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»Ein Buch, das man mit angehaltenem Atem verschlingt.« Washington Post
Nach dem frühen Tod ihrer Mutter wächst Turtle Alveston weltabgeschieden in den nordkalifornischen Wäldern auf, wo sie jede Pflanze und jede Kreatur kennt. Auf tagelangen Streifzügen in der Natur sucht sie Zuflucht vor der besitzergreifenden Liebe ihres charismatischen und schwer gestörten Vaters. Erst als sie ihren Mitschüler Jacob näher kennenlernt und wahre Freundschaft erfährt, beginnt sie, sich aus den Klauen ihres Vaters zu befreien. Doch der hat nicht vor, Turtle einfach gehen zu lassen. Es beginnt ein Kampf auf Leben und Tod ...
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Seitenzahl: 681
Veröffentlichungsjahr: 2018
Die 14-jährige Turtle lebt nach dem frühen Tod der Mutter allein mit ihrem Vater Martin in einem heruntergekommenen Haus an der nordkalifornischen Küste. Martin ist einerseits ein charismatischer Autodidakt mit einer tiefen Liebe zur Natur, andererseits ein waffenvernarrter kontrollsüchtiger Soziopath, der seine Tochter psychisch und physisch missbraucht. Turtle hat seine Wir-gegen-die-Welt-Doktrin bedingungslos verinnerlicht. Sie meidet andere Jugendliche und streift stundenlang durch die umliegenden Wälder. Erst als sie sich in einen Jungen aus ihrer Schule verliebt, öffnet sich langsam ihre enge Welt. Aber Martin kann und will seine Tochter nicht loslassen. Es wird ein Kampf auf Leben und Tod.
Turtle ist eine Heldin, die der Leser nicht vergisst: ungewöhnlich, klug, verletzlich, verzweifelt, mutig und am Ende unbeugsam. „Ein Buch, das man mit angehaltenem Atem verschlingt.“ (The Washington Post)
GABRIEL TALLENT, geboren 1987 in New Mexiko, wuchs in der Nähe von Mendocino mit zwei Müttern in einem sehr liberalen Umfeld auf. Er hatte große Schwierigkeiten mit dem Lernen von Lesen und Schreiben und schwänzte als Jugendlicher oft wochenlang die Schule. Während seines Studiums begann er zu schreiben. »My Absolute Darling« ist sein erster Roman. Gabriel Tallent lebt heute in Salt Lake City.
»Eine unkonventionelle Heldin und die furchtlose Darstellung ihres Überlebenskampfes machen ›Mein Ein und Alles‹ zum Debüterfolg des Jahres.« The New York Times
»Unmöglich aus der Hand zu legen … ein erschütterndes, ein gewaltiges Debüt.« National Public Radio
»Ein glänzender Roman mit einer außergewöhnlichen, unvergesslichen Heldin, der nachdenklich macht und zugleich vollkommen mitreißt.«The Guardian
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»Ein Buch, das man mit angehaltenem Atem verschlingt.«
The Washington Post
»Eine unkonventionelle Heldin und die furchtlose Darstellung ihres Überlebenskampfes machen ›Mein Ein und Alles‹ zum erfolgreichsten amerikanischen Debüt des Jahres 2017.«
The New York Times
»Ein glänzender Roman mit einer außergewöhnlichen, unvergesslichen Heldin.«
The Guardian
»Ein Buch, das man nicht aus der Hand legen kann … ein erschütterndes, ein gewaltiges Debüt.«
National Public Radio
»Ein Buch wie ein Gewittersturm, so faszinierend wie gefährlich.«
The Minneapolis Star-Tribune
»Nicht nur die Figuren sind bemerkenswert – auch die detaillierte Erkundung der Welt, in der Turtle zu Hause ist, ist so großartig beschrieben, dass die Natur selbst zu einer Figur wird, die dem Leser noch lange im Gedächtnis bleibt.«
Booklist
»In diesem wilden, herzzerreißenden Roman verwebt Gabriel Tallent großartige Naturbeschreibungen mit ständig steigender Spannung. Ein überzeugendes Debüt.«
BBC
»Der Begriff ›Meisterwerk‹ wird zu häufig benutzt, doch ›Mein Ein und Alles‹ ist ohne jeden Zweifel eines.«
Stephen King
Die Originalausgabe erschien 2017unter dem Titel »My Absolute Darling« bei Riverhead Books, New York.
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Copyright © der Originalausgabe 2017 by Gabriel Tallent. By arrangement with the author. All rights reserved.
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018 by Penguin Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Covergestaltung: Sabine Kwauka, nach einem Entwurf von © Jaya Miceli
Coverabbildung: getty images
Satz: GGP Media GmbH, Pößneck
E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-641-22823-1V004
www.penguin-verlag.de
für Gloria und Elizabeth
Das alte Haus kauert auf seinem Hügel, abblätternde weiße Farbe, Erkerfenster und von Kletterrosen und Gifteiche überwucherte hölzerne Spindelgeländer. Rosenausläufer haben Schindeln losgerissen, die nun zwischen den Trieben festhängen. Die geschotterte Auffahrt ist mit grünspanigen Patronenhülsen übersät. Martin Alveston steigt aus dem Truck, er dreht sich nicht zu Turtle um, die im Führerhaus sitzt, sondern geht zur Veranda hinauf. Die Planken unter seinen Kampfstiefeln tönen hohl, ein großer Mann in Flanellhemd und Levi’s-Jeans, der die gläserne Schiebetür öffnet. Turtle wartet, lauscht dem Ticken des Motors, dann folgt sie ihm.
Im Wohnzimmer ist eines der Fenster verrammelt, Blech und anderthalb Zentimeter dickes Sperrholz sind am Rahmen festgeschraubt und mit Schießscheiben bedeckt. Die Einschusslöcher sind so dicht beieinander, dass es aussieht, als hätte jemand eine Flinte mit Kaliber .10 direkt vor die Scheiben gehalten und überall die Mitte herausgeschossen; die Hülsen schimmern in ihren zerklüfteten Höhlen wie Wasser auf dem Grund eines Brunnens.
Ihr Daddy öffnet am Herd eine Dose Bush’s Beans und reißt ein Streichholz an seinem Daumen an, um die Flamme zu entfachen, die flackert und langsam zum Leben erwacht, brennendes Orange, das sich gegen die dunklen Redwoodwände, die unlackierten Küchenschränke, die fettverschmierten Rattenfallen abzeichnet.
Die Hintertür der Küche hat kein Schloss, nur Löcher für den Knauf und das Riegelschloss. Martin stößt sie mit dem Fuß auf und tritt auf die unfertige hintere Veranda hinaus, wo es auf den bretterlosen Balken von Zaunleguanen wimmelt und sich Brombeeren entlangranken, dazwischen Schachtelhalme und mit weichem Pfirsichflaum überzogene, säuerlich riechende Ackerminze. Mit gespreizten Beinen auf den Balken stehend, nimmt Martin die Bratpfanne von den abgeplatzten Schindeln, an die er sie gehängt hatte, um sie von den Waschbären sauberlecken zu lassen. Er dreht den Hahn mit einem rostigen Schraubenschlüssel auf und lässt Wasser in das gusseiserne Gefäß schießen, reißt büschelweise Schachtelhalme aus und schrubbt die schwierigen Stellen damit ab. Dann kommt er herein, stellt die Pfanne auf den Herd, und das Wasser zischt und spritzt. Er öffnet den unbeleuchteten olivgrünen Kühlschrank, nimmt zwei in braunes Einschlagpapier gewickelte Steaks heraus, zieht sein Daniel-Winkler-Messer aus dem Gürtel, wischt es am Oberschenkel seiner Jeans ab, pikst die Steaks nacheinander mit der Messerspitze auf und lässt sie in die Pfanne rutschen.
Turtle hüpft auf den Küchentresen – grießige Redwoodplatte, von alten Hammerabdrücken eingefasste Nägel. Sie zieht eine Sig Sauer zwischen den leeren Dosen hervor und öffnet den Verschluss ein Stück, um einen Blick auf das Messing in der Kammer zu werfen. Sie legt die Pistole an und dreht sich um, weil sie seine Reaktion sehen will. Er steht da, mit einer Hand an die Küchenschränke gelehnt, und lächelt müde, ohne aufzuschauen.
Als sie sechs Jahre alt war, hatte er ihr eine Rettungsweste zur Polsterung gegebenen, hatte ihr gesagt, sie solle die heißen ausgeworfenen Hülsen nicht berühren, und sie mit einer .22er Ruger mit Kammerverschluss anfangen lassen, am Küchentisch sitzend, die Waffe auf ein zusammengerolltes Handtuch gestützt. Grandpa musste die Schüsse auf dem Rückweg vom Schnapsladen gehört haben, denn er war in Jeans, Frotteebademantel und Lederslippern mit kleinen Lederquasten hereingekommen, im Türrahmen stehen geblieben und hatte gesagt: »Verdammt, Marty.« Daddy saß neben Turtle auf einem Stuhl und las Humes Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral. Er legte das Buch aufgeschlagen auf seine Schenkel und sagte: »Geh auf dein Zimmer, Krümel«, und Turtle ging die knarzende Treppe ohne Geländer und Setzstufen hinauf, aus gemasertem Redwood geschnittene Stiegen und gesplitterte, verzogene Treppenwangen aus schlecht nachbehandeltem Primärholz, so verdreht, dass sie die Nägel aus den Trittstufen zogen, die jetzt frei lagen und sich unter der Last bogen. Unter ihr die schweigenden Männer, Grandpas Blick auf sie gerichtet, die Kuppe von Martins Zeigefinger auf den vergoldeten Lettern des Buchrückens liegend. Doch selbst oben, auf dem Sperrholzbett ausgestreckt und den Armeeschlafsack über sich gezogen, hörte sie sie noch, hörte, wie Grandpa sagte: »Verdammt, Martin, so kann ein kleines Mädchen nicht aufwachsen«, und wie Daddy lange gar nichts sagte und dann: »Das ist mein Haus, vergiss das nicht, Daniel.«
Sie essen die Steaks nahezu schweigend, während sich in den großen Wassergläsern Sand absetzt. Auf dem Tisch zwischen ihnen liegt ein Kartenspiel, auf dessen Schachtel ein Narr abgebildet ist. Die eine Gesichtshälfte ist zu einem irren Grinsen verzerrt, die andere hängt finster herunter. Als sie fertig ist, schiebt sie ihren Teller von sich, und ihr Vater sieht sie an.
