Mein Garten ... und ich - Martina Meier - E-Book

Mein Garten ... und ich E-Book

Martina Meier

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Beschreibung

Ich hätte weinen können. Erst gestern hatte ich die kleinen Salatpflanzen in ihr Beet gesetzt, heute Morgen waren sie ratzeputz aufgefressen. Von den wildesten und gefährlichsten Bewohnern meines kleinen Gartens – den Nacktschnecken. Dabei hatte ich sogar meinen Geldbeutel geplündert, um meine Pflänzchen mit Kupfermünzen zu schützen. Ein Tipp aus meinem Gartenforum. Und jetzt? Kein einziges Blatt mehr hatten diese gefräßigen Räuber an meinem Salat gelassen. Welcher Gärtner kennt sie nicht, diese kleinen und großen Katastrophen, die seinen so liebevoll gepflegten und gehegten Pflanzen oftmals den Garaus bereiten. Doch das alles gerät schnell in Vergessenheit, wenn man nach getaner Arbeit die Früchte seines Schaffens ernten kann. Oder seinen Blick über die neu angelegte Blumenwiese schweifen lassen kann, auf der sich Hunderte Bienen und viele bunte Schmetterlinge tummeln. Geschichten von Gartenträumen und kleinen – oder großen – Gartenkatastrophen finden Sie in diesem Buch ....

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Mein Garten ... und ich

Von Gartenträumen und kleinen Katastrophen

Martina Meier (Hrsg.)

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Impressum

Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet - www.papierfresserchen.de

© 2023 – Papierfresserchens MTM-Verlag GbR

Mühlstr. 10, 88085 Langenargen

Herausgegeben in Zusammenarbeit mit CAT creativ (Berabeitung) - www.cat-creativ.at

Alle Rechte vorbehalten. Taschenbuchauflage erschienen 2023.

Coverbild: © Martina Meier

Alle anderen Fotos und Illustrationen: privat (nur Printtitel)

ISBN: 978-3-99051-108-4 - Taschenbuch

ISBN: 978-3-99051-109-1 - E-Book

*

Inhalt

Die Rache des Gärtners

Still

Anfängermist

Ungebetener Gast

Ein kleines Paradies für Pia

Die Gärtnerin nimmt wohlverdiente Auszeit

im blütenmeer

Gemeiner Efeu, du darfst nicht sterben …

Der alte Baum

Über Stunden im Garten

Die Gartentür

Am Brunnen

Und es gibt sie doch ...

Mein Schrebergarten

Flugobst

Frühling

Magische Schlafbohnen und Löffelkraut

Mein Garten

Meine Gartenbank

Mein blauer Gartentraum

Wenn die Mücken Trauer tragen

Edelsteine

Gartengeflüster

Vom kleinen und großen Glück dieser Welt

Omas Garten

Blattgrün

Charme

„Sie wachsen doch von alleine“

Im Baumhaus

So schön

Alles, was du fühlst

Blätter

Schmerzhafte Unterbrechung

Feuerdorns Rache

Der Gartenschreck

Der Garten des alten Mannes

Brachzeiten

Eine Katze namens Samuel

Mein Garten und ich

Endlich kaputt

Unser lieber Herr Nachbar

Evas Rose

Der Garten ist ein weites Feld

Manchmal dauert es eben

Mein Gartenjahr – Miniaturen

Flügelschlag

Eine kleine Oase

Maries Zaubergarten

Ein Traum von Garten

Die zweite Chance

Der (Garten-)Traum vom Schreiben

Ein Schattenleben

Der Freundschaftsgarten

Das Rosenzelt

Der Garten der Träume

Ein Spatz staunt über die Physik

Made in Germany

Glückseligkeit

Sunny

Freiraum

Der Gartenkrieg

Hilfe, ich bin ein Pflanzen-Messie!

Glück

Schlachtfeld: Garten

Blumenparadies

Hanni Hummel

Rasenmähersonett

Die dicke Hummel Anna

*

Die Rache des Gärtners

„Wiedersehen“, sagt die alte Dame mit den grauen, schulterlangen Haaren, die eng an ihrem kleinen Kopf anliegen. Es klingt wie eine Drohung. Sie deutet ein schmales Lächeln über ihrem spitzen Kinn an und schließt die Tür.

