Mehr Morde im Quadrat - Walter Landin - E-Book

Mehr Morde im Quadrat E-Book

Walter Landin

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Beschreibung

Ein Blutfleck an der Decke einer Gaststätte in der Schimperstraße. Eine Rentnergang, die einen Banker entführt. Ein blutiger Mord im Altenheim. Eine halb verweste Frauenleiche ausgerechnet an Weihnachten. Tatort Mannheim. Tatort Kurpfalz. Nach dem Erfolg von "Mord im Quadrat" legt Walter Landin neue Kurzkrimis vor. "Zauberer des Wortes, Walter Landin, der mehrfach ausgezeichnete Mannheimer Krimiautor." (Mannheimer Morgen)

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Seitenzahl: 186

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Walter Landin

52-iger Jahrgang, Pfälzer, Dirmsteiner, Mannheimer (seit 1974), lebt in Mannheim und in Hertlingshausen. Lehrer im Ruhestand. Schreibt Prosa und Lyrik sowie Texte im „Pälzer Saund“.

1984 - erster Preis beim Mannheimer Kurzgeschichten-Wettbewerb, 1985 - „Wenn erst Gras wächst“, Erzählungen,, 1988 - „Dorfluft“, Erzählung, 1990 - Förderpreis Literatur des Bezirksverbandes Pfalz, 1993 - „Kennscht du detscht du“, Pälzer Saund, 1999 - „das Gras die Stille der Mohn“, Gedichte, 2005 – „Wu bitte is die Speisekart?“, Pälzer Saund, 2007 – „Mord im Quadrat“ – Erzählungen, (2012 in 6. Auflage), 2008 – „Mannheimer Karussell“, Kriminalroman, 2009 – „Bluthitze“ Kommissar Lauer ermittelt, Kriminalroman, 2011 – „Eiswut“, zweiter Krimi mit Kommissar Lauer, Wellhöfer Verlag Mannheim, 2013 - „Mordsherbst“, Kommissar Lauers dritter Fall,2015 - „Gefährlicher Treffpunkt“, Kommissar Lauers vierter Fall.

www.landin.dewww.facebook.com/[email protected]

Für Florian & Julia

Walter Landin

Mehr Mordeim Quadrat

Neue Kriminalgeschichten

Impressum

Alle Erzählungen aus „Mehr Morde im Quadrat“ sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit wirklichen Personen oder tatsächlichen Ereignissen sind nicht beabsichtigt und rein zufällig.

© 2016 Walter Landin

Umschlag, Illustration: Heiko Prodlik-Olbrich

Lektorat: Irene Landin

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback:

978-3-7345-5552-7

Hardcover:

978-3-7345-5553-4

e-book:

978-3-7345-5554-1

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Morde2 - der Inhalt

Der Mord in der Schimperstraße

Morgen wird nicht

Willem

Wassertreten

Die Rentnergang

Ein lukratives Geschäft

Strippenzieher

Frohe Ostern

Innig und vertraut

Freunde

Späte Bescherung

Der letzte Tag

Mutterliebe

Mein blonder Engel

Spielverderber

Utz, Jessica, Evelyn, ein Arbeitsloser & ich

Unser schönstes Ferienerlebnis

Bilanz

Anmerkungen

Der Mord in der Schimperstraße

Da oben an der Decke, direkt über dem Stammtisch, da war der Blutfleck. Und die Leiche, das können Sie mir ruhig glauben, wurde entdeckt, weil sich der Blutfleck gebildet hatte.

Ein Blutfleck? An der Decke? Erzählen Sie doch keinen Unsinn! Der Schrank, in dem die Leiche gefunden wurde, befand sich in einem Zimmer oben unter dem Dach. Wie soll das Blut von da bis ins Erdgeschoss gekommen sein?

Auf jeden Fall gab es eine Leiche. Das bestreitet niemand. Von den zwanziger Jahren bis in die Sechziger hinein habe ich in der Schimperstraße 14 gewohnt, mit direktem Blick aufs „Paradies“. Gedichte über das Geschehen gab es viele, zu unterschiedlichen Melodien gesungen. Am bekanntesten war die Version, die auf die Melodie eines richtigen Gassenhauers gesungen wurde, „Eine Seefahrt, die ist lustig.“ So ging es los:

„In der Schimperstraße 16, in einem Kleiderschrank,

da fand man eine Leiche, die ganz entsetzlich stank.“

Die Witwe und die Kinder des Unglücklichen, die angeblich in der Neckarstadt wohnten, sollen unter den Schmähliedern arg gelitten haben. Das können Sie sich bestimmt vorstellen.

