Mein fettes Glück - Melanie Hauptmanns - E-Book

Mein fettes Glück E-Book

Melanie Hauptmanns

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Beschreibung

„Nimm ab oder ich ziehe aus!“ lautet Hennings Ultimatum, als er Mara im Kloster St. Raphael zur Fastenkur absetzt. Eigentlich träumte die kurvige Schönheit von einer wundervollen Hochzeit. Sie hatte keinen blassen Schimmer davon, optisch nicht mehr in das Leben des frischexaminierten Anwalts zu passen. Doch Flüssignahrung, Sport und Darmreinigungen sind für Mara zu viel und so tritt sie die Flucht aus dem Schweigekloster an. Mit angeknackstem Selbstbewusstsein macht sie sich auf die Suche nach der Liebe, ihrer Karriere und sich selbst. Braucht sie wirklich einen Mann, um Ihr Glück zu finden?

Ein humorvoller und pikanter Roman über die wahre Schönheit des Menschen und das Glück, welches man oft einfach nur ergreifen muss.

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EPUB
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Seitenzahl: 551

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Melanie Hauptmanns

Mein fettes Glück

Roman

 

über die Autorin

Melanie Hauptmanns ist Expertin für Körpervielfalt und mit ihrem Unternehmen Fräulein Kurvig – Deutschlands schönste Kurven, marktführend im Bereich Bodypositivity und Diversitätskommunikation.
„Frauen können so viel mehr, als sich in das enge Muster der Schönheitsindustrie drängen zu lassen“, weiß die Inhaberin einer Plus Size Modelagentur.
Die Autorin schreibt Geschichten, die oft auf wahren Erlebnissen und Begebenheiten beruhen. Sie begeistert und motiviert seit mehr als einem Jahrzehnt Menschen, die beste Version ihrer selbst zu werden.
„Das Schönste an dir… bist du!“ sagt sie nicht nur, sondern vermittelt dies als Coach bei ihren Workshops, als TV Expertin, als Plus Size Model auf dem Catwalk, sowie bei Liveevents als Keynotespeakerin.

 

IMPRESSUM

1. Auflage 2025

© 2025 by hansanord Verlag

Alle Rechte vorbehalten

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages nicht zulässig und strafbar. Das gilt vor allem für Vervielfältigung, Übersetzungen, Mikrofilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN Buch 978-3-947145-91-1

ISBN E-Book 978-3-947145-92-8

Cover | Umschlag: Tobias Prießner

Lektorat: Ursula Schötzig

Für Fragen und Anregungen: [email protected]

Fordern Sie unser Verlagsprogramm an: [email protected]

hansanord Verlag

Johann-Biersack-Str. 9

D 82340 Feldafing

Tel. +49 (0) 8157 9266 280

FAX +49 (0) 8157 9266 282

[email protected]

www.hansanord-verlag.de

Für Greta

(Lesen darfst du es aber erst, wenn du alt genug bist! 😉) 

Inhalt

Kapitel 1 - Am Ende des Weges
Kapitel 2 - Nimm mal ab
Kapitel 3 - Im stillen Kämmerlein
Kapitel 4 - Die Gefangene von St. Raphael
Kapitel 5 - Hunger ist schlimmer als Heimweh
Kapitel 6 - Erntezeit
Kapitel 7 - Leben am Limit
Kapitel 8 - Drogen sind auch keine Lösung
Kapitel 9 - Eine gewichtige Entscheidung
Kapitel 10 - Höhenflug
Kapitel 11 - Das Grauen der Realität
Kapitel 12 - Die Rettung im Altkleidersack
Kapitel 13 - Kellergespräche
Kapitel 14 - Aus alt mach neu
Kapitel 15 - Mir geht ein Licht auf
Kapitel 16 - Einem geschenkten Gaul, schaut nirgendwo hin
Kapitel 17 - Wiedersehen macht Freude
Kapitel 18 - Du Mops, ich Mops … Mopsich?
Kapitel 19 - All meine Mängel
Kapitel 20 - Herzrasen, Mut und andere Katastrophen
Kapitel 21 - Was malt Ruben eigentlich?
Kapitel 22 - Rache ist Mopsich!
Kapitel 23 - Malle ist nicht nur ein Mal in Jahr
Kapitel 24 - Verdammt heiß
Kapitel 25 - Tapetenwechsel
Kapitel 26 - Oh, nein! Oh doch! Oder so!
Kapitel 27 - Say yes to the Dress
Kapitel 28 - Mein Superheld
Kapitel 29 - Paralleluniversum
Kapitel 30 - Auf die Probe gestellt
Kapitel 31 - Der Überfall
Kapitel 32 - Steppenhitze
Kapitel 33 - In den dunklen Ecken
Kapitel 34 - Fehlender Antrieb
Kapitel 35 - Wie Cleopatra
Kapitel 36 - Etwas zu viel
Kapitel 37 - Es kommt oft anders
Kapitel 38 - Mandeleis statt Dubaischokolade
Kapitel 39 - Kleine Träume, groß gedacht
Kapitel 40 - Lambertzkekse
Kapitel 41 - Blutige Sünden
Liebe Leserin, lieber Leser
Danksagung

