Mehr Zukunft wagen! - Lars Jaeger - E-Book

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Lars Jaeger

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Beschreibung

Lars Jaeger hat eine ermutigende Botschaft: Wir können den rapiden wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt der Gegenwart positiv gestalten. Wir brauchen keine Angst zu haben vor Digitalisierung, Nano- und Quantentechnologie oder dem Bioengineering. Im Gegenteil: Dieses Neue bedeutet nicht das Ende der Welt, sondern die Zukunft der Menschheit! Allerdings wird der welthistorische Umbruch, vor dem wir stehen, nicht nur unser Menschenbild und unser Sinn- und Daseinsverständnis massiv verändern, sondern auch den Menschen selbst. Es gilt also, die Veränderungen zu kennen und sie zu gestalten. Wie das gelingen kann, davon erzählt dieses Buch.

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Seitenzahl: 288

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Lars Jaeger

Mehr Zukunft wagen!

Wie wir alle vom Fortschritt profitieren

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

Dieses Werk wurde durch die Literaturagentur Beate Riess vermittelt.

Copyright © 2019 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

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Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

Konzept- und Textberatung: Dr. Bettina Burchardt, www.bettina-burchardt.de

Umschlaggestaltung: Roland Huwendiek Grafik-Design, Berlin

Umschlagmotiv: © jim – Fotolia.com

ISBN 978-3-641-25010-2V001

www.gtvh.de

Meinen Kindern Anika, Kira und Talia

und ihrer Zukunft

INHALT

Prolog: Ein merkwürdiges Paradoxon

TEIL 1:

DYSTOPISCHES DENKEN – DER STARKE GLAUBE AN UNSER KOLLEKTIVES SCHEITERN

1 – Die zwei Gesichter des Janus

Grenzenloser Wohlstand und Zukunftsängste

Neue Technologien und Dystopien

Blauer Himmel über der Ruhr

Der Teufel an der Wand

2 – Die Malthusianische Falle

Unsinn seit 200 Jahren – und immer noch virulent

Der große Irrtum

Die Unbelehrbaren

Von der Grenzenlosigkeit der menschlichen Kreativität

Was Malthus heute sagen würde

Begrenzte materielle Ressourcen versus grenzenlose Kreativität

3 – Die Human-Krise

Von der Transformation der Natur zur Umwandlung des Menschen

Technologische Disruption: Fünf Schlüsseltechnologien

Schlüsseltechnologie 1:

Mit Gentechnologie zu Designerbabys

Schlüsseltechnologie 2:

Mit KI zur Superintelligenz

Schlüsseltechnologie 3:

Mit Neuro-Enhancement unseren Geist verbessern

Schlüsseltechnologie 4:

Mit digitalen Algorithmen und Big Data zur Kontrolle über unser Leben

Schlüsseltechnologie 5:

Dem Tod ein Schnippchen schlagen

Die Human-Krise: Die Umformung des Menschen

Gefahr in Verzug

Der Blinde und der Lahme

4 – Populismus des Denkens

Von Lügen, Vereinfachungen und Fake News

Das Streben nach Wahrheit

Vom Glauben zum Wissen und wieder zurück

Team Trump

Angriff auf das Immunsystem unserer Demokratie

Der Feind im eigenen Haus

Inversion des politischen Willens

5 – Langsames Denken, schnelles Denken

Einsichten über unsere Wahrnehmung und unser Denken

Hase und Igel

Drei Kinder derselben Mutter

Ein Stolperer im Aufwärtstrend?

TEIL 2:

UTOPISCHES DENKEN – WIE WIR UNSERE ZUKUNFT GESTALTEN

6 – Um was es geht

Von den Potentialen zukünftiger Schlüsseltechnologien

Neun weitere Schlüsseltechnologien

Schlüsseltechnologie 6:

Die unermessliche Rechenkraft des Quantencomputers

Schlüsseltechnologie 7:

Mit Nanotechnologie auf atomarer Ebene bauen

Schlüsseltechnologie 8:

Schlaue Fabriken und das Internet der Dinge

Schlüsseltechnologie 9:

3D-Drucker – Alles sofort verfügbar

Schlüsseltechnologie 10:

Nahrung aus dem Labor statt vom Feld

Schlüsseltechnologie 11:

Vertrauen durch dezentrale Daten

Schlüsseltechnologie 12:

Neue Energietechnologien

Schlüsseltechnologie 13:

Biosensoren und Nano-Roboter in unserem Körper

Schlüsseltechnologie 14:

Synthetisches Leben – Wenn der Mensch Gott spielt

Die Kombination macht es

7 – Wer soll es richten?

Von der Machtlosigkeit der gesellschaftlichen Institutionen

Fukushima? Kein Problem!

Die Hilflosigkeit des gesellschaftlichen Führungspersonals

Die Ohnmacht des Marktes

Utopien aus dem Silicon Valley

Mehr Einstein, weniger Lyssenko

8 – Sapere aude

Der Mut und der Wille, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen

Die offene Gesellschaft

Rational irrational

Mut zur Rationalität

»Wissen ist Macht« – Die Idee des Fortschritts

Projekt Aufklärung – Der permanente Kampf um die geistige Autonomie

9 – Intellektuelle Redlichkeit

Wissen wollen, wie es wirklich ist

In drei Schritten zur intellektuellen Redlichkeit

Poppers Kritischer Rationalismus

Der Irrtum als Methode

Der Bayesianische Geist und die holprige Annäherung an die Wahrheit

Von intellektueller zu ethischer Redlichkeit

10 – Rationalität, Wissenschaft und Spiritualität

Die Rückkehr des verlorenen Sohnes

Auf der Suche nach dem Sinn

Das Staunen über die Wunder der Welt

Weitere Brücken zwischen Wissenschaft und Spiritualität

Von geistiger Autonomie zum rechten Handeln

Gemeinsame Redlichkeit

Bedienungsanleitung für die Praxis

11 – Was ist der Mensch, was soll er sein?