Wofür war Mannheim denn in dieser Zeit Deutschland weit bekannt? Raten Sie mal! Für zweierlei: für den SV Waldhof, der damals, lange ist es her, begeisternden Fußball spielte und, richtig, für die Schimperstraße 16.

Im Krieg lag ich als Soldat noch ein Stück hinter Breslau. Das war seinerzeit, das können Sie mir glauben, eine riesige Entfernung. Mannheimern ist man nur selten über den Weg gelaufen. Bei einem Appell bekam mein Spieß mit, dass ich aus Mannheim kam.

„Sind Sie der aus dem Kleiderschrank?“, brüllte er laut los.

Der 20. August 1926 ist ein heißer Tag, wie die Tage vorher auch. Um die elfte Morgenstunde staut sich eine mehr und mehr wachsende Menschenmenge an der Haustür, belagert die Gaststube vom „Paradies“, drückt sich in die Flure, stürmt die Treppen hoch. Zehn Minuten nach elf trifft die Gerichtskommission ein, Vertreter der Staatsanwaltschaft, Kripobeamte, Schutzmannschaften. Im Nu werden alle Absperrmaßnahmen getroffen. Wie ein Lauffeuer durcheilt die Umgebung ein Wort: Mordverdacht.

Das dienstliche Verhalten Ludwig Pauls sei nur als vollkommen einwandfrei zu bezeichnen. Man sei mit ihm sehr zufrieden gewesen, da er nicht nur sein tägliches Arbeitspensum äußerst gewissenhaft erledigt habe, sondern darüber hinaus sein Interesse für den Bankbetrieb dadurch bekundet habe, dass er verschiedentlich Verbesserungsvorschläge eingebracht habe. Umso entsetzter und erstaunter seien Vorgesetzte und Kollegen über das grausige Ende Pauls gewesen. Man stehe vor einem Rätsel.

Ludwig Pauls Beerdigung fand in aller Stille statt. Selbst von den nächsten Angehörigen war niemand zugegen. Können Sie sich das vorstellen? Als der Bankangestellte sich abends von seiner Frau verabschiedete, hatte er 350 Reichsmark in der Tasche. Von dem Geld fehlt jede Spur.

Es war an einem Abend in einem Café schön,

da traf er seine Liebe und die war wunderschön.

Sie nahm ihn mit aufs Zimmer, das Bett war frisch gemacht,

da dachte er, da dachte er, das wird ‘ne tolle Nacht.

Den Eintretenden schlägt auf der Treppe ein entsetzlicher Geruch entgegen. In der unter dem Dach gelegenen Wohnung verdichtet er sich dermaßen, dass man sich die Nase zuhalten muss, keine geringe Anforderung an die Nerven der Beamten, die die Untersuchung zu führen haben. Unter dem Dach wohnt ein bei Benz beschäftigter früherer Werkleiter.

Er hat sein Herz in der Schimperstraß’ verloren,

in einer heißen Liebesnacht.

Er war verliebt bis über beide Ohren,

das hat ums Leben ihn gebracht.

Vor 13 Tagen sei eine Frauensperson im Alter von ungefähr 30 Jahren gekommen, habe sich darauf berufen, in einem Schokoladengeschäft in der Nähe gehört zu haben, dass ein Zimmer zu vermieten sei, was zutraf. Sie habe als Beruf Büglerin angegeben, sagte, sie wolle eigentlich in die Pfalz reisen, nach Germersheim, könne sich aber nicht dazu entschließen, da sie keinen Pass habe. Sie habe das Zimmer gemietet, im Voraus bezahlt und sei fünf Tage geblieben. Sie habe gelegentlich den Besuch eines jungen Mannes erhalten, mit dem sie intim befreundet schien. Am sechsten Tag sei sie verschwunden und habe sich nicht mehr blicken lassen. Inzwischen habe es im Zimmer, in der Wohnung, im Haus begonnen zu riechen. Den Nachbarn fiel es nicht so sehr auf, da in einer anderen Wohnung eine alte Frau in einem langen Siechtum lag.