Kapitel 1 - Am Ende des Weges

Lassen Sie mich diese Geschichte an dem Punkt beginnen, an dem sie hätte enden sollen: am 23 Juli, um 15:54 Uhr. Eine weitere Information, welche die Smartwatch an meinem Handgelenk preisgab, war, dass ich soeben zum vierten Mal meinen grünen Trainingsring geschlossen hatte und somit achtzehn gelaufene Kilometer hinter mir lagen. ACHTZEHN! Lieber Himmel. Ich konnte mich nicht erinnern, jemals so weit gelaufen zu sein. Von meiner Wohnung bis zum Kindergarten, in dem ich arbeitete, waren es zwölf Kilometer. Und selbst diese war ich noch nie zu Fuß gegangen. Einmal hatte ich die Strecke mit dem Fahrrad bestritten. Von da an war das permanent schlechte, zu heiße oder zumindest nicht ganz ideale Wetter dafür verantwortlich, dass ich lieber mit dem Auto fuhr. Meine Bequemlichkeit war es zumindest nicht. Ganz sicher. Manchmal hatte ich nach der Arbeit einen Termin oder mir fiel eine andere Ausrede ein, weshalb ich das schicke schwarze Hollandrad lieber zu Hause vor der Türe stehen ließ, als es gemäß seiner Bestimmung zu nutzen. Drei Monate stand es dort und setzte Flugrost an seinen zahlreichen verchromten Teilen an. Eines Nachts hatte eine vermutlich sportlichere Frau Mitleid und erlöste das gute Stück von seinem Leid, indem sie es einfach mitnahm. Die Versicherung weigerte sich, den Schaden zu regulieren, da ich es nicht ausreichend geschützt hatte, wie sie schrieben. Chronisch pleite, wie ich war, stand der Erwerb eines neuen Gefährts nicht zur Debatte. Somit blieb es bei diesem Versuch, meine Kondition zu steigern. 
Die Frage: »Was tue ich hier eigentlich?« hatte ich mir selbst in den vergangenen knapp fünf Stunden mehrfach gestellt und war immer wieder auf dieselbe Antwort gekommen: Ich reiße mich am Riemen und durchkreuze Hennings Pläne nicht! 
Vor einigen Tagen hatte ich meinen Freund Henning dabei erwischt, wie er in meiner Schmuckschatulle wühlte. Er hatte den Inhalt ausgeschüttet und genauestens angesehen. Zwar versicherte er mir, nur einen seiner Manschettenknöpfe gesucht zu haben, ich hatte jedoch sehr wohl bemerkt, dass einer meiner Ringe fehlte. Vielleicht war er tatsächlich zu einem Geschäftsdinner mit seinen Kollegen eingeladen worden, aber definitiv war es bei dieser Suche um etwas ganz anderes gegangen. Er wollte meine Ringgröße herausfinden. Dieser Verdacht erhärtete sich, als er noch am gleichen Tag ankündigte, dass wir einen Wochenendtrip in die Berge unternehmen würden. Wie romantisch würde ein Heiratsantrag am Kamin einer kleinen Berghütte sein? Henning und ich waren schon seit über neun Jahren ein Paar. Kurz nach der Schule hatte ich ihn bei einem Mittelalterfest kennengelernt. In Gewandung, wie man die zerlumpten Kostüme der dort arbeitenden Menschen nannte, hatte er Honig Met verkauft. Er war mir gleich aufgefallen. Ich mochte sein langes, dunkles Haar und die blauen Augen, die eine solche Wärme ausstrahlten, dass sie mich sofort in ihren Bann zogen. Noch am gleichen Abend verabredeten wir uns zu einem Date und zwei Tage später wurden wir ein Paar. Kurzzeitig hatte ich mich bemüht, ebenfalls eine Leidenschaft für das Mittelalter zu entwickeln, und sah mich auch schon in dem schönen Kleid einer Lady. Jedoch schafften das Übernachten auf Feldbetten, die Suche nach Holz und die kalten Nächte bei mir eher Leiden, als dass Begeisterung aufkam. Heute sah ich ihn selten als Schmied verkleidet bei Festivitäten. Er hatte seine Gewandung gegen Allwetterkleidung getauscht. Und dies waren die guten Tage. Er war zu einem dieser Männer geworden, mit Jogginghosen, die an den Waden eng anlagen, und dazu ein figurbetontes Shirt in schrillen Farben kombinierten. Knapp fünfhundert Meter vor mir wartete er ungeduldig auf mich und brüllte mir etwas entgegen. Ich verstand kein Wort. Der Wind blies mir um die Ohren und meine Fähigkeit, von den Lippen abzulesen, waren eher eingeschränkt ausgebildet. Hätten meine Füße nicht so sehr geschmerzt, wäre ich sicherlich bereit gewesen, einen Moment innezuhalten, um die Aussicht zu genießen. Missmutig blickte ich ins Tal hinab. Unglaublich, dass ich nicht nur eine so weite Strecke gelaufen war, sondern es auch noch in diese Höhe geschafft hatte. Stolz war ich nicht. Viel mehr war ich damit beschäftigt zu überleben. Ich atmete schwer, meine Beine waren unterkühlt, mein Rücken schmerzte unter der Last meines Rucksacks und im Inneren meiner Jacke hatte sich ein tropisch-feuchtes Klima gebildet. Erneut blickte ich auf die klobige Uhr mit dem abgenutzten blauen Band in stiller Hoffnung, sie würde endlich, wie bei meinem Navigationsgerät im Auto, anzeigen: Sie haben Ihr Ziel erreicht. Dies tat sie nicht. Mir fiel jedoch auf, dass sich ihr schmuddeliges Band tief in mein Handgelenk schnürte. Offensichtlich musste es wehtun. Ich spürte jedoch keinen Schmerz. So kam ich schnell zu der Schlussfolgerung, dass es sich um eine klassische Schmerzverlagerung handeln musste. Bei den Belastungen, denen ich gerade standhielt, und dem offensichtlichen, stummen Protest meines Körpers, der mir durch Scherzen an allen möglichen Stellen sagen wollte, ich hätte lieber zu Hause bleiben sollen, konnte es kaum anderes sein. Vielleicht war ich gerade aber auch in dem Zustand, in dem Mütter in der Lage waren, ein Auto anzuheben. Sie entwickelten unmenschliche Kräfte, um ihren Nachwuchs zu retten, die sich im Nachhinein niemand erklären konnte. So etwas hatte ich schon oft gehört. Vermutlich lief das so ähnlich ab wie beim unglaublichen Hulk. Im Film platzte seine Kleidung plötzlich vom Körper und er setzte sich dann mit aller Kraft für das Gute ein. Ja, das klang für mich absolut schlüssig! Ich war mir ganz sicher, mein Körper schüttete gerade alles an Adrenalin aus, was ging, damit ich den nächsten Tag erleben konnte. Überleben war die Devise. Nur nicht stehen bleiben. Die Dämmerung musste ja schließlich auch irgendwann einsetzen und ich konnte nicht auf diesem Berg bleiben. Gab es in Deutschland eigentlich Kojoten? Auf jeden Fall soll es wieder Wölfe geben, hatte ich gelesen. Ich musste an das Buch Wolfsblut denken, welches ich in der Schule gelesen hatte. Eine brutale Erzählung eines hungrigen Wolfsrudels, welches sich Nacht für Nacht erst die Hunde zweier Wanderer holten, bis sie die dazugehörigen Menschen ebenfalls auf ihren Speiseplan setzten. 
Auch wenn mein Handgelenk nicht schmerzte, es sah brutal schmerzend aus und konnte so nicht bleiben. Verletzungen bei Wanderungen waren sicherlich nicht selten, überlegte ich. Hatte Reinhold Messner beim Erklimmen des Mount Everest nicht einige Zehen verloren? Ihm war es vermutlich ähnlich ergangen wie mir. Etwas höher und etwas weiter zwar, aber ich möchte nicht päpstlicher sein als der Papst selbst. Er hatte auch überlebt. 
Also Messner, nicht der Papst. Ich wollte meine verfaulte Hand jedoch nicht in einem Tuch heimtragen. Deshalb entschied ich mich, die Uhr abzulegen. Ich stellte mich auf eine Diskussion darüber ein. Henning würde sich über die fehlenden Daten und die somit nicht korrekt lesbare Analyse meiner Leistung des heutigen Tages ärgern. Zumindest tat er es immer, wenn er diese Daten für sich selbst nicht hatte. Mich hatte er noch nie analysieren wollen oder vielmehr können. Denn seine neue Leidenschaft für Sport teilten wir noch weniger als sein Mittelalterfaible. Henning, der neue Outdoor Masochist, hatte das Band absichtlich so fest angelegt, damit ich oder vielmehr er sehen konnte, wie hoch mein Puls ging. »Nur bei einer guten Herz-Kreislauf-Frequenz ist auch die Fettverbrennung optimal!«, hatte er mir vor einigen Stunden am Parkplatz zugerufen und war bepackt mit seinem neuen, grau-grünen Trekkingrucksack losgelaufen. Er sprach zwar weiter, aber das Einzige, was ich noch hörte, war: »Dieser Wert sollte 60 bis 70 Prozent über der maximalen Herzfrequenz liegen. Frauen rechnen dafür einfach 226 minus ihres jeweiligen Alters. Männer subtrahieren …«, und dann konnte ich ihn schon nicht mehr verstehen, weil er ein Tempo vorlegte, bei dem ich nicht im Ansatz mithalten konnte. 
»Meine Güte, Mara, das wird aber auch Zeit. Beweg dich mal!«, schimpfte Henning, als ich endlich bei ihm ankam. Er reichte mir eine Flasche Wasser. So eine, die Leitungswasser beinhaltete, die aber am Aufsatz einen Aromaspender hatte, damit man dem Gehirn vorgaukeln konnte, es würde sich um ein leckeres, fruchtiges Getränk handeln. Mein Gehirn funktionierte so nicht. Es wusste genau, dass es sich nur um Wasser handelte. Deshalb wollte mein Gaumen partout nicht den Geschmack der Wildkirsche wahrnehmen, den der sogenannte Aroma Pod verströmte. Dies spielte in diesem Moment jedoch keine Rolle. Mein Hals war trocken und ich hätte Brackwasser getrunken, um eine Erlösung zu spüren. Wortlos warf ich Henning seine Apple Watch entgegen. Dabei sprach ich kein Wort. Abwechselnd trank ich und schnappte nach Luft. Henning sah mich verständnislos an. Ihm war kein Zeichen der Anstrengung anzusehen. Die Temperaturen waren zwar viel zu kühl für diese Jahreszeit, jedoch konnte kein Mensch nach einer solchen Wanderung so frisch aussehen wie er. Und doch tat er es. Eine Strähne seines Haars, welches ich so liebte, wehte durch sein Gesicht. Er nahm sie und steckte sie sich hinters Ohr, so wie er es immer tat. Ich lächelte ihn an und er erwiderte es, küsste mich auf die Nase und sagte: »Ich bin stolz auf dich!« 