Bernd betrachtet den Geldschein in seiner Hand. Fünf Euro Trinkgeld hatte sie ihm mit ihren dünnen, knochigen Fingern gegeben. Immerhin. Bernd nimmt Eimer und Heckenschere vom Boden auf und geht durch den lang gezogenen Vorgarten mit zugewachsenen Blumenbeeten und einem verwilderten Buchsbaum. Was sollen die Nachbarn denken, wenn das Fahrzeug des Gartenbaubetriebes den ganzen Tag vor dem Haus steht und der Vorgarten weiterhin so ungepflegt aussieht? Aber die alte Dame sah es gar nicht ein, den Vorgarten pflegen zu lassen. Die Schönheit des Vorgartens wollte sie nicht mit ihren Nachbarn teilen.

In Bernd steigt ein unartiges Bedürfnis nach Vergeltung auf. Er denkt daran, wie er im großen Garten hinter dem Haus den ganzen Tag Rasen mähte, Blumen pflanzte, die Hecke stutzte und Sträucher schnitt. Die alte Dame saß nur auf der Terrasse in ihrem ebenso alten Lehnstuhl und gab Anweisungen. Wie gerne wäre er einfach wieder gefahren, aber sein Chef meinte, der Auftrag bei dieser Stammkundin sei wichtig. Die bösen, nordseegrauen Augen und ihr zuckersüßes Lächeln, mit dem sie Befehle erteilte, würde Bernd noch lange in Erinnerung behalten. Sie kommandierte ihn durch die pralle Mittagssonne wie einen kleinen unwissenden Jungen.

Während seiner Lehre hatte er viel über Natur- und Gartengestaltung gelernt, Heckenschnitt war sein Spezialgebiet, doch den Umgang mit schwierigen Kunden hatte er nicht gelernt.

Zum Schluss musste er noch ihre Gartenzwergsammlung aus dem muffigen Keller holen und die Plastikwichte nach ihren Vorgaben in den Beeten platzieren, während sie auf der Terrasse gedeckten Apfelkuchen aß und duftenden Kaffee trank. Wie gerne hätte auch er sich eine Pause gegönnt oder zumindest einen Schluck Wasser getrunken. Doch er wollte einfach nur fertig werden.

Bernd blickt zum Haus, ob sie irgendwo hinter den Gardinen steht und ihn beobachtet. Hier würde er nie wieder einen Auftrag ausführen. Und wenn der Chef es noch so gerne will. Mit seinen kräftigen, von Arbeit gezeichneten Händen lädt er seine Gartengeräte auf die Ladefläche und betrachtet den großen Buchsbaum am Zaun. Der Vorgarten ist eine Schande!

Er steckt die fünf Euro ein und greift nach der Heckenschere. „Rache ist grün“, fährt es ihm durch den Kopf ... und durch die Finger. Die Schere gleitet minutenlang fast lautlos durch die frischen grünen Buchsbaumzweige. Bernd begutachtet sein Werk und fährt mit zufriedenem Lächeln davon.

Auch Wochen später bleiben die Nachbarn immer wieder am Vorgarten stehen und meinen, der Buchsbaum sähe dem bösen Gesicht der alten Dame ziemlich ähnlich.

Andreas Obster, Jahrgang 1979, studierte in Bonn Germanistik, Medienkommunikation und Deutsch als Fremdsprache und ist in der Erwachsenenbildung tätig. Seit 20 Jahren schreibt er Kurzgeschichten und leitet Schreibwerkstätten.

*

Still

Still

pocht

dein Herz

im Atemfluss

einer verwaisten Bank.

Ramona Wesselow-Krystosek lebt und schreibt in Zürich.

*

Anfängermist

„Na ja. Einen Designer-Preis wirst du mit diesem Garten nicht gewinnen können. Tränende Herzen und weiße Tulpen neben einem alten Misthaufen. Also wenn du mich fragst: Ich würde alles umgestalten“, sagte Ilona beim Einstandsbesuch zu ihrer Freundin Kathrin, die gerade ein Landhäuschen mit einem Stück Grün geerbt hatte.

