Mein Bornholm - Birk Meinhardt - E-Book

Mein Bornholm E-Book

Birk Meinhardt

0,0

Beschreibung

Im Sommer nach der Wende führt ein Zufall Birk Meinhardt auf die dänische Sonneninsel Bornholm, wo die Einheimischen ihn mit Lichthupe begrüßen und seine Kinder runde Heuballen erklimmen und sich den feinen Sand des Südstrandes durch die Finger rieseln lassen. Aber das Meer ist nicht anders als vor Rügen. Erst Jahre später kehrt Meinhardt zurück. Immer intensiver erschließt er sich die Insel, und spätestens, seit er die Landschaft entlang stillgelegter Gleise auf dem Rennrad durchfährt und sich auf die Bornholmer Spuren Hans Henny Jahnns begibt, der hier an seinem Hauptwerk schrieb, fühlt er sich ihr dauerhaft verbunden. Lesend und schreibend taucht er immer tiefer in ihre (Kultur-)Geschichte ein – bis Bornholm beginnt, auch sein eigenes Leben und Schaffen zu prägen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 207

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Birk Meinhardt

MEIN BORNHOLM

© 2022 by mareverlag, Hamburg

CovergestaltungNadja Zobel, Petra Koßmann / mareverlag

CoverabbildungAnna Lukina / Dreamstime.com

Datenkonvertierung E-BookBookwire

ISBN E-Book: 978-3-86648-813-7

ISBN Hardcover-Ausgabe: 978-3-86648-659-1

www.mare.de

Inhalt

Die Unbedarftheit der Neulinge

Die Blicke der Bauern

Das Glück der Wiederholung

Das Nicken nach dem Spiel

Der Wunsch nach Nichtwissen

Die Signale aus dem Osten

Der Turm zum Abhören

Die Hoffnung der Pächter

Der Wächter von Granly

Die Fetzen von Leinwand

Das Weiße der Insel

Der Eisberg im Dunst

Das Strömen von Licht

Der Weltrekord im Schattenwerfen

Die Unbedarftheit der Neulinge

Ein Wirt weist den Weg. Eine Lichthupe wird erwidert. Ein Hamburger guckt ablehnend.

Hatte Vitt dreizehn Häuser, oder vierzehn, oder fünfzehn? Jedenfalls war – und ist es – ein kleines Dorf. Es ist das nördlichste Ostdeutschlands, wir machten dort mehrmals Urlaub in der zweiten Hälfte der Achtzigerjahre, aber was heißt, wir machten: Wir durften dort Urlaub machen, in dieser stillen Idylle nahe bei Kap Arkona, in einer Remise, die aus heutiger Sicht eine elende Kammer war und damals der Inbegriff des Glücks: Mensch, Vitt! Dort konnte man allein sein am Strand. Dort dudelte kein Kofferradio. Dort baute man aus Ästen und Bettlaken ein Zelt und legte die Kinder mittags zum Schlafen hinein, freilich galt es, vorher die dicken schweren Steine wegzuräumen. Mensch, Vitt, der Strand war voller buckliger Steine, und das Wasser war arschkalt, denn es war erst Mitte Juni, später war die Buchte, war das Schloss nicht mehr frei.

Übrigens begriffen wir gar nicht, dass Mittsommer war. Heute sitzen wir in der Zeit bis spät in die Nacht daheim im Garten und erfreuen uns daran, wie zögerlich und unvollständig es dunkel wird, wie der Himmel uns eine Ahnung von Silber hinterlässt. Im Winter wiederum sitzen wir drinnen und brummen, vier erst, und schon finster; wir unterscheiden die Jahreszeiten bis ins Detail, haben eine Aufmerksamkeit dafür entwickelt, wie sie unser Leben beeinflussen, damals waren wir ohne dieses Achtsame, weil wir nur so durch die Jahreszeiten flogen.