Wie das mächtige Zweigespann der Moderne konkret wirken kann

In der Pflicht

Die Frage nach dem »Ich«

Die Auflösung des Individualismus

Alle Menschen, alle Kulturen, alle Länder – Fünf Regeln für jedermann

Schwarze Wölfe

Der Blick in die Zukunft: Risikoethik

12 – Utopien wagen

Wie wir dem irdischen Paradies immer näher kommen

Auslaufmodell Egoismus

Wenn Gier sich nicht mehr lohnt

Von wirtschaftlicher Machtkonzentration zu neuen Verteilungsprinzipien

Eine Wirtschaft des Teilens

Überwinden der Stolpersteine

Verantwortung & Zivilcourage

Danksagung

Literatur

Register

PROLOG: EIN MERKWÜRDIGES PARADOXON

»Mehr Demokratie wagen« (Willy Brandt), »Mehr Freiheit wagen« (Angela Merkel), »Mehr Kapitalismus wagen« (Friedrich Merz), »Mehr Gerechtigkeit wagen« (SPD) – Mit solchen Aufrufen verbinden wir Optimismus und Tatkraft. Bekanntlich gilt: Wer wagt, gewinnt. Und wer das Richtige wagt, erst recht. Doch warum sollen wir »Mehr Zukunft wagen«? Kommt Zukunft nicht von ganz alleine?

Ein erstaunlicher Widerspruch prägt unsere Zeit. Immer mehr Menschen führen ein Leben in höchstem Komfort, in nahezu totaler Sicherheit und mit einem beispiellosen Maß an Gesundheit bis ins hohe Alter. Gleichzeitig denken die meisten, der Zustand der Welt sei schlecht, und er würde immer schlechter. Man könnte sagen: Himmel und Hölle existieren für uns parallel, sie durchdringen sich im Hier und Jetzt. Auf diesen Widerspruch ist eine weitere Paradoxie aufgesetzt: Für beide Szenarien ist derselbe Auslöser verantwortlich – der wissenschaftliche und technologische Fortschritt. Er sorgt dafür, dass wir heute in einer Gesellschaft leben, die alle Hoffnungen der Vergangenheit an Paradieshaftigkeit längst übertroffen hat. Aber er ist auch die Ursache dafür, dass wir mit größter Sorge in die Zukunft schauen.

Tatsache ist: Unsere Welt verändert sich immer schneller. In seinem Roman Schöne Neue Welt von 1932 beschreibt Aldous Huxley eine Gesellschaft, in der die Menschen mittels biotechnologischer Manipulationen schon mit ihrer Geburt in verschiedene Kasten sortiert und zugleich durch permanenten Konsum, Sex und die Glücksdroge Soma in all ihren Wünschen, Begierden und Gelüsten sofort befriedigt werden. Der Roman wird den meisten Lesern in seinen Grundzügen bekannt sein. Weniger bekannt ist das Jahr, in welchem Huxley seine Handlung spielen lässt. Es ist das Jahr 2540 n. Chr., also mehr als 600 Jahre nach Erscheinen des Romans! Dass die realen technologischen Möglichkeiten schon nach einem Jahrhundert dieses Szenario nicht nur erreichen, sondern weit in den Schatten stellen könnten, hatte sich selbst der Visionär Huxley nicht vorstellen können.

Huxley beschreibt in seinem Roman, dass der Mensch durch technologische Entwicklung nicht mehr nur seine Umwelt und damit seine Lebensbedingungen massiv verändert, sondern auch sich selbst. Tatsächlich sind heute in der realen Welt Körper und Geist des Menschen längst zum Gegenstand der Optimierung geworden. Wir stehen am Scheideweg, ob wir selbstbestimmt in die Zukunft gehen, oder ob über kurz oder lang unser Körper durch Gen- und Nanotechnologien zu einer Maschine degradiert und unser Geist durch eine Art Soma-Droge permanent befriedigt und zugleich konditioniert wird.

Diese »Human-Krise« entscheidet über unsere Zukunft als Menschen; sie ist drängender, umwälzender und bedrohlicher, als es sogar Klimakatastrophe oder Überbevölkerung sind.

Zurzeit scheint noch die Renditegier der Technologie-Investoren, die Ideologie der Silicon-Valley-Transhumanisten und ganz allgemein die kapitalistische (bzw. militärische) Verwertungslogik über unsere Zukunft zu entscheiden und uns dabei zu passiven Zuschauern oder Leidtragenden zu degradieren. Wenn wir nicht wollen, dass die neuen Technologien über uns hinwegrollen, muss sich ein jeder von uns in den kommenden Jahrzehnten an der aktiven positiven Gestaltung unserer Zukunft beteiligen. Dazu braucht es dreierlei:

Wissen, um was es bei den technologischen Entwicklungen geht,Motivation, Mut und die Bereitschaft zum gestalterischen Engagement,intellektuelle, philosophische und spirituelle Richtlinien.

In Bezug auf den letzten Punkt ist anzumerken, dass religiöses Engagement weltweit nachlässt – bei allem Wachstum der Weltbevölkerung sinkt die absolute Zahl der Kirchenbesucher. Das moralische Gefüge der Gesellschaft ist heute von agnostischen Grundprinzipien abhängig, die die Kategorie der Sünde durch das des Rechts und Unrechtes ersetzt haben. Eine Rückkehr zu religiösen Richtlinien wird uns daher kaum helfen. Spirituelle Suche muss woanders stattfinden.

Ich möchte Sie mitnehmen auf eine Reise in eine neue, positiv gestimmte gesellschaftliche Utopie. Auf dieser Reise werden wir im ersten Teil zunächst die Dystopien kennenlernen, die angesichts des schnellen technologischen Wandels das moderne Denken bestimmen. Im zweiten Teil des Buches werden wir die Möglichkeiten beleuchten, die uns der fortschreitende Wandel bietet, und betrachten, was es braucht, dass wir die allseits propagierten negativen Entwicklungen abwenden, den technologischen Fortschritt human gestalten und mit seiner Hilfe für alle Menschen ein wahres Paradies auf Erden erschaffen können.