Sie ist groß für eine Vierzehnjährige, mit einem fohlenartigen Körper: lange Arme und Beine, breite, aber schlanke Hüften und Schultern, der Hals lang und sehnig. Das hervorstechendste Merkmal sind die Augen: blau, mandelförmig, in einem zu schmalen Gesicht mit breiten, spitzen Wangenknochen, und ihr schiefer Mund mit scheinbar zu vielen Zähnen darin – ein hässliches Gesicht, das weiß sie, und ein ungewöhnliches. Ihre Haare sind dick und blond mit sonnengebleichten Strähnen. Ein Muster aus kupferbraunen Sommersprossen überzieht ihre Haut. Ihre Handflächen, die Innenseiten ihrer Unterarme und ihrer Schenkel zeigen ein blaues Venengeflecht.
Martin sagt: »Geh deine Vokabelliste holen, Krümel.«
Sie zieht ihr blaues Heft aus dem Rucksack und schlägt die Seite mit den sorgfältig von der Tafel abgeschriebenen Vokabelübungen dieser Woche auf. Er legt die Hand auf das Heft, zieht es über den Tisch zu sich heran. Er beginnt die Liste zu lesen. »Ostentativ«, sagt er und schaut sie an. »Kasteien.« So geht er die Liste durch. Dann sagt er: »Also gut. Nummer eins. ›Der Punktpunktpunkt arbeitete gern mit Kindern.‹« Er dreht das Buch herum und schiebt es ihr hinüber. Sie liest:
1. Der __________ arbeitete gern mit Kindern.
Sie geht die Liste durch und lässt die Zehenknochen auf dem Boden knacken. Daddy sieht sie an, aber sie weiß die Antwort nicht. Sie sagt: »›Kriminelle‹, vielleicht ist es der ›Kriminelle‹.« Daddy hebt die Augenbrauen, und sie trägt es mit Bleistift ein:
1. Der Kriminelle arbeitete gern mit Kindern.
Er zieht das Buch über den Tisch und sieht es sich an. »Tja«, sagt er, »dann sieh dir mal Nummer zwei an.« Er schiebt ihr das Buch wieder hin. Sie sieht sich Nummer zwei an.
2. __________ Handlungen werden bei der Polizei angezeigt.
Sie hört ihn durch die gebrochene Nase atmen, jeder einzelne Atemzug ist ihr unerträglich, weil sie ihn liebt. Sie studiert sein Gesicht, jede seiner Regungen, und denkt: Los, du Luder, du schaffst das, du Luder.
»Guck mal«, sagt er, »guck mal«, und er nimmt ihren Bleistift und streicht Kriminelle durch und schreibt Pädagoge hin. Dann schiebt er ihr das Buch hinüber und sagt: »Krümel, was kommt bei Nummer zwei hin? Wir sind es doch gerade durchgegangen. Es steht alles da.«
Sie betrachtet die Seite, die von allen Dingen im Raum die geringste Bedeutung hat, ihr Kopf besetzt von seiner Ungeduld. Er bricht den Stift entzwei, legt beide Hälften vor das Heft. Sie beugt sich über die Seite, denkt: Dumm, dumm, dumm und Scheißversagerin. Er kratzt sich mit den Fingernägeln über die Bartstoppeln. »Okay.« Gebeugt vor Erschöpfung, zieht er einen Finger durch die blutige Pfütze auf seinem Teller. »Ist gut«, sagt er und wirft das Heft mit der Rückhand durchs Wohnzimmer. »Ist gut, das reicht für heute, das reicht – was ist nur mit dir los?« Dann, kopfschüttelnd: »Nein, ist schon gut, nein, das reicht.« Turtle sitzt schweigend da, Haarsträhnen hängen ihr ins Gesicht, und er klappt seinen Kiefer hinunter und nach links, wie um das Gelenk zu testen.
Er greift nach der Sig Sauer und legt sie vor ihr auf den Tisch. Dann zieht er das Kartenspiel über den Tisch, lässt es in seine andere Hand fallen. Er geht zu dem verrammelten Fenster, stellt sich vor die kugelgespickten Zielscheiben, schält das Kartenspiel aus seiner Schachtel, zieht den Pik-Buben heraus und hält ihn neben sein Auge, zeigt ihr die Vorderseite, die Rückseite, die Karte von der Seite. Turtle sitzt da, die Hände flach auf den Tisch gelegt, und sieht die Pistole an. Er sagt: »Sei kein kleines Luder, Krümel.« Er steht völlig reglos da. »Du bist ein kleines Luder. Willst du ein Luder sein, Krümel?«
Turtle steht auf, stellt sich breitbeinig hin, hebt das Korn auf Höhe ihres rechten Auges. Sie weiß, dass die Position des Visiers stimmt, wenn der Rand dünn wie eine Rasierklinge ist – neigt sich die Pistole nach oben, sieht sie einen verräterischen Schimmer auf der Oberfläche des Visiers. Sie korrigiert, bis dieser Rand zu einer dünnen, frei liegenden Linie geworden ist, und denkt: Vorsicht, Vorsicht, Mädchen. Im Profil ist die Karte ein daumennageldickes Ziel. Behutsam bewegt sie den Abzug, bis sie den zwei Kilo schweren Widerstand spürt, atmet ein, atmet mit der natürlichen Entspannung ihres Atems aus und drückt gegen diese zwei Kilo an. Sie schießt. Die obere Hälfte der Karte flattert in einer Ahornsamenspirale zu Boden. Turtle steht reglos da, abgesehen von leichten Zuckungen, die an ihren Armen hinunterjagen. Er schüttelt den Kopf, lächelt ein wenig und versucht es zu verbergen, fährt sich mit dem Daumen über die Lippen. Dann zieht er noch eine Karte und hält sie hoch.
»Sei kein kleines Luder, Krümel«, sagt er und wartet. Als sie sich nicht rührt, sagt er: »Gottverdammt, Krümel.«
Sie prüft den Hahn mit ihrem Daumen. Sie weiß, wie es sich anfühlen muss, wenn man die Pistole richtig hält, und gräbt in diesem Gefühl nach etwas Falschem. Der Rand der Kimme verdeckt sein Gesicht, der grün leuchtende Tritiumtropfen hat die Größe seines Auges. Ihr Ziel folgt ihrer Aufmerksamkeit, und einen Moment lang krönt sein blaues Auge den dünnen, flachen Horizont des Korns. Ihre Eingeweide schlingern und zucken wie ein Fisch am Haken, der das Weite sucht, und sie rührt sich nicht, der Abzug ist am Anschlag, und sie denkt: Scheiße, Scheiße, sie denkt: Schau ihn nicht an, schau ihn nicht an. Wenn er sie hinter Kimme und Korn sieht, lässt er es sich nicht anmerken. Behutsam bringt sie das Visier mit der zitternden, unscharfen Karte überein. Sie lässt ihren Atem langsam entweichen und schießt. Die Karte bewegt sich nicht. Sie hat sie verfehlt. Sie kann den Einschuss auf dem Zielbrett sehen, eine Handbreit von ihm entfernt. Sie entspannt den Hahn und senkt die Waffe. Schweiß liegt hell, wie Spitzenborte auf ihren Wimpern.
»Versuch’s mal mit zielen«, sagt er.
Sie steht völlig reglos da.
»Versuchst du’s noch mal, oder was ist hier los?«
Turtle spannt den Hahn und hebt die Waffe von der Hüfte vor ihr dominantes Auge, Kimme und Korn auf einer Höhe, ebenbürtige Lichtspalte zwischen ihnen, die Mündung so unbewegt, dass man eine Münze aufrecht auf das Korn stellen könnte. Die Karte dagegen bewegt sich ganz leicht auf und ab. Ein kaum spürbares Zittern folgt seinem Herzschlag. Schau ihn nicht an, denkt sie, schau ihm nicht ins Gesicht. Schau aufs Korn, schau auf den oberen Rand des Korns. In der Stille nach dem Pistolenschuss entspannt Turtle den Abzug, bis er klickt.
Martin dreht die unversehrte Karte in der Hand und untersucht sie demonstrativ. »Genau, wie ich es mir gedacht habe«, sagt er, wirft die Karte auf die Bodenbretter, geht zurück zum Tisch, setzt sich ihr gegenüber, nimmt das Buch, das er aufgeschlagen und mit dem Rücken nach oben auf den Tisch gelegt hatte, und beugt sich darüber. Auf dem verrammelten Fenster hinter ihm ballen sich die Einschusslöcher so dicht, dass man sie mit einem 25-Cent-Stück bedecken könnte.