In Vitt saßen wir abends in der Kneipe, denn lesen konnte man nicht in der Unterkunft, dem Sohn hatten wir gesagt, wenn was ist mit dir oder deiner kleinen Schwester, kommst du rüber und holst uns. Das nutzte er ausgiebig. Er saß dann immer eine Weile auf meinem Schoß oder auf dem meiner Frau und gluckste, noch ein Bier, noch ein Bier. Und er lauschte, was geredet wurde. Einmal erzählte die Wirtin, wie und wohin ihr Mann abgehauen war, weniger von ihr als aus dem Staat, aber letztlich schon auch von ihr, bei Nacht mit dem Holzboot nach Bornholm, meine Frau und ich hatten keinen Begriff von der Entfernung. Hatten Bornholm beim Einschlafen schon wieder vergessen, nur dass der Wirt, der egoistische, ja wohl seine Frau im Stich gelassen hatte, das versicherten wir uns noch.

Und wir schliefen, schliefen fest, als die Mauer fiel, zuerst am Übergang Bornholmer Straße. Dort drängten sich die Massen, und wir draußen in Köpenick schliefen, wie die Mehrzahl der Bürger, wie die viel größere Masse, die schlicht nichts mitbekommen hatte. Was sie in den Jahren danach lieber nicht zugab, denn in den Medien kamen einzig und allein die zu Wort, die auf den Beinen gewesen waren; was war man denn für ein Mensch, wenn man nicht zu ihnen, zu den Allgegenwärtigen gehörte, was war man denn für eine Schnarchnase? Am Morgen wussten es natürlich alle. Nur wir waren immer noch ohne Ahnung. Wir wunderten uns bloß, dass die Handwerker nicht kamen. Endlich, nach Jahren, sanierten sie in unserem Mietshaus die Rohre, die Wasser- und Fäkalienleitungen zerbröselten ja auch schon, seit einer Woche hatten wir kein Wasser, ein gutes Zeichen fürs rechtschaffene Arbeiten der Handwerker, aber heute erschienen sie nicht, was zum Teufel war los? Ich ging in den Bauwagen vorm Haus. Darin saß einsam und verlassen der Meister. Ich stellte ihm meine Frage, da lachte er auf: Seien Sie froh, dass wenigstens ich hier bin. Er berichtete mir, was geschehen war, und ich ging beunruhigt zurück ins Haus: Wer wusste denn, wann seine Leute wiederkämen, und ob überhaupt? Das war mein Gedanke in jenen Minuten. Meine Wahrheit, die dann wie ein kleiner Kiesel mitgespült wurde im großen geschichtlichen Fluss, nur im Tauchgang des Schreibens kann ich ihn fassen und hochzeigen, hier, hier ist er, nichts da mit Bornholmer Straße, mit jubelndem Aufbruch, Wasser soll endlich wieder fließen durch die verdammten Rohre in der alten Wohnung, Wasser!

Im Mai darauf bekamen wir einen Brief von den Besitzern des Grundstücks, auf dem die Remise stand. Es waren nette Leute, konsequentere als wir, Aussteiger aus dem Vogtland, die ihre Jobs und mit ihnen jede Menge Regeln und Einschränkungen aufgegeben und dort oben in der Abgeschiedenheit von Vitt eine ziemliche Unabhängigkeit erlangt hatten. Sie schrieben, ihr Lieben, sind neue Zeiten nun, wissen nicht, was sie bringen, seid nicht sauer, aber müssen euch absagen für dieses Jahr. Mit anderen Worten: Sie hofften auf Westgäste. Wir nahmen es zur Kenntnis. Passierte schließlich jeden Tag Neues und Gravierenderes. Irgendwann würde Sommer sein, und wir würden irgendwohin fahren, und bis dahin würden wir arbeiten, denn was gab es Schöneres, als jetzt zu arbeiten; ich war Journalist damals, ich schrieb über Sport, nun auch ohne Einschränkungen. So verstrich ein Großteil des Sommers, so jagte ich durch ihn hindurch, die Tage wurden schon erkennbar kürzer, darum nun mal Butter bei die Fische, wohin?