»Darauf, dass ich bis hierhin überlebt habe?«, fragte ich und lachte atemlos. »Nee, dass du mitgemacht hast. Ich weiß, dass du nicht gerne läufst. Aber der Ausblick und dieses Wochenende sind es wert. Vertraue mir.« Er nahm mich in seine muskulösen Arme und drückte mich fest an sich. Ich erwiderte seine Umarmung. Nach wie vor fühlte er sich für mich fremd an. Seitdem er über 40 Kilogramm durch einen Magenballon abgenommen hatte, der für knapp ein Jahr in seinem Gedärm herumwaberte und verhinderte, dass er eine normale Portion essen konnte, hatte er mit Sport begonnen. Sein Körper war nicht nur massiv erschlankt, sondern fühlte sich ganz anders an, als ich es gewohnt war. Früher hatte ich seine Muskeln nur an seiner Stärke erlebt, heute konnte ich sie fühlen und auch sehen. Ich freute mich für ihn. Ich wusste, dass seine massive Gewichtszunahme in der Corona-Pandemie nicht nur stark auf seinem Körper, sondern auf seiner Psyche gelastet hatte. Gerade deshalb unterstützte ich ihn auch bei seinem Vorhaben. Jedoch waren die Veränderungen in seinem Essverhalten nur der Anfang. Seine, beziehungsweise seit Kurzem unsere Wohnung füllte sich nach und nach mit Walking-Stöcken, Hanteln, Stretchbändern und sogar ein Rennrad stand seit Neuestem in unserem Flur. Ich blickte an mir herab. Am unteren Ende meines linken Schienbeins sah ich, in schmerzender Erinnerung, die mittlerweile zweite Narbe, die noch stark gerötet unter meiner magentafarbenen Leggings hervorlugte. Zigmal war ich schon gegen die Pedale besagten Fahrrads gelaufen und hatte mich verletzt. Jede Diskussion darüber war jedoch überflüssig. Wir hatten keinen Keller und er wollte nicht, dass sein teures Gefährt das gleiche Schicksal erlitt wie mein schönes Hollandrad. Dagegen hatte ich kein Argument und manövrierte mich fortan durch den eh schon viel zu engen Flur an seinem teuren Rennrad vorbei. Ich bewunderte ihn für seinen eisernen Willen. Auch ich war mehrgewichtig und zwanzig Kilo weniger auf meinen Rippen würden sicherlich besonders meinem Arzt gefallen, der mir bei jedem Besuch sagte, dass sämtliche Wehwehchen mit meinem zu hohem Gewicht in Verbindung standen. Mein Heuschnupfen übrigens auch. Die Ernährung umzustellen, oder sagen wir, mich damit anzufreunden, mehr Gemüse und kaum noch Kohlenhydrate zu essen, war im Bereich des Möglichen gewesen. Auch wenn ich zugeben muss, oft gemogelt zu haben. Mich aber mit Sport anzufreunden war gar nicht möglich. Ich hatte es versucht. Ich liebte es, schwimmen zu gehen. Aber ich verstehe unter Schwimmen halt auch ein paar Bahnen zu schwimmen, viel zu schnell die Wasserrutsche runterzurasen und dann im Whirlpool zu relaxen. Vierzig Bahnen schwimmen entsprach nicht meiner Vorstellung von einem schönen Besuch in einem Schwimmbad. So nahm Hennig Kilo um Kilo ab und ich behielt meine alte, aber, wie ich finde, schön proportionierte Figur. 
»Was sagt denn deine Uhr?«, fragte er mehr sich selbst, als er mich losließ und die Smartwatch begutachtete. »Nicht schlecht!« war sein fachkompetentes Resümee, nachdem er meine PulsAnalyse durchgegangen war. »Ich habe eine Überraschung für dich!« Henning strahlte übers ganze Gesicht. »Ja?«, fragte ich und sah ihn erwartungsvoll an, als er ein kleines Kästchen aus der Tasche zog. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Da war er also, der große Moment, von dem ich noch unseren Enkelkindern erzählen würde. Ich nahm die Schachtel und öffnete sie. Mit zitternden Händen hielt ich sie und versuchte viele unterschiedliche Gefühle zu sortieren. Wir waren so lange zusammen und mir war klar, dass Henning der Mann war, mit dem ich alt werden wollte. Meine Wanderung war fast schon vergessen, würde aber ganz sicher ein Highlight bei der Präsentation unserer Verlobungsgeschichte beim nächsten Familienfest werden. Sicherlich hatte er dies genau so vorgesehen. Jedoch vermischten sich in diesem Moment auch Erstaunen und Enttäuschung in meine Gefühlswelt. Der Ring in der Schachtel entsprach gar nicht meiner Vorstellung eines Verlobungsrings. Er war breit und weder Gold noch Silber. Nicht einmal ein Rosé Gold. Er war grau. In der Mitte befand sich ein klobiger, dunkler Stein. Irgendwie erinnerte er mich an einen Verbindungsring, wie er in amerikanischen Filmen getragen wurde. Ich sah ihn erstaunt an. Dann blickte ich wieder auf den Ring. »Gefällt er dir?«, fragte er und seine Freunde war ihm anzusehen. »Nein!«, wollte ich sagen und ihm die Schachtel zurückgeben. Konnte es nach so vielen Jahren wirklich sein, dass er meinen Geschmack nicht einschätzen konnte? Hätte er nicht wenigstens Steffi oder Lena, meine beiden besten Freundinnen, zu Rate ziehen können? Ich war unter Einsatz meines Lebens achtzehn Kilometer gelaufen, um ihm diesen so gut geplanten Moment zu ermöglichen. Mist, warum hatte ich einen pädagogischen Beruf erlernen müssen? Manchmal hätte ich gerne einfach gesagt, was ich dachte. Aber so etwas war mir unmöglich, ohne empathisch die Gefühle des anderen zu bedenken. Ich wollte ihm diesen Moment nicht zerstören. Vielleicht konnte man den Ring später durch einen anderen ersetzen, überlegte ich. Die Eheringe werden wir definitiv zusammen aussuchen, stand zu diesem Zeitpunkt fest. »Er misst auch deinen Puls!«, sagte Henning begeistert. »Wer?«, fragte ich wiederum etwas verwirrt. »Na, der Ring.« Ich brauchte einen kurzen Moment, um meine Gedanken zu sortieren. 
»Mein Verlobungsring?« 
»Quatsch, das ist ein Smart-Ring. Ich weiß doch, dass du keine Uhren magst. Aber wie du heute gesehen hast, sind die Daten, die dabei aufgezeichnet werden, mega nützlich. Du kannst auf dem Ring ablesen, wie deine Pulsfrequenz ist, wie weit du gelaufen bist, ob du dein Stehziel erreicht hast, und du kannst auch dokumentieren, wie viele Kalorien du zu dir genommen hast. Er verbindet sich auch mit deinem Handy. Da hast du dann natürlich eine viel bessere Übersicht. Mit Grafiken und so. Der Ring kann auch noch viel mehr. Fürs Erste reichen diese Funktionen aber. Mit dem Handy kannst du übrigens den Code von sämtlichen Lebensmitteln abscannen.« Er zog sein iPhone aus der Tasche und ahmte die Bewegung einer Kassiererin beim örtlichen Baumarkt nach. »Einfach einscannen, was du isst, und ab dafür. Das Programm rechnet dir dann ganz schnell um, wie viele Kalorien du an dem Tag noch zu dir nehmen kannst. Der Rest funktioniert von ganz allein. Super, oder?« Er tippte auf den Ring und der Stein in der Mitte entpuppte sich als winziges Display. Blaue Zahlen blinkten mir entgegen. Gelaufene Distanz: 0,00 km. »Aha!«, antwortete ich, weil es mir tatsächlich gerade die Sprache verschlagen hatte. »Ich habe auch einen. Und das Beste ist, dass ich uns beide schon miteinander verbunden habe. So können wir uns gegenseitig sportlich herausfordern oder ich kann dir auch liebevollen Druck machen, wenn du dich zu wenig bewegst«, versuchte er weiterhin diesen absurd hässlichen Ring anzupreisen. »Das ist ja großartig!«, log ich, mit einem leicht sarkastischen Unterton. Eigentlich war dies nicht mal eine Lüge. Es war ein Füllsatz. Also einer dieser Sätze, die man sagt, um Zeit zu gewinnen, sich selbst und seine Gedanken zu sortieren. In Reden von anderen Menschen hört man dies oft als »ähhhm« oder »mmmmh«. Also einem Fülllaut. In diesem Fall reichte ein Laut nicht aus. Ich brauchte einen Satz, um diese Informationen zu verdauen. 
»Und jetzt kommt’s!« Henning strahlte vor Begeisterung. Das Leuchten in seinen Augen hatte ich zuletzt gesehen, als er sein zweites Staatsexamen bestanden hatte. »Aha«, antwortete ich erneut. Mit einer ausladenden Geste holte er aus. Ich folgte seinem Arm und mein Blick landete auf einer Kirche. Mein Gehirn kombinierte blitzschnell: Wir heiraten jetzt sofort? Nee, das hatte ich mir ganz anders vorgestellt. Ich wollte ein rauschendes Fest mit all unseren Freunden. Ein traumhaftes Brautkleid durfte nicht fehlen. Ich heirate doch nicht in einer Leggings und einer viel zu engen Jack Wolfskin Jacke. Kommt gar nicht in Frage! Und wo war denn mein Junggesellinnenabend geblieben? Nein, seine Planung in aller Ehre. Aber so wollte und konnte ich auf keinen Fall heiraten. »Henning, das ist wirklich eine wunderschöne Idee. Aber hatten wir nicht gesagt, dass wir uns eine Band wünschen und einen Foodtruck für unsere Gäste bestellen wollen?« Nun sah Henning etwas überrascht aus. »Wovon redest du?«, fragte er schließlich. »Von unserer Hochzeit.« Er lachte auf. »Wir heiraten heute nicht. Das ist ein Kloster. Da kann man Urlaub machen. Komm mit!«, sagte er und lief wieder los. Ich bemühte mich, Schritt zu halten. Immerhin gab es für mich einiges an Klärungsbedarf. Aber so sehr ich mich auch anstrengte, er kam mit seinen langen Beinen und seiner neugewonnenen Kondition zu schnell voran. Ich konnte einfach nicht mithalten. So fluchte ich über mich selbst und wünschte mir von ganzem Herzen, doch nur etwas sportlicher zu sein. Einfach losrennen, um ihn wieder einzuholen und zur Rede stellen zu können, wäre jetzt ideal gewesen. Aber dies war mir nicht möglich. Ich schnappte schnell wieder nach Luft, mein Herz raste und mein Hals wurde trocken. Nach circa einem Kilometer unbefestigtem Weg kam ich endlich vor einem großen Tor zum Stehen. Henning hatte auf mich gewartet und zog an einem Seil. Eine schmiedeeiserne Glocke setzte sich in Bewegung und sogleich ertönte ein lauter Ton. Vor Schreck fuhr ich zusammen. »Henning!«, japste ich. »Nur damit ich das richtig verstehe: Sind wir verlobt?«
»Nein, wie kommst du darauf? Ich wusste nicht, dass du das überhaupt möchtest«, antwortete er sanft. »Wie? Wir haben doch schon so oft über unsere imaginäre Hochzeit gesprochen. Im Grunde ist doch alles schon geplant.« 
»Ja, aber das war doch vorher.« 
»Vor was?«, fragte ich. »Bevor ich ein neuer Mensch geworden bin. Du musst zugeben, dass unsere Lebensumstände nicht mehr so viele Übereinstimmungen haben. Deswegen sind wir ja hier.« 
»Für was?«
»Ich liebe es, dass du eine unabhängige Frau bist, die auch ohne mich ihren Weg geht. Aber wir haben kaum noch was gemein«, erklärte er. 
»Ich weiß gar nicht, wovon du sprichst. Wir waren nie ein Paar, das es nur zu zweit gab. Du hattest immer schon deine Freunde und ich meine. Ganz oft kamen beide Gruppen zusammen und hatten viel Spaß. Das war doch nie ein Problem.« 
»Und, um ehrlich zu sein, meine ich, dass wir optisch nicht mehr zueinander passen«, sprach er weiter. Es waren nur Worte. Aber sie fühlten sich an, als ob er nicht nur mit einem Zaunpfahl gewunken hatte, sondern als ob er mir einen ganzen Lattenzaun gegen den Kopf schleuderte. »Pass auf, wir sind so lange zusammen und ich liebe dich. Ich brauche jedoch auch eine Frau an meiner Seite, die zu mir passt. Wenn dieses Anwaltsdinner zum Beispiel ist, dann gehe ich mit dir hin und alle anderen mit ihren Gattinnen.«
»Und?«
»Häschen, das sind allesamt Frauen, die sehr auf sich und ihre Figur achten. Die Frau von meinem Chef zum Beispiel …«
»Du denkst, ich bin zu fett, um dich zu diesem Dinner zu begleiten?«, kombinierte ich seine Worte und schrie ihn dabei fast schon an, als sich das Portal zum Kloster öffnete und uns zwei Nonnen entgegentraten. »Ich glaube, du solltest etwas für dich tun und versuchen ebenfalls einen Wandel zu durchlaufen. Einfach mal an deinem Mindset arbeiten. Das ist gut für deine Persönlichkeitsentwicklung und auch für deine Gesundheit. Ich sag ja nicht, wir trennen uns. Aber ich möchte versuchen, alles zum Besseren für uns zu wandeln.« 
»Indem ich mich verändern muss?« 
»Ich glaube nicht, dass diese Diskussion etwas bringt. Du hast ein langes Wochenende für dich hier. Ich habe dein Zimmer bis einschließlich Montag gebucht. Deine Kollegen wissen Bescheid. Ich hole dich gegen Mittag wieder ab«, sagte er, drehte sich um und marschierte den Weg hinunter. Ich warf meinen Rucksack ab und lief ihm ein paar Schritte hinterher. »Wo gehst du hin?«, schrie ich. Ohne sich umzudrehen, antwortete er: »Das ist deine Reise zu dir selbst. Da würde ich nur stören. Bis Montag!« 