Drei Atemzüge lang steht sie da und sieht ihn an. Sie lässt das Magazin herausgleiten, drückt die Patrone aus der Kammer und lässt sie in ihre Hand fallen, schließt den Verschluss wieder und legt die Pistole, das Magazin und die Patrone neben ihren schmutzigen Teller auf den Tisch. Die Patrone rollt mit einem Murmelgeräusch in einem ausladenden Bogen über den Tisch. Er befeuchtet einen Finger und blättert um. Sie steht da und wartet darauf, dass er zu ihr aufschaut, aber er tut es nicht, und sie denkt: Ist das alles? Sie geht hinauf in ihr mit dunklem, unlackiertem Holz getäfeltes Zimmer, wo sich die Gifteiche durch die Sprossen und den Rahmen des Fensters auf der Westseite schlängelt.
An diesem Abend wartet Turtle auf ihrer Sperrholzpritsche unter dem grünen Militärschlafsack und den Wolldecken und hört den Ratten zu, die in der Küche an den schmutzigen Tellern herumnagen. Manchmal hört sie das klack klack klack einer Ratte, die auf einem Stapel Teller hockt und sich am Hals kratzt. Sie hört Martin von Zimmer zu Zimmer gehen. An Wandhaken hängen ihr Lewis Machine & Tool AR – 10, ihr Noveske AR – 15 und ihre Remington 870 Pumpgun Kaliber .12. Jede Waffe hat einen eigenen Einsatzzweck. Ihre Kleider liegen sorgfältig zusammengelegt in den Regalen, die Socken sind in einer Reisetruhe am Fußende des Betts verstaut. Als sie einmal eine Decke nicht zusammengelegt hatte, hatte er sie im Garten verbrannt und gesagt: »Nur Tiere verwüsten ihr Zuhause, Krümel, nur Tiere verwüsten ihr beschissenes Zuhause.«
Am Morgen schließt Martin den Gürtel seiner Levi’s, während er aus seinem Zimmer kommt, und Turtle öffnet den Kühlschrank und nimmt einen Karton mit Eiern und ein Bier heraus. Sie wirft ihm das Bier zu. Er setzt den Deckel auf die Kante der Arbeitsplatte, schlägt ihn ab, trinkt im Stehen. Sein Flanellhemd hängt offen um seine Brust. Seine Bauchmuskeln bewegen sich beim Trinken. Turtle schlägt die Eier gegen die Arbeitsplatte, hält sie dann in der Faust hoch, drückt den Spalt auf, lässt den Inhalt in ihren Mund fließen und wirft die Schalen in den 20-Liter-Komposteimer.
»Du musst mich nicht bringen«, sagt sie und wischt sich mit dem Ärmel über den Mund.
»Das weiß ich«, sagt er.
»Du musst wirklich nicht«, sagt sie.
»Ich weiß, dass ich nicht muss«, sagt er.
Er bringt sie zum Bus, Vater und Tochter, die den Furchen zu beiden Seiten des Mittelstreifens aus Zittergras folgen. Links und rechts die dornigen, nicht blühenden Rosetten der Stechdisteln. Martin drückt das Bier an seine Brust, knöpft mit der anderen Hand das Flanellhemd zu. Sie warten zusammen an der geschotterten, von Fackellilien und schlummernden Belladonnalilienzwiebeln gesäumten Haltebucht. Goldmohn hat sich im Schotter eingenistet. Turtle riecht die verrottenden Algen unten am Strand und den zwanzig Meter entfernten Mündungstrichter, stinkend vor Fruchtbarkeit. In der Buckhorn Bay ist das Wasser blassgrün, mit weißem Flor um die Felsnadeln herum. Weiter draußen tönt sich der Ozean zu einem blassen Blau, und die Farbe entspricht genau der des Himmels, kein Horizontstreifen, keine Wolken.
»Schau dir das an, Krümel«, sagt Martin.
»Du brauchst nicht zu warten«, sagt sie.
»Ist gut für die Seele, sich so was anzuschauen. Du schaust es dir an und denkst: gottverdammt. So etwas zu analysieren heißt, der Wahrheit näherzukommen. Du lebst am Rand der Welt, und du denkst, du lernst etwas über das Leben, wenn du dir anschaust, was da draußen ist. Und während du das denkst, vergehen Jahre. Weißt du, was ich meine?«
»Ja, Daddy.«
»Es vergehen Jahre, und du glaubst, irgendeine lebensnotwendige Arbeit zu tun, beim Betrachten die Finsternis auf Abstand zu halten. Und dann wird dir eines Tages klar, dass du keinen Schimmer hast, was zur Hölle du da eigentlich anschaust. Es ist absolut merkwürdig, und es ist anders als alles andere, und das ganze Gegrübel war völlig umsonst, jeder Gedanke, den du je hattest, ist an der Unerklärbarkeit dieses Dings vorbeigegangen, an seiner Größe und seiner Gleichgültigkeit. Jahrelang hast du die See betrachtet und geglaubt, sie würde irgendetwas bedeuten, aber sie bedeutet gar nichts.«
»Du musst nicht hier runterkommen, Daddy.«
»Gott, ich liebe diese alte Lesbe«, sagt Martin. »Sie mag mich auch. Du kannst es in ihren Augen sehen. Siehst du? Echte Zuneigung.«
Der Bus ächzt, als er den Fuß des Buckhorn Hill umrundet. Martin lächelt verschmitzt und prostet der in ihrem Carhartt-Overall und ihren Holzfällerstiefeln riesig wirkenden Busfahrerin mit seinem Bier zu. Sie starrt ihn an, ohne eine Miene zu verziehen. Turtle steigt in den Bus und geht nach hinten. Die Busfahrerin sieht Martin an, der strahlend an der Straße steht, das Bier über dem Herzen, und mit einem Kopfschütteln sagt: »Du bist ein echtes Vollweib, Margery. Ein echtes Vollweib.« Margery schließt die gummigesäumten Türen, und der Bus fährt ruckelnd an. Als sie aus dem Fenster schaut, sieht Turtle, wie Martin zum Abschied eine Hand hebt. Sie lässt sich auf einen freien Sitz fallen. Elise dreht sich um, legt ihr Kinn auf die Lehne und sagt: »Dein Dad ist so was von – cool.« Turtle schaut aus dem Fenster.
In der zweiten Stunde läuft Anna vor der Klasse auf und ab, die schwarzen Haare zu einem nassen Pferdeschwanz zusammengebunden. Hinter ihrem Pult hängt ein Taucheranzug, von dem es in einen Eimer hineintropft. Sie korrigieren Rechtschreibtests. Turtle beugt sich über ihr Blatt, klickt mit dem Zeigefinger auf ihrem Kugelschreiber herum, übt, einen Abzug zu betätigen, ohne Druck nach links oder rechts abzugeben. Die Mädchen haben dünne, schwache Stimmchen, und Turtle dreht sich auf ihrem Stuhl um, wenn sie kann, um ihre Lippen zu lesen.
»Julia«, sagt Anna zu Turtle, »würdest du bitte ›Synekdoche‹ buchstabieren und definieren? Und uns dann deinen Satz vorlesen, bitte?«
Obwohl sie den Test korrigieren und obwohl das Blatt eines anderen Mädchens genau vor ihr liegt, eines Mädchens, das Turtle auf eine aus dem Augenwinkel schielende und fingernägelkauende Weise bewundert, obwohl das Mädchen das Wort Synekdoche in seiner säuberlichen Schrift mit glitzernder Gelstiftfarbe dort aufgeschrieben hat, schafft Turtle es nicht. Sie setzt an: »S-I-N…«, und bricht ab, außerstande, einen Weg aus dem Labyrinth zu finden. Sie wiederholt: »S-I-N…«
Anna sagt sanft: »Na schön, Julia, das ist ein schwieriges Wort. Es heißt Synekdoche, S-Y-N-E-K-D-O-C-H-E, Synekdoche. Möchte uns jemand sagen, was das bedeutet?«
Rilke, dieses andere, viel hübschere Mädchen, hebt die Hand, bildet mit den pinken Lippen ein aufgeregtes O. »Synekdoche: eine Sprachfigur, in der ein Teil für das Ganze steht; ›die Krone ist erzürnt‹.« Turtle und sie haben die Arbeitsblätter getauscht, und Rilke sagt es aus dem Gedächtnis auf, ohne auf Turtles Blatt zu schauen, denn Turtles Blatt ist leer bis auf die erste Zeile: 1. Kriminelle. Ungesetzliche. Kriminelle Handlungen werden bei der Polizei angezeigt.« Turtle weiß nicht, was es heißen soll, wenn ein Teil für das Ganze steht. Das ergibt für sie keinen Sinn, und was die Krone ist erzürnt bedeuten soll, weiß sie auch nicht.
»Sehr gut«, sagt Anna. »Ein weiteres unserer Wörter mit griechischem Ursprung, so wie –«
»Ah!« Und Rilkes Hand schießt nach oben. »›Sympathisch.‹«
Turtle sitzt auf dem blauen Plastikstuhl, kaut auf ihren Knöcheln herum, nach dem Schlamm vom Slaughterhouse Creek stinkend, in ein zerlumptes T-Shirt und Levi’s-Jeans gekleidet, deren Beine sie über ihre blassen, mit trockenen Hautstellen überzogenen Waden hochgerollt hat. Unter einem Fingernagel ein rostfarbener Schmutzfleck von synthetischem Motoröl. Ihre Finger tragen seinen prähistorischen Geruch. Sie massiert das Schmiermittel gern mit bloßen Händen in den Stahl ein. Rilke trägt ihren Lipgloss auf; sie hat schon ein säuberliches kleines x neben jede leere Zeile von Turtles Arbeitsblatt gesetzt, und Turtle denkt: Guck dir die Schlampe an. Guck dir nur mal diese Schlampe an. Draußen ist der windgepeitschte Platz mit Pfützen gesprenkelt, der überflutete Straßengraben in aschfarbenen Lehm geschnitten, dahinter der Waldrand. Turtle könnte in den Wald gehen und würde nie gefunden werden. Sie hat Martin versprochen, es nie zu tun, nie wieder.