„Genau dieses Bäuerliche finde ich reizvoll. Mensch, da kommt mir eine Idee!“, rief Kathrin aus und schenkte Ilona und sich noch Rosé-Sekt nach. „Vielleicht mache ich aus der stillgelegten Mistgrube einen Seerosenteich mit Wasserspielen, Fischen und so. Wieso bin ich nicht gleich darauf gekommen?“

„Hm. Und im Hochsommer bekommst du die Schnaken gratis dazu. Und was ist mit deiner beginnenden Arthrose? Also ich würde es eher minimalistisch halten, so Feng-Shui-mäßig wie bei den Neumanns.“

In den nächsten Tagen war Kathrin damit beschäftigt, sich schlauzumachen. Ein Stapel mit Hochglanz-Magazinen und Ratgebern wie So schaffen Sie sich Ihre Wohlfühloase und Gärtnern wie die japanischen Zen-Meister türmte sich im Wohnzimmer. Neben den Besuchen in Buchhandlungen tingelte Kathrin durch Gartencenter, kaufte Steinlampen, Solar-Springbrunnen, Windräder und ulkige Tierfiguren. Sie suchte Samen in bunten Tüten aus und legte neue Beete an.

Schon Ende April kletterte das Thermometer über dreißig Grad und es hatte schon Wochen nicht mehr geregnet. Jeden Abend schleppte Kathrin schwere Kannen Wasser, aber die mit Spannung erwarteten Bienenweiden wuchsen, wenn überhaupt, nur spärlich, dafür reichlich Löwenzahn, Giersch und Winden.

Gleichzeitig machte sich der Renovierungsstau in dem Häuschen aus den Fünfzigerjahren bemerkbar. Ein Boiler ging kaputt und lief aus, die Fliesen knirschten und im Keller blätterte der Putz von den Wänden. Kathrin hatte so gut wie keine Zeit und auch keine Kraft mehr für den Außenbereich, wo alles zuwucherte.

Weinend fragte sie Ilona, mit der sie telefonierte: „Kennst du jemanden, der mir für kleines Geld die Sträucher schneiden und den Rasen mähen könnte?“

„Ja, der alte Johann. Den kennst du doch: Früher nannten wir ihn Joe. Der coole Joe! Die Mädchen waren verrückt nach ihm!“, rief sie aus.

„Das war doch der, der alle von der Clique zur Lagerfeuer-Nacht eingeladen hatte, nur mich nicht.“

Johann kam mit seinem klapprigen Traktor angefahren. Er war immer noch schlaksig und irgendwie jungenhaft, aber tiefe Falten zeichneten sich unter den grauen Bartstoppeln ab.

Kathrin hatte sich dezent in Schale geworfen, die Wimpern getuscht und ihre silberfarbene Mähne hochgesteckt, aber Johann hatte keinen Blick für sie. Während er das grüne Chaos betrachtete, zündete er sich mit seinen gelblichen Hornhauthänden eine Zigarette an.

Kathrin unterbrach die Stille und fragte: „Weißt du noch, damals …“

Er ließ sie nicht ausreden und sagte nur: „Grauslich ist das. Einfach grauslich.“

Johann brauchte Tage, um die meterlangen Ranken der Brom- und Himbeersträucher zurückzuschneiden und die Beete von den Disteln und Brennnesseln zu befreien. Kathrin verwöhnte den wortkargen Johann mit Kaffee und Schinkenbrötchen, um ihn trotz seiner blutigen Blessuren an Händen und Armen bei Laune zu halten.

Doch das war keine einmalige Aktion. Schon nach acht Wochen sah es wieder ähnlich aus. Kathrin empfand den Garten nur noch als Last und Johann durfte nun jede Woche kommen. Er empfahl ihr, die Rosen und Dahlien wegzurationalisieren sowie den seltenen Mispelbaum, den Kathrins Urgroßvater einst gepflanzt hatte.

„Der Baum bleibt!“, sagte Kathrin betont energisch.

„Ja, der geht aber sowieso bald ein. Der ist total verpilzt“, antwortete Johann.

„Dann mache ich jetzt schon mal Ableger.“

„Total unvernünftig. Na, kein Wunder, dass dein Mann abgehauen ist.“

Kathrin ging nur noch in den Garten, um etwas vom verwilderten Schnittlauch zu zupfen oder ihren Kater Lucky zu streicheln. In ihrer freien Zeit ging sie meist mit Ilona zum Bummeln in die Stadt.

