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Michael Ende

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Beschreibung

In einer zunehmend nüchternen, seelenlosen Zeit hat Michael Ende die fast verlorengegangenen Reiche des Phantastischen und der Träume zurückgewonnen. Im Sinne der Romantiker wollte er die Welt wieder mit Poesie aufladen und die wunderbare Wirklichkeit zum Leuchten bringen, die hinter den Dingen liegt. Über sich selbst und seine künstlerischen Absichten hat er wenig geschrieben. Johannes Thiele hat Reden, Gespräche, Vorträge und Essays zusammengetragen und zu einem Text zusammengefügt, der uns einen tiefen Einblick in den Gedankenreichtum Michael Endes gibt.

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Michael Ende

Mehr Phantasie wagen

Ein Manifest für Mutige

Herausgegeben von Johannes Thiele

»ICH WILL DEM LEBEN ZAUBER UND GEHEIMNIS VERLEIHEN.«

Einleitung

Was du nicht kennst, das, meinst du, soll nicht gelten?Du meinst, dass Phantasie nicht wirklich sei?Aus ihr allein erwachsen künftige Welten:In dem, was wir erschaffen, sind wir frei.

Michael Ende

Wer durch ein Kaleidoskop blickt, erlebt ein kleines Wunder, ein seltsames Abenteuer: Die geringste Bewegung lässt die bunten Glassteinchen immer wieder anders fallen und sich zu immer neuen Bildern zusammenfügen. Man kommt an kein Ende mit diesem »Spiegel im Spiegel«. Ist das Kaleidoskop nicht ein für Michael Ende in besonderer Weise wie geschaffenes Spielzeug?

Seit Jahrzehnten lebt er in den Köpfen und Herzen seiner Leserinnen und Leser. Wir denken an Kinder, wenn wir seinen Namen hören. Wer bangte als kleiner Leser, als kleine Leserin nicht mit Jim Knopf um die Befreiung der chinesischen Prinzessin Li Si aus der Drachenstadt, flog mit dem Glücksdrachen Fuchur an die Grenzen Phantásiens oder verbündete sich im Geist mit dem Mädchen Momo im Kampf gegen die Grauen Herren, die den Menschen die Zeit stahlen? Für viele Kinder gehören die Figuren Michael Endes zu den engen Vertrauten ihrer eigenen Traumreisen: kaum ein Kinderzimmerregal ohne seine unsterblichen Heldinnen und Helden. Seine Bücher haben nichts an Strahlkraft verloren. Mit Übersetzungen in etwa vierzig Sprachen und über dreißig Millionen verkauften Exemplaren zählt Michael Ende zu den international bekanntesten Autoren deutscher Sprache und gilt überhaupt als einer der beliebtesten und erfolgreichsten deutschen Schriftsteller.

Für mich persönlich allerdings ist Michael Ende kein Kinderbuchautor, ist es nie gewesen. Als Kind habe ich weder Jim Knopf (den ich nur aus der Augsburger Puppenkiste kenne) noch Momo noch Die unendliche Geschichte gelesen. Erst als Erwachsener fand ich einen Zugang zu ihm, seltsamerweise mit dem Satanarchäolügenialkohöllischen Wunschpunsch, der als Kinderbuch-Klassiker gilt, dem man – wie eigentlich allen Büchern Endes – aber auch in fortgeschrittenem Lesealter einiges abgewinnen kann.

Dass Michael Ende zu den Big Four der Kinderliteratur zählt – also zu jenem imaginären Bund von Kinderbuchautoren nach 1945, zu dem auch Max Kruse, James Krüss und Otfried Preußler gehörten – hat er wohl als Segen und Fluch zugleich empfunden. Er wehrte sich dagegen, als »Märchenonkel« oder ausschließlich als Kinderbuchautor verstanden bzw. missverstanden zu werden.

