls das überhaupt noch möglich war. Und darin lag die Ironie. Ihr Sohn hatte zahllose Male an die Tür des Todes geklopft, nein, sich dagegen gelehnt, doch ihr innerer Alarm schlug an, wenn sie an ihre Tochter und ihren Mann dachte.

Adrian schnappte nach Luft und schlug plötzlich die Augen auf. Er blickte sie an und fuhr mit der Zunge über seine aufgesprungenen Lippen. Bevor er sich noch zu Wort melden konnte, hielt sie ihm bereits den Becher mit dem Strohhalm an die Lippen. Er hob leicht den Kopf an und trank einen Schluck, dann sank er zurück und schloss die Augen. Sie umschloss seine kalte, feuchte Hand mit ihren warmen Händen und wünschte, sie könnte irgendetwas tun. Wenn es möglich gewesen wäre, hätte sie ihm ohne zu zögern ihr Herz gegeben.

„Ich hatte einen Traum“, sagte er. Seine Stimme war kaum lauter als ein Flüstern, aber sie war geübt darin, sie zu hören.

„Ging es um Melody Swanson?“, fragte Ellen lächelnd.

Adrians Augen blieben geschlossen, aber seine Mundwinkel zogen sich ein kleines Stück nach oben. „Nicht diese Art von Traum, Mutter.“

„Worum ging es?“

Eine Pause. Luftholen. „Dad und ich waren auf einer Reise.“ Warten auf den nächsten Atemzug. „Eine Story, die er verfolgte, und er hat mich mitgenommen.“

„Das klingt nach Spaß.“

„Ja. Wir haben geredet. Viel. Er hat nicht nur Zeitung gelesen oder auf seinen Laptop gestarrt. Das war so cool.“

Ellen legte ihr Kinn auf das Gitter.

„Und dann ist etwas passiert“, fuhr Adrian fort. Er öffnete die Augen erneut und hob den Kopf ein kleines Stück vom Kopfkissen. „Dad ist etwas zugestoßen, und da waren all diese Menschen. Ich habe Angst bekommen.“

„Das war nur ein Traum. Dein Vater liebt dich sehr, Adrian; er zeigt es nur sehr schlecht.“

Ihr Sohn schüttelte schwach den Kopf. „Das sagst du immer. Wenn er nicht weiß, wie er es zeigen kann, warum versucht er nicht, es zu lernen?“

„Das wird er. Eines Tages wird er es.“

„Ich glaube das nicht. Wenn er nicht mal kommt, um mich zu besuchen, wie soll er es dann je rausfinden?“

Sie tätschelte seinen Arm. Diese Sache konnte sie nicht in Ordnung bringen. Truman hatte einen Graben gezogen zwischen sich und den Kindern, die er doch liebte, wie sie wusste. Er war einfach nicht in der Lage, die Zugbrücke seines Herzens so weit herunterzulassen, dass er drübergehen konnte.

Adrian bedeutete ihr, dass er noch etwas trinken wollte, und sie hielt ihm den Becher an die Lippen. Seine Augenlider flatterten. „Denkst du, dass ich dieses Mal hier rauskomme?“

„Ich bin ganz sicher. Melody braucht doch einen Partner für den Ball.“

Er lächelte. Das war genau das, was sie brauchte. Selbst der kleinste Lebensfunke von Adrian war wie ein elektrischer Impuls für sie.

„Erzähl mir noch einmal die Geschichte“, forderte Adrian sie auf.

„Welche Geschichte?“

„Du weißt schon. Wie ihr euch kennengelernt habt.“

Er sehnte sich nach dem Vater, den er nicht kannte. Und darum erzählte sie ihm von ihm. Natürlich nicht alle pikanten Einzelheiten, aber so viel, dass es ihn zufriedenstellte. Wie sie Truman nach dem Ende ihrer aktuellen Beziehung in der Nachrichtenredaktion gesehen hatte. Groß und gut aussehend, mit einem Lächeln, das die Polarkappen zum Schmelzen bringen konnte. Adrian sollte erfahren, welche Lieder sie beide mochten und welche Filme sie sich anschauten, Dinge, die ihn mit ihrer Vergangenheit verankerten.

Sie hatte nie einen Hehl daraus gemacht, dass sie bereits während ihres Studiums am College zusammengezogen waren. Oder was ihre Eltern von Truman hielten. Aber manche Dinge in Bezug auf die Gegenwart behielt sie lieber für sich. Zum Beispiel die aufgelaufenen Arztrechnungen, die sie so weit zurückgeworfen hatten, dass sie sich vermutlich nie davon erholen würden. Oder die Tatsache, dass trotz der Krankenversicherung die Kosten für eine Transplantation astronomisch hoch sein würden. Oder die Wahrheit darüber, dass ihr finanzielles Debakel durch eine Gerichtsverhandlung beendet werden könnte. Ihre Eltern hatten ihr angeboten, alle Schulden zu begleichen und auch die Kosten für die Transplantation zu übernehmen, wenn sie sich von Truman scheiden ließ. Das fand sie anfangs sehr grausam. Ihre gegensätzlichen Standpunkte waren zementiert, und jetzt war es eine Frage der Stärke. Wer würde zuerst einknicken, ihre Eltern oder sie?