Und als er Abschied nahm von seinem Leben,

beim letzten Kuss, da hat er’s klar erkannt,

dass er ihr alles hingegeben.

Dann kam er in den Kleiderschrank.

Die Polizei nimmt an, dass die Frauensperson Ludwig Paul in das Zimmer lockte und wahrscheinlich mithilfe ihres Freundes ermordete. Diesen Freund hat man noch vor ganz kurzer Zeit gesehen, während von der Frau jede Spur fehlt.

Es war an einem Abend, als man die Leiche fand

in der Schimperstraße 16 in einem Kleiderschrank.

Die Tür war fest verschlossen, das Mensch war abgereist.

Da wusste man, da wusste man, was falsche Liebe heißt.

Am 20.8.1926, vormittags etwa um 10 Uhr, wurde in einer Wohnung in der Schimperstraße 16 eine männliche Leiche, die in einem Kleiderschrank eingeschlossen war, gefunden. Das Zimmer, in dem die Leiche gefunden wurde, war kurze Zeit an eine Frauensperson vermietet gewesen, die seit dem 14.8.1926 flüchtig ist. Die Leiche wurde als die des seit dem 13.8.1926 vermissten, verheirateten Bankbeamten Ludwig Paul, wohnhaft in der Käfertaler Straße, identifiziert. Die Untersuchung ist eingeleitet. Alle Personen, die in der Lage sind, zu dieser Sache Angaben zu machen, werden ersucht, sich bei der Kriminalpolizei, Schloss, linker Flügel, Zimmer Nummer 73 zu melden.

Wir möchten feststellen, dass in dieser Meldung, die in denkbar knappster Form nur das bestätigt, was wir im gestrigen Abendblatt veröffentlicht haben, kein Wort über den Sektionsbefund enthalten ist. Die Sektion hat gestern Nachmittag stattgefunden. Warum wird darüber nichts veröffentlicht? Es dürfte der Sektionsbehörde nicht unbekannt sein, dass über die Todesart verschiedene Gerüchte kursieren.

Nun gab es groß’ Getue in der ganzen Nachbarschaft,

und alles reißt die Schnute bis an den Kehlkopfschacht.

Pulsadern aufgeschnitten. Kopf mit braunem Tuch umwickelt. Was für schöne Augen die hatte, die flüchtige Frauensperson Hirnschale zertrümmert. Halsschlagader durchtrennt. Und was für große Hände.

Im August 1926 hatte eine Kellnerin, die im „Paradies“ bediente, ihr Zimmer oben in den Gauben. Doch, doch, Kellnerin. Ihr Freund, ein verheirateter Mann, strengte sich beim Liebesakt so an, dass er vom Herzschlag getroffen nackt und bloß dalag. In Panik schob die Kellnerin, doch, doch, Kellnerin, ihn mit dem Kopf voran in den Kleiderschrank, hob seine Beine hoch, schloss Schrank und Zimmer ab und flüchtete. Es war Hochsommer und in dem Mansardenzimmer direkt unter dem Dach dauerte es nicht lange, bis der Leichengeruch ins Haus drang. Der Polizei fiel die nackte Leiche aus dem Schrank entgegen. Die Kellnerin wurde gefasst und unter Mordanklage gestellt, denn sicher konnte ein Kleiderschrank durchaus ein Zufluchtsort sein. Aber wer stellt sich dabei auf den Kopf? Die Polizei ging davon aus, dass Gewalt im Spiel sein musste. Die Frau beteuerte ihre Unschuld, wurde jedoch in Haft behalten. Als dann aber der Herzschlag nachgewiesen war, kam die Kellnerin frei. Ja, ja, Kellnerin. Nein, nein, keine Büglerin auf der Durchreise. Wer hat Ihnen denn diesen Bären aufgebunden? Sie dürfen nicht alles glauben, was man Ihnen erzählt!

Die flüchtige Frauensperson ist geständig. Der Mord steht kurz vor der Aufklärung.

Eine Kellnerin aus der Wirtschaft „Paradies“ hatte den verheirateten Bankbeamten mit auf ihr Zimmer genommen und ihm beim Liebesakt im Rausch der Sinne die Hoden durchgebissen. Er verblutete dabei. Sie wusste sich nicht zu helfen, sperrte den Mann in den Kleiderschrank, verschloss die Wohnung und verreiste. Mieter rochen nach einigen Tagen den Gestank und ließen die Wohnung öffnen. Die Frau wurde gefasst. Der Verteidiger sprach von einem bedauerlichen Unfall und plädierte auf Freispruch. Das Gericht sah es anders und verurteilte sie wegen Mordes. Die Kellnerin wurde hingerichtet. Ihr Kopf liegt in der Pathologie in Heidelberg.