Kapitel 2 - Nimm mal ab

Wie ich schon geschrieben habe, beginnt dieses Buch an der Stelle, an der es hätte enden sollten. Ein Happy End im Sonnenuntergang war, was ich erwartet hatte. Ein liebendes Paar, welches sich dazu entschließt, sein Leben miteinander zu verbringen, hatte ich gewollt. Richtig kitschig und meinetwegen mit allen Klischees wie Tränen, Umarmungen und was so alles dazugehört. Nun stand ich allein auf einem Schotterweg und blickte dem Mann nach, der mir soeben gestanden hatte, dass ich ihm peinlich war. 
Ja, ich war mehrgewichtig. Von mir aus beschreiben wir mich auch als fett. Das wäre nicht das erste Mal in meinem Leben, dass mich jemand so beschimpft. Dies hatte mich mein ganzes Leben begleitet und mich in vielen Situationen belastet. Besonders in der Schule, als mir andere Kinder »Fette Sau, nimm mal ab« oder dergleichen hinterhergeschrien hatten. Es gab kaum eine Diät, die ich nicht ausprobiert hatte. Sie waren zwar meist von kurzzeitigem Erfolg gekrönt, sorgten jedoch mit einer kalkulierbaren Zuverlässigkeit für einen Jo-Jo-Effekt. So zeigte das Endergebnis stets zwei bis drei Kilo mehr auf der Wage und sorgte für Frust und Traurigkeit bei mir. Mit Mitte zwanzig hatte ich mich entschieden, diesen Kreislauf zu durchbrechen und mich endlich so zu akzeptieren, wie ich war. Dies war ein langer Weg, und ich hatte dazu hart an mir gearbeitet. Heute konnte ich sagen: Ich mag mich! An den meisten Tagen konnte ich sogar behaupten, dass ich Liebe für mich und meinen Körper empfand. Mit wenigen Worten hatte Henning geschafft, mein altes Körpergefühl zurückzuholen. Es war eine Mischung aus Schuld, Traurigkeit und Selbsthass. Dieser Cocktail an Empfindungen schoss durch mich hindurch wie ein Blitz und riss mich aus meiner Erstarrung. »Spinnst du?«, schrie ich und war mir nicht ganz sicher, ob ich Henning oder mich selbst meinte. Ich war nicht bereit, mich von jemanden so behandeln zu lassen. Vor allem nicht von mir selbst. Ich würde jetzt nicht wieder an meinem Wert zweifeln und die Schuld bei mir und meinem Körper suchen. Wenn er sich nicht traute, mit mir als draller Schönheit und seinen großartigen Anwaltskollegen zu speisen, dann eben nicht. Das sagt doch auch viel mehr über ihn als über mich aus. »Ich verbiege mich für niemanden. Besonders nicht für dich!« Henning konnte mich längst nicht mehr hören. Ich warf ihm das Kästchen mit dem Ring hinterher, verfehlte ihn aber bei Weitem. Besonders ernüchterte mich, dass er kein einziges Mal zurückblickte. Eiskalt ging er weiter. Offensichtlich nahm unsere Lovestory eine drastische Wendung. Und diese war keine von diesen Rosamunde Pilcher Struggles, die schon am Anfang des Filmes absehbar waren; Mann und Frau verlieben sich, haben eine schön Zeit, ein Missverständnis bringt alles ins Wanken und am Ende die große Versöhnung. Er hatte mich auf dem Mount Everest oder wie auch immer dieser verdammte Berg hieß, stehen lassen. Wie einen Hund, den verantwortungslose Menschen aussetzen, wenn er Schwierigkeiten macht oder die Urlaubspläne durchkreuzt. »Hat der sie eigentlich noch alle!«, fluchte ich laut. Dennoch überlegte ich kurz, ihm zu folgen. Ich wollte nicht allein in einem Kloster sitzen und meine Persönlichkeit entwickeln. Was sollte das überhaupt bedeuten? Erwartete er ernsthaft, dass ich drei Tage lang auf irgendeiner Yogamatte abhing und vor mich hin meditierte? Womöglich würde so ein freakiger Guru irgendein esoterisches Zeug vor sich hin brabbeln und mich dabei mit Räucherstäbchen benebeln. Nein, auf gar keinen Fall! 
Aber welche Alternative hatte ich? Wenn ich ihm nun hinterherlief, was Ansicht schon ein absolutes No-Go war, dann würde ich eh nicht Schritt halten können. Er war viel schneller als ich. Vermutlich schaffte er die Strecke in deutlich kürzerer Zeit. Wenn ich unten ankommen würde, wäre er mit dem Auto schon auf und davon. Ich konnte mich zwar nicht genau erinnern, aber das letzte Zeichen von Zivilisation, welches ich auf der Fahrt zum Parkplatz wahrgenommen hatte, war eine Tankstelle, circa zwanzig bis dreißig Fahrminuten entfernt. Ich würde auf jeden Fall in die Dunkelheit kommen. Verdammt, ich musste dringend recherchieren, wie das mit Wildtieren in der Gegend war. Eigentlich spielte selbst das keine Rolle. Ob es in den Nachrichten nun hieß: »Eine junge Frau wurde zerfleischt aufgefunden. Vermutlich wurde sie von einem Rudel Kojoten angegriffen«, oder ob die Spezies als Wolf, Puma oder Wildschwein bezeichnet wurde, konnte mir dann auch gleichgültig sein. Wie auch immer: Heute konnte ich hier nicht mehr weg! 
Ich drehte mich um und blickte auf das Kloster. Die Nonnen standen nach wie vor am Eingangstor und schienen auf mich zu warten. Resigniert ging ich auf sie zu, hob unterwegs meinen Rucksack auf und bemühte mich um ein Lächeln. »Hallo. Es scheint, als sei ein Zimmer für mich reserviert worden«, sagte ich. Die Ordensschwestern nickten und baten mich mit einer Handbewegung hinein. Offensichtlich waren sie von den Umständen genauso schockiert wie ich, denn sie sprachen kein Wort, während ich ihnen durch viele dunkle Gänge dieses Klosters folgte. Das Gemäuer strahlte eine angenehme Kühle aus. Eine elektrische Beleuchtung gab es nicht. Lediglich das Sonnenlicht, welches durch mehrere Nischen in die Gänge strahlte, sorgten für eine ausreichende Sichtweite. Die Ordensschwestern schienen keine Eile zu haben und leiteten mich eher gemächlich durch den Bau. Wir gingen durch einen Torbogen und durchquerten einen Garten, in dem Obst und Gemüse angebaut wurde. Ein großer Kirschbaum stand in der Mitte. Er war prall gefüllt mit leuchtend roten Früchten. Eine Nonne stand auf einer Leiter, die von einem Jungen gehalten wurde. Auf der Bank neben ihnen standen zwei Weidenkörbe, die mit Kirschen gefüllt worden waren. Eine weitere Schwester kniete vor einem Beet. Bedacht pflückte sie eine Gurke nach der anderen von den am Boden wachsenden Ranken, strich die Erde mit ihren Händen, an denen sie grüne Handschuhe trug, ab und legte sie liebevoll in eine Holzkiste. Mir schien es, als ob die Zeit hier anders vergehen würde, als ich es gewohnt war. Viel langsamer und vor allem bedachter. Es bot sich mir ein Bild, welches ich so noch nie erlebt hatte. Ich hörte die Vögel zwitschern und eine Hummel brummte an mir vorbei, um dann auf einer der vielen Sonnenblumen am Rande des Gartenweges zu landen. 
Wir schritten durch ein weiteres Tor und bogen dann links wieder in einen der Gänge ein, die den letzten sehr ähnlich waren. Vor einer Tür endete unser gemeinsamer Weg. Eine der beiden Nonnen klopfte. »Ja, bitte«, hörte ich eine Stimme. Die Türe wurde mir geöffnet. Ich zögerte einen Moment. Da war er, der Duft von Räucherstäbchen. Ich hatte also das Büro des Gurus erreicht. Eine meiner Begleiterinnen bedeutete, dass ich eintreten solle. Ich folgte ihrer Aufforderung. 
Eine Nonne, die an einem Schreibtisch saß, erhob sich und kam auf mich zu. »Mara, es ist so schön, Sie bei uns zu haben Herzlich willkommen im Kloster St. Raphael.«, begrüßte sie mich. Ich korrigierte meine Vermutung und ordnete den schweren Geruch in die Kategorie Weihrauch ein. Ob das nicht eh das Gleiche war? Die Nonne nahm meinen Kopf in ihre Hände und küsste meine Stirn. Sie war um einiges größer als ich, hatte eine schlanke Figur, welche von ihrem schwarzen Habit verhüllt wurde. Auf dem Kopf trug sie einen Klobuk, die klassische schwarzweiße Kopfbedeckung, die auch die anderen Nonnen getragen hatten. Da ich in einem katholischen Kindergarten arbeitete, kannte ich mich etwas mit den Gebräuchen der Kirche aus und erkannte auch gleich die drei Knoten an ihrem weißen Gürtel, dem Zingulum. Diese stehen für die Gelübde der Ordensleute: Keuschheit, Gehorsam und Armut. Genau diese wären der erste Hinderungsgrund für mich gewesen, eine Karriere als Nonne anzustreben. Natürlich hatte ich nie darüber nachgedacht, dies wirklich zu tun, dennoch fragte ich mich, ob es eine Art Karriere bei Nonnen überhaupt gab. Es erschien mir nicht schlüssig. Jedoch schien diese Ordensschwester einen höheren Rang zu haben als die anderen. Auch dies kam auf meine innere Liste der zu recherchierenden Dinge. »Ich bin Schwester Nicole«, sagte sie in einem fast schon singenden Ton. Sie erschien mir sehr sympathisch und ich hatte das Gefühl, meine Lage mit ihr besprechen zu können. »Vielen Dank, Schwester Nicole«, antwortete ich und fuhr fort. »Mein Aufenthalt kommt etwas überraschend für mich. Um ganz ehrlich zu sein, möchte ich auch nicht bis Montag bleiben. Würden Sie mir ein Taxi rufen, damit es mich zum nächsten Bahnhof bringt?«, fragte ich, als sie wieder hinter ihrem Schreibtisch Platz nahm. »Wir haben hier leider keine Taxis, liebe Mara«, antwortete sie mit einem gewinnenden Lächeln. »Sicherlich bekommen Sie Lebensmittel geliefert. Irgendwie müssen doch Autos hier hochkommen.« 
»Ja, einmal im Monat werden tatsächlich einige Lebensmittel und Produkte des täglichen Lebens geliefert. Da wir einen Großteil unseres Bedarfs selbst anbauen, ist dies nicht so häufig nötig. Die nächste Lieferung kommt am …«, sie blätterte in einem Kalender, der auf ihrem Schreibtisch lag, »… achten August.«