Einfacher, geradezu trivialer Zusammenschluss der Synapsen: Vitt, der Wirt, sein ungeheures Wagnis, sein erreichtes Ziel, das für uns nicht mehr als ein Name war, Bornholm. Fahren wir nach dort.

Ein flüchtiger Blick auf die Landkarte auch bloß, kein Erkennen der Rautenform, des Parallelogramms, nur ein Feststellen, wo das eigentlich lag, aha, knapp unterhalb von Schweden und weit oberhalb von Polen – und es war dänisch? Dänisch, so stand es aufgedruckt, wobei ich gerade etwas merke: Ich könnte schon gewusst haben, wozu es gehörte, ganz so unbedarft war ich, waren wir, nun auch nicht, ich muss ein bisschen achtgeben beim Schreiben, bestimmte frühere Stimmungen und Eigenschaften, nur weil es jetzt so schön passt, nicht noch anzureichern, dänische Insel also, ich hab es gewusst wahrscheinlich. Sicher. Absolut. Ich bin doch nicht blöd.

Längst weiß ich, die Insel war einmal schwedisch, ich kenne herrliche blutige Geschichten aus jener Zeit, herrliche, weil es schon so lange her ist: Lass eine schaurige Begebenheit nur weit genug in der Vergangenheit liegen, und sie wird zu einem Märchen. Eines mag ich erzählen. Das vom letzten Tag der Schweden auf Bornholm, beziehungsweise von der letzten Nacht, der vom 8. auf den 9. Dezember 1658. Sie waren 1500 Mann. Ihr Befehlshaber hieß Prinzenskjöld, Skjold ist der Schild übrigens, der Name war ihm aufgrund seiner Unerschrockenheit und seiner mächtigen Statur vom König Karl Gustav verliehen worden. Und Prinzenskjöld zeigte sich, seinem Rufe gemäß, auch auf der Insel als rau, streng und unerbittlich. Er trieb die waffenfähigen Einheimischen in Schwedens Flotte und setzte alles daran, hohe Steuern zu erpressen, obwohl Bornholm gerade von einer Pest heimgesucht worden war und die meisten Höfe darniederlagen. Weder konnten noch wollten die Bauern zahlen. Einer nach dem anderen weigerte sich. Da ergriff Prinzenskjöld, welcher in seiner Jugend ein schlichter Reiter im Heer gewesen war, die Wut, und er beging einen Fehler: Um die Steuern einzutreiben, schickte er tausend seiner Männer von der Festung Hammershus auf die verstreut liegenden Höfe. In kleinen Trupps verlangten sie Quartier. Tagsüber pfändeten sie, was ihnen unter die Hände kam, nachts betranken sie sich fürchterlich, und darauf nun, auf Vereinzelung und Versoffenheit, bauten die Bornholmer ihren Plan, sie warteten nur auf den rechten Zeitpunkt. Dieser war gekommen, als Prinzenskjöld, begleitet lediglich von seinem Sekretär sowie zwei Reitknechten, beim Bürgermeister von Rønne erschien. Er nahm Platz an einem großen Tisch, dessen steinerne Platte auf mächtigen Eichenholzfüßen ruhte. Gerade beschwerte er sich über den Starrsinn der Bürger, als zwölf von ihnen, bis an die Zähne bewaffnet, in den Saal traten. Der Bürgermeister erklärte, kein Bürger und kein Bauer werde mehr zahlen. Prinzenskjöld stieß Flüche und Drohungen aus, da stürzte einer seiner Knechte herein und meldete, auch draußen würden sich Männer zusammenrotten. Prinzenskjöld, nun endlich seiner bedrohlichen Lage gewahr, sprang auf, stieß mit seiner fast unmenschlichen Kraft den Tisch gegen die Verschwörer, sprang aus dem Haus und eilte zum Stall, wo er sein Pferd wusste. Indes, der Stall war verriegelt. Das Pferd schlug gegen die Tür, drängte zu seinem Herrn, dieser aber hatte schon zwei Wachen niedergestreckt und die Straße gewonnen. Dort blieb er nicht lange unerkannt. Man feuerte auf ihn, vergeblich, der Prinz mit dem Schild schien unverwundbar. Plötzlich rief ein Bürger aus einem Fenster heraus: Gegen Blei ist er sicher, mit Silber muss er geschossen werden! Schon riss sich der wackere Mann die schweren Silberknöpfe von seiner Festjacke und lud damit seine Büchse, er zielte auf den Statthalter – und dieser sank, tödlich getroffen, zu Boden. Auch seine Begleiter wurden ermordet. Sodann ritten Boten über die gesamte Insel und verbreiteten die Weisung, niemand möge zögern mit dem Schweineschlachten, fürwahr, so lautete das Wort. Um Mitternacht begann das Blutbad, untermalt und übertönt vom Geläut der Glocken, denn nicht Bauern waren Urheber des Planes und Anführer des Aufstandes, sondern Geistliche. In Gottesglauben und mit lange angestauter Wut metzelten Männer und Frauen, Greise und Kinder, Herren und Knechte die Schweden, 965 fanden binnen weniger Minuten den Tod, die meisten im Schlaf. Und der erste Tag in Freiheit und in größter Sünde brach an, und die Bornholmer sandten eine Depesche an Frederik III., König von Dänemark, und boten ihm ihre Insel als ewiges Eigentum, und der König nahm an und versprach ihnen zum Lohne auf gleich lange Zeit die schönsten Privilegien und schwor darüber hinaus, niemals, niemals mehr werde ihre Insel an die Schweden fallen. Und so ist es gekommen. So ist es geblieben bis zum heutigen Tage. Die Geschichte ist aus.