Die Lust am Spiel der Phantasie

»Warum schreibe ich für Kinder?« – dieser Frage geht Michael Ende in seinem nicht anders als großartig zu nennenden Vortrag nach, den er fern von Deutschland, in Tokio, gehalten hat. Man kann nicht behaupten, dass er darauf eine stringente oder eine eindeutige oder leichtfertige Antwort parat hätte. Er mäandert um diese Frage herum, und wiederum wie in einem Kaleidoskop zeigen die kleinen bunten Glassplitter und Spiegel immer wieder neue Facetten. Und dann fällt ein verräterischer Satz, aus dem sein ganzes Dilemma spricht:

»Im Grunde schreibe ich überhaupt nicht für Kinder. Ich meine damit, dass ich während der Arbeit niemals an Kinder denke, mir niemals überlege, wie ich mich etwa ausdrücken muss, damit Kinder mich verstehen, niemals einen Stoff auswähle oder verwerfe, weil er für Kinder geeignet oder nicht geeignet ist. Bestenfalls könnte ich noch sagen: Ich schreibe die Bücher, die ich als Kind gerne selbst gelesen hätte. Diese Formulierung hört sich hübsch an, aber sie trifft nicht ganz die Wahrheit, denn ich schreibe auch nicht aus einer Erinnerung oder Rückbesinnung an meine eigene Jugend. Das Kind, das ich einmal war, lebt noch heute in mir, es gibt keinen Abgrund des Erwachsenwerdens, der mich von ihm trennt, im Grunde fühle ich mich als der Gleiche, der ich damals war. An dieser Stelle sehe ich vor meinem inneren Auge so manchen Psychologen bedenklich die Stirn runzeln und murmeln: Er ist eben nie wirklich erwachsen geworden.« Und nach einer Pause fügt Michael Ende an: »Das gilt ja heutzutage als schwerwiegender Fehler.«

Vielleicht ist dies der Ausgangpunkt, von dem aus man das vorliegende Buch lesen sollte: aus reiner Neugier auf einen Schriftsteller, der eben nie »nur Kinderbücher« geschrieben hat, im Sinne eines irgendwie reduzierten, zwar phantasievollen, jedoch unerwachsenen und nicht sonderlich ernst zu nehmenden Erzählens. Sondern der einfach »ohne Scham« eingesteht: »Die wahre, eigentliche Triebfeder, die mich beim Schreiben bewegt, ist die Lust am freien und absichtslosen Spiel der Phantasie. Für mich ist die Arbeit an einem Buch immer von Neuem eine Reise, deren Ziel ich nicht kenne, ein Abenteuer, das mich vor Schwierigkeiten stellt, die ich vorher nicht kannte, durch welches Erlebnisse, Gedanken, Einfälle in mir hervorgerufen werden, von denen ich nichts wusste – ein Abenteuer, an dessen Ende ich selbst ein anderer geworden bin als der, der ich zu Anfang war.«

Das Abenteuer, Michael Ende mit dem Herzen zu verstehen

Michael Ende – ein Abenteurer. Ein Traumfänger. Ein Seiltänzer und Wolkensegler, der Welten voller Verzauberung schafft, Innenwelten, die mit ihrem Leuchten alles Grauen der Außenwelt zum Verschwinden, zum Verlöschen bringen können.

Doch warum dieser Autor sich so verstand, so schrieb und erzählte, wie er es tat, ist seinem Publikum weitgehend unbekannt geblieben. Es ist dies jedoch eine Frage, die keineswegs nebensächlich ist. Will man ihn ernst nehmen, muss man begreifen, dass der ganz besondere ästhetische Ansatz, die poetische Konzeption für Michael Ende eine geradezu überlebenswichtige Angelegenheit ist. Weil er eben nicht gedeutet, interpretiert oder erklärt werden wollte – was ihm stets suspekt blieb. Es ging ihm darum, auf ganzheitliche Weise – sagen wir: mit dem Herzen – verstanden zu werden.

Die Flaschenpost

Um Michael Endes Anliegen begreiflich und seine künstlerischen Ambitionen nachempfindbar zu machen, wurde dieses Buch zusammengestellt. Es führt in seinen kaleidoskopartigen Texten mitten ins Zentrum von Endes Selbstverständnis als sprachkreativer Poet und Erzähler. Für Michael Ende ist gerade das, was den Menschen so ungeheuer kostbar und einzigartig macht, seine schöpferische Fähigkeit: Die Tatsache, dass aus ihm eine ganze neue Welt hervorgehen kann. Schreiben bedeutet für ihn nichts anderes, »als von der einsamen Insel, auf der man irgendwann gestrandet ist, immer noch eine weitere Flaschenpost ins Meer zu werfen«.