An einem Nachmittag saßen sie in einem Café und Kathrin schüttete ihr Herz aus. „Dieses Haus frisst mich mit Haut und Haaren auf. Und meine großen Pläne für den Garten habe ich schon längst abgeschrieben. Dafür muss ich diesen übellaunigen Johann ertragen, der mich bei jeder Gelegenheit beleidigt und dazu noch abzockt. Schon zwei Mal hat er seinen Stundenlohn erhöht. Vielleicht sollte ich doch wieder in eine Zweizimmerwohnung nur mit einem Balkon ziehen.“

Als sie nach Hause kam, setzte sich Kathrin auf einen rostigen Stuhl unter den Mispelbaum. Die Grillen zirpten und eine Amsel flötete ihr Lied. Lange schaute Kathrin nur in die Luft. Dann beobachtete sie Lucky, wie er sich auf der warmen Erde wohlig lang streckte. Dabei fielen ihr die Gänseblümchen auf, die sich wie in einem Rahmen um die Mauer des Misthaufens tuffartig anschmiegten. Ihre Blütengesichter leuchteten wie Edelsteine in der Abendsonne.

„Es ist schön. Eigentlich ist es sogar wunderschön. Wieso habe ich das noch nie gesehen?“, dachte sie. „Nichts muss perfekt sein.“

Sie blieb eine Weile reglos sitzen. Dann ging sie zu Lucky hinüber, kraulte ihn und flüsterte ihm ins Ohr: „Ich werde dir das mit der kleinen Wohnung nicht antun. Wir bleiben. Und der Misthaufen erst mal auch. Wir lassen uns nicht mehr stressen.“

Imke Oestreich, geboren 1961, von Beruf Bürokauffrau, lebt zusammen mit ihrem Mann in Süddeutschland. Das Schreiben von Kurzgeschichten ist ihre große Leidenschaft, der sie sich, nachdem sie im Ruhestand ist, mehr und mehr widmet. Das Fotografieren, Gärtnern, aber auch Philosophie und Religion bieten ihr einen guten Nährboden für neue Ideen.

*

Ungebetener Gast

Schon seit zwei Wochen quälte ihn dieses Geräusch. Jede Nacht aufs Neue. Erst ein merkwürdiges Kratzen, dann dieses Schnarchen, als würde jemand schlecht Luft bekommen. Und noch immer wusste er nicht, wer oder was das war.

Doch heute wollte er das ändern. Den ganzen Vormittag war er schon damit beschäftigt, Kameras auf seinem Grundstück zu installieren, um den Nachtschlaf raubenden Übeltäter zu finden. So heiß, wie es war, konnte er unmöglich bei geschlossenem Fenster schlafen.

Doch heute würde er herausfinden, wer es sich so auf seinem Grundstück gemütlich machte und diese Geräusche von sich gab. Er hatte endgültig die Nase voll davon. Mit Ben legte man sich nicht ungestraft an. Wer auch immer es war, er würde ihn vertreiben.

Der Tag verging und er konnte es gar nicht erwarten. Am Abend, noch bevor die Sonne unterging, setzte er sich an seinen Computer, um die Kameras zu überwachen. Dieses Mal würde er den ungebetenen Gast nicht einfach so davonkommen lassen.

Stunden saß er dort und nichts passierte. War das schon ein Schuss in den Ofen? Kam heute niemand und er hätte einfach schlafen können? Sonst war es doch um die Zeit schon so weit. Ungeduldig rutschte er auf seinem Stuhl hin und her, sah von einem Bildschirm zum anderen.

Und gerade, als er für diesen Tag aufgeben wollte, sah er etwas über den Boden huschen. Lief da ein Tier über sein Grundstück. Bei näherem Hinsehen erkannte er, dass es sich um einen Igel handelte. Zuerst lief er zu dem kleinen Teich, den Ben angelegt hatte. Trank von dem Wasser, lief danach weiter über das Grundstück.

Sicher war er sich nicht, ob das sein Eindringling war. Doch schließlich konnte er beobachten, wie er sich unter einen Haufen Holz schob, den Ben aufgestapelt hatte. Der junge Mann legte den Kopf schief, als er das beobachtete. Drehte er den Regler lauter, um besser zu hören. Und dann kam es, dieses Geräusch. Der kleine Kerl schnarchte! Das war es, was ihn seit Wochen nicht schlafen ließ! Dieses Geräusch hielt ihn also Nacht für Nacht wach. Zunächst war er überrascht. Doch dann begann er zu kichern. Immer mehr, bis er richtig zu lachen begann. So sehr, dass ihm schon der Bauch wehtat und ihm Tränen in die Augen traten.

Wach gehalten von so einem kleinen Wicht! Einem Tier, das einfach nur Schutz suchte. Wie witzig war das bitte? Nie im Leben hätte er darauf getippt. Er bekam sich vor Lachen kaum noch ein. Nicht zu fassen!