»Julia«, sagt Anna. »Julia?«
Turtle dreht sich langsam um, sieht sie an und wartet, lauscht.
Anna sagt sehr sanft: »Julia, wenn du bitte aufpassen würdest.«
Turtle nickt.
»Danke«, sagt Anna.
Als die Glocke zur großen Pause läutet, stehen alle Schüler gleichzeitig auf. Anna geht den Gang hinunter, legt zwei Finger auf Turtles Tisch und hält lächelnd einen Finger in die Luft, um ihr zu bedeuten, dass sie sie einen Augenblick lang sprechen möchte. Turtle sieht zu, wie die anderen Schüler nach draußen gehen.
»Also«, sagt Anna. Sie setzt sich auf einen der Tische, und die stille, wachsame Turtle, die Gesichter aufmerksam studiert, kann sie beinahe vollständig lesen; Anna mustert Turtle von oben bis unten: Ich mag dieses Mädchen, denkt sie und überlegt, was sie tun kann. Für Turtle ist das nicht im Geringsten nachvollziehbar, denn sie hasst Anna, hat ihr nie einen Grund gegeben, sie zu mögen, kann sich selbst nicht leiden. Du Nutte, denkt Turtle.
»Also«, sagt Anna noch einmal. »Was hast du für ein Gefühl?« Ihr Gesicht nimmt einen sanft fragenden Ausdruck an – sie beißt sich auf die Lippe und lässt ihre Augenbrauen nach oben klettern, während sich nasse Strähnen aus ihrem Pferdeschwanz lösen. »Julia?«, sagt sie. In Turtles Nordküstenohren hat Anna einen kühlen, affektierten Akzent. Turtle war nie südlich des Navarro River und nie nördlich des Mattole River.
»Ja?«, sagt Turtle. Sie hat das Schweigen zu lange andauern lassen.
»Was hast du für ein Gefühl?«
»Kein besonders gutes«, sagt Turtle.
»Hast du denn eine der Definitionen richtig?«, fragt Anna.
Turtle weiß nicht, was Anna von ihr will. Nein, hat sie nicht, und das muss Anna auch bewusst sein. Auf jede von Annas Fragen gibt es nur eine Antwort: dass Turtle unfähig ist.
»Nein«, sagt Turtle, »ich habe keine der Definitionen richtig. Das heißt, die erste habe ich: ›Kriminelle Handlungen werden bei der Polizei angezeigt.‹«
»Was meinst du, woran das liegt?«, fragt Anna.
Turtle schüttelt den Kopf – es lässt sich nicht mit Worten ausdrücken, und sie wird sich nicht dazu zwingen lassen, etwas anderes zu sagen.
»Wie wäre es«, sagt Anna, »wenn du irgendwann mal in der Mittagspause hierbleibst und wir zusammen ein paar Vokabelkarten schreiben?«
»Ich lerne ja schon«, sagt Turtle. »Ich weiß nicht, ob das was bringen würde.«
»Gibt es denn sonst etwas, das dir helfen würde?« So macht Anna das immer; sie stellt Fragen und tut so, als würde sie ihr Freiräume lassen, aber es gibt keine Freiräume.
»Ich weiß es nicht«, sagt Turtle. »Ich gehe alle Listen mit meinem Daddy durch –« Und da sieht Turtle Anna zögern, und sie weiß, dass sie einen Fehler gemacht hat, weil die anderen Mendocino-Mädchen das Wort Daddy nicht benutzen. Meistens nennen sie ihre Eltern beim Vornamen, oder sie sagen einfach Dad. Turtle spricht weiter. »Wir gehen sie zusammen durch, und ich glaube, ich müsste sie vielleicht einfach noch ein bisschen öfter alleine durchgehen.«
»Du meinst also, du müsstest dich nur noch ein bisschen mehr damit auseinandersetzen?«
»Ja«, sagt Turtle.
»Wie lernst du denn mit deinem Vater zusammen?«
Turtle zögert. Sie kann der Frage nicht ausweichen, aber sie denkt: Vorsicht, Vorsicht.
»Na ja, wir gehen die Wörter zusammen durch«, sagt Turtle.
»Wie lange denn?«, fragt Anna.
Turtle bearbeitet einen Finger mit ihrer Hand, lässt den Knöchel knacken, blickt stirnrunzelnd auf und sagt: »Ich weiß nicht – eine Stunde?«
Turtle lügt. Sie sieht Anna an, dass sie es merkt.
»Stimmt das wirklich?«, fragt Anna. »Ihr lernt jeden Abend eine Stunde?«
»Na ja«, sagt Turtle.
Anna sieht sie an.
»An den meisten Abenden«, sagt Turtle. Sie muss verheimlichen, dass sie die Waffen vor dem Feuer reinigt, während Martin neben dem Kamin sitzt und liest und der Schein des Feuers erst auf ihre Gesichter und dann in den Raum strömt, um schließlich über den Boden wieder zu den Kohlen zurückzuweichen.
Anna sagt: »Wir werden das mit Martin besprechen müssen.«
Turtle sagt: »Warte. Ich kann ›Synekdoche‹ buchstabieren.«
»Julia, wir müssen mit deinem Dad sprechen«, sagt Anna.
Turtle sagt: »S-I-N«, und bricht dann ab, denn sie weiß, dass das falsch ist, dass sie sich irrt, und sie hat nicht die geringste Ahnung, wie es danach weitergeht. Anna betrachtet sie kühl, forschend, und Turtle schaut zurück und denkt: Du Luder. Sie weiß, wenn sie stärker protestiert, wenn sie noch mehr sagt, wird sie irgendetwas verraten.
»Okay«, sagt Turtle, »okay.«
Nach der Schule geht Turtle zum Sekretariat und setzt sich auf eine Bank. Von der Bank aus blickt man auf den Empfang, den Schreibtisch der Schulsekretärin dahinter und ein kurzes Stück Korridor, das zu der grünen Tür des Schulleiterbüros führt. Hinter dieser Tür sagt Anna: »Gott schütze sie, Dave, aber dieses Mädchen braucht Hilfe, wirkliche Hilfe, mehr Hilfe, als sie von mir bekommen kann. Himmel noch mal, ich habe dreißig Schüler in dieser Klasse.« Turtle sitzt da und knackt mit ihren Fingerknöcheln. Die Rezeptionistin wirft ihr kurze, gequälte Blicke zu. Turtle hört nicht sehr gut, aber Anna redet laut und aufgeregt: »Meinst du, ich habe Lust darauf, mich mit dem Mann zu unterhalten? Hör zu, hör zu … Misogynie, Abschottung, übertriebene Vorsicht. Das sind drei starke Warnsignale. Ich möchte, dass sie zur Schulpsychologin geht, Dave. Sie ist eine Außenseiterin, und wenn wir nichts unternehmen, bevor sie auf die Highschool kommt, wird sie noch weiter zurückfallen. Wir müssen ihr jetzt helfen, zu den anderen aufzuschließen … Ja, ich weiß, das haben wir schon versucht, aber wir müssen es eben weiter versuchen. Und wenn es da wirklich ein Problem gibt …« Turtles Eingeweide ziehen sich zusammen. O Gott, denkt sie.
Die Sekretärin lässt einen Papierstapel lautstark auf den Tisch fallen und geht den Korridor entlang zur Tür, während Schulleiter Green etwas sagt und Anna aufgeregt erwidert: »Niemand will das? Was heißt, niemand will das? Ich sage ja nur, dass es Möglichkeiten gibt … Na ja. Nein. Nichts. Ich sage ja nur –« Und die Rezeptionistin steht vor der Tür, klopft, steckt den Kopf hinein und sagt: »Julia ist da. Sie wartet noch auf ihren Vater.«
Das Gespräch verstummt. Die Sekretärin geht an ihren Schreibtisch zurück. Martin drückt die Tür auf, sieht Turtle kurz an und geht zum Schreibtisch. Die Sekretärin sieht ihn durchdringend an. »Sie können einfach …«, sagt sie und macht mit dem Papierstapel eine Bewegung zur Tür hin. Turtle steht auf und folgt ihm, vorbei am Schreibtisch und den Gang hinunter. Er klopft einmal und öffnet die Tür.
»Herein, herein«, sagt Schulleiter Green. Er ist riesig, mit einem rosa Gesicht und großen weichen rosa Händen. Das Fett hängt an ihm herunter und füllt seine khakifarbene Bundfaltenhose. Martin schließt die Tür und bleibt davor stehen, so hoch wie die Tür und beinahe so breit. Sein weites Flanellhemd ist nicht ganz zugeknöpft, und sein Schlüsselbein schaut darunter hervor. Die dicken, langen braunen Haare trägt er zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sein Schlüsselbund schneidet sich durch die Hosentasche, sodass an manchen Stellen die weißen Fäden frei liegen. Selbst wenn Turtle es nicht wüsste, hätte sie gemerkt, dass er die Pistole dabeihat, hätte es an der Art und Weise gemerkt, wie er sein Hemd trägt, wie er sich hinsetzt, aber weder Schulleiter Green noch Anna kommt es in den Sinn; sie würden so etwas gar nicht für möglich halten, und Turtle fragt sich, ob es Dinge gibt, denen gegenüber sie blind ist, die aber von anderen Menschen gesehen werden, und was das für Dinge sein könnten.
Schulleiter Green nimmt eine Schüssel mit Schokoladenbonbons vom Tisch und hält sie zuerst Martin hin, der abwehrend die Handfläche hebt, und dann Turtle, die sich nicht rührt. »Wie war Ihr Tag?«, fragt er und stellt die Schüssel wieder auf seinem Schreibtisch ab.