Das Bild von der Flaschenpost ist nicht von ungefähr aufschlussreich. Für das von der einsamen Insel gilt das umso mehr. Wenn wir in diesem Bild bleiben und es auf Michael Ende beziehen wollen, sehen wir vor unserem inneren Auge einen vielleicht nicht völlig einsamen, aber doch sich unverstanden fühlenden Künstler, der eine Flaschenpost nach der anderen füllt und den Fluten anvertraut, in der unwahrscheinlichen und doch begründeten Hoffnung, dass irgendjemand irgendwo diese Flaschenpost schon aus dem Wasser ziehen und zu lesen verstehen wird: als geheime Botschaft aus der Wunderkammer eines großen Wortmagiers.

»Ich bin ein Geschichtenerzähler«

Als solcher jedoch fühlte Michael Ende sich zeit seines Lebens unverstanden. Es musste ihn kränken, wenn Marcel Reich-Ranicki brüsk befand: »Zum Phänomen Ende äußere ich mich nicht« (das »Phänomen« nahm subtile Rache, indem er in seinem Wunschpunsch die Figur des nutzlosen und nicht sehr liebenswerten »Büchernörgele« auftreten ließ). Es musste ihn verstören, dass der literarische und publizistische Zeitgeist so dezidiert gegen ihn stand und ihn kategorisch unter den Verdacht des Eskapismus, der Weltflucht stellte. Es musste ihn befremden, dass die ganze unsinnliche und phantasiephobe, erklärungs- und belehrungswütige Literaturszene seiner Zeit, ihn – den »poetischen Alchimisten« mit seinem »spielerischen Ansatz«, seiner Phantasie und Fabulierfreude – als einen Fremdkörper stigmatisierte.

Störrisch-sympathisch beharrte Michael Ende darauf: »Ich bin ein Geschichtenerzähler.« Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Ihm war die hierzulande heiß geliebte Unterscheidung zwischen realistischer und phantastischer Literatur ebenso ein Graus wie auch die immanente Abwertung derer, die »für Kinder« schreiben: »Man darf von jeder Tür aus in den literarischen Salon treten, aus der Gefängnistür, aus der Irrenhaustür oder aus der Bordelltür. Nur aus einer Tür darf man nicht kommen, aus der Kinderzimmertür. Das vergibt einem die Kritik nicht. Das bekam schon der große Rudyard Kipling zu spüren. Ich frage mich immer, womit das eigentlich zu tun hat, woher diese eigentümliche Verachtung alles dessen herrührt, was mit dem Kind zu tun hat.«

Michael Ende hat das Land der Phantasie nie verlassen, er hat es aufgeschlossen für alle Zeit und jedes Alter, für alle Leserinnen und Leser. Natürlich eignet ihm etwas Kindliches, wenn man so will, aber es ist dieses Land, in dem der Kindliche Kaiser Michael Ende seine Abenteuer suchte und fand und erzählte. Nicht nur für Kinder, auch für Erwachsene. Zwischen denen man eigentlich keine Trennlinie ziehen kann.

Der letzte Romantiker

Ohne Zweifel hat mit Michael Ende die »deutsch-romantische Seele« wieder einen kongenialen »Dichter, Seher, Helfer, Wegweiser, Sinngeber« gefunden, was von den großen deutschen Nachkriegsautoren keiner sein wollte, wie DER SPIEGEL schrieb. In einer zunehmend nüchternen, seelenlosen Zeit war es dieser Schriftsteller, der uns die fast verloren gegangenen Reiche des Phantastischen und der Träume zurückgewonnen hat. Der in seinen Büchern dem allgemeinen Unbehagen gegenüber Technokratie und Rationalismus eine Stimme gab. Durchaus im Sinne der Romantiker – vor allem Novalis, Joseph von Eichendorff und E. T. A. Hoffmann – wollte er die Welt wieder verzaubern und mit Poesie aufladen. Und die wunderbare Wirklichkeit zum Leuchten bringen, die hinter den Dingen liegt. Zuletzt galt er – etwa dem ZEITMAGAZIN – als »der Mann, der unserer Zeit die Mythen schreibt«.