Eine Weile saß er noch dort und lachte, eh er sich langsam beruhigen konnte. Ganz sicher wollte er dem süßen Tier nicht den Schutz nehmen. Aber so ging es nicht weiter. Er würde das Holz ein Stück weiter weg stapeln. So, dass sie beide in Ruhe schlafen konnten.

Nancy Riemer,geboren 1986 in Dresden, lebt seit 2022 in Rostock in einer WG. Bereits als siebenjähriges Mädchen hat sie angefangen, ihre ersten Geschichten zu schreiben, und sich diese Leidenschaft bis heute bewahrt. Mit steigendem Alter veränderten sich auch ihre Erzählungen, die sie lange nur für sich schrieb. Literatur spielte immer eine wichtige Rolle, was 2006 auch zu einem Deutschstudium an der TU Dresden führte. Die Liebe zu fiktiven Geschichten war immer ein Teil ihres Lebens.

*

Ein kleines Paradies für Pia

Wenn Pia aus dem Fenster schaute, sah sie auf eine stark befahrende Straße. Manchmal hupten Autos. Seit es die Baustelle gab, entstanden auch immer wieder Staus. Es stank dann immer nach Abgasen. Der Lärm der Straßenarbeiter machte es noch schlimmer.

Pia beneidete ihre Mitschüler, die einen Garten hatten oder auf den Campingplatz fahren konnten.

„Alle haben ein Stück Natur“, dachte sie traurig und seufzte. „Ich habe nichts. Nirgendwo kann ich spielen. Auf dem Hof geht es nicht, weil es dort Garagen und Parkplätze für die Autos gibt. Kinder sind da unerwünscht.“

Vor dem Wohnzimmerfenster gab es Platz – einen Minibalkon, mit einem Geländer umrandete, aber für einen Garten war die Fläche einfach zu klein.

„Mama, ich hätte so gerne einen Garten“, sagte Pia beim Mittagessen mal wieder. „Mit Blumen, Tomaten und leckeren Erdbeeren.“

„Ach, Schatz, es tut mir schrecklich leid.“ Mama strich ihr zärtlich über den Kopf. „Wir können uns keinen Garten leisten.“

„Ich weiß.“ In Pias Augen brannten wie so oft die Tränen. „Ich würde gerne mal draußen spielen.“

„Das weiß ich doch“, sagte Mama. „Am Wochenende gehen wir auf den Spielplatz.“

„Da ist es nicht schön“, erwiderte Pia. „Da gibt es nur ein blödes Klettergerüst.“ Weinen wollte sie nicht und blickte auf die Fensterbank, wo die kleine Sonnenblume Gerda in ihren Topf stand. „Wenn sie groß ist, muss auch sie weg“, dachte sie traurig. „Das ist so unfair.“

Letzte Woche hatte Pia den Samen eingepflanzt. Nun sah sie regelmäßig nach, ob Gerda gewachsen war.

„Pflanzenbabys sehen schon komisch aus“, dachte sie. „Ein Stängelchen mit zwei grünen Blättchen. Das ist alles, was im Moment von Gerda zu sehen ist.“

„Hm, vielleicht habe ich da eine Idee“, sagte Mama plötzlich und lächelte geheimnisvoll. „Du musst aber sehr artig sein und darfst mich nicht stören, okay?“

„Okay!“, erwiderte Pia und dachte betrübt: „Ich spiele alleine in meinem Zimmer wie immer. Das ist doch blöd und langweilig.“

Nach dem Essen nahm sie Gerda und ging in ihr Kinderzimmer. „Was denkst du, Gerda, was macht Mama gerade?“, wollte sie wissen. „Ob Gerda schon denken kann?“, fragte sie sich und blickte in den Blumentopf. „Sie braucht lange, um zu wachsen. Eine Blume ist sie noch lange nicht. Mama hat sich an ihren Computer gesetzt. Sie spielt bestimmt eines ihrer blöden Videospiele.“

Pia nahm ihre Buntstifte und begann ein Bild zu malen.

„Wenn mein Garten nur halb so schön wäre“, dachte sie. „Ich hätte gerne Blumen in allen Farben und Gerda wäre ihre Königin. Sie würden den ganzen Tag tanzen und ihren schönen Duft verteilen.“

Drei Tage später holte Mama Pia von der Schule ab. „Heute gibt es Spinat mit Püree und Rührei“, erklärte sie. „weil wir die Eierschalen brauchen.“

„Mama, wir haben doch gar kein Ostern.“ Pia runzelte die Stirn. „Und ich möchte keine Eier bemalen.“ Bei sich dachte sie, dass ihre Mutter verrückt geworden sei.