Sie wirkt aber schon noch weiter. Bis heute geblieben, vererbt und wieder vererbt, ist ein deutlicher Starrsinn der hiesigen Bauern, ein Hang zur Verschwiegenheit und kein Hang zu übertriebener Empfindsamkeit, aber dazu später, das alles erfuhr man nicht gleich am Anfang. Am Anfang krauchte man mit seinem Trabi auf die Povl Anker, das Röcheln des Auspuffs wurde übertönt vom Scheppern der Metallplatten, die in den Bauch der Fähre führen; Povl Anker, mir längst bekannt heute, war einer jener Geistlichen des legendären Bornholmer Jahres 1658, aber im nicht minder legendären ostdeutschen Jahr 1990 zählte nur, dass ich der Fahrer des einzigen Trabis auf dem Schiff war. Auch kein Wartburg darauf, kein Skoda. Wir waren die Vorreiter. Entdecker waren wir. Ein Gefühl von Stolz, wenn nicht Erhabenheit machte sich breit zwischen all den Westwagen, schon erstaunlich, dass man gar nichts tun muss, um Wohlgefallen an sich selber zu finden, nur ein ganz normales Holzhaus braucht man zu buchen, und diese Fährpassage hier.

Die Bornholmer, so kam’s uns vor, freuten sich riesig über uns und unsere stinkende Pappe, fast jeder uns entgegenkommende einheimische Wagen gab uns die Lichthupe, das machte nun wieder uns froh, machte uns noch froher, als wir ohnehin schon waren, wir blinkten jedes Mal zurück zu diesen ausnehmend netten Menschen, bis einer uns gestenreich bedeutete, es bestünde Lichtpflicht. Das war leider schon am Ende des Urlaubs. Was aber auch nicht weiter schlimm ist. Eine kleine Episode zum Lachen, und eine zum Bewahren; wenn wir heute über die Insel fahren, muss ich zuweilen daran denken, wie die Scheinwerfer aufblitzten und ich dann und wann frohgemut durchs geöffnete Fenster noch dem Bornholmer winkte und der Bornholmer auf meinen Gruß hin guckte wie … ich würde mal sagen, wie einer der Dezemberverschwörer in den letzten Minuten des Stillehaltens. Heute würde ich das sagen. Der Mensch sieht oft nur, was er kennt.