TEIL 1:

DYSTOPISCHES DENKEN – DER STARKE GLAUBE AN UNSER KOLLEKTIVES SCHEITERN

1 – DIE ZWEI GESICHTER DES JANUS

GRENZENLOSER WOHLSTAND UND ZUKUNFTSÄNGSTE

Soziale Krise, politische Krise, Wirtschafts- und Handelskrise, Finanz- und Schuldenkrise, Bildungskrise, Energiekrise, demografische Krise, Flüchtlingskrise, Glaubwürdigkeitskrise, Kulturkrise, Glaubenskrise, ökologische Krise … Unser Leben scheint von Krisen bestimmt zu sein. Ein Blick in die Medien genügt, um zu erfahren, dass die Zukunft Europas auf dem Spiel steht, die Klimakatastrophe droht, der Zerfall unseres Schulsystems und der Kollaps unseres Rentensystems bevorstehen und – als ständiges Grundrauschen – der allgemeine Sitten- und Werteverfall sowie der Niedergang des demokratischen Konsenses durch politischen Extremismus die Gesellschaft entzweien. Zu all diesen Folgen unseres Versagens kommen noch die Bedrohungen, die durch unseren menschlichen Erfindungsreichtum hervorgerufen werden: Künstliche Superintelligenz übernimmt das Ruder, Geningenieure designen Babys, Neurotechnologien kontrollieren unseren Geist und Big Data erfasst unsere Persönlichkeit besser, als wir dies selbst tun.

Auf solche Schreckensmeldungen reagieren wir mit Verunsicherung und Angst (»Meinen Job übernimmt eine Maschine, ich werde im Alter arm sein« oder »Meinen Kindern wird es später einmal schlechter gehen«), manchmal versteckt unter Fatalismus (»Es geht sowieso alles den Bach runter«) und Selbsttäuschung (»Das ist doch alles reine Panikmache!«). Dazu gesellt sich Frustration, weil wir meinen, nichts an den Entwicklungen ändern zu können, aber auch, weil wir das, was um uns herum passiert, nicht wirklich verstehen – »Irgendwie überrollt mich das alles!«

Krisen bestimmen unser kollektives Bewusstsein. Sie machen uns Angst und frustrieren uns, weil wir uns ohnmächtig fühlen.

Gleichzeitig verfügen wir heute in den entwickelten Ländern trotz all dieser misslichen Krisen und unserer Ängste über eine niemals zuvor erreichte Lebensqualität.

Wir haben alle ein sicheres Dach über dem Kopf, niemand muss frieren oder hungern.Sozial Schwächere können sich auf staatliche Leistungen verlassen. Heute sterben mehr Menschen an zu viel als an zu wenig Essen, mehr kommen durch Unfälle ums Leben als durch Kriege, und zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit sind Infektionskrankheiten weniger tödlich als Altersgebrechen. Dank minimalinvasiver Operationstechniken, Antibiotika und ausgewogener Ernährung erfreuen sich die meisten von uns bis ins (immer höhere) Alter bester Gesundheit.1Wir haben Zugang zu frischem Trinkwasser und den köstlichsten kulinarischen Genüssen (unsere Urgroßeltern haben zeit ihres Lebens kaum je eine Papaya oder Mango gesehen).Wir haben viel Freizeit, die wir mit jeder Menge Weiterbildungsmöglichkeiten und bester Unterhaltung füllen können.Wir profitieren von den Möglichkeiten nahezu unbeschränkter Mobilität, reisen in exotische Länder.Digitale Kommunikation erlaubt es uns, uns mit Freunden in aller Welt auszutauschen.

Die Liste der Annehmlichkeiten des modernen Lebens, die unser Dasein im Vergleich zu dem unserer Vorfahren so unglaublich bequem wie vielfältig gestaltbar machen, ließe sich noch beliebig fortsetzen. Wir leben besser als je – und das Beste daran ist: Wir wissen das alles zu schätzen! Repräsentative Umfragen zeigen, dass die subjektiv empfundene, individuelle Zufriedenheit der Menschen stabil auf hohem Niveau liegt.2 Wie aber passen Dauer-Krisenstimmung und Wohlbehagen zusammen?

Beide Extreme dieses merkwürdigen Spagats haben dieselben Wurzeln: den wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt.

Wissenschaft und Technologie haben das menschliche Leiden stärker vermindert als jede andere Geistestradition (genau eine solche ist ja die Wissenschaft: ein Versuch, mit Hilfe unseres Geistes die Welt zu verstehen). Sie ermöglichen uns eine Existenz in unvergleichbarer Sicherheit, ein höchstes Maß an Gesundheit, enormen materiellen Wohlstand, ein großes subjektives Zufriedenheitsgefühl und eine Lebensqualität, von der unsere Großeltern und alle Generationen davor nur träumen konnten.Gleichzeitig hat uns der technologische Fortschritt neue Probleme wie Umweltzerstörung, Bevölkerungsexplosion und atomare Bedrohung gebracht. Viele Menschen malen sich eine Zukunft aus, in der alles, was wir kennen, durch Technologie zerstört wird, oder in der ein Armageddon die Menschheit als Ganzes auslöscht.3

Uns beherrscht eine bequeme, aber blinde Technikgläubigkeit, wir genießen den Luxus von Autos, Computertomografie und Abwasserentsorgung, vertrauen auf das Funktionieren von Smartphone, digitaler Datenkommunikation und Antibiotika, zugleich fürchten und verteufeln wir den technologischen Fortschritt.

Zu einer Form von geistiger Flucht vieler Menschen ist es geworden, den Gedanken an die Zukunft überhaupt zu vermeiden und in einer nie endenden Gegenwart oder in der Vergangenheit vor einigen Jahren zu leben, in der sich das Leben instinktiv angenehmer und sicherer anfühlte.

Neue Technologien und Dystopien

Ein Beispiel für die Zweischneidigkeit des technischen Fortschritts sind die digitalen Technologien. Aktuell beschert uns das Internet neben seinen aufregenden neuen Möglichkeiten des sozialen, politischen und wirtschaftlichen Austauschs auch ganz neue Formen der persönlichen Überwachung und massiver Eingriffe in unsere Privatsphäre, ganz zu schweigen von der zunehmenden Abhängigkeit unserer gesamten Infrastruktur vom Internet, die uns angreifbar für Cyberterroristen macht. Neue Algorithmen lösen vormals unlösbare Probleme, aber die Entwicklung einer übermächtigen künstlichen Intelligenz droht uns Menschen zu versklaven. Und vom Hunger unserer modernen Technologien nach Energie führt ein direkter Weg zur Vernichtung der irdischen Ressourcen.