„Das weiß ich doch.“ Mama lachte. „Ich zeige dir, wofür wir die Eierschalen brauchen. Ich habe auch noch ein paar andere Sachen für deinen Garten besorgt.“

„Echt?“ Am liebsten wäre Pia den ganzen Weg nach Hause gerannt, doch Mama lief zu langsam.

„Wir machen sogar eine Raupe“, erklärte Mama.

„Ich will keine Raupen in meinem Garten“, erwiderte Pia.

Zu Hause sah Pia Blumen, Töpfe, Samentütchen und Erde. In der Küche beobachtete sie, wie Mama die Eier aufschlug.

„Du machst sie ja kaputt!“, rief Pia verwirrt und sah, wie Mama die Schalen vorsichtig ausspülte. „So können wir sie doch gar nicht gebrauchen.“

„Natürlich. Du wirst schon sehen.“ Mama zeigte ihr die Öffnung.

„Das glaube ich nicht“, dachte Pia.

Pia war sehr aufgeregt und hatte kaum Hunger. Sie fragte sich immer wieder, was Mama vorhatte. Trotzdem aß sie brav ihren Teller leer, denn sonst würde ihre Mama ihr sicher nicht zeigen, was sie geplant hatte.

Sobald sie aufgegessen hatten, bereitete Mama den Tisch für ihre Idee vor. Zusammen füllten sie die kleinen Blumentöpfe mit Erde und drückten einige Samen hinein.

„Die stellen wir in den Ständer, der schon auf unserem Balkönchen steht“, erklärte Mama. „Und nun bepflanzen wir diese bunten Kästchen mit den Blumen und hängen sie über das Geländer. Das sind übrigens Stiefmütterchen.“

„Stiefmütterchen sind hübsch“, sagte Pia. „Das ist so toll.“ Ihre Hände waren schon schmutzig von der Erde.

„So! Und nun kommen wir zu den Eierschalen“, sagte Mama, nachdem sie sich beide die Hände gewaschen hatten. „Wir basteln einen Ring aus Tonkarton und stellen die Eierschalen darauf.“

Sie malte mit einem schwarzen Stift Gesichter auf die Schalen.

„Wir brauchen ein bisschen Erde oder können auch Küchenpapier verwenden, wenn du magst“, erklärte Mama. „Das hier ist Kresse, die können wir zum Salat essen.“

„Okay“, sagte Pia.

„Die Kresse sieht später aus wie Haare“, erklärte Mama weiter. „Ein Schluck Wasser. Sooo. Fertig.“

„Prima“, rief Pia und stellte die Eierschalen-Kressetöpfchen auf die Fensterbank. „Das sind Herr und Frau Eierkopf mit ihren Kindern Eiton und Eila.“ Sie grinste und gab allen Pflanzen einen Namen.

„Oh, jetzt hätte ich beinahe Gerda vergessen.“ Pia lief schnell in ihr Zimmer, um die kleine Sonnenblume zu holen.

Mama füllte eine alte Socke mit Erde, band ein Stück ab, klebte zwei Augen auf den so entstandenen Kopf und streute auf den Rücken Kressesamen.

„Okay, diese Raupe darf bleiben“, entschied Pia. „Sieht im Moment eher wie eine Schlange aus.“

Mama lachte herzhaft.

Auf dem Balkönchen legte sie ein Stück Kunstrasen aus und hängte einen Kübel an einen Haken. „Deine Erdbeeren“, sagte sie. „Jetzt hängen wir noch die Blumenkästen ein.“

„Boah, wie toll.“ Pia staunte über ihr kleines Paradies.

Der Ständer mit den selbst bepflanzten Blumentöpfen nahm den halben Balkon ein.

„Jetzt machen wir ein Picknick in meinem Garten“, rief Pia begeistert und nahm die Decke von der Couch. Sie legte sie so, dass eine Ecke auf den Kunstrasen lag. Mama holte noch Kekse und Saft. Beide setzen sich auf die Decke und blickten auf den Minibalkongarten.

„In ein paar Wochen sieht dein Garten noch viel schöner aus“, sagte Mama. „Die Blumen müssen sich erst an ihr neues Zuhause gewöhnen.“

Pia blickte auf ihren Garten. „Mein kleines Paradies, wie die Erwachsenen sagen würden“, dachte Pia und biss glücklich einen Keks.