Was habe ich noch in Erinnerung von jenem fast überstürzten ersten Mal? Den beißenden Geruch abgebrannter Felder, schwarz lag die Erde, dampfend noch von der Hitze des zu Ende gehenden Sommers und der des gerade erloschenen Feuers, empfänglich für die nächste Saat. Wieder andere Felder waren voller Strohballen, das kannten wir nicht, Stroh in dieser Form. Bei uns im Lande fiel es zu Quadern gepresst von den Erntemaschinen. Man konnte sich daraufsetzen und in die Gegend gucken, nicht mehr und nicht weniger, hier aber, hier konnte man versuchen, die Ballen zu rollen. Kommt, Kinder, kräftig, noch kräftiger, seht ihr, er bewegt sich, und jetzt weiter, nicht aufhören, in Schwung halten, in Schwung. Und am Ende konnte man die jauchzenden Kinder auf den Ballen heben und sie ausgiebig die Beine baumeln lassen und durfte ihnen ja nicht wieder runterhelfen, denn das größte Vergnügen war natürlich das des Springens: Von weit oben und mit viel Schwung fliegen sie. Darum müssen sie sich abstützen auf den spitzen, im Boden stakenden Halmresten. Die beiden schreien auf und wollen losweinen, aber sie sind keine Babys mehr, der Große erhebt sich aus der Hocke und wischt sich bauarbeitermäßig die Handflächen an der Hose ab, und die Kleine, nicht minder heldenhaft, tut es ihm nach.

Die Leute aus dem Ferienhaus gegenüber haben auch Kinder in dem Alter. Sie sind aus Hamburg, wie wir an ihrem Autokennzeichen sehen. Wir gucken zu ihnen hin, aber sie gucken nicht zu uns herüber. Sie tun, als wäre hier, wo wir sind, niemand, als wäre hier nur Prärie und kein Haus mit Menschen, so was kennen wir nicht. Man grüßt sich doch zumindest. Man geht, schon wegen der Kinder, vielleicht gar aufeinander zu und redet ein wenig, mit welchem Ergebnis auch immer, aber hier: nicht die leiseste Regung, nichts.

Doch. Als ich, wieder ins Haus tretend, mich noch einmal umwende, trifft mein Blick den des Familienvaters. Es ist einer voller Widerwillen, das sehe ich aus zwanzig Metern Entfernung. Er sieht, dass ich es sehe, und blickt langsam von mir zu meinem Auto, er führt mich gewissermaßen zum Wagen und fordert stumm: Setz dich bloß wieder rein in deine Kiste und mach dich fort. Nichts ist mir vom ersten Bornholmer Aufenthalt plastischer in Erinnerung als jene Begegnung – nicht einmal das Meer an dieser neuen Küste? Wir kannten es doch. Es war dasselbe wie vor Vitt. Am neuen Ufer verbrachten wir die Zeit mit den Kindern nicht anders als am alten. Sie brauchten wie gehabt Mittagsschlaf und regelmäßig ihr Essen und Sand zum Herumpampen, das alles bekamen sie hier oben in Hasle, wo wir zufälligerweise gelandet waren und von wo wir uns kaum wegbewegten in unserem selbstverständlichen Rhythmus, in unserer wie gottgegebenen Seligkeit.

Die Blicke der Bauern

Ein Spann wird gepudert. Ein Wald dient als Windfang. Ein Rad fährt durch Farben.