Auch schon in der Vergangenheit kam der wissenschaftliche und technologische Fortschritt zumeist sowohl mit positiven Entwicklungen als auch um den Preis großer Nachteile und Ängste. Drei Beispiele:

Als die Eisenbahnen eingeführt wurden, hatten Menschen nicht nur Angst vor der »unmenschlichen« Geschwindigkeit. Es gab tatsächlich eine Reihe schwerer Unfälle, Kessel explodierten, Züge stießen zusammen, Brücken stürzten ein. Die Industrialisierungswellen des 18. und 19. Jahrhunderts bewirkten ein massives Wirtschaftswachstum, aber auch die Entstehung eines Proletariats des Elends und die Auflösung der traditionellen Großfamilie. Neben Computern, Laser und moderner medizinischer Diagnostik brachte uns die Quantenphysik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch die Atombombe.

Die Erfahrung, dass technologischer Fortschritt unser Leben auch zum Negativen verändern kann, machen Menschen bereits seit Jahrhunderten.

Neu ist allerdings, was wir vom technologischen Wandel für die Zukunft erwarten. Bis ins 19. Jahrhundert hinein zeichneten Philosophen und Literaten der westlichen Welt in ihren Zukunftsvisionen ausgesprochen positive Bilder von dem, was den Menschen bevorsteht. Angefangen hat es 1516 mit der Utopia von Thomas Morus.4 Utopia ist eine Welt, in der alle Menschen (genauer: alle Männer) die gleichen Rechte haben. Die Arbeitszeit beträgt sechs Stunden am Tag, es herrscht freie Berufswahl und uneingeschränkter Zugang zu Bildungsgütern. Jeder erhält von der Gemeinschaft, was er braucht. Eine solche Gesellschaft musste den Menschen vor 500 Jahren als ein Paradies erschienen sein. Thomas Morus’ Land Utopia5 wurde zum Namensgeber für die fiktiven zukünftigen Welten, die hoffnungsvolle Gegenentwürfe zum tristen Lebensalltag der jeweiligen Gegenwart darstellten.

Erst im 20. Jahrhundert kippte das Bild, aus Utopien wurden Dystopien. Die Zukunftsentwürfe der letzten hundert Jahre beschreiben überwiegend unangenehme bis apokalyptische Welten, die durch Ökozid, mörderische Roboter, totalitäre Regime und atomare Vernichtung geformt werden. George Orwells »1984« und Aldous Huxleys »Schöne Neue Welt«, die Aushängeschilder des Zukunftsromans im 20. Jahrhundert, beschreiben Albtraumwelten, hervorgerufen durch despotische Weltdiktaturen, die allein durch moderne Technologien möglich wurden. Und Alfred Döblin schrieb noch vor »Berlin Alexanderplatz« den Roman »Berge, Meere und Giganten«, der 1924 erschien und von einer in zwei große Machtblöcke geteilten Welt erzählt, in der die Besiedlung Grönlands das Abschmelzen der Eismassen zur Folge hat.

Wer die Zukunftsromane von heute betrachtet, sieht auch hier: Dystopien beherrschen das Genre, von Freiheitsverlust durch digitale Totalüberwachung (»Zero« von Marc Elsberg, »Das Erwachen« von Andreas Brandhorst, »NSA – Nationales Sicherheits-Amt« von Andreas Eschbach), optimierten und mit künstlicher Intelligenz erzogenen Menschen (»Die Hochhausspringerin« von Julia von Lacadou), virtuellen Identitäten (»Die Tyrannei des Schmetterlings« von Frank Schätzing), Menschenzüchtung (»Perfect People«, Perfekte Menschen, von Peter James) bis hin zum Kollaps des globalen Klimas (»Ausgebrannt« von Andreas Eschbach, »Der Platz an der Sonne« von Christian Torkler).

Sahen wir früher die Vorteile der technologischen Entwicklung und blickten mit ihr positiv in die Zukunft, so hat sich das Blatt nun gewendet. Früher erhoffte man sich von der Wissenschaft, dass sie dem Menschen das Menschsein besser ermögliche, weil er dank ihr über die tägliche Sorge um Nahrung und Unterkunft hinauswachsen kann. Heute gehen viele davon aus, dass Wissenschaft dem Menschen das Menschsein immer mehr verwehrt. Indem sie uns den Zwängen und Gesetzmäßigkeiten der Technologie und Ökonomie unterwirft, degradiere sie uns zu reinen Objekten. Diese negative Sicht zeigt sich auch in den Einschätzungen der Menschen: Nur 15 Prozent der Deutschen ist der Meinung, dass es sich in der Zukunft besser leben lässt als heute. Die knappe Hälfte ist überzeugt, dass es nur schlechter werden kann.6

Durch technologischen Fortschritt erzeugte Krisen gibt es seit 250 Jahren. Neu ist, dass heute Menschen auch die Zukunft als Problem sehen.

Damit wird genau die Kraft, die uns heute in einer Gesellschaft leben lässt, die viele der Hoffnungsszenarien der Morus’schen Utopie längst übertroffen hat, für die erwartete Verschlechterung oder Zerstörung unserer Lebensbedingungen verantwortlich gemacht. Dass es die Wissenschaften des 17. und 18. Jahrhunderts und ihre Helden wie Isaac Newton und Galileo Galilei waren, die entscheidend zur Aufklärung und damit zum freiheitlichen Menschenbild in einer offenen Gesellschaft beigetragen haben, zählt nicht mehr.

Blauer Himmel über der Ruhr

Fakt ist: Herausforderungen, die uns der technische Fortschritt gebracht hat, gibt es genug. Wie werden wir mit ihnen fertig? Viele Technologieskeptiker glauben, dass nur der Verzicht auf technologische Weiterentwicklung die Lösung sein kann. Ganz nach der Logik: Der Fortschritt hat uns all die Probleme beschert, daher kann nur seine Beschränkung sie lösen. Diese Logik vergisst allerdings die andere Seite der Medaille: Neue Technologien waren immer auch hervorragende Problemlöser. Hunger, Krankheiten, die Auswirkungen extremer Wetterereignisse und viele weitere Menschheitsplagen ließen sich mit ihnen auf einen Bruchteil des Ausmaßes bringen, der für frühere Generationen ganz normal war. Ein feuriges Plädoyer für Wissenschaft und Aufklärung hält der Harvard-Professor Steven Pinker in seinem lesenswerten Buch Enlightenment Now7. Pinkers Ansicht nach sind die Wissenschaften und Technologien die treibenden Kräfte hinter den positiven Entwicklungen der vergangenen Jahrhunderte – und werden dies auch in der Zukunft sein.