»Sie müssen doch ab und an zum Arzt oder Dinge in der Stadt erledigen. Sicherlich haben Sie ein Auto, nicht wahr? Ist es Ihnen möglich, mich damit zu fahren?«, fragte ich sofort nach. »Leider nein. Schwester Inga ist damit auf einem Seminar in Schweinfurt. Sie kommt erst am Sonntag wieder. Selbstverständlich können wir dich dann, sofern du noch möchtest, zum Bahnhof bringen.« Ich ließ mich nach hinten fallen und landete sanft in der Rückenlehne des altmodischen Sessels, auf dem ich Platz genommen hatte. Das Büro von Schwester Nicole hatte den Charme der 70er. Nicht im Hippie Style. Eher so wie alte Menschen in den 70er-Jahren eingerichtet waren. Die Möbel, also der Schreibtisch und zwei Regale, waren aus massivem Eichenholz gefertigt worden und mit aufwendigen Verzierungen bestückt. Sie zeigten kirchliche Symbole und florale Elemente. Die Bezüge der beiden Sessel vor dem Schreibtisch waren aus Brokat Stoff gefertigt, sofern ich dies beurteilen konnte. Sie waren in Braun- und Grüntönen gehalten und zeigten Szenen aus der Bibel. Zumindest erschien es mir so, ohne die Stickereien genau zu untersuchen. Ein schwerer Teppich lag unter meinen Füßen. Das einzige Element, welches verriet, mich in den 2020ern zu befinden, war Schwester Nicoles Schreibtischstuhl. Es war ein klassischer Drehsessel. Schwarz, schlicht und aus einem atmungsaktiven Material. »Du kannst natürlich zu Fuß den Berg hinabsteigen. Aber Mara, das möchte ich dir wirklich nicht empfehlen. Es soll heute Abend gewittern und bis zum Bahnhof läufst du sicherlich noch einmal zwei Stunden durch den Wald und dann über die Landstraße. Bitte bleibe zumindest bis Sonntag und wir bringen dich dann sehr gerne in die Stadt.« 
»Also gut. Ich bleibe heute Nacht. Ob ich laufe oder noch länger bleibe, entscheide ich dann morgen«, antwortete ich nach langer Überlegung. Nicht nur der Fußmarsch und die wilden Tiere schreckten mich ab, den Weg eigenständig in Angriff zu nehmen. Vor allem war ich müde und ich merkte, wie mein Magen grummelte. Seit dem Frühstück hatte ich nichts mehr gegessen. Um das Gewicht meines Rucksacks so gering wie möglich zu halten, hatte ich nur eine Packung Erdnüsse zwischen meine Kleidung und den wenigen kosmetischen Artikeln gepackt. Diese hatte ich zwar noch nicht gesnackt, aber als Hauptgericht zog ich eh etwas anderes vor. Selbst an Getränke hätte ich nicht gedacht, wenn Henning mich nicht auf ihre Notwendigkeit hingewiesen hätte. »Das ist wunderbar«, antwortete Schwester Nicole. 
»Dann mache ich dich mit unseren Hausregeln bekannt.« 
Hervorragend! Selbstverständlich gab es Hausregeln. Ich erinnerte mich schlagartig an die vielen Klassenfahrten, die ich in der Schule unternommen hatte. Auch die Landschulheime, in denen wir mehrere Tage verbrachten, hatten Regeln und diese waren überall gleich: Ab 22 Uhr sollte das Licht aus sein, auf den Gängen wurde nicht gerannt und Süßigkeiten im Zimmer waren verboten. 
Wenn ich von Schwester Nicole einem Mehrpersonenzimmer zugeteilt werden würde und sie erwartete, dass ich in einem Etagenbett mit fünf anderen Gästen schlafe, werde ich definitiv doch den Fußmarsch in Kauf nehmen und noch heute abreisen, entschied ich kurzfristig und bereitete mich auf das Schlimmste vor. Ich hoffte jedoch, dass es nicht so weit kommen würde. Meine Wünsche waren klein. Ich wollte nur eine Dusche und ein leckeres Essen. Damit wäre ich fürs Erste zufrieden. Lieber Gott, bitte tue mir heute wenigstens diesen Gefallen!, dachte ich und überlegte, dass ich vermutlich nie näher bei unserem Herrn gewesen war. Unserem Herrn … wie kam ich denn auf dieses Wort? Ich arbeitete zwar in einer katholischen Einrichtung, besonders gläubig war ich jedoch nie gewesen. Das musste die Umgebung sein, die jetzt schon auf mich abfärbte. »Wir hier im Kloster glauben an die Gleichheit der Menschen. Deswegen tragen auch unsere Gäste ein einheitliches Gewand«, erklärte Schwester Nicole und überreichte mir einen Packen an Kleidungsstücken in verschiedenen Brauntönen, die sie aus einem Regal hinter ihr zog. Ein Zettel mit meinem Namen war unter einer Schleife aus einer festen Kordel befestigt worden. »Wird mir das passen?«, fragte ich besorgt. Bisher waren alle Schwestern, die ich gesehen hatte, schlank und ich hatte die Sorge, wie in so vielen Momenten meines Lebens, dass die angebotene Kleidung weder über meine Hüften noch über meinen Po rutschen würde. So war ich zum Beispiel schon so oft in einem Spa gewesen. Dort wurde mir tatsächlich noch nie ein Bademantel angeboten, den ich schließen konnte. Selbstverständlich fragte ich immer nach einer großen Größe, aber selbst die dort angebotenen XXL-Mäntel hatte weder meinen Busen noch mein Bauch bedeckt. Die Bloßstellung, mir dies selbst einzugestehen, war schlimm genug. Aber wenn diese so öffentlich war wie in einer Sauna oder einem Spa, sah ich den Blicken der anderen Menschen gleich ihre Gedanken an: Ach guck, die ist zu dick für das Kleidungsstück! Einmal hatte ich einen eigenen Bademantel dabeigehabt und wurde vom Personal darauf hingewiesen, dass dies aus hygienischen Gründen nicht erlaubt sei. So musste ich doch barbäuchig in den Spa-Bereich gehen. Dies war jedes Mal aufs Neue so demütigend gewesen, dass ich fortan immer dankend abgelehnt hatte, wenn meine Freundinnen einen solchen Ausflug unternehmen wollten. 
»Selbstverständlich, liebe Mara. Hennig hat uns deine Kleidergröße verraten und wir haben alles für dich vorbereitet«, lächelte die Ordensschwester. Na immerhin! »Unsere Nachtruhe beginnt um 22 Uhr …« Wusste ich es doch, dachte ich. 
»… und da wir kein elektrisches Licht haben, möchte ich dich bitten, deine Öllampe zu gegebener Zeit zu löschen.« Sie stellte eine Lampe auf den Schreibtisch. Im echten Leben hatte ich ein solches Prachtstück noch nie gesehen. Ich kannte dieses Model jedoch aus der Fernsehserie »Unsere kleine Farm«. Irgendwie gefiel mir der Gedanke, in diese Zeit zurückversetzt zu werden, und ein Lächeln huschte über mein Gesicht. Aus der Serie wusste ich, dass man die Stärke der Flamme an einem kleinen Rädchen an der Seite einstellen konnte, und ich drehte daran zur Probe. »In unserem Gemeinschaftsraum werden die Laternen heute Abend entzündet. Bitte achte darauf, dass deine Laterne nicht vorzeitig erlischt. Aus Sicherheitsgründen geben wir unseren Gästen keine Streichhölzer oder Feuerzeuge mit auf die Zimmer.« Ich nickte. »Ich möchte dich bitten, dich an unsere Schweigezeit zu halten. Es ist höchst irritierend für unsere anderen Gäste, aber auch für uns Ordensleute, wenn jemand diese Regel verletzt.« 
»Schweigezeit?«, fragte ich. »Wir sind ein Schweigekloster. Innerhalb dieses Raums, aber selbstverständlich auch im Beichtstuhl und wenn es bei unseren Kursen nötig ist, ist das Reden gestattet. Ansonsten genießen wir die Ruhe und konzentrieren uns auf unsere Gedanken und nicht auf den Austausch untereinander.« What?, dachte ich, sagte jedoch: »Immer?«, und versuchte mich selbst zu beruhigen. Wenn etwas Schweigezeit heißt, muss es ja auch eine Redezeit geben. Also fragte ich weiter: »Von wann bis wann geht denn die Schweigezeit genau?« 
»Von Montag bis Sonntag.« Henning, du verdammter Spinner! Ein Schweigekloster war für eine so redselige Person wie mich pure Folter. Persönlichkeitsentwicklung … pah! Er hatte mich zum Schweigen bringen wollen. Und jetzt war ich allein schon aus Höflichkeit gezwungen mitzuspielen. »Die Beichte nehmen wir dir am Sonntag um 5:30 Uhr in unserer Kapelle ab. Du wirst sehen, welche Wohltat es ist, allein mit deiner Gedankenwelt zu sein. Viele Fragen klären sich eigenständig und die Ruhe, die auch in einem Kopf für Entspannung sorgen wird, wird dich die Reizüberflutung der Welt außerhalb dieser Mauern vergessen lassen. Du wirst schnell merken, wie gut dir die Stille tun wird. Ich nenne dies oft den Genuss der Leere. Keine Wertung, keine Vorwürfe, keine Feindseligkeiten. Eine Wohltat für die Seele«, erklärte die Nonne und erhob sich von ihrem Stuhl, der sich automatisch ein Stück mit ihr drehte. Sie deutete auf das Kleidungspaket und auf die Lampe, welche ich ergriff, während ich mich ebenfalls erhob. Sie kam um den Schreibtisch auf mich zu, griff nach meinem Rucksack und sagte: »Den wirst du hier nicht brauchen. Bis zu deiner Abreise verwahre ich ihn für dich.« 
»Aber darin ist mein Shampoo und mein Pyjama«, protestierte ich. »Auch diese Dinge brauchst du hier nicht. Wir haben dir alles parat gelegt. Deine Nachtwäsche findest du ebenfalls hier«, erklärte sie und legte ihre Hand dabei sanft auf den Stapel Kleidung, den ich in meinen Armen hielt. »Hygieneartikel liegen in deinem Zimmer für dich bereit.« Sie öffnete die schwere Eichentür und sogleich stand eine Schwester im Türrahmen. »Das ist Schwester Rita. Sie bringt dich nun in dein Zimmer. Du kannst dich dort umziehen und dich kurz einrichten. Sie wird dich in zwanzig Minuten abholen und in den Gemeinschaftsraum bringen.«