»Ach«, sagt Martin, »ich hatte schon bessere.« So nicht, denkt Turtle, so geht das nicht, aber warum sollst du wissen, wie es geht, du bist schließlich nur ein Luder.
»Und wie geht es dir, Julia?«
»Gut«, sagt Turtle.
»Ah ja, nun, ich nehme an, das Ganze ist etwas anstrengend.«
»Also?«, sagt Martin und macht eine auffordernde Geste.
»Gut, reden wir darüber, ja?«, sagt Schulleiter Green. Die neuen Lehrer werden beim Vornamen genannt, aber Schulleiter Green ist eine Generation älter, vielleicht auch zwei. »Auch nach unserem letzten Gespräch hat Julia noch Schwierigkeiten im Unterricht, und wir sind etwas besorgt. Das Problem betrifft auch ihre Noten. Ihr Leseverständnis ist nicht, wie es sein könnte. Sie tut sich bei den Prüfungen schwer. Aber in unseren Augen ist das eigentliche Problem weniger eine Frage ihrer Fähigkeiten, es hängt vielmehr auch mit ihrer Einstellung zusammen. Wir glauben, sie hat den Eindruck, in der Schule vielleicht, nun ja, nicht sehr willkommen zu sein, und dass sie sich wohler fühlen, sich dazugehörig fühlen muss, um wirklich Fortschritte machen zu können. So stellt sich das Problem für uns dar.«
Anna sagt: »Ich arbeite schon eine ganze Weile mit Julia, und meiner Meinung nach –«
Martin unterbricht sie, beugt sich auf seinem Stuhl vor, verschränkt die Hände ineinander. Er sagt: »Sie wird nacharbeiten.«
Turtle schluckt ihre Überraschung hinunter; sie sieht Martin an und denkt: Was machst du denn? Martin soll Anna direkt ins Gesicht sehen, sie weiß, dass er das kann – ihr direkt ins Gesicht sehen und machen, dass sie sich zufriedengibt.
Anna sagt: »Julia scheint besonders mit Mädchen Probleme zu haben. Wir dachten – vielleicht wäre sie bereit, einmal mit Maya, unserer Schulpsychologin, zu sprechen. Viele Schüler finden es sehr stabilisierend, mit jemandem zu sprechen. Wir glauben, dass Julia davon profitieren könnte, hier in der Schule ein freundliches Gesicht zu haben, jemanden, dem sie sich anvertrauen kann –«
Martin sagt: »Sie können Julias Versetzung nicht davon abhängig machen, dass sie zu einer Schulpsychologin geht. Also, was können wir dafür tun, dass sie versetzt wird?« Er sieht Schulleiter Green an. In Turtle steigt Entsetzen auf, und sie kämpft es nieder, denn vielleicht begreift sie ja nicht und Martin schon. Was machst du nur, Daddy?, denkt sie.
Anna sagt: »Martin, ich glaube, das ist ein Missverständnis. Wir lassen Julia nicht die Klasse wiederholen. Weil uns kein Budget mehr für die Sommerschule zur Verfügung steht und die Fortbildungsschulen nur sehr begrenzte Kapazitäten haben, werden alle Schüler auf die Highschool weiterbefördert. Aber wenn sie die Mittelstufe ohne feste Freundschaften und mit ihrer jetzigen Lern- und Lesekompetenz verlässt, wird sich das erst auf ihren Highschool-Lehrplan und dann auf ihre Auswahlmöglichkeiten bezüglich des Colleges auswirken. Weshalb es so wichtig ist, diese Fragen jetzt, im April, anzusprechen, wo noch Zeit bleibt, bis das Schuljahr zu Ende geht. Julias Wohlergehen steht im Vordergrund, und wir sind der Meinung, dass ein wöchentliches Treffen mit einem Ansprechpartner in jedem Fall Teil der Lösung sein sollte.
Martin beugt sich vor, und sein Stuhl quietscht. Er stellt Blickkontakt mit Schulleiter Green her, hebt die Hände, wie um zu fragen: Wenn es keine Konsequenzen gibt, was zur Hölle machen wir dann hier?
Schulleiter Green sieht Anna an. Martin sieht sie an, als würde er sich fragen, warum man ihr den Blick zuwenden sollte. Dann schaut er schnell weg und sucht die Aufmerksamkeit von Schulleiter Green. Martin glaubt, dass Schulleiter Green das Sagen hat und dass er Schulleiter Green knacken kann. Anna erscheint Martin sowohl zu anstrengend als auch zu machtlos. Turtle weiß nicht, warum er so denkt. Bei keinem dieser Gespräche war Schulleiter Green je auch nur ansatzweise von Martin beeindruckt. Sie kann sehen, wie unerschütterlich er ist. Turtle weiß, dass er einen Sohn mit Down-Syndrom hat und seit weit über zwanzig Jahren Leiter dieser Schule ist und dass Martin nicht seine Sprache spricht. Nichts von dem, was Martin sagt, wird Schulleiter Green von irgendetwas überzeugen. Dieses Treffen findet nur aus Höflichkeit statt, und sein einziger Zweck ist zu zeigen, dass Turtle sich Mühe gibt und dass Martin sich mit ihren Lehrern Mühe gibt, und Martin macht es nicht richtig, sagt nicht die richtigen Dinge, versucht, Schulleiter Green zu irgendetwas zu nötigen, wie er ihn schon vorher zu nötigen versucht hat.
»Martin«, sagt Anna, »es liegt mir sehr viel daran, mit Julia zu arbeiten, und ich will alles tun, um sie auf die Highschool vorzubereiten, aber mein Einfluss ist begrenzt, solange Julia sich hier in der Schule nicht richtig einfügt und unkonzentriert ist.«
»Mr. Green«, sagt Martin, als würde er mit Anna diskutieren. Schulleiter Green legt die Stirn in tiefe Falten und wackelt ein bisschen auf seinem Stuhl hin und her, die Hände vor seinem riesigen Bauch gefaltet. »Julias schulischer Erfolg hängt nicht von besonderer Zuwendung oder therapeutischer Behandlung ab. So kompliziert ist es gar nicht. Ihr Lernstoff ist langweilig. Wir leben in aufregenden und schrecklichen Zeiten. Im Nahen Osten herrscht Krieg. Der Kohlenstoffanteil in der Erdatmosphäre wird bald 400 ppm betragen. Wir befinden uns mitten im sechsten großen Artensterben. Im nächsten Jahrhundert werden wir das Ölfördermaximum überschritten haben. Es kann gut sein, dass wir es jetzt schon überschritten haben, oder wir machen mit dem Fracking weiter wie bisher, was eine andere, aber nicht weniger ernste Bedrohung für das Grundwasser darstellt. Und all ihren Bemühungen zum Trotz könnten unsere Kinder ebenso gut glauben, dass das Wasser wie durch Zauberei aus dem Hahn kommt. Sie wissen weder, dass es unter ihrer Stadt eine Wasserschicht gibt, noch dass sie einen gefährlich niedrigen Stand erreicht hat, noch dass es keinen Plan gibt, wie man die Stadt mit Wasser versorgen soll, wenn sie einmal vollständig erschöpft ist. Die meisten von ihnen wissen nicht, dass fünf der letzten sechs Jahre die heißesten seit Beginn der Aufzeichnungen waren. Ich könnte mir vorstellen, dass das ihre Schüler interessieren würde. Ich könnte mir vorstellen, dass sie sich für ihre Zukunft interessieren. Stattdessen muss mein Kind Rechtschreibtests machen. In der achten Klasse. Wundert es sie da, dass sie mit dem Kopf woanders ist?«
Turtle schaut ihn an und versucht, ihn so zu sehen, wie Schulleiter Green und Anna ihn sehen, und sie hasst, was sie sieht.
Schulleiter Green sieht aus, als hätte er diesen Einwand schon einmal gehört, von anderen, die ihn entschlossener vorgebracht haben. Er sagt: »Nun ja, Martin. Das stimmt nicht so ganz. Die letzten Rechtschreibtests finden in der fünften Klasse statt. Unsere Achtklässler lernen Vokabeln griechischen und lateinischen Ursprungs, die den Schülern dabei helfen, die von Ihnen beschriebenen Phänomene zu verstehen und zu thematisieren.«
Martin starrt Schulleiter Green an.