Es besteht heute sogar die Aussicht, Hunger, Krankheit und anderes Leid ganz auszumerzen. Lassen wir die Wissenschaften nicht als Problemlöser zu, weil wir ihnen nicht vertrauen, berauben wir uns des besten Werkzeugs im Umgang mit den heutigen Herausforderungen.Auch Aufgaben wie Klimaerwärmung, Umweltverschmutzung und Energieversorgung werden sich nur mit Hilfe neuer Technologie lösen lassen. Die meisten von uns haben es längst vergessen oder wussten es nie: Bereits vor 70 Jahren hatten europäische und amerikanische Großstädte ein massives Smogproblem. Menschen litten unter schweren Atemwegsproblemen, die Zahl der Krebserkrankungen war in die Höhe geschossen. In den Fünfzigern war die Luft im Ruhrgebiet zum Schneiden dick; wurde weiße Wäsche draußen getrocknet, war sie am Abend grau. Im April 1961 sagte Kanzlerkandidat Willy Brandt in einer Rede im Bonner Bundestag: »Der Himmel über dem Ruhrgebiet muss wieder blau werden!« Und er wurde wieder blau.

Ein weiteres Beispiel: Noch in den 1980er-Jahren war das Baden im Rhein lebensgefährlich, Fische gab es zu dieser Zeit in Deutschlands mächtigstem Fluss kaum mehr. Der damalige Umweltminister Klaus Töpfer sprang im Rahmen einer PR-Aktion in Bonn in den Rhein, um für saubere Flüsse in Deutschland zu werben, allerdings mit Ganzkörperschutz, um nicht seine Gesundheit zu gefährden. Heute baden an gleicher Stelle Kinder und man kann wieder angeln im Rhein. Längst verlorene Fischarten sind zurückgekehrt.

Der Grund für diese Erfolge: Neue Technologien wie Katalysatoren für industrielle Verbrennungsanlagen und später auch für Autoabgase, sowie Abwasserklärung bewirkten, dass Smog, saurer Regen und Giftabfälle in den Flüssen drastisch reduziert wurden. An dieser Front wird ständig weitergearbeitet: Neue Energie-, Umwelt- und Klimatechnologien stehen im Zentrum globaler Forschungsprogramme.

Von Umweltaktivisten kommt häufig der Einwand, dass mehr Wirtschaftswachstum zwangsläufig zu mehr klimaschädlichen Energieverbrauch führt. Doch es ist gerade das Wirtschaftswachstum, das die notwendigen finanziellen Mittel sowie die Technologien hervorbringt, um der klimaschädlichen Umweltverschmutzung entgegenzutreten. Arme Länder können sich Umweltschutz nicht leisten.

Auch jene Probleme, die man zunächst als »gesellschaftlich bedingte« Krisen einordnen würde und die auf den ersten Blick kaum in einem Zusammenhang zu Technologien stehen, rufen nach einem wissenschaftlichen Ansatz und dem Einsatz von neuen Technologien. So können die gewaltigen Migrationsbewegungen im Nahen Osten und in einigen afrikanischen Ländern wohl nur dann reduziert werden, wenn die Familien in ihren Heimatländern ein Auskommen finden. Denn es sind ja meist Menschen ohne Alternativen, die auf Kriegstreiber hören oder sich auf den gefahrenvollen Weg in sicherere Länder machen. Technologien können ihnen helfen, mehr landwirtschaftliche Erträge zu erwirtschaften, mehr Transparenz in die politischen Entscheidungsprozesse zu bringen oder durch digitale Medien eine höhere Ausbildung zu ermöglichen.8 Statt zu verhindern, dass Wissenschaft Probleme löst, müssen wir besser als zuvor darauf achten, dass sie weniger Probleme in die Welt setzt.

Wissenschaft und Technologien bringen zwar immer wieder große Probleme hervor, aber sie sind gleichzeitig auch die besten Problemlöser.

Der Teufel an der Wand

Doch der Widerstand gegen Technologie nimmt Fahrt auf. Es lassen sich fünf Gründe ausmachen, die den technologischen Wandel so unbeliebt machen und für einen pessimistischen Blick in die Zukunft sorgen.

Gefühlte Zwangsjacke: Technologien zwingen uns ihren Takt und Rhythmus auf; diese Erfahrung mussten als Erste die Arbeiter an den mechanischen Webstühlen des 18. und 19. Jahrhunderts machen. Im frühen 20. Jahrhundert waren es dann die Fließbandarbeiter, heute kreieren technische und mathematische Optimierungsprozesse Zeitvorgaben (»Just-in-time«-Produktion und -Distribution), an die wir uns halten müssen. Das Ergebnis ist das Gefühl des Ausgeliefert-Seins und der fehlenden Kontrolle über unser Leben.Zunehmende Komplexität: Wir erahnen die gewaltigen Prozesse, die die Welt verändern, aber verstehen nur wenig davon, was da genau passiert. Diese Kombination von intuitivem Spüren und Nicht-Wissen bzw. Nicht-Verstehen sorgt für Verunsicherung.Unfassbare Geschwindigkeit: Die schiere Geschwindigkeit des technologischen Wandels und die damit verbundene Schnelligkeit gesellschaftlicher Veränderungen überfordern uns gedanklich wie emotional. Anders als früher sind wissenschaftliche und technologische Durchbrüche nicht mehr Sache von Jahrzehnten, sie finden heute fast schon im monatlichen Takt statt. Auch die Komplexität wissenschaftlicher und technologischer Entwicklungen steigt dramatisch an. Wir sehen uns nicht mehr als gestaltende Akteure gesellschaftlicher Veränderungen, sondern haben Mühe, überhaupt noch auf die irrwitzig schnellen und immer unübersichtlicheren Transformationen zu reagieren.Unübersichtliche Vielfalt: Wir erleben eine Vielzahl dramatischer Veränderungen gleichzeitig. Genau das ist historisch neu: In den letzten 250 Jahren sahen sich die Menschen jeweils einzelnen und somit überschaubaren, technologischen Umwälzungen und ihren krisenartigen Auswirkungen ausgesetzt. Dagegen überfordert uns heute die konstante Parallelität der Neuerungen.Globalität: Die Konsequenzen der technologischen Entwicklung sind nicht mehr lokal begrenzt. Probleme in scheinbar so fernen Kontinenten wie Afrika und Asien zeigen ihre Auswirkungen unmittelbar bei uns in Europa und Nordamerika. Bei vielen der durch Technologien hervorgerufenen Probleme geht es ums Ganze: Themen wie Atomkrieg, Umweltzerstörung, Überbevölkerung, Klimakatastrophe, künstliche Superintelligenz und Genmanipulation betreffen und bedrohen die Menschheit insgesamt. Auch Fragen der sozialen Gerechtigkeit, der Energieversorgung oder Ernährung lassen sich sinnvollerweise nur auf globaler Ebene behandeln.