Kapitel 3 - Im stillen Kämmerlein

Schwester Rita tat wie ihr geheißen und brachte mich erwartungsgemäß durch viele Gänge und über zwei Treppen hinauf in mein Zimmer. Ich war erleichtert, dass sich nur ein Bett darin befand. Ein Mehrbettzimmer hätte mir den Rest gegeben und wäre definitiv über dem für mich Erträglichen gewesen. Der Raum war zwar spartanisch eingerichtet, für eine Nacht sollte es aber reichen. Nur zwei Möbelstücke befanden sich in dieser, ich würde es Kammer nennen. Eigentlich würde ich von einer Zelle sprechen, denn ich musste unweigerlich an ein Gefängnis denken. Jedoch war ich auch schon an einem so niedrigen Energielevel angekommen, dass mir selbst dies egal gewesen wäre, solange meine Mitinsassen ihre Essschalen nicht die ganze Nacht an den Gittern entlang schlagen würden. Als Zeichen meines Wohlwollens klammern wir das Wort Zelle jedoch erst mal aus. 
Ein Bett und eine Kommode, neben der eine gusseiserne Kanne stand, waren alles, was mein Zimmer beinhaltete. Okay, wenn ich es ganz genau nehme, befand sich über der Türe ein hölzernes Kreuz. Die Wände waren weiß verputzt. Das Bett stand unter einem Fester, durch das die, wie ich vermutete, letzten Sonnenstrahlen fielen. Wie spät es war, konnte ich überhaupt nicht einschätzen. Ich stellte die Lampe neben die Schüssel auf der Kommode, ließ meinen Wäschestapel auf mein Bett fallen und mich selbst ebenfalls. Ich spürte die Erleichterung meines Rückens, als mein Körper in den weichen Daunen versank. Na, immerhin hatte ich eine richtige Decke. Daunen im Hochsommer schienen im ersten Moment zwar befremdlich, machten bei der Kälte in diesem Kloster jedoch vermutlich Sinn. Am liebsten hätte ich meine Augen geschlossen und wäre sofort eingeschlafen. Mein Hunger erinnerte mich an meinen Termin im Gemeinschaftsraum. Langsam rappelte ich mich auf und setzte mich auf den Bettrand. Ich fragte mich, was mein Aufenthalt hier wohl kosten würde. Ich hatte schon in sehr luxuriösen Hotels genächtigt, die mit jedem Schnickschnack ausgestattet und vor allem warm waren. Jedoch vermutete ich, dass mein Urlaub in diesem Kloster nicht am Komfort bemessen wurde, sondern an dem ganzen Drumherum. Henning hatte sicherlich ein Sümmchen springen lassen müssen. Als Sohn eines reichen Vaters war dies wiederum auch keine Kunst. Viel zu oft hatte er das Geld nur so aus dem Fenster geschmissen. Wenn ich mich darüber empörte, sagte er nur: »Wie schon Karl Lagerfeld sagte: Das Geld muss zum Fenster raus, damit es zur Türe wieder reinkommen kann!« Welche Logik sich dahinter auch verbarg, ich verstand sie nicht. Ich kam weder aus einem reichen Elternhaus, noch besaß ich selbst große Ersparnisse. Um ehrlich zu sein, war ich meistens pleite. Henning und ich hatten erst vor Kurzem beschlossen zusammenzuziehen und so schliefen wir zwar schon in seiner Wohnung, aber die finanzielle Last meiner eigenen vier Wände würde erst in ein paar Tagen wegfallen, da wir uns die Miete zukünftig teilen würden. Allein zu leben hatte seinen Preis. Dieser war hoch und betraf deutlich mehr als nur die Kosten für eine Wohnung. Auto, Versicherungen … und leben wollte ich ja auch noch. Zwar ging ich nicht jedes Wochenende auf die Piste, erst recht nicht, seitdem ich mit Henning zusammen war, aber ich kaufte mir oft Stoff. Nein, ich rede nicht von Drogen. Sicherlich ließe sich so der große und vor allem schnelle Schwund meines Gehalts erklären. Ich meine Stoffe, um Kleidung zu nähen. Schon vor Jahren hatte ich die Not zur Tugend gemacht und angefangen, mir selbst Kleider, Tunikas und manchmal auch Hosen zu fertigen. Ich trage Kleidergröße zweiundfünfzig. Und wenn ich ganz ehrlich bin, ist dies außerhalb der Norm. Die liegt in Deutschland nämlich bei zweiundvierzig. Leider bringt diese Tatsache mit sich, dass viele Kleidungsstücke nicht in meiner Größe zu bekommen sind. Zumindest nicht in den Schnitten, die ich für meine Figur als vorteilhaft und mitunter sogar als sexy betrachtete. Das wollte ich irgendwann nicht mehr hinnehmen und fing einfach an mir genau die Kleidungsstücke, die ich haben wollte, selbst zu schneidern. Kostengünstig war dieses Hobby zwar nicht, aber es machte mir viel Spaß und ich hatte die Garantie, dass ich tragen konnte, was ich wollte. Ich liebte es, mich stundenlang im Stoffladen meines Vertrauens aufzuhalten und die neuesten Farben, Muster, Borden, Knöpfe und Garne zu begutachten. Wie andere Frauen mit riesigen Taschen aus der Stadt kommen, trug ich mit einer stetigen Regelmäßigkeit Taschen in mein Nähzimmer. So befanden sich darin zig Körbe, Kästchen und Dosen, mit allem, was ich brauchte. Die alte Nähmaschine hatte ich mir aus dem Keller meiner Eltern geholt und mir von einer Änderungsschneiderin in der Stadt erklären lassen. Erst fiel es mir sehr schwer, allein den Faden an die richtige Position zu bekommen. Mit den Jahren bekam ich alle Nähte hin. Zwar nicht perfekt und ich war mir sicher, dass eine Schneiderin an meiner Arbeit verzweifeln würde, aber wer geht schon mit einer Lupe ran, um so etwas zu begutachten. Der Gesamteindruck zählt und dieser war meist gut. Bunt und oft für den Durchschnittsgeschmack zu schrill oder extravagant, aber ein durchweg positives Feedback bekam ich eigentlich immer. Also sah ich gut aus, war aber chronisch abgebrannt. Auf der hohen Kante hatte ich noch nie etwas gehabt. Ich fand es immer sehr beeindruckend, wenn andere Menschen es schafften, eine große Summe irgendwo auf einem Konto liegen zu haben, und sich einfach eine neue Waschmaschine kaufen konnten, wenn dies nötig war. Jedes Mal, wenn mein alter Daihatsu Cuore wieder ein neues Geräusch machte, hatte ich Angst vor dem, was der Mechaniker an Kosten aufrufen würde. Dies lag selbstverständlich nicht nur an meiner Leidenschaft für Kleidung. Henning und ich gingen sehr oft essen, ins Kino oder unternahmen etwas anderes, was mit Kosten verbunden war. Auch wenn er Geld besaß, war er dabei nicht sonderlich spendabel. Ich erwartete von einem Mann ja nicht, dass er mich aushielt, aber er bestand so oft darauf, in seine Lieblingsrestaurants zu gehen, die allesamt sehr kostspielig waren, dass ich mir das ein oder andere Mal schon gewünscht hatte, er würde mich einladen. Auf der anderen Seite war ich eine emanzipierte Frau, die danach nie fragen würde. Ich bekam das hin und war sehr stolz, immer eine Lösung zu finden, wenn es um meine finanziellen Nöte ging. 
Was war Henning unsere Beziehung wert gewesen? Wie viel hatte er springen lassen müssen, um mich hier einzubuchen? Was mich aber noch viel mehr interessierte, war, ob er wirklich gedacht hatte, ich würde mich brav bedanken und dann alles dafür geben, für ihn und seinen Seelenfrieden schlank zu werden. 
Mein Hals schnürte sich zu und ich spürte ein Brennen in der Kehle. Meine Augen füllten sich mit Tränen. »Schluss damit!«, sagte ich mir selbst. Ich wollte nicht weinen. Ich wollte jetzt essen und dabei im Bestfall eine ganze Flasche von dem guten Messwein trinken. Natürlich würde ich ihn vorher in ein Glas füllen, aber eine Flasche Wein sollte heute Abend drin sein. 