Die Press’ blamiert sich gründlich mit unhaltbar’ Gerücht

doch was kam heraus, er hat ‘nen Herzschlag kriecht.

Die Hoden? Aber nein! Das beste Stück hat sie dem armen Kerl abgebissen. Und sie hat sich in der Nähe des Schlosses an einem Baum aufgehängt. Die 350 Reichsmark, die der arme Bankbeamte bei sich hatte, wurden übrigens nie gefunden.

Abgebissen? Wer erzählt denn so was? Abgeschnitten! Mit einem Küchenmesser, so groß. Das hat sie aus der Küche der Wirtschaft mitgehen lassen. Das Messer lag im Schrank, neben der Leiche. Blutverschmiert. Sie bekommen eine Gänsehaut?

Und als man sie dann suchte, am Neckar und am Rhein,

da fand sie sich von selber bei der Staatsanwaltschaft ein.

Sie sagt, wie es gekommen und tat hier alles kund,

doch dem Staatsanwalt, dem war die Sach’ zu bunt.

Gespräche über das Geschehen in der Schimperstraße führten die Erwachsenen nur hinter vorgehaltener Hand. Zur damaligen Zeit war die ganze Geschichte, ob jetzt Mord oder Unfall, natürlich eine außerordentlich delikate Angelegenheit. Das können Sie mir glauben. Und es gab nicht wenige Leute, die so taten, als gerate diese sündige Welt nun endgültig aus den Fugen.

Herzschlag? Also, ich weiß nicht. Das hört sich so profan an. Abgeschnittene Hoden. Abgebissener Penis. Das klingt spektakulärer, wenn ich ehrlich bin. Der Blutfleck an der Decke des „Paradieses“, das muss ich gestehen, dieser Blutfleck, der hat es mir angetan. Sie wussten nicht, dass in den Räumen der Gaststätte „Paradies“ heute die „Osteria Limoni“ beherbergt ist? Wenn ich in der Gaststube sitze, den trockenen Landwein genieße und auf das Essen warte, dann bilde ich mir ein, in der Ecke oben an der Decke den Blutfleck noch zu sehen, ganz blass zwar, das gebe ich zu. Aber mit etwas Fantasie ist er noch zu erkennen, der Blutfleck.

Morgen wird nicht

Sie könnte das Wort Volksschädlingsverordnung schreiben. Ich könnte sie auch anders anfangen lassen.

„Mein Sohn, du sollst wissen, dass ich Hals über Kopf verliebt war. Dass ich so jung, der Mann so charmant war. Dass ich schwanger wurde. Dass ich durch ihn ins Milieu geriet. Dass ich viel zu spät aufwachte. Dass ich mich von deinem Vater getrennt habe. Dass er ein Zuhälter ist. Dass du ohne Vater und ohne Mutter aufwachsen wirst.“

Es geht auf Mitternacht zu. Sie hat nicht viel Zeit. Sie könnte ihrem Sohn von der Gutemannstraße in Mannheim erzählen. Ich könnte hinzufügen, dass der Name sich geändert hat, dass sie heute Lupinenstraße heißt, dass das Gewerbe das gleiche geblieben ist. Rita, das ist die Mutter, die ich den Abschiedsbrief schreiben lasse, betreibt mit ihrer Freundin Hedwig ein Bordell. Fünf Frauen arbeiten für sie. Sie könnte von den Schikanen der Behörden erzählen, sie würde berichten, dass sie zweimal wöchentlich zum Abstrich auf Geschlechtskrankheiten einbestellt wurde. Sie würde vom Ausgegrenztsein erzählen.

„Mein Sohn, du sollst wissen, dass ich Spiel- und Sportplätze und Grünanlagen nicht betreten durfte, dass Theater und Lichtspielhäuser verboten waren, Gaststätten, Cafés.“

Der Zeiger der Uhr nähert sich der Zwölf. Gleich fängt der neue Tag an. Sie könnte mit der Bombennacht Mitte April anfangen. Dass sie die Nacht im Luftschutzbunker verbringen musste. Dass viele Häuser in der Gutemannstraße brannten. Dass eine Bombe in die Nummer 14 einschlug, das ist das Haus von Rita und Hedwig. Dass die Schäden zum Glück nicht so schlimm waren. Dass es das Nachbarhaus schlimmer erwischt hatte. Dass nur noch die Grundmauern standen.