Der technologische Wandel droht uns zu überrollen. Weil er uns überfordert, begegnen wir ihm mit negativen Gefühlen und einer dystopischen Sicht auf unsere Zukunft.

Wer dystopisch denkt, hat schon aufgegeben. Die gute Nachricht: Es gibt ein identifizierbares Argument, das den Dystopien zugrunde liegt, und indem wir dieses entkräften, finden wir den Weg zurück zu einer positiven Zukunftsbetrachtung und damit zu einer aktiven gestalterischen Rolle, die wir einnehmen können. Der Urgroßvater moderner Dystopien ist ein anglikanischer Pfarrer und Sozialökonom. Um ihn soll es im folgenden Kapitel gehen: Thomas Robert Malthus.

1 Noch in den 1920er-Jahren berechnete der US-amerikanische Demograf und Statistiker der Versicherungsgesellschaft Metropolitan Life, Louis Dublin, dass die Lebenserwartung des Menschen niemals höher als 64 Jahre und 9 Monate werden kann. Doch entgegen dieser Vorhersage ist die durchschnittliche Lebensdauer in den meisten hochentwickelten Ländern auf mehr als 80 Jahre angestiegen. Und sie steigt um 2,5 Jahre pro Jahrzehnt weiter.

2 So zum Beispiel der jährlich veröffentlichte »Glücksatlas« der Deutschen Post, eine repräsentative Umfrage, die seit 2011 die Lebenszufriedenheit in Deutschland misst.

3 So beschäftigte die Menschen im Jahr 1984 die Möglichkeit der nuklearen Auslöschung der Menschheit weit mehr als George Orwells »1984«-Dystopie über die Verletzung unserer Privatsphäre.

4 Lateinischer Titel in Gänze: De optimo rei publicae statu deque nova insula Utopia (»Vom besten Zustand des Staates und der neuen Insel Utopia«). In seinem Roman beschreibt Morus eine aus seiner Sicht ideale Gesellschaft und kritisiert so die Bedingungen des frühen 16. Jahrhunderts.

5 Der Begriff »Utopia« ließe sich aus dem Griechischen als »Nicht-Ort« (»οὐ« – »nicht« und »τόπος«– »Ort«) übersetzen, was so viel heißen soll, dass eine Utopie einen aus heutiger Sicht nicht existierenden oder erreichbaren Ort beschreibt.

6 Repräsentative Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov aus dem Jahr 2017. Auf die Frage, wie das Leben für Menschen in fünfzig Jahren aussehen werde, meinten 49 Prozent der Befragten in Deutschland »schlechter als heute«, 15 Prozent »besser als heute«, »genauso gut bzw. schlecht wie heute« vermuten 22 Prozent.

7Enlightenment Now: The Case for Reason, Science, Humanism, and Progress (deutsche Ausgabe: Aufklärung jetzt: Für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt. Eine Verteidigung, Fischer, Berlin 2018).

8 Hier ist es sinnvoll, zwei Arten von Entwicklungshilfe zu unterscheiden: Rein finanzielle Hilfe fördert oft die Abhängigkeit, während angemessene technologische Hilfe Unabhängigkeit und Entwicklungschancen fördert.

2 – DIE MALTHUSIANISCHE FALLE

UNSINN SEIT 200 JAHREN – UND IMMER NOCH VIRULENT

Wer heute Diskussionen über unsere Zukunft verfolgt, wird bei genauerer Betrachtung ein immer wiederkehrendes Argumentationsmuster auf Seiten der Schwarzmaler erkennen:

Ob es um Ressourcenverbrauch, demografische Entwicklung, ökologische Belastung unseres Planeten, Ökonomie oder allgemeinen Wohlstand geht – unser heutiges Gesellschafts- und Wirtschaftssystem verlangt ständiges Wachstum.In einer endlichen Welt ist stetiges Wachstum nicht möglich. Wir werden immer wieder an die Grenzen des Wachstums stoßen, und dies mit mehr oder weniger katastrophalen Folgen.

Der intellektuelle Urheber dieser Logik ist der britische Nationalökonom Thomas Robert Malthus. In einem Werk von 1798 (»An Essay on the Principle of Population«) verglich er die Endlichkeit unserer Ressourcen mit der Dynamik des menschlichen Bevölkerungswachstums. In einer weiteren Schrift von 1820 (»Principles of Economics«) formulierte er dazu eine einfache mathematische Gesetzmäßigkeit:

Menschen vermehren sich schicksalhaft nach einem exponentiellen Wachstumsgesetz (wofür er als anglikanischer Pfarrer, der er war, auch die »ungezügelten sexuellen Gelüste der Menschen« verantwortlich machte), doch die Nahrungsressourcen, die sie zum Überleben brauchen, lassen sich nur linear steigern.