Ich öffnete die Kordel meines Wäschepakets und untersuchte die Kleidung. Eine braune Kutte, ein Shirt, eine Unterhose, Socken und ein Haarband in Beige waren darunter zu finden. Die einzige Farbe, die von diesem Muster abwich, waren Schuhe in einem kräftigen Grün. Eigentlich handelte es sich dabei um Socken mit einer festen Sohle. Aus dem Kindergarten kannte ich diese Fußbekleidung als Barfußschuhe. Diese hier waren zwar nicht mit einem weichen Innenfutter ausgestattet, aber die Ähnlichkeit war zu erkennen. »Immerhin ist der Verwendungszweck klar!«, lachte ich leise in mich hinein. Dies konnten die letzten Worte sein, die ich an diesem Abend hörte, also ließ ich es mir nicht nehmen, sie noch einmal auszusprechen. Dabei flüsterte ich jedoch so leise es ging, damit mich auf dem Gang niemand hören konnte. Ich zog meine Kleidung aus und legte sie aufs Bett. Dabei fiel mein Handy aus dem BH. Dort bewahre ich mein mobiles Endgerät aus praktischen Gründen auf. Viel zu oft hatte ich in der Vergangenheit mal schnell etwas fotografieren wollen und mein Handy gesucht. Seither platziere ich es in meinem Büstenhalter. Das ist immerhin ein Vorteil von kurvigen Frauen. Je größer der Busen, desto mehr passt auch in den BH. Oft trug ich zum Beispiel auch Geld oder meine Kreditkarte direkt am Herzen. So konnte es nicht gestohlen werden, denn höchstwahrscheinlich würde ich merken, wenn mir jemand am Busen rumgrapschen würde. Mir war im Leben ja schon viel passiert, aber Opfer eines Taschendiebs war ich noch nie geworden. Und so sollte es auch bleiben. Sicherlich waren im Kloster keine Handys erlaubt und Diebe vermutete ich hier auch keine. Ich stellte es in den Flugmodus und schob es unter mein Kissen. Wie gerne hätte ich Steffi oder Lena angerufen. Ich musste ihnen erzählen, was passiert war. Aber ich wollte auch pünktlich beim Essen im Gemeinschaftsraum sein. Deshalb musste dieser Anruf noch etwas warten. 
Ich wollte kurz unter die Dusche springen, bevor ich mich umzog, musste jedoch feststellen, dass ich tatsächlich schon alles meines Zimmers gesehen hatte. Hier gab es keine Türe zu einem Badezimmer. Ich drehte mich einmal um mich selbst und tastete dabei mit meinen Augen die Wände ab. Das fahle Licht, welches durch das gemusterte Fenster in den Raum fiel, war zwar nicht sehr hell, verströmte jedoch eine angenehme Wärme. Diese war leider nur eine optische Wahrnehmung. Ich zitterte am ganzen Laib. Offensichtlich hatte man mir für meine persönliche Hygiene nur die Schüssel auf der Kommode zugestanden. Ich hievte die schwere Kanne neben die Waschschale und goss mir dann vorsichtig etwas von dem Wasser ein. Nachdem ich sie wieder abgestellt hatte, öffnete ich eine Schublade. Dort lag ein Stück Seife, ein Waschlappen und ein kleines Handtuch. »Ich werd bekloppt!«, entfuhr es mir. Ich tauchte die Seife ins Wasser. Dabei stellte ich gleich fest, dass es sich um kein industriell gefertigtes Produkt handelte. Sie war weder cremig, noch konnte man einen fluffigen Schaum damit erzeugen. Ich würde mich zwar definitiv bei Schwester Nicole beschweren und ein Zimmer mit Bad verlangen, aber für den Moment musste ich die Situation ertragen. 
Ich tauchte den Waschlappen in das eiskalte Wasser und wusch meinen Körper so gut es ging. Die Seife hinterließ ein stumpfes Gefühl auf meiner Haut. Die Kälte sorgte dafür, dass ich augenblicklich wieder hellwach war. Selbstverständlich beinhaltete die Ausstattung meines Zimmers keine Bodylotion.
Ich zog meinen BH wieder an, bekleidete mich mit dem beigen Slip und schlüpfte in die Socken. Dann warf ich mir das Kleid über. Es war formlos, so wie der Habit der Nonnen. Das Band, welches meine Wäsche zusammengehalten hatte, funktionierte ich zu einem Gürtel um, damit ich die Länge meines Kleides anpassen konnte. Offensichtlich hatte man mich größer eingeschätzt, als ich mit meinen Einmetervierundsechzig tatsächlich war. Aber immerhin passte alles im Umfang. Das war schon einiges wert. Wie ich aussah, konnte ich nicht sagen, denn mein Zimmer hatte nicht einmal einen Spiegel. Als ich gerade via Handy meine Optik abchecken wollte, klopfte es an meiner Türe. Ich öffnete sie und sah, wie angekündigt, Schwester Rita, die mich freundlich anlächelte. »Gut, dass Sie da sind. Ich suche das Bad«, sagte ich. Augenblicklich legte sie ihren Zeigefinger auf ihre Lippe und bedeutete mir zu schweigen. Ach ja. Sie durfte ja nicht sprechen. Sie zeigte auf eine Kommode. »Ja, die habe ich gesehen. Aber es muss doch möglich sein, sich richtig zu duschen.« Sie schüttelte den Kopf und legte erneut den Finger auf ihre Lippen. »Gibt es gar keine Dusche? Nirgends im Kloster?« Sie schüttelte den Kopf, gefolgt von einer weiteren Geste mit den Armen, die mir eindeutig zu verstehen gab, dass dieses Gespräch nun beendet sei und ich schweigen solle. Sie nahm meine Öllampe von der Kommode und drehte sich mit einer auffordernden Handbewegung um. Ich sollte ihr folgen. 
Offensichtlich wollte oder konnte sie mir nicht helfen. Dem würde ich noch auf den Grund gehen. Für heute hatte ich dazu jedoch keine Energie mehr. Widerwillig schnaubte ich durch die Nase. Ich nahm die grünen Schuhe vom Bett, schlüpfte hinein und folge Schwester Rita aus meinem Zimmer. Dabei nahm ich ihr meine Lampe aus der Hand. Als ich an ihr vorbeigegangen war, zog sie meine Zimmertüre zu und wollte dem Gang links folgen. Ich griff jedoch noch ein Mal an meine Türe. Die Klinke war in einen gusseisernen Beschlag verbaut worden und konnte mit einem Daumen bewegt werden. Die kunstvolle Gestaltung mit vielen Schnörkeln war schwarz angelaufen und die Patina verriet, dass sie sehr alt sein musste. Ein Schlüsselloch gab es nicht. Durch den sanften Druck, den ich ausübte, sprang die Türe augenblicklich auf. Bevor ich etwas sagen konnte, nahm die Nonne meine Hand von der Klinke, zog die Türe erneut zu und schob mich weiter in den Gang. Offensichtlich konnte man diese Türe nicht verschließen. Ich atmete schwer ein, unterließ jedoch einen Kommentar und folgte der Nonne. 
Die Ordensfrau leitete mich den langen Gang entlang und in einen weiteren, der zu einer Treppe führte. Ich war mir nicht ganz sicher, aber mit einer ziemlich hohen Wahrscheinlichkeit war ich auf einem anderen Wege in mein Zimmer gekommen. Wir stiegen eine Treppe hinab und bogen in einen weiteren Gang. Ich begegnete unterwegs keiner anderen Person und mich überkam das Gefühl, der einzige Gast in diesem Kloster zu sein. Verübeln konnte man den Menschen nicht, dass sie hier keinen Urlaub machen wollten. Wenn die ihren Ferienbetrieb nicht einstellen wollten, musste aber auch unbedingt mal jemand an diesem Konzept arbeiten. Die Überlegung, sich in einem Kloster zu erholen, würde sicherlich einige Leute anziehen, aber eine verschließbare Tür und moderne Sanitäranlagen waren eine Grundvoraussetzung für einen entspannten Erholungsurlaub. Dann könnte man gegebenenfalls auch mal die Klappe halten. Wo waren eigentlich die Toiletten?, überlegte ich und wollte die Frage schon aussprechen, ließ es dann aber. Wir bogen in einen breiten, offenen Flur. Auf der einen Seite konnte ich in den Garten schauen, auf der anderen hatte ich den Ausblick auf das Tal unter uns. Ich ging an eine der Säulen und ließ die Aussicht auf mich wirken. Der Wald war so dicht, dass sich vor mir ein grünes Meer an Bäumen darbot. Ich hörte Gezwitscher und in der Ferne sah ich einen Vogelschwarm synchron eine Schleife drehen. Ein Specht hämmerte unermüdlich auf ein Gehölz. Der Himmel war nach wie vor blau, aber die Stimmung und auch die Lichteinstrahlung verrieten, dass es Abend wurde. 
Ich spürte eine Hand auf meiner Schulter. Schwester Rita hatte sich neben mich gestellt und lächelte mich an. Ich nickte und gab ihr das Zeichen, weitergehen zu wollen. Vielleicht gab es Momente im Leben, die schöner wurden, wenn man tatsächlich einmal innehielt und sie schweigend genoss.