Wie dieses Buch zu lesen und zu verstehen ist

Als Mythologe unserer Zeit ist Michael Ende erst noch zu entdecken. Um einen tiefen Einblick in seinen Gedankenreichtum zu ermöglichen und zu gewinnen, wurden in diesem Buch Auszüge aus Reden, Gesprächen, Vorträgen, Essays und Notizen zu einem fließenden, funkelnden Text zusammengefügt. Dabei sind bisweilen kleinere Brüche, Wiederholungen und Wechsel in der Tonart unvermeidlich – ich habe sie bewusst nicht ausgeglichen, da ich so wenig wie möglich redaktionell eingreifen oder stilistisch bearbeiten mochte. Hundert Prozent Originalton waren mir wichtiger als ein künstlich geglätteter Text, der seine Herkunft verleugnet (siehe dazu die Editorische Notiz). Denn ein Großteil dieses Buches wurde verschiedenen dokumentierten Gesprächen (etwa mit Joseph Beuys oder Erhard Eppler) entnommen, dort hat Michael Ende frei gesprochen, auf Gesprächspartner reagiert und mit ihnen diskutiert; hier können wir ihn quasi live erleben.

Wichtig war mir, Michael Ende bei der »Verfertigung seiner Gedanken« mitzuerleben. Ihn aussprechen zu lassen, was ihm etwas bedeutete, wogegen er sich wehrte und wofür er einstand. In diesem Sinne heißt er zwar Ende, kommt aber nie an ein solches, sondern immer wieder an einen Anfang. Einen Anfang, an dem er den Vorhang zum Theater der Träume beiseitezieht und uns in beständig neue phantastische Welten blicken lässt – Welten voller Abenteuer und Rätsel, Lichter und Geheimnisse, fern von uns und uns doch ganz nah.

Eine weitere Flaschenpost wurde ins Meer geworfen …

Johannes Thiele

Was wir lesen, wenn wir lesen

Gleichnis

Der Mensch ist ein Buch.Ein Buch besteht aus Papier und Karton oder Leder,aus Leim und Fäden und Leinenund Druckerschwärze oder Tinte.Das ist sein physischer Leib.Aber der Stoff ist vergänglich und auswechselbar.Er kann auch aus Tontafeln sein oder Wachs,aus Pergament oder Holzbrettchen,dennoch ist es ein Buch.Der Stoff bestimmt seine äußere Erscheinung.Sie ist wichtig, aber sie ist nicht das eigentliche Buch.Es kann neue Auflagen (verbesserte?)oder auch eine neue Ausgabe in einem anderen Verlag geben.Der Materialist untersucht die Beschaffenheit,er analysiert das Papier, das Pergament, die Druckerschwärze,er misst die Dicke der Seiten und vergleicht,er zählt genau die schwarzen Strichlein und Punkte,ihre Anordnung, ihre Wiederkehr, ihre Häufigkeit,und er zieht Schlüsse daraus,aber er leugnet, dass es Zeichen sind,die man lesen muss, weil sie Worte bedeutenund für sich selber wesenlos sind.Das, sagt er, ist schon subjektive Interpretation,nicht strenge Wissenschaft;ich halte mich an die Tatsachen.Aber die Zeichen sind eine Schrift.Du kannst das Wort »Baum« in vielerlei Schriften schreiben.

(aus: Michael Ende: Zettelkasten. Skizzen und Notizen, hockebooks, München 2020, S. 127 f.).

Was zeigt sich in einem Spiegel, der sich in einem Spiegel spiegelt?

Wenn zwei Leser das gleiche Buch lesen, so lesen sie dennoch nicht dasselbe. Jeder von beiden bringt in die Lektüre sich selbst ein, seine Gedanken und Assoziationen, seine Erfahrungen, sein Vorstellungsvermögen, sein Niveau. Man kann also durchaus sagen, das Buch sei ein Spiegel, in welchem sich der Leser spiegelt.

Freilich gilt auch das Gegenteil: Wenn ein Leser zwei verschiedene Bücher liest, so werden sie letzten Endes trotz allem so verschieden nicht sein – aus genau denselben Gründen. Also kann man ebenso gut sagen, der Leser sei ein Spiegel, in welchem sich das jeweilige Buch spiegelt.