Die Folge ist, dass sich Nahrungsmittelnachfrage und -angebot notwendigerweise so lange auseinanderentwickeln, bis die zur Verfügung stehenden Lebensmittel die Ernährung der Bevölkerung nicht mehr sicherstellen können. Für Malthus war die Sache klar: Sobald die Reallöhne nicht mehr für die Nahrungsmittelpreise ausreichen, dezimieren Hungersnöte, Seuchen und Kriege die menschliche Bevölkerung. Für diejenigen, die überleben, ist die Versorgung mit Nahrung sichergestellt – bis es zu der nächsten Nahrungsmittelknappheit kommt.

In der Theorie von Thomas Malthus können lineares Wachstum der Ressourcen und exponentielles Wachstum ihres Verbrauchs nicht nachhaltig miteinander koexistieren. Es kommt regelmäßig zu einer »korrigierenden« Katastrophe.

Malthus’ Idee war übrigens nicht neu. Schon Aristoteles sah einen Zusammenhang zwischen Geburtenrate und allgemeinem Wohlstand. In seiner Schrift Politeia (»Der Staat«) führt er aus, dass eine Begrenzung der Bevölkerung in einem Staat dringend erforderlich sei. Willkürliche Kinderzeugung führe zur Armut der Bevölkerung und in Folge zu Unruhen und Aufständen.

Der große Irrtum

Malthus’ wirtschaftliche und soziologische Theorie diente ihm als Basis für ein konkretes Werturteil: Ein mittelloser Mensch, dessen Arbeit die Gesellschaft »nicht nötig hat«, habe »nicht das mindeste Recht, irgendeinen Teil von Nahrung zu verlangen, und er ist wirklich zu viel auf der Erde«. Diese bekannte wie berüchtigte Stelle hat Malthus zwar später wieder aus seinem Text gestrichen, aber sie fasst sein Denken gut zusammen. Seine Kaltschnäuzigkeit hat ihm immer wieder harsche Kritik eingebracht, heute wird er in die Reihe anti-humanistischer Denker eingeordnet. Doch für seine Zeitgenossen waren seine Gedankengänge völlig in Ordnung, Malthus besaß sogar bedeutenden politischen Einfluss: Seine Theorie der Überbevölkerung führte zum Beispiel 1834 in England zu einer neuen Armengesetzgebung, die für die Hilfsbedürftigen eine massive Kürzung ihrer Unterstützung bedeutete.

Malthus war überzeugt: Arme hungern und sterben aus gutem Grund. Seine These der Überbevölkerungsgefahr prägte das soziale und politische Denken im Europa des 19. Jahrhunderts.

Doch übersteht die Malthusianische Theorie eigentlich den Realitäts-Check? Um 1800 wurde die Marke von einer Milliarde Menschen auf unserem Planeten überschritten, über 90 Prozent von ihnen waren vom Hunger bedroht.9 Auch mit dem allgemeinen Wohlstand war es nicht weit her: 95 Prozent der damaligen Weltbevölkerung mussten mit weniger als dem Äquivalent von 2 US-Dollar in Preisen von 1985 auskommen. Es gab zu Malthus’ Zeiten also etwa 900 Millionen Menschen, die nicht wussten, ob und was sie am nächsten Tag essen würden. Seitdem ist die Weltbevölkerung exponentiell auf über 7,5 Milliarden Menschen angestiegen. Zugleich sank der Anteil der Hungernden auf knapp 11 Prozent; die Vereinten Nationen berichteten 2017, dass 815 Millionen Menschen unterernährt sind. Dass breite Bevölkerungsschichten hungern müssen, kommt heute nahezu ausschließlich auf dem afrikanischen Kontinent vor. Anders als früher liegen die Ursachen dafür selten in einer rein mengenmäßigen Unterversorgung mit Nahrung, sondern es sind diverse soziale, politische und ökonomische Faktoren dafür verantwortlich, dass vorhandene Anbauflächen brachliegen bzw. vorhandene Nahrung nicht zu denjenigen gelangt, die sie benötigen.

Trotz des enormen Bevölkerungswachstums der vergangenen 200 Jahre ist also die totale Anzahl der Hungernden gesunken (die prozentuale noch viel mehr). Kein Zweifel, jeder Mensch, der heute noch an Hunger leiden muss, ist einer zu viel. Doch dass heute acht von neun Menschen auf der Welt ausreichend mit Nahrungsmitteln versorgt sind, ist eine herausragende Leistung der Menschheit.

Es gibt in der Geschichte der Nationalökonomie kaum eine Theorie, die durch die tatsächliche historische Entwicklung deutlicher wiederlegt wurde, als die Malthusianische Bevölkerungslehre.

Warum lag Malthus mit seiner Theorie derart deutlich daneben? Die kurze Anwort lautet: Wir Menschen sind kreativ. Malthus’ empirische Untersuchungen (die sich schon damals nur auf eine sehr dünne Basis stützten) bezogen sich auf eine reine Agrargesellschaft, doch die hatte um 1800 längst begonnen, durch die industrielle Revolution transformiert zu werden. Die steten Fortschritte bei Saatgutzüchtung, Bewässerung und Mechanisierung hatte Malthus für seine Prognosen unberücksichtigt gelassen. In den ca. 100 Jahren nach der Veröffentlichung von Malthus’ Werken veränderte sich mit der Erfindung chemischer Düngemittel die Ressourcenlage in zwei gewaltigen Sprüngen:

Der Chemiker Justus von Liebig entdeckte im Jahr 1840 die pflanzenwachstumsfördernde Wirkung von Stickstoff, Phosphor und Kalium. Die seit Menschengedenken angewandte Ausbringung von Jauche und Mist sowie der Fruchtwechsel mit stickstoffbindenden Hülsenfrüchten konnten den hohen Nährstoffbedarf der Böden nicht decken; erst der Einsatz von aus Übersee eingeführtem Salpeter und Guano – Vogel-Kot, der reich an Stickstoff und Phosphor ist – brachte deutlich erhöhte Ernteerträge. So kam es, dass Inseln mit bedeutenden Guano-Vorkommen einst als strategischer Besitz galten.1908 erfand der Chemiker Fritz Haber die katalytische Ammoniak-Synthese. Der Industrielle Carl Bosch entwickelte, darauf aufbauend, ein Verfahren zur massenhaften Herstellung von Ammoniak und schuf so die Grundlage der Produktion von synthetischem Stickstoff-Dünger. Das Haber-Bosch-Verfahren ermöglichte ein zweites Mal eine Multiplikation der landwirtschaftlichen Erträge.