Wir kehrten gut ein halbes Jahrzehnt nicht mehr zurück. Wir blieben weit weg von Bornholm, weiter denn je, meiner Arbeit wegen lebten wir in München. Von dort ging es im Urlaub in den nahen Süden oder nach Westen, wir erkundeten die Bretagne und Korsika und immer wieder die Toskana, denn bitte, in der Zeit, die es gebraucht hätte, um von München an die Ostsee zu kommen, waren wir auch schon in den Hügeln um Siena. Köstlicher Wein stand im Ferienhaus bereit. Pinien reihten sich in der Ferne, was für eine Eleganz, und was für eine Geometrie, die sanft geschwungenen Berge mit den schlank emporragenden Bäumen. Und dazu die hitzeflirrende Luft. Sie ließ das Bild vor einem verschwimmen und zerfließen, sodass es sich fortwährend veränderte, ich konnte ewig sitzen und mir diesen Film ansehen, den ersten und einzigen Film meines Lebens, der aus nur einer Sequenz bestand.

Ich trage noch heute die Lederjacke, die ich mir in Lucca für 500 000 Lire kaufte, da bin ich wunderbar speckummantelt. Manchmal ermahne ich beim Suppeessen meine Frau, und gleichfalls mich selber, Löffel zum Mund, nicht Mund zum Löffel, denn, ebenfalls in Lucca, saß in einem Restaurant eine Chinesin am Nachbartisch in der geradesten Haltung, die sich denken lässt, in einer pinienhaften, wir strafften uns unwillkürlich. Und wir sagen heute auch manchmal verschwörerisch »Shinguale«. Eines Nachmittags nämlich kamen wir in ein anderes, ländliches Restaurant, und kein Gast saß darin, es wurde auch nicht gekocht zu jener Stunde, aber wir hatten einen Riesenhunger, besonders die Kinder. Nun, etwas könne er anbieten, bedeutete uns der Wirt, er habe es soeben vorbereitet für den Abend, Shinguale. Scusi? Shinguale, wiederholte er. Wir legten den Kopf schief, da trat er zu einem Wildschweinkopf, der an der Wand hing, und zeigte mit dem Finger zu dem hoch. Kennt jeder Reisende, solche Erlebnisse. War schön in der Gegend, wir werden die Zeit, die wir dort verbrachten, niemals vergessen.

Nach Jahren aber, im Frühsommer während einer langen Autofahrt von München nach Berlin, stieg mir plötzlich durch die geschlossenen Scheiben hindurch ein unvergleichlicher Geruch in die Nase, nicht weit hinter der Elbe war das. Ich bog auf den nächsten Parkplatz. Rundum Brandenburger Steppe, mit nichts als Kiefern bewachsen; wenn die Pinien Königinnen sind, sind die Kiefern Gesindel. Nur wie sie jetzt dufteten! Wie sie knisterten und knackten. Hier platzte eine Frucht auf, und da, und da, ich lehnte mich an den Wagen und sog diese wehende Süße ein, die mir so vertraut war. Auf einmal schien mir, ich hätte sie die ganze Zeit über vermisst, aber das stimmte nicht. Ich hatte nicht einmal, nicht ein Mal an sie gedacht. Und jetzt rieb ich den Hinterkopf an der Dachreling und konnte nicht genug kriegen von ihr; gut, es war bei Weitem nicht der einzige Grund, wieder zurückzuziehen. Aber es war einer.

Heimat, zitierte Heiner Müller seine Frau, ist da, wo die Rechnungen ankommen. Ich mag sein kühles scharfsinniges Schreiben und weiß natürlich, dass er in seinem Plattenbau in Berlin, Hauptstadt der DDR, wohnen geblieben ist. Und noch ein Zitat. Neo Rauch auf die Frage, wieso er, trotz aller Möglichkeiten, nie aus Leipzig fortgegangen sei: Weil ich dann der Fremde gewesen wäre. Leise während des Malens sprach er, mit einer Gewissheit, die kein Stimmheben braucht.