Es handelt sich da um einen höchst bedenkenswerten Vorgang, wie mir scheint; denn was für einen Leser und sein Buch gilt, lässt sich ja ganz generell vom Menschen in der Welt sagen.

Die Antwort auf die Frage könnte lauten: Wenn die beiden Spiegel unendlich groß sind, zeigen sie – nichts; sind sie aber begrenzt, so ergibt sich ein unendlicher, wenn auch imaginärer Korridor nach beiden Seiten. Aber diese Antwort erscheint mir voreilig; sie bezeichnet das Ergebnis und lenkt unsere Aufmerksamkeit von dem eigentlichen Prozess, dem erstaunlichen Vorgang ab, der ja seinerseits auch wieder unendlich ist.

Wo findet denn statt, was zwischen dem Leser und seinem Buch (dem Menschen und der Welt) vorgeht? Im Buch allein ja nicht, denn es besteht nur aus schwarzen Zeichen auf weißem Papier. Es bedarf des Lesers. Im Leser allein aber auch nicht, denn ohne das Buch würde der ganze Vorgang nicht zustande kommen. Was geschieht denn da eigentlich, wenn das Lesen dieser schwarzen Zeichen in uns Freude oder Trauer, Sympathie oder Antipathie, Interesse oder Überdruss, Gelächter oder Rührung auslöst?

Um die Aufmerksamkeit des Lesers auf diesen geheimnisvollen Vorgang zu lenken, habe ich versucht Geschichten zu schreiben, die ihn auf sich selbst zurückweisen, Geschichten, an denen man sich nicht festhalten kann (indem man meint, sie »verstanden« zu haben, was ja nur bedeutet, dass man das gewohnte Bekannte wiedererkennt), die nach allen Seiten hin offen sind, die den Leser in den schwerelosen Zustand des freien Falls versetzen, gleichsam in einen Orbit um eine nicht anders zu beschreibende Mitte, die weder da noch nicht da ist (wie Gott oder das menschliche Ich oder der Sinn des Daseins). Jeder erzählte Vorgang enthält, deutlich oder versteckt, den Anstoß zu einem neuen Vorgang und so immer fort, bis die Umkreisung von Neuem beginnt …

Der ideale Leser, der Mut oder Übermut genug besitzt, sich auf eine solche Welt(innen)raumfahrt einzulassen, sollte, wie ein Musikhörer, ganz einfach zur Kenntnis nehmen, was an harmonischen oder dissonanten Empfindungen, an Gedanken und Bildern in ihm angeregt wird und wieder verschwindet, Ahnungen und Erinnerungen, Farben, Formen und Bewegungen, und er sollte bemerken, was er selbst bei all dem hinzutut.

(aus: Michael Ende: Zettelkasten. Skizzen und Notizen, hockebooks, München 2020, S. 278 f.).

Geschichten und Gedichte als Brücken zum Leser

Jede erzählte Geschichte wird erst fertig beim Lesen beziehungsweise im Leser. Man hat sich heute ein bisschen daran gewöhnt, dass der Autor jemand ist, der hauptsächlich sich erklärt, der seine Weltanschauung, seine Gedanken, seine Gefühle genau mitteilt. Und dem Leser bleibt dann eigentlich gar nichts anderes übrig, als sie zur Kenntnis zu nehmen und bestenfalls da und dort zu sagen: Ja, so geht es mir auch, oder darüber denke ich ganz anders. Im Großen und Ganzen verharrt der heutige Leser in einer konsumtiven Haltung. Während es mir gerade darum zu tun ist, Bildergeschichten zu finden, die genau das offenlassen, das heißt, die den Leser eintreten lassen, um ihn zum Mitwirkenden zu machen.

Für mich ist ein Buch so etwas Ähnliches wie ein Dialog mit dem Leser. Und die Brücke dazu ist die Geschichte, die ich geschrieben habe. Und wenn das Buch richtig ist, wenn es als Brücke funktionieren soll, dann muss es ermöglichen, dass der Leser seinen Teil mitbringt, sonst bleibt das Ganze lediglich ein Gespräch von oben nach unten. Sonst sitzt der eine da und muss immer zuhören, und der andere gibt seine gesamten Weisheiten von sich. Aber genau das möchte ich vermeiden.

Wer zum Beispiel das Lied Der Mond ist aufgegangen