„Am Morgen kamen zwei Männer. Ich kannte die beiden. Sie arbeiteten für den Besitzer des Nachbarhauses, der auch ein Bordell betrieb. Die zwei Helfer gingen in den noch brennenden Keller und packten einige Körbe voll mit Spirituosen und Wein. Sie hielten sich nicht lange im Keller auf.

‚Einsturzgefahr, das ist uns zu gefährlich’, sagte der eine. Der andere stellte vier Flaschen Wein auf den Küchentisch. Alle unsere Frauen waren da. Ich feierte meinen dreißigsten Geburtstag. Jetzt weiß ich, dass es mein letztes Geburtstagsfest war. Wir öffneten die Flaschen. Die Stimmung war ausgelassen. Für kurze Zeit vergaßen wir sogar die Tiefflieger.“

Der Zeiger hat die Zwölf überschritten, der neue Tag hat angefangen. Den Sonnenaufgang wird Rita nicht mehr erleben. Sie muss Abschied nehmen von ihrem Sohn. Wie gerne hätte sie ihn noch einmal bei sich gehabt. Die Zeit drängt. Sie muss weitererzählen.

„Am Nachmittag stieg ich mit Hedwig in unseren Keller hinunter. Wir wollten uns die Schäden anschauen. In der Mauer zum Nachbarkeller war ein großes Loch. Zwischen der Glut fanden wir Weinflaschen, Lebensmittel und Präservative. Wir dachten uns nichts dabei, als wir mitnahmen, was wir tragen konnten.“

Sechs der Weinflaschen werden bei der Verhaftung von Rita und Hedwig noch ungeöffnet in der Ecke der Küche gefunden. Die Präservative, die sie an ihre Frauen verteilt haben, sind zum Zeitpunkt der Verhaftung längst aufgebraucht.

Der Zeiger der Uhr nähert sich der Zwei. Rita bleiben noch drei Stunden und einige Minuten.

Erst im August, vier Monate nach der Bombennacht, erstattet der Nachbar Anzeige. Er beklagt sich, dass es bitter und hart genug sei, wenn man bei einem solchen Unglück Hab und Gut im Wert von über 90 000 Reichsmark verliere. Um so mehr habe es ihn getroffen, dass er von solchen Parasiten auch noch um das Letzte beraubt worden sei. Rita könnte erzählen, wie sie und Hedwig am 7. August verhaftet und in Einzelhaft gesperrt werden.

„Mein Sohn, geht es dir gut? Was erzählen sie über mich? Gerne hätte ich dich noch einmal gesehen. Ich habe höflich angefragt, ob ich Besuch empfangen dürfe. Es wurde abgelehnt. Wir hätten es zusammen geschafft.“

Rita könnte von den endlosen Verhören erzählen, von den Schlägen, die ihr Gesicht entstellten, vom Prozess im November, der nur zwei Stunden dauerte, von den beiden Helfern, die, anfangs selbst angeklagt, nun als Kronzeugen auftraten, vom Staatsanwalt, der vorrechnete, dass drei Präservative achtzig Pfennige kosteten, die gestohlene Menge einen Wert von 150 Reichsmark habe, das sei keine Bagatelle.