Es lag nahe, von Berlin aus wieder nach Bornholm zu fahren. Und diesmal nahm ich die Insel bewusster wahr. Noch auf der Fähre, noch Seemeilen von Rønne entfernt, bemerkte ich, dass hinterm Hafen eine weiße Kirche stand. Überm Hafen fast. Guck an, die Stadt lag ja auf einem kleinen Berg, und so eine stolze Kirche hatte sie, das war mir beim ersten Mal völlig entgangen. Und dieses Erblicken und Erstaunen setzte sich fort, aber nicht am selben Ort wie damals, nicht oben in Hasle. Ich hatte mich informiert zuvor und hatte ein Haus in Dueodde gebucht, denn dort, an der südlichen Spitze Bornholms, sollte es einen besonders feinkörnigen Sand geben, einen, der früher für Eieruhren und zum Tintelöschen verwendet wurde, das sind so fremdenverkehrsfördernde Fingerschnipsereien, wir folgten ihnen. Wir waren brave Touristen. Wir setzten unsere Füße in den angepriesenen Sand. Und siehe, es stimmte überhaupt nicht, was da zu lesen gewesen war! Der Sand war nicht feinkörnig. Er war ohne jedes Körnchen, so schien es uns. Unsere Zehen gruben sich in Mehl, es knirschte auch nicht beim Daringehen. Es schnurbste und stäubte. Es puderte einem den Spann. Die Kinder ließen sich fallen, rollten sich wie Katzen, machten Weitsprung, nur um bei der Landung die Beine hochzureißen, mit dem Hintern aufzukommen und bis zum Becken im Mehl zu versinken – aber ich wollte nicht übertreiben: fast bis zum Becken, fast.

Hinzu kam, ich hatte mein Rennrad mitgenommen. Vom Frühjahr an bis in den Herbst hinein bemühte ich mich, einmal die Woche zwei, drei Stunden zu fahren, und dieser Rhythmus sollte auf der Insel nicht unterbrochen werden. So schwang ich mich in Dueodde auf den Sattel, eher pflichtgemäß als erwartungsvoll. Aber sogleich bemerkte ich einen Unterschied. Ich rollte hier leichter. Hier war es ja kaum nötig zu strampeln! Die Pedale drehte sich wie von selbst, ich näherte mich nicht Nexø, nicht Svaneke, nicht Gudhjem, sondern schoss wie ein Pfeil durch diese Ortschaften, ich flog geradezu, und ich bildete mir nicht ein, es sei auch nur ansatzweise mein Verdienst, es war voll und ganz eines des Windes. Was für himmlischen Rückenwind es hier gab! Aber wenn der Wind jetzt stark von hinten blies, dann würde er rückzu genauso stark von vorn kommen, oder? Unwichtig, es fuhr sich so leicht in diesen Minuten. Ich jubilierte, das kann doch nicht nur der Wind sein, denn treten, treten tust ja wohl immer noch du. Aber gewiss, du bist’s, der so schnell ist, wie geölt arbeiten deine Beine, wie befreit atmet deine Lunge, du wirst den Teufel tun und jetzt schon wieder umdrehen, bist doch eben erst gestartet, und außerdem, musst gar nicht zurück! Jedenfalls nicht auf selbem Wege, überleg nur: Hier am Meer, wo du entlangrauschst, ist es viel stürmischer als im bewaldeten Inselinnern. Du hast es vorhin auf der Karte gesehen, dass da ein riesengroßer Wald ist, ein Windfang gewissermaßen, und glücklicherweise von asphaltierten Wegen durchzogen, also strampele dort hindurch, und du wirst Kräfte sparen und noch halbwegs frisch wieder beim Mehlsand anlangen.