Schulleiter Green sagt: »Es stimmt allerdings, dass sie in der Lage sein müssen, die Wörter korrekt zu buchstabieren.«
Martin beugt sich vor, und der Colt 1911 zeichnet sich in seinem Kreuz unter dem Hemd ab, und auch wenn sein Gesicht ruhig bleibt, demonstriert diese Bewegung seine physische Kraft und wirkt bedrohlich. Sitzen sich Schulleiter Green und Martin so gegenüber, wird klar, dass sie womöglich dasselbe wiegen, aber während Schulleiter Green weit über seinen Stuhl lappt, ist Martin massiv wie eine Mauer. Turtle weiß, bei diesem Treffen soll der Wille bekundet werden, sich mit ihren Anliegen auseinanderzusetzen. Martin scheint das nicht zu wissen. »Ich glaube«, sagt Martin, »wir sollten Julia erlauben, die Beziehungen zu ihren Mitschülern selbst zu steuern, wie sie es für richtig hält. Sie können einem Mädchen nicht vorschreiben, extrovertiert zu sein. Sie können ihr nicht vorschreiben, zu einer Therapeutin zu gehen, und sie können sie nicht pathologisieren, weil sie von einem öden Lehrplan gelangweilt ist und sich ausgeschlossen fühlt. An ihrer Stelle wären Sie und ich genauso gelangweilt und würden uns genauso ausgeschlossen fühlen. Ich werde ihr also nicht sagen – und ich werde ebenso wenig zulassen, dass es jemand anderes tut –, dass sie eine Sonderbehandlung braucht. Ich verstehe Ihre Bedenken bezüglich der hohen Anforderungen der Highschool, aber ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass diese Anforderungen ein nützliches Gegenprogramm zu dem todlangweiligen Spießrutenlauf aus Rechtschreibprüfungen und handlungsfreien Kinderbüchern sein werden. Welche Herausforderungen das kommende Jahr auch bringen mag, sie wird sich ihnen stellen. Aber ich verstehe Ihre Befürchtungen, und ich kann Ihnen hier und jetzt versprechen, dass ich mir mehr Zeit nehmen werde, mit Julia zu lernen und ihr zu helfen, sich die Lernkompetenz anzueignen, die ihr in Ihren Augen fehlt. Ich werde mir dafür Zeit nehmen, jeden Abend und an den Wochenenden.«
Schulleiter Green wendet sich an Turtle und sagt: »Julia, was denkst du denn darüber? Würdest du dich gern mit Maya treffen?«
Turtle sitzt wie versteinert da, die Hände ineinander geklammert, kurz davor, die Knöchel knacken zu lassen, den Mund geöffnet. Sie schaut von ihrem Daddy zu Anna. Sie möchte Anna beschwichtigen, kann Martin aber nicht widersprechen. Alle sehen sie an. Sie sagt: »Anna will mir wirklich helfen, und ich glaube, ich lasse es nicht wirklich zu.« Das scheint alle im Raum zu überraschen. »Ich glaube«, sagt Turtle, »ich muss mich ein bisschen mehr anstrengen und mir ein bisschen mehr von Anna helfen lassen, ihr vielleicht besser zuhören. Aber ich will zu niemand anderem gehen.«
Als das Gespräch beendet ist, steht ihr Daddy auf und öffnet Turtle die Tür, und dann gehen sie gemeinsam zum Truck und sitzen schweigend auf der Sitzbank. Martin legt die Hand an den Anlasser, den Blick auf das Seitenfenster gerichtet, und scheint über etwas nachzudenken. Dann sagt er: »Ist das alles, was du vom Leben erwartest? Eine ungebildete kleine Ritze zu sein?«
Er lässt den Truck an, und als sie vom Parkplatz fahren, wiederholt Turtle in Gedanken die Wörter ungebildete kleine Ritze. Seine Sichtweise wird ihr mit einem Mal klar, wie bei einer Konservendose, deren Inhalt sich schmatzend löst. Sie lässt Teile von sich namenlos und unerforscht, und dann, wenn er sie benennt, erkennt sie sich in den Wörtern genau wieder und hasst sich selbst. Er schaltet mit stillem, energischem Zorn. Sie hasst sich, hasst diesen unfertigen, unverputzten Spalt. Sie fahren die geschotterte Einfahrt hinauf, er parkt vor der Veranda und schaltet den Motor ab. Sie gehen die Stufen zur Veranda gemeinsam hinauf, und Daddy geht in die Küche, nimmt ein Bier aus dem Kühlschrank und schlägt es an der Kante der Arbeitsplatte auf. Er setzt sich an den Tisch und kratzt mit dem Daumennagel an einem Fleck herum. Turtle kniet sich hin, legt die Hände auf das ausgebleichte Indigoblau seiner Jeans und sagt: »Es tut mir leid, Daddy.« Sie lässt zwei Finger durch die frei liegenden weißen Fäden schlüpfen und legt eine Wange auf die Innenseite seines Schenkels. Er sitzt da, den Blick von ihr abgewandt, die Bierflasche mit Daumen und Zeigefinger umschlossen, und sie fragt sich verzweifelt, was sie tun kann, ein kleines Mädchen mit einer Ritze, mit einer Ritze und ohne Bildung.
Er sagt: »Ich weiß nicht mal, was ich sagen soll. Ich weiß nicht, was ich dir sagen soll. Die Menschheit löscht sich selbst aus – sie zerstört sich langsam, mit vereinten Kräften, scheißt sich selbst ins Badewasser, scheißt auf die Welt, nur weil sich niemand vorstellen kann, dass die Welt überhaupt existiert. Der Dicke da und die Schlampe, die begreifen nichts. Sie denken sich irgendwelche Hürden für dich aus und wollen dir vormachen, dass das die Welt ist; dass die Welt aus Hürden besteht. Aber das tut sie nicht, und du darfst nie, wirklich niemals glauben, dass es so ist. Die Welt besteht aus der Buckhorn Bay und der Slaughterhouse Gulch. Daraus besteht die Welt, und diese Schule ist bloß … Schatten, Ablenkung. Vergiss das niemals. Aber du musst aufpassen. Wenn dir ein Patzer unterläuft, nehmen sie dich mir weg. Was soll ich dir also sagen? Dass die Schule nichts bedeutet und du trotzdem mitspielen musst?« Er sieht sie an, schätzt ihre Intelligenz ab. Dann streckt er die Hand aus, packt sie am Kiefer und sagt: »Was geht nur in diesem kleinen Kopf vor?« Er dreht ihren Kopf von einer Seite auf die andere und sieht sie unverwandt an. Schließlich sagt er: »Verstehst du das, Krümel? Verstehst du, was du mir bedeutest? Jedes Mal, wenn du morgens aufstehst, rettest du mir das Leben. Ich höre deine kleinen Füße die Treppe herunterkommen und denke: Das ist mein kleines Mädchen, das ist es, wofür ich lebe.« Er schweigt einen Augenblick lang. Sie schüttelt den Kopf, ihr Herz knirscht vor Zorn.
Abends wartet sie stumm, lauscht, berührt ihr Gesicht mit der kalten Klinge ihres Taschenmessers. Sie öffnet und schließt es geräuschlos, entriegelt das Liner-Lock mit dem Daumen und lässt den Sperrmechanismus langsam wieder herunter, um ein Klickgeräusch zu vermeiden. Sie hört ihn von Zimmer zu Zimmer gehen. Turtle schält Halbmonde von ihren Fingernägeln. Als er innehält, tut sie es ebenfalls. Er ist im Wohnzimmer, lautlos. Langsam, leise klappt sie die Klinge ein. Sie lässt ihre Zehenknochen an der Ferse des anderen Fußes knacken. Er kommt die Treppe herauf und hebt sie hoch, sie legt die Hände um seinen Hals, und er trägt sie die Treppe hinunter und durch das verdunkelte Wohnzimmer in sein Schlafzimmer, wo die Schatten der Erlenblätter an der Rigipswand im Mondlicht scharf und wieder unscharf werden, die Blätter selbst vor dem Fenster von dem dunkelsten, wächsernen Grün, in den rostschwarzen Dielenbrettern Risse wie Axtwunden, die unvollendete Verbindung zwischen Redwood und Rigipswand eine schwarze Fuge, die sich in die unerforschten Tiefen des Fundaments hinein öffnet, wo die dicken Primärholzbalken ihren Geruch nach schwarzem Tee, Flussbettsteinen und Tabak ausdünsten. Er legt sie hin, seine Fingerspitzen drücken Grübchen in ihre Oberschenkel, ihre Rippen öffnen und schließen sich, jede Mulde beschattet, jede Erhebung makellos weiß. Tu es, denkt sie, ich will, dass du es tust. Sie liegt da, jeden Moment darauf gefasst, während sie die kleine grüne, frisch gesprossene Erle vor dem Fenster anschaut und denkt, das bin ich, während ihre Gedanken geliertes, blutiges Mark sind im Leitungssystem ihrer hohlen Oberschenkelknochen und in den gepaarten, leicht gekrümmten Knochen ihrer Unterarme. Er kauert über ihr und sagt mit ehrfurchtsvoll belegter Stimme: »Gottverdammt, Krümel, gottverdammt.« Er legt die Hände auf die stumpfen Hörner ihrer Hüftknochen, auf ihren Bauch, ihr Gesicht. Sie starrt ihn an, ohne zu blinzeln. »Gottverdammt«, sagt er und fährt mit seinen vernarbten Fingerspitzen durch das Gewirr ihrer Haare, und dann dreht er sie um, und sie liegt auf dem Bauch und wartet auf ihn, und sie will es und will es auch wieder nicht. Seine Berührung erweckt ihre Haut zum Leben, und sie schließt es im geheimen Theater ihrer Gedanken ein, wo alles erlaubt ist, ihrer beider Schatten auf dem Laken, ineinander verwoben. Seine Hand fährt an ihrem Bein hinauf, umschließt ihren Po: »Gottverdammt, gottverdammt«, sagt er, und seine Lippen wandern zu den Höckern ihrer Wirbelsäule hinauf, er küsst jeden einzelnen, verharrt auf jedem einzelnen, sein Atem erstickt vor Leidenschaft, und sagt: »Gottverdammt«, und ihre gespreizten Beine geben die Schwärze ihrer Eingeweide frei, und für ihn liegt dort ihre Wahrheit, das weiß sie. Er hebt ihre Haare an und drapiert sie auf dem Kissen, um ihren Nacken freizulegen, und er sagt: »Gottverdammt«, seine Stimme ein heiseres Flüstern, während seine Finger mit den übrig gebliebenen Härchen spielen. Ihr Hals ist gegen das Kissen gedrückt, mit papiernen, nassen Blättern gefüllt, als wäre sie eine kalte Sickerstelle im Herbst und das winterliche Wasser würde durch sie beide hindurchsickern, nach Pfeffer und Kiefernnadeln schmeckend, Eichenblätter und der grüne Geschmack von Wiesengras. Er hält ihren Körper für etwas, das er versteht, und hinterhältigerweise ist er das auch.