Nicole Gabrys,geboren 1975, aus Duisburg, Mutter von zwei erwachsenen Kindern und Hobbyautorin. Vor einigen Jahren besuchte sie den Online-Schreibkurs der VHS. Sie ist immer auf der Suche nach mystischen Wesen, die sie in ihren Geschichten lebendig werden lässt. Von ihr sind schon einige Kurzgeschichten erschienen und vor Kurzem auch ihr erster Roman: „Okpara – der Traum von einem Leben nach Tod“.

*

Die Gärtnerin nimmt wohlverdiente Auszeit

Mein Garten und ich … wir beide. Wir sind ein besonderes Gespann.

Mal ziehe ich: „Nun komm schon … Zeig mal so richtig, was in dir steckt!“

Mal zieht er: „Lass mich nicht alleine … Hilf mir ein bisschen, sonst macht jeder hier, was er will – jedes Pflänzchen und jeder Baum!“

So ergänzen wir uns wunderbar – und herausgekommen ist ein liebenswerter Garten. Nicht besonders groß, aber immerhin so verwunschen, dass man sich darin verstecken kann. Kein Nutzgarten, aber es gibt einiges zu naschen darin, besonders für Vögel, Eichhörnchen und Mäuse. Und Schnecken. Und Schmetterlinge. Aber auch für dich und mich.

Viel Wildwuchs?

Ja und nein: Mein Garten ist eine gepflegte Wildnis und einige meiner besten Freunde lieben ihn genau so, wie er ist.

Damit er seinem Namen gerecht wird, muss sich allerdings jede Pflanze, die Teil dieser Gartengemeinschaft werden möchte, an eine Regel halten. Und die lautet: Du darfst wachsen, wo du willst, wo es dir guttut, aber nicht überall.

Warum? Damit die anderen auch wachsen können, wo sie wollen, wo es ihnen guttut. Du wirst es zwar nicht schaffen. Aber das macht nichts. Wir helfen dir. Du musst es nur zulassen.

In letzter Zeit hatte das mit der perfekten Zusammenarbeit von mir und dem Garten nicht so richtig geklappt. Na ja, man wird älter und man ist schon mal ziemlich schlapp und schaut lieber entspannt vom Balkon – also von oben – hinab und über die Büsche und Bäume, Blumen und Gräser hinweg und genießt das wunderbare Spiel von Blatt- und Nadelwerk in so vielfältigen Grüntönen, mal schattig, mal in gleißender Sonne, darüber ein wolkenbejagter oder strahlend blauer Himmel. Das hat auch was.

Mal gar nichts tun!

Man kann es auch so sagen: Die Gärtnerin nimmt eine – wohlverdiente – Auszeit. Es sei ihr gegönnt, oder?

Aber das Leben kann keine Auszeit nehmen. Und ein Garten, das ist pures, volles Leben.

Mein Garten sah seine Chance ... Absolut!

Das Frühjahr war schön feucht und er gab so richtig Gas. Um dem Klimawandel den Wind aus den Segeln zu nehmen, hatte er alle Register gezogen und tatkräftig Grün produziert mit Millionen von Chloroplasten, kleinen CO2-Fresserchen. Jede Menge Sauerstoffgas durchzieht seitdem meine immer ungepflegtere Wildnis. Auch unten am Boden, wo das Gestrüpp noch nicht die Herrschaft angetreten hat und der Rasenmäher heuer keine vernichtenden Bahnen zog, kamen allerhand Insekten-erfreuende Blühpflanzen ans Tageslicht, Veilchen und Mieren, Klee und Hornkraut und Günsel. Zwischen sonst gehätschelten und bevorzugten Pflanzen bekamen Brennnesseln und Efeu viel, viel Platz, die gelben Taubnesseln und besonders der Gilbweiderich, das Johanniskraut und die Wiesenmalve und natürlich der Storchschnabel und Pippau und Ehrenpreis und Waldsimse ... Sie fühlten sich frei und ungehemmt. Ganz stolz breitete sich das Habichtskraut aus und seine goldbraunen Blütensonnen schwebten über den Gräsern …

Eigentlich schön. Wunderschön. Oder?

Mit den Augen und den Sinnen der Insekten betrachtet: wunderschön.

Aber etwas stimmte da nicht. Die Ordnung vorher hatte einen Sinn. Und nun fehlte etwas. Da lief etwas aus dem Ruder. Ich sah es kommen, aber ich hatte keine Energie und keine Kraft, irgendwie ordnend einzugreifen. Die Dinge nahmen ihren Lauf und das wilde Leben lebte wild und selbstvergessen vor sich hin.