Sie konnte sich nicht von ihm scheiden lassen. Nicht jetzt. Sie verstand ihre Eltern, und in manchem stimmte sie mit ihrer Einschätzung überein. Schon oft hatte sie ihm selbst mit Scheidung gedroht. Aber eine Stimme tief in ihrem Inneren sagte: „Halte durch. Gib nicht auf.“ Glauben bedeutete für sie, dass sie auch mit Unerwartetem rechnete. Gott hatte schon Tote ins Leben zurückgerufen. Vielleicht erlebte auch Truman eines Tages den Augenblick, wo er das Leben fand. An diese Hoffnung klammerte sie sich, wie ein Kind, das die Leine eines Ballons, aus dem die Luft entwich, nicht loslassen wollte und ihn zusammengeschrumpft hinter sich herzieht.

„Warum hast du bei eurer Hochzeit ausgerechnet diesen Song ausgesucht?“, flüsterte Adrian.

„‚True Companion‘?“ Der Text klang in ihr nach. „Dieses Marc-Cohn-Album war damals total angesagt. Alle liebten den Song ‚Walking in Memphis‘. Beinahe hätte ich einen Job bei einer Zeitung in Memphis angenommen. Wenn ich nicht diesen Song so geliebt hätte, wäre mir das nie in den Sinn gekommen. Ich wollte über die Beale Street schlendern und sehen, was Elvis gesehen hatte. Das mag jetzt albern klingen, aber damals war es mir ernst damit.“

„Zurück zu ‚True Companion‘.“

„Entschuldige. Tru war der Spitzname, den ich deinem Vater gab, und als wir ein Paar waren, verbrachten wir jede Minute miteinander. Er war mein Seelenverwandter, mein wahrer Gefährte, wie der Song es sagt.“

„Hast du viel mit ihm gesimst?“

„Damals gab es noch nicht einmal E-Mail, so weit ich mich entsinne. Mobiltelefone waren ein Luxus, und selbst wenn ich eins besessen hätte, er hätte sich das keinesfalls leisten können. Wenn wir zum Essen ausgingen, dann zum Schnellimbiss. Dein Vater war arm wie eine Kirchenmaus.“

„Nur ohne Kirche.“

„Richtig.“

Ihr Telefon vibrierte, doch sie ignorierte es; sie blickte unverwandt in Adrians müde Augen. Schon früh hatte sie sich angewöhnt, dass jeder Augenblick, in dem Adrian wach war, ihm gehörte. Sie wollte für ihn da sein, bis die Erschöpfung ihn übermannte oder die Medikamente ihren Tribut forderten. Oder beides. Und wann immer er wegdämmerte, befürchtete sie, diese Augen zum letzten Mal gesehen zu haben.

Adrian blickte zum Fenster hinaus. Er knirschte jetzt mit den Zähnen; sein Kiefer war angespannt. „Ich interessiere ihn nicht.“

„Das stimmt nicht.“

„Und warum besucht er mich dann nicht?“

Sie atmete tief durch. „Nun, was glaubst du?“ Sie wollte erfahren, was in ihm vorging.

„Könnte sein, dass ihm seine Arbeit einfach wichtiger ist. Aber ich begreife einfach nicht, warum er nicht mal vorbeikommt. Vielleicht ist er allergisch gegen Krankenhäuser.“

Sie legte die Hand auf seinen Kopf. Er reagierte immer auf ihre Berührung. Und Truman war so weit entfernt und konnte ihm nicht die Hand auf die Schulter legen.

„Natürlich interessiert er sich für dich. Aber es stimmt, dass es ihm ungewöhnlich schwer fällt, ein Krankenhaus zu betreten.“ Das Telefon piepste. Eine neue Nachricht. „Er liebt dich wirklich. Das weiß ich. Es ist nur so, dass seine Liebe unvollkommen ist.“

„So wie seine Liebe zu dir?“

Sie lächelte. „Wir beide sind unvollkommen. Und ich möchte nicht, dass du denkst, es sei alles seine Schuld gewesen. Ich habe auch viele Fehler gemacht.“

„Aber du bist geblieben. Du hast alles mit mir durchgestanden. Du bist ein Fels, Mom.“

Sie ergriff seine Hand, ein blasses, schmales Ding, nur noch Haut und Knochen, und drückte sie. „Ich kann mich glücklich schätzen. Er hat viel verpasst. Aber ich glaube, er kann es nicht ertragen, dich so leiden zu sehen. Darum bleibt er fort.“