Als er schläft, steht sie auf und geht allein durchs Haus, hält sich die angeschwollene Muschi, um die sich lösende Wärme aufzufangen. Sie kauert sich in die Badewanne, betrachtet die kupfernen Armaturen, schöpft das kalte Wasser über ihren Körper, das derbe Spinnengewebe seines Spermas zwischen ihren Fingern, das selbst unter dem laufenden Wasser noch klebt und sich nur zu verdicken scheint. Sie stellt sich an das Porzellanwaschbecken, wäscht sich die Hände, und es sind die Augen ihres Vaters im Spiegel. Sie wäscht sich zu Ende, dreht an dem kreuzförmigen Kupferhahn und blickt in das mandelförmige, weiß durchzogene Blau und die schwarze Pupille, die sich selbstständig weitet und zusammenzieht.
Als sich der Nebel aus dem noch von Tau qualmenden Gras hebt, nimmt Turtle die Remington 870 vom Wandhaken, entriegelt sie und zieht den Verschluss zurück, sodass die grüne Schrotpatrone sichtbar wird. Sie klappt die Flinte zu, legt sie über die Schulter und geht die Treppe hinunter und durch die Hintertür. Es beginnt zu regnen. Die Tropfen prasseln von den Kiefern herab und stehen zitternd auf den Nesselblättern und Schwertfarnen. Sie balanciert über die Balken der hinteren Veranda und steigt den von rauhäutigen Gelbbauchmolchen und Schlangensalamandern wimmelnden Hügel voller modernder Baumstämme hinunter. Ihre Fersen durchbrechen die klebrige Kruste aus Myrtenblättern und wühlen die schwarze Erde auf. Vorsichtig steigt sie in Serpentinen zur Quelle des Slaughterhouse Creek hinunter, wo der Frauenfarn schwarze Stängel und Blätter wie grüne Tränen hat, die Kapuzinerkresse mit ihrem frischen, nassen Kressegeruch in wirren Knäueln herabhängt, die Felsen mit Schnörkeln aus Ackerkraut verziert sind.
Die Quelle entspringt in einem bemoosten Winkel des Berghangs, und das Wasser hat ein Bassin in den gewachsenen Fels gegraben, einen zimmergroßen Brunnen mit kaltem, klarem, nach Eisen schmeckendem Wasser, den verwitterte, mit den Jahren federleicht gewordene Stämme wie ein Strohdach bedecken. Turtle setzt sich auf die Stämme, zieht ihre Kleider aus, legt die Schrotflinte darauf und gleitet mit den Füßen voran in das steinerne Becken – denn hier sucht sie ihren ganz eigenen sonderbaren Trost, und hier empfindet sie ihn als den Trost eines kalten Ortes, von etwas Klarem, Kaltem, Lebendigem. Sie hält den Atem an, lässt sich auf den Grund sinken, zieht die Knie zu den Schultern hoch. Ihre Haare schweben wie Seegras um sie herum, und sie öffnet im Wasser die Augen und schaut nach oben und sieht die sich auf der regengesprenkelten Oberfläche abzeichnenden Umrisse sich aalender Molche mit ihren gespreizten Zehen, ihren rotgoldenen, sich ihr ungeschützt entgegenstreckenden Bäuchen, ihren träge wedelnden Schwänzen. Sie sind gekrümmt, verzerrt, trüb, wie es Dinge unter Wasser sind, und die Kälte tut ihr gut, sie bringt sie zu sich selbst zurück. Sie durchbricht die Oberfläche, zieht sich auf die Baumstämme hoch und fühlt die Wärme zurückkehren, während sie den Wald um sich herum betrachtet.
Sie erhebt sich, steigt den Hügel vorsichtig wieder hinauf und läuft, einen Fuß vor den anderen setzend, im stärker werdenden Regen über die Balken der Veranda und dann in die Küche, wo das schwarzschwänzige Wiesel hochschreckt und aufschaut, eine Pfote über einem Teller voller alter Steakknochen erhoben.
Sie legt die Schrotflinte auf den Tresen, geht zum Kühlschrank, öffnet ihn und steht davor, nass, mit glatt auf ihrem Rücken und vereinzelt an ihrem Gesicht klebenden Haaren. Sie knackt Eier an der Arbeitsplatte auf, zerbricht sie über ihrem Mund und wirft die Schalen in den Komposteimer. Sie hört, wie Martin aus seinem Schlafzimmer kommt und den Flur entlanggeht. Er betritt die Küche und schaut an ihr vorbei durch die offene Küchentür in den Regen. Sie sagt nichts. Sie senkt die Hände auf die Arbeitsplatte und lässt sie dort liegen. Auf der Schrotflinte haben sich Wassertropfen gesammelt. Sie hängen an den geriffelten grünen Patronen im Munitionsetui des Gewehrs. »Also, Krümel«, sagt er und schaut an ihr vorbei. »Also, Krümel.«
Sie stellt den Eierkarton weg. Sie nimmt ein Bier heraus, wirft es ihm zu, und er fängt es auf.
»Zeit, dich zum Bus zu bringen?«
»Du musst nicht mitkommen.«
»Weiß ich.«
»Du musst nicht, Daddy.«
»Das weiß ich, Krümel.«
Sie sagt nichts. Sie steht am Tresen.
Im zunehmenden Regen gehen sie zusammen die Straße entlang. Wasser strömt die Einfahrt hinunter, überzieht die Spurrinnen mit Kiefernnadeln. Sie stehen am Ende der Einfahrt. Am bröckelnden Rand des Asphalts nicken Ruchgras und Plattährengras im Platzregen, Zaunwinde rankt sich an den Halmen hinauf. Sie können den Widerhall des Slaughterhouse Creek in dem Wasserdurchlass unter dem Shoreline Highway hören. Auf dem nickelgrauen Ozean befördern kleine schaumgekrönte Wellen Sahne an die schwarzen Brandungspfeiler.
»Schau dir das Miststück an«, sagt Martin, und sie schaut, ohne zu wissen, was er meint – die Bucht, den Ozean, die Brandungspfeiler, es ist nicht klar. Sie hört den alten Bus schalten, als er um die Kurve biegt. »Pass auf dich auf, Krümel«, sagt Martin düster. Der Bus kommt quietschend zum Stehen und stößt mit einem erschöpften Schnaufen und dem Schmatzen von Gummisäumen seine Türen auf. Martin grüßt die Busfahrerin, die Bierdose über dem Herzen haltend, nüchtern im Angesicht ihres Spotts. Turtle steigt die Treppe hinauf und geht durch den geriffelten, von Flächenleuchten im Boden erhellten Gummikanal, dessen Rillen jetzt mit Regenwasser gefüllt sind, die anderen Gesichter mattweiße Flecken, durcheinandergewürfelt in ihren dunkelgrünen PVC – Sitzbänken. Der Bus legt sich in eine Kurve, und Turtle kippt seitwärts und fällt auf ihren freien Sitz.
Immer, wenn der Bus abbremst, fließt das Wasser unter den Sitzen und durch die Gummirillen des Gangs nach vorn, und die Schüler heben angewidert die Füße. Turtle sitzt da und sieht zu, wie das Wasser unter ihr hindurchläuft und einen pinken Fingernagel mit sich führt, der sich am Stück gelöst hat und kieloben auf dem Strom treibt. Rilke sitzt auf der anderen Seite des Gangs, die Knie an die Rücklehne gedrückt, über ihr Buch gebeugt, eine Haarsträhne zwischen Daumen und Zeigefinger hindurchziehend, bis nur noch ein Fächer aus Haarspitzen übrig ist, ihr roter London-Fog-Mantel noch voller Wassertropfen. Turtle fragt sich, ob Rilke ihn morgens vor der Schule angezogen und gedacht hat: Okay, aber ich muss diesen Mantel gut pflegen. Der Regen ist ungewöhnlich für die Jahreszeit, aber niemand spricht das an. Turtle glaubt, dass sich niemand außer ihrem Daddy Gedanken darüber macht. Sie fragt sich, was Rilke denken würde, könnte sie sehen, wie Turtle nachts unter der nackten Glühbirne in ihrem redwoodgetäfelten Zimmer mit dem auf den Buckhorn Hill hinausgehenden Erkerfenster sitzt, über das zerlegte Gewehr gebeugt, jedes Einzelteil mit Sorgfalt behandelt, und sie fragt sich, wenn Rilke das sehen könnte, würde sie es verstehen? Nein, denkt sie, natürlich nicht. Natürlich würde sie es nicht verstehen. Niemand versteht irgendwen.
Turtle trägt eine alte Levi’s-Jeans über einer schwarzen Wollstrumpfhose von Icebreaker, ein feucht an ihrem Bauch klebendes T-Shirt, ein Flanellhemd, eine viel zu große olivgrüne Armeejacke und eine Baseballkappe mit Mesh-Einsatz. Sie denkt: Ich würde alles dafür geben, du sein zu können. Ich würde alles dafür geben. Aber das stimmt nicht, und Turtle weiß, dass es nicht stimmt.
Rilke sagt: »Deine Jacke gefällt mir echt gut.«
Turtle schaut weg.
Rilke sagt rasch: »Nein, ich meine – sie gefällt mir wirklich. Ich habe so was nicht, weißt du? Nichts in der Art – nichts Cooles, Altes.«
»Danke«, sagt Turtle und zieht die Jacke über die Schultern hoch, zieht die Hände in die Ärmel zurück.