Kapitel 4 - Die Gefangene von St. Raphael

Schwester Rita und ich betraten gleichzeitig den großen Gemeinschaftsraum durch das Portal am Eingang. Einer Artussage gleich, übertraf die Einrichtung meine Erwartungen bei Weitem. Der Saal war gefüllt mit einer großen Tafel und drei üppigen, durch Kerzen erleuchteten Kronleuchtern. Nein, er erinnerte mich eigentlich an den Speisesaal in Hogwarts. Eine kleine Version davon zwar, aber genauso eindrucksvoll. An den Wänden standen große und anscheinend schwere, sehr hohe Kerzenständer. Auch der Tisch war durch unzählige Kerzen hell erleuchtet. Die Steinwände waren mit edlen Stoffen dekoriert, an deren Enden goldene Fransen herabhingen. Ich war offensichtlich im Hause Gryffindor und wäre nicht überrascht gewesen, wenn Professor Dumbledore eine Rede angestimmt hätte. Vermutlich doch. Sicherlich hätte Schwester Rita ihn sofort stumm zurechtgewiesen. Auch als Zauberer hätte man hier bestimmt keine Sonderbehandlung zu erwarten. 
Leider bewegten sich die biblischen Szenen an den Wänden in den goldenen Stuckrahmen nicht. Vor den Tischen standen Holzsessel, die mit rotem Samt bezogen waren. Mein Blick blieb an dem ovalen Obstkorb hängen, der in der Mitte des Tisches stand. Noch nie hatten Äpfel, Birnen, Kirschen und Pfirsiche so verlockend ausgesehen. Die anwesenden Nonnen standen gemeinsam am Kopf des Tisches und blickten mich freundlich an. Ich nickte zum Gruß. Erst jetzt entdeckte ich andere Gäste. Zumindest vermutete ich, dass sie nicht zum Orden gehörten, denn sie trugen das gleiche Gewand wie ich und saßen am Tisch. Die vier Frauen und zwei Männer schienen nicht alle der Diät wegen im Kloster zu sein. Nur einer der Männer war mehrgewichtig. Zumindest wirkte es auf mich so. Unter den Habits konnte man nicht viel erkennen und wer weiß, welcher Optimierungsdrang hinter den Diätwünschen der Menschen steckte.