Wie der Mensch sich selbst betrügt! Wie er, wenn’s ihm sonnig geht, alles ausblendet, was drohend vor ihm steht. War diese dunkelgrüne Fläche auf der Karte nicht mit diversen Höhenangaben versehen gewesen? Glich die Insel von ihrem Profil her nicht einem Schildkrötenpanzer, rundherum flach und zur Mitte hin stetig sich erhebend? Oh doch, du hast es registriert. Du hast es gesehen, aber dann bist du im Rausch der Geschwindigkeit gewesen. Nun musst du büßen. Schwer fällt es dir, den Krötenschild, den buckligen, hinaufzuklettern, dabei ist der Anstieg überhaupt nicht so steil. Eigentlich ist er lächerlich. Wirklich absurd, wie du dich gerade mühen musst, heißt das hier etwa Alp d’Huez? Lenkst du vielleicht durch irgendwelche Spitzkehren? Siehst du neben dir nur noch Geröll? Komm schon, dies ist Almindingen, der sanft sich aufschwingende dichte Forst der Bornholmer, in dem es nach ein paar Kilometern auch wieder abwärtsgehen wird; übrigens zog ich mir den Helm vom Kopf. Es war doch arg heiß hier. Der Wind drang kaum durch die Bäume. Mir pochten die Schläfen. Ich schnallte den Helm so um den Lenker, dass er mir nicht ans Knie schlagen konnte.

Kaum merklich begann die Abfahrt. Sie führte bald aus dem Wald hinaus, führte zwischen goldgelben Feldern hindurch auf das kräftige Grün der Wiesen vor der Küste zu und auf das tiefe, mit weißen Schwüngen versehene Blau des Meeres, keine dieser Einzelheiten war mir neu. Aber die Gesamtheit! Die Struktur! Die streng voneinander geschiedenen und dadurch nur umso voller hervortretenden Farben, ich rollte in sie hinein. Ich hielt den Kopf so, dass ich immer das Blau im Blick hatte, immer das Blau. Das Rauschen des Windes verband sich mit dem Surren der Kette, ich beugte den Oberkörper, um noch mehr Tempo zu gewinnen und noch mehr Geklinge zu hören, und hob zugleich das Kinn, um nicht das flächige Blau zu verlieren, die Zeigefinger lagen am Bremshebel und zogen immer dann, wenn es nötig war, wie ohne Befehl aus dem Hirn. Ich wusste, ich würde hier nicht stürzen. Ich war in der größten Sicherheit – die sich denken lässt? Erst im Nachhinein setzt das Denken ein. Erst später ging mir auf, wie alles abgelaufen war in jenen Minuten des vollkommenen Genusses.

Sooft ich nach jener Erweckung auf Bornholm Rennrad fuhr, den Helm trug ich nie mehr. Ich packte ihn vor neuen Reisen nicht einmal mehr ein. Ich sehnte mich schon zu Hause nach den Minuten, in denen mir der Wind ungehindert durch die Haare blasen würde, ich war begierig darauf, ihn endlich wieder ganz und gar zu spüren. Immer wenn ich so pur rolle, bloßen Schopfes und unverschnürten Gesichts, begreife ich von Neuem, wie eingeschränkt und beengt mir mit einem Helm auf dem Kopf ist; im Brandenburgischen, wo ich sonst umherradle, benötige ich ihn leider. Ich bin ja nicht lebensmüde. Ich muss mich schützen dort, wo manche Autofahrer derart knapp an mir vorbeirasen, dass sie mich fast streifen und allein schon der jähe Luftzug mich in Richtung Straßengraben drückt. Immer größere Wagen sind das ja auch, dunkle dahindonnernde Wannen, die mich ängstigen. Und weil ich es nicht mag, mich zu ängstigen, greife ich in Gedanken zu einer Gegenwaffe und setze diese schrecklichen Panzer außer Gefecht, das ist ungut, deren brennende Einzelteile durch die Luft fliegen zu sehen, das ist wohl kaum der Sinn des Rennradfahrens. Auf Bornholm hingegen walzen solche Panzer nicht. Auf Bornholm rolle ich in tiefstem Frieden dahin. Nie, wirklich nie ist mir hier eines Rücksichtslosen wegen der Schreck in die Glieder gefahren, und mehr noch, beziehungsweise noch weniger, nie habe ich auch nur befürchten müssen, es könne mir ein Schrecken eingejagt werden. Selbst als unwahrscheinliche Möglichkeit ist er abwesend, so rein ist der Kopf, so rein die Insel. Um so viel besser ist es hier als anderswo.