»Du hast so einen Armeeladen-Kurt-Cobain-Look.«
Turtle sagt: »Danke.«
Rilke sagt: »Anna macht dich mit diesen Vokabeltests richtig platt, was?«
»Scheiß auf Anna, diese Scheißnutte«, sagt Turtle. Die Jacke liegt übergroß auf ihren Schultern. Ihre regennassen Hände mit den weißen Knöcheln hat sie zwischen die Schenkel geklemmt. Rilke stößt ein überraschtes Lachen aus, schaut nach vorn in den Gang und dann in die andere Richtung, zum Ende des Busses; ihr Hals ist sehr lang, die Haare fallen in glatten, schwarzen, glänzenden Strähnen an ihr herab. Turtle begreift nicht, wie es so glänzend, so glatt sein, wie es diesen Schimmer haben kann, und dann sieht Rilke wieder zu Turtle herüber, mit leuchtenden Augen, eine Hand auf den Mund gelegt.
»O mein Gott«, sagt Rilke, »o mein Gott.«
Turtle sieht sie an.
»O mein Gott«, sagt Rilke noch einmal und beugt sich verschwörerisch zu ihr herüber. »Das darfst du nicht sagen!«
»Wieso?«, sagt Turtle.
»Anna ist eigentlich echt nett, weißt du«, sagt Rilke, noch immer vorgebeugt.
»Sie ist eine Fotze«, sagt Turtle.
Rilke sagt: »Wollen wir mal was zusammen machen?«
»Nein«, sagt Turtle.
»Okay«, sagt Rilke nach einer Pause. »Danke für das Gespräch«, und sie wendet sich wieder ihrem Buch zu. Turtle schaut woandershin, auf den Sitz vor sich und dann aus dem mit Wasser überzogenen Fenster. Zwei Mädchen stopfen sich eine Glaspfeife. Der Bus zittert und ruckelt. Eher würde ich dich, denkt Turtle, vom Arschloch bis zu deinem kleinen Nuttenhals aufschlitzen, als deine Freundin zu werden. Sie hat ein Kershaw-Zero-Tolerance-Messer, von dem sie den Pocketclip entfernt hat und das sie tief in ihrer Hosentasche trägt. Du Luder, denkt sie, sitzt da mit deinem Nagellack und fährst dir mit den Händen durch die Haare. Sie weiß nicht einmal, warum Rilke das tut. Warum untersucht sie ihre Haarspitzen? Was gibt es da zu sehen? Ich hasse alles an dir, denkt Turtle. Ich hasse es, wie du sprichst. Ich hasse dein nuttiges Stimmchen. Ich höre dich ja kaum mit deinem hohen Quieken. Ich hasse dich, und ich hasse diese glitschige kleine Muschel zwischen deinen Beinen. Turtle sieht Rilke an und denkt: Gottverdammt, sie schaut wirklich ihre Haarspitzen an, als gäbe es da etwas zu sehen.
Als die Glocke zum Essen läutet, geht Turtle mit schmatzenden Stiefeln den Hügel hinunter zum Sportplatz. Die Hände in den Taschen vergraben, watet sie zum Fußballtor hinaus, und der Regen fegt in Böen über das geflutete Spielfeld. Der Wald um das Spielfeld herum ist schwarz vor Regen, die Bäume in der schlechten Erde vertrocknet und knorrig, spindeldürr. Eine Strumpfbandnatter gleitet über das Wasser, in wunderbar schlängelnden Bewegungen, den erhobenen Kopf nach vorn gereckt, schwarz mit langen grünen und kupferfarbenen Linien, einem schmalen gelben Kiefer, schwarzem Gesicht, leuchtenden schwarzen Augen. Sie überquert den überschwemmten Graben und ist verschwunden. Turtle will weg, will durchbrennen. Sie will Strecke machen. Abzuhauen, in den Wald zu gehen heißt, den Zylinder ihres Lebens zu öffnen, zu drehen und wieder zu verschließen. Sie hat es Martin versprochen, hat es versprochen und versprochen und versprochen. Er kann nicht riskieren, sie zu verlieren, aber, denkt Turtle, das wird er auch nicht. Sie weiß nicht alles über diese Wälder, aber sie weiß genug. Sie steht umschlossen auf dem weiten Spielfeld, schaut in den Wald hinaus und denkt: Scheiße. Scheiße.
Die Glocke läutet. Turtle dreht sich um und blickt zurück zur Schule auf dem Hügel über ihr. Flache Gebäude, überdachte Laufgänge, ein Pulk Mittelstufenschüler in Regenmänteln, aus verstopften Fallrohren strömendes Wasser.
Es ist Mitte April, fast zwei Wochen nach dem Treffen mit Anna. Blaubeeren haben den alten Apfelbaum erklommen und sich zu einer wild wuchernden Krone verschlungen. Wachteln stöckeln mit auf und ab hüpfendem Kopfschmuck in nervösen Grüppchen einher, Spatzen und Finken ziehen über den Stämmen ihre Kreise. Sie geht durch den Obstgarten und das mit Pflöcken versehene Himbeerfeld zu Grandpas Wohnwagen. Schimmel ist in Streifen an den Seitenflächen heruntergelaufen. Die Aluminiumabdeckung um die Fenster herum ist mit Moos abgedichtet. Aus Ansammlungen von Laubstreu sprießen Zypressentriebe. Sie hört, wie Rosy, Grandpas alte Dackel-Beagle-Mischlingshündin, sich aufrappelt und zur Tür kommt, sich schüttelt und ihr Halsband klimpern lässt. Dann wird die Tür aufgestoßen, und Grandpa steht im Türrahmen und sagt: »Hallo, Liebchen.«
Sie geht die Stufen hinauf und lehnt das AR – 10 gegen den Türpfosten. Es ist ihr Gewehr, eine Flinte der Marke Lewis Machine & Tool mit einem U.-S.-Optics-Zielfernrohr mit 5- bis 25-facher Vergrößerung und einem Objektivdurchmesser von 44 Millimetern. Sie liebt es, aber es ist so verdammt schwer. Rosy springt mit flatternden Ohren auf und ab.
»Braves Mädchen«, sagt Turtle zu Rosy.
Rosy schüttelt sich aufgeregt und wackelt mit dem Schwanz.
Grandpa lässt sich an dem ausklappbaren Tisch nieder und gießt sich zwei Fingerbreit Jack Daniel’s ein. Turtle setzt sich ihm gegenüber, zieht ihre Sig Sauer aus einem verdeckten Holster in ihren Jeans, nimmt das Magazin heraus und lässt die Pistole mit geöffnetem Verschluss auf dem Tisch liegen, weil Grandpa immer sagt, wenn ein Mann mit seiner Enkelin Cribbage spielt, sollten beide unbewaffnet sein.
Er sagt: »Bist du gekommen, um mit deinem Grandpa Cribbage zu spielen?«
»Ja«, sagt sie.
»Weißt du, warum du so gern Cribbage spielst, Liebchen?«
»Warum, Grandpa?«
»Weil es beim Cribbage um niedere tierische Instinkte geht, Liebchen.«
Sie sieht ihn an und lächelt ein wenig, weil sie keine Ahnung hat, wovon er redet.
»Ach, Liebchen«, sagt er. »Ich ziehe dich nur auf.«
»Ah«, sagt sie, und lässt ihr Lächeln sich über das ganze Gesicht ausbreiten, während sie sich leicht von ihm abwendet und ihren Daumen an die Zähne legt. Es ist ein schönes Gefühl, von Grandpa gehänselt zu werden, auch wenn sie nicht versteht, was er meint.
Er betrachtet die Sig Sauer. Er greift über den Tisch, legt eine Hand darauf, hebt sie hoch. Der Verschluss ist geöffnet, die Kammer liegt frei, und er untersucht sie auf Verunreinigungen, prüft mit einer Fingerkuppe, ob sie ausreichend geschmiert ist, wendet sie im Licht hin und her. »Pflegt dein Daddy die Pistole für dich?«, fragt er.
Sie schüttelt den Kopf.
»Pflegst du sie selbst?«, fragt er.
»Ja.«
Er legt den Fanghebel um und löst den Schlittenfang. Vorsichtig zieht er den Schlitten heraus und inspiziert die Laufschienen.
»Aber du feuerst das Ding nie ab«, sagt er.
Turtle greift sich ein Kartenspiel, schüttelt die Karten aus der Packung, teilt den Stapel in der Mitte, mischt und macht eine Bridge. Die mattierten Karten gleiten mit leichter Reibung übereinander. Sie klopft den Stapel fest auf die Tischplatte.
»Du schießt damit«, sagt er.
»Wieso geht es um niedere tierische Instinkte?«, fragt sie, teilt den Kartenstapel in der Mitte und betrachtet die Hälften in ihren Händen.
»Ach, ich weiß es nicht«, sagt er. »Das sagt man eben so.«
Sie nimmt die Pistole jeden Abend auseinander und reinigt sie mit einer Messingbürste und Baumwollläppchen. Grandpa begutachtet die sauberen, leicht abgenutzten Schienen und setzt dann den Schlitten wieder ein. Seine Finger zittern, als sie ihn gegen die Rückholfeder drücken. Er scheint vergessen zu haben, wie man den Fanghebel betätigt; er sitzt da und betrachtet zögernd die Riegel und Hebel, als würde er sich mit der Pistole nicht mehr zurechtfinden. Turtle weiß nicht, was sie tun soll. Sie sitzt da, die zwei halben Stapel noch in den Händen. Dann findet er den Fanghebel und versucht zweimal vergebens, den schwergängigen Metallgriff zu drehen, bis er ihn schließlich mit zitternden Händen einrasten und den Verschluss langsam nach vorn gleiten lässt. Er legt die Pistole beiseite und sieht Turtle an. Turtle mischt, macht eine Bridge und knallt die Karten vor ihn auf den Tisch.
»Tja«, sagt er. »Du bist nicht dein alter Herr, so viel steht fest.«
»Was?«, fragt Turtle neugierig.
»Ach«, sagt Grandpa, »schon gut, schon gut.«