Kurz nach vier klopft es an der Zellentür. Es ist der Priester. Rita will ihn nicht sehen. Der Priester schlägt ein Kreuz über dem Guckloch und ärgert sich, dass er mitten in der Nacht aufstehen musste. Wegen dieser Dirne. Rita könnte vom Richter erzählen, der sie und Hedwig wegen Plünderei nach Paragraf eins der Volksschädlingsverordnung zum Tode verurteilt wegen zwei Großpackungen Präservativen, sechs bis acht Pfund Zwiebeln, zwei Dosen Gurken, zehn bis fünfzehn Flaschen Wein. Rita könnte aus der Urteilsbegründung zitieren. Dass, wer sich an Hab und Gut der geschädigten Volksgenossen vergehe, sich außerhalb der Volksgemeinschaft stelle. Dass nicht umsonst in Mannheim überall Plakate angebracht seien mit der Aufschrift „Plünderer werden mit dem Tode bestraft“. Sie könnte vom Antrag des Staatsanwaltes berichten. Dass das Weihnachtsfest bevorstehe, dass eine öffentliche Bekanntmachung durch Maueranschlag, doppelt auffällig in den Trümmern der Stadt, wenig wünschenswert sei und bis nach dem Fest zurückgestellt werden sollte. Ich könnte hinzufügen, dass Ritas Sohn kein Grab wird besuchen können. Dass die Leichen von Rita und Hedwig der Anatomie in Heidelberg übergeben werden. Dass Ritas Schwester nur die Kleider der Hingerichteten ausgehändigt bekommt. Ich könnte hinzufügen, dass der Richter nach dem Krieg seine Pension bezieht, dass der Staatsanwalt Karriere als Landgerichtsdirektor macht. Rita könnte von der Angst erzählen, der Angst vor dem einen Augenblick.

Es ist halb fünf. Gleich werden sie Rita holen. Um Viertel vor fünf wird sich der Henker vom ordnungsgemäßen Zustand des Hinrichtungsgerätes überzeugen. Um fünf werden Rita die Haare abgeschnitten, ihr Nacken wird ausrasiert. Um zehn nach fünf wird sie in den Innenhof geführt. Um elf nach fünf wird sie festgeschnallt. Um zwölf nach fünf fällt das Beil. Der anwesende Arzt bescheinigt die Todeszeit. Unmittelbar danach wird Hedwig festgeschnallt.

Ich führe Ritas Hand. Die Hand zittert. Als sie den ersten Buchstaben schreibt, lässt das Zittern nach.

„Mein Sohn, ich vermisse dich“, schreibt Rita auf das Blatt. Es ist der 22. Dezember 1943. Auf dem Gang höre ich Schritte.

Willem

Am Samstagmorgen muss Willem kehren. Dabei kann er kaum noch gehen. Er wackelt hin und her, humpelt den Hof auf und ab, hält sich am Besen fest. Leo, der Student, der im Erdgeschoss wohnt, kann den Willem so wunderbar nachäffen. Der Hof ist groß und Willem hat viel Arbeit. Willem macht gern eine Pause. Er verdrückt sich in einen stillen Winkel, fingert einen Zigarettenstummel aus seiner Tasche, steckt ihn an, zieht gierig und schnell.

Am Samstagmorgen im Hinterhof. Die dicke, rote Katze, die sich auf dem Schuppendach in der Oktobersonne wälzt. Leo, der hinter der Gardine auf seinen Auftritt wartet. Willem mit dem Zigarettenstummel, der darauf spannt, dass Pauline, seine Frau, ihn antreibt.

„Willem, schaff weiter!“

Willem brummelt was vor sich hin.

„Ich mach dir Beine!“

Willem winkt ab.

„Muss ich runterkommen, du fauler Bock?“

Willem kehrt weiter. Die Katze gähnt.

Leo hinter der Gardine ruft: „Paulina, Paulina.“

Pauline knallt das Fenster zu. Leo winkt dem Alten.

Eingefallene Wangen, stoppliges Kinn, zahnloser Mund, strähnige, graugelbe Haare, ängstliche Augen in viel zu großen Augenhöhlen, ein schäbiges, verwaschenes Hemd, lange, an den Knien ausgebeulte Unterhosen, die vorne am Pissschlitz einen braunen Fleck hatten, der an Intensität zunahm, je näher er am Zentrum lag. So stand Willem vor einigen Monaten an der Haustür, als Leo einzog und der Makler die Schlüssel für die Wohnung im Erdgeschoss verlangte. Der Alte schlurfte nach oben. Es dauerte eine Ewigkeit, bis er zurückkam.

„Beim alten Willem funktioniert so manches nicht mehr. Dauerpisser.“

Der Makler zuckte mit der Schulter.

Willem humpelt aufgeregt zum Fenster. Leo hält ihm ein Glas Schnaps hin. Willem schaut Leo dankbar an und trinkt in einem Zug aus.

„Noch einen?“

Willem nickt.

„Auch eine Zigarette?“

Willems Augen leuchten. Eine ganze Zigarette. Willem verschwindet mit der Zigarette ins hintere Treppenhaus. „Willem, schaff weiter!“

Willem steckt die Zigarette an.