In den 1960er-Jahren nahm die Vervielfachung der Ressourcen noch einmal deutlich an Fahrt auf. Damals begannen die als »Grüne Revolution« bezeichnete Einführung moderner landwirtschaftlicher Hochleistungs- bzw. Hochertragssorten und deren erfolgreiche Verbreitung in Entwicklungsländern. Und heute bahnt sich noch eine weitere Agrarrevolution an – auch wenn das von vielen nicht allzu gern gehört wird: Durch Gentechnologie wird die Lebensmittelproduktion einen weiteren gewaltigen Sprung machen. Der bisher erfolgte Einsatz von genmanipuliertem Reis, Mais und Soja ist nur ein Vorbote der Veränderungen, die auf uns zukommen.

Auch immer effizientere Maschinen sorgten für hohe Ernteerträge. Fakt ist, dass dank wissenschaftlicher Einsichten und Erfindungen die Ressourcenentwicklung mit dem Bevölkerungswachstum mithalten konnte. Durch die teilweise sprunghafte Steigerung der Ressourcen wurden die exponentiellen Wachstumsraten ihres Verbrauchs sogar in vielen Fällen noch weit übertroffen. So mancher mag sich noch an die sogenannten Butterberge und Milchseen erinnern, die ab Ende der Siebzigerjahre das Resultat einer gigantischen Überproduktion waren. Der Staat musste den Überschuss des Marktes aufkaufen und ihn teuer einlagern. Erst 2007 waren die Lager wieder leer.

Entgegen Malthus’ Theorie sorgen die aus menschlicher Kreativität geborenen technologischen Entwicklungen seit 200 Jahren für ausreichende Ressourcen einer stark wachsenden Bevölkerung.

Technologie vermehrte nicht nur die Nahrungsressourcen, sie konnte auf der anderen Seite auch den vorhergesagten ungebremsten Bevölkerungszuwachs verlangsamen. Im Jahr 1844 bzw. 1847 ließen die Erfinder Thomas Hancock und Charles Goodyear die Vulkanisierung von Kautschuk patentieren. Die neue Technik wurde unter anderem für die Massenproduktion billiger und zuverlässiger Kondome genutzt. Im frühen 20. Jahrhundert wurde dann das Latex-Kondom erfunden, und ab den späten 1960er-Jahren war in den meisten Industrieländern die Antibabypille erhältlich.

Technologische Innovationen sorgen also auch für sozialen und gesellschaftlichen Wandel. Nicht nur der Siegeszug der Pille bewirkte einen starken Rückgang der Geburtenrate, sondern mehr noch der wachsende Wohlstand und die Emanzipation der Frauen in entwickelten Ländern. Heute schrumpft in vielen Industriestaaten die Bevölkerung. Die Probleme, mit denen wir zu kämpfen haben, sind also völlig andere, als sie Malthus vorhergesagt hat. Dank der menschlichen Kreativität haben in den 200 Jahren seit Malthus technologische und gesellschaftliche Entwicklungen dafür gesorgt, dass das Gegenteil seiner Voraussagen eingetroffen ist: Das Wachstum des Nahrungsangebotes lief dem Wachstum der Bevölkerung davon.

Malthus’ Fehler: Er vergaß, wissenschaftlichen Fortschritt und gesellschaftliche Entwicklungen zu berücksichtigen.

Die Unbelehrbaren

Dass Malthus’ Theorie längst widerlegt ist, hält so manchen Ökonomen, Soziologen oder politisch Motivierten nicht davon ab, das Malthusianische Argumentationsmuster auf die heutige Zeit anzuwenden. Dabei belassen sie es nicht nur beim Zusammenhang von Nahrungsmittelangebot und Bevölkerungswachstum, den Malthus meinte, sondern übertragen seine Theorie auf Ressourcen und Wachstumsraten im weitesten Sinne. Den Makel des Asozialen streiften Malthus’ intellektuelle Erben ab, indem sie ihr Augenmerk weniger auf den zu stoppenden Bevölkerungszuwachs richteten, sondern auf die Reduktion jeglichen Ressourcenverbrauchs. So bekam die Malthusianische Theorie ihren ökologischen Anstrich.

1972 legte der Club of Rome die »Grenzen des Wachstums« fest. So heißt es an der zentralen Stelle des Berichtes:

Wenn die gegenwärtige Zunahme der Weltbevölkerung, der Industrialisierung, der Umweltverschmutzung, der Nahrungsmittelproduktion und der Ausbeutung von natürlichen Rohstoffen unverändert anhält, werden die absoluten Wachstumsgrenzen auf der Erde im Laufe der nächsten hundert Jahre erreicht.10

Heute noch setzen Umweltökonomen das Argument der Endlichkeit unserer Umweltressourcen für die Forderung nach radikalen politischen Umkehrmaßnahmen ein, weil sonst der Untergang – zum Beispiel durch Klimawandel oder Überbevölkerung – drohe. So schließt sich der Kreis: Denn die Kritik an schnellem industriellen Wachstum und an der Ausbeutung einer mythisch erhöhten Natur gehörte schon zur geistigen Tradition der Romantik im frühen 19. Jahrhundert, die Thomas Malthus zu seiner Theorie inspirierte.

Auch in der klassischen Ökonomie und in den Gesellschaftswissenschaften hat Malthus’ Theorie Fuß gefasst:

Kapitalismusgegner brandmarken ganz allgemein das ökonomische Wachstum, das ja aufgrund endlicher materieller Güter auf unserem Planeten nicht immer so weiterlaufen könne und deshalb begrenzt werden müsse. Geldtheoretiker fordern die Einführung von »Vollgeld«, d. h. eine Beschränkung der Geldschöpfung durch die Banken, da die Geldmenge ansonsten unkontrolliert wächst. Zu diesem Thema gab es 2018 in der Schweiz sogar eine Volksabstimmung; fast ein Viertel der Stimmbürger sprach sich für eine Begrenzung der Geldmenge aus.