„Elendiger, fauler Bock!“

Willem zieht an der Zigarette.

„Na warte!“

Willem zieht genüsslich an der Zigarette.

„Ja, ja, die hält ihn kurz, den armen Willem. Nur wenn sie ihren Besuch erwartet, kriegt der Willem eine Flasche Bier mit zwei, drei Schlaftabletten drin, damit er nicht stört. Vor zwei Jahren hätte sie ihn beinahe losgekriegt. Da wurde der Willem nach Wiesloch ins Irrenhaus eingeliefert. Aber nach vier Wochen war er wieder da.“

Herr Schmidt kennt sich hier aus. Herr Schmidt ist Rentner. Seit einer Ewigkeit wohnt er mit seiner Frau im ersten Stock im Hinterhaus.

„Ich mach dir Beine!“

Das Fenster knallt mit einem Scheppern zu. Pauline stürzt aus dem Haus. Die weißen Haare zu Löckchen aufgedreht. Die Wangen zartrosa gepudert. Die Lippen dick und knallrot angemalt. Pauline reißt Willem die Zigarette aus dem Mund, zerdrückt sie, wirft sie auf den Boden, trampelt darauf herum. Mit dem Besenstiel schlägt sie auf Willem ein.

„Da, da und noch eine. Ist das genug, du alter Bock?“

Willem hält seine Arme schützend vor den Kopf und stößt unverständliche Laute aus.

Letzte Woche das Foto in der Zeitung auf der Lokalseite. Paulines Blick streng und unnahbar. Willem, gründlich rasiert, an seine Frau gelehnt, das Gesicht zu einem Lächeln verzogen.

Jubiläumstag für Pauline und Wilhelm Krüger. Goldene Hochzeit in der Schröderstraße in Heidelberg-Neuenheim. Das Paar lebt seit 50 Jahren glücklich zusammen. Freude und Leid wurden auch in schwerer Zeit gemeinsam getragen.

„Ja, ja, der hat es nicht leicht, der arme Willem. Den hätten sie früher mal erleben sollen. Wie der damals im Hof rumstolziert ist. Spiegelblanke Stiefel, schwarze Uniform, das Koppelschloss mit dem Totenkopf am Gürtel, im Mund eine Zigarre. So marschierte der im Hof auf und ab. Auf und ab. Jeden Tag. Und das ganze Haus zitterte vor ihm. In den letzten Kriegstagen soll er den Becker aus dem Hinterhaus, Sozi mit Leib und Seele, mit vorgehaltener Pistole abgeführt haben. Meine Nachbarin, schon lange verstorben, hat geschworen, dass sie das mit eigenen Augen gesehen hat. Der Becker ist erst mal spurlos verschwunden. Wochen später hat man seine Leiche gefunden hinterm Wehrsteg im Gebüsch beim alten Trafohäuschen. Der Becker soll beim Einmarsch der amerikanischen Truppen am 30. März 1945 ums Leben gekommen sein. Das war die offizielle Version. Aber unter der Hand wurde gemunkelt, dass der Willem was damit zu tun hatte. Aber es war ihm nichts nachzuweisen. Nach dem Krieg kam der Willem ins Gefängnis, ein gutes halbes Jahr, dann war er entnazifiziert, wie das so schön hieß damals.“

Herr Schmidt ist gesprächig. Er wohnt schon lange hier.

Leo steht immer noch hinter der Gardine.

„Paulina. Paulina.“

Pauline lässt den Besen fallen. Wie eine Furie stürzt sie aus dem Treppenhaus. Vor Leos Fenster bleibt sie stehen. Sie droht mit der Faust, die Lippen zu einem Strich zusammengekniffen. Hinter Pauline fällt die Tür ins Schloss.

Die Katze streckt sich auf dem Schuppendach, schärft ihre Krallen an der Dachpappe, macht einen Riesenbuckel, sträubt die Haare und rollt sich zusammen.

Willem hebt vorsichtig den Kopf. Auf den Knien sucht er die Reste der Zigarette zusammen und verstaut sie in der Jackentasche. Er rappelt sich hoch, hebt den Besen auf und murmelt: „Paulina, Paulina“, lacht und kehrt, auf und ab. Pauline öffnet das Fenster, sieht Willem kehren und zischt: „Na also!“

Wassertreten

Montag