Eines Tages bahnte ich mir mit einer Gartenschere eine Schneise in die Vegetation. Und da sah ich es: Dieses Wachsen um jeden Preis, das Drauf-los-Leben, das begeistert und guttut, das hat aber seinen Preis: Wer es nicht schafft, der schafft es eben nicht. Alle Schwächeren bleiben auf der Strecke. Selbst die schönsten Wiesenblumen wurden bedroht. Nicht richtig bedroht. Aber ihre Zukunft sah düster aus, schattig, allzu schattig, denn wo man auch hinsah, da wuchsen kleine Stämmchen hoch: Ahorn, Eiche, Hasel, Birke und Hasel und Eiche und Birke und Buche und Kastanie und Ahorn und Ahorn und Ahorn. Manche zehn Zentimeter, andere 20 Zentimeter, manche schon 40 und 50 Zentimeter. Und dann wurde es an einer Stelle mit dem Schneiden der Schneise schwieriger: Aus der Erde wuchsen da richtig lange Zweige, verholzte … Zweige. Die kenne ich vom Hartriegel. Ja, der stand mal etwa hier. Den hatte ich lange nicht ernst genommen und dann erst vor ein paar Jahren ganz heruntergeschnitten, weil er wirklich und wahrhaftig wildwüchsig war und dachte, er hätte hier das Sagen und ewige Rechte!

Der war also weg ... Wo aber kamen denn jetzt auf einmal die vielen Triebe her?

Ein Trieb war besonders lang und schon recht verzweigt. Ich zog daran … er war vom Nachbarn her durch den Zaun gewachsen und war gar kein Wurzelschoss, es war ein ganz normaler Zweig von einem stattlichen buschigen Hartriegel.

Seit wann hatte denn der Nachbar einen Hartriegelbaum? Und noch dazu so dicht am Zaun? Das ging doch gar nicht!

Es ging wohl doch. Er war da! Und es ging mit natürlichen Dingen zu. Ich erinnerte mich: Damals, vor 40 Jahren, als ich meinem Hartriegel sagte: „Tut mir leid. So geht es nicht. Für jemanden mit deinen Ansprüchen ist mein Garten zu klein, lieber Hartriegel, ich muss dich leider abholzen. Ich kann dich nicht als Busch und nicht als Baum gebrauchen. Du bist zu heftig …“ Damals hatte ich wohl nicht bemerkt, dass er längst unter dem Zaun hindurch angefangen hatte, den Garten des Nachbarn zu erobern ... durch Wurzelschösslinge.

Jetzt stand er da, fast an der Stelle, wo ich den alten beseitigt hatte, nur ein paar Zentimeter jenseits des Zaunes – und seine Wurzeln waren es, die in seinem Auftrag nun schon wieder einen kleinen Wald auf meiner Seite des Zauns angelegt hatten. Seine Planung für die nächsten Jahre war deutlich erkennbar.

Was sollte ich tun? Dem Hartriegel das Feld überlassen, meinen Garten? Bestimmt nicht!

Sauer sein? Auf wen? Auf mich? Ich hatte ja etwas Wichtiges übersehen, sonst niemand. Und ich musste jetzt die Folgen tragen. Das wäre nicht das erste Mal. Sauer sein brachte nichts, verdarb nur den Tag.

Ich hab etwas gelernt.

Mal wieder.

Und was?

Dass man schon mal etwas übersieht und manchmal unüberlegt handelt. Man. Ich. Dann geht es aber weiter, mit Schwierigkeiten, aber es geht. Man wird echt auch ein bisschen weiser.

Und dass ich überhaupt mal schlapp gemacht und mich ausgeklinkt habe – ich gestehe es mir zu und jedem anderen auch.

So. Jetzt stelle ich mich wieder der Realität. Es ist nicht leicht, neu Ordnung in das Chaos zu bringen, aber so etwas macht auch Freude. Und was daran schwierig ist, das muss ich nicht alleine ausbaden. Ich habe ja Freunde. Christian wird kommen und den Garten wieder in eine gepflegte Wildnis verwandeln und sich auch um den Hartriegel kümmern.

Christian, jetzt bist du dran. Rette, was zu retten ist. Gib jedem seinen Platz. Mache aus der Weltwachstumskrise, die auch den Garten erfasst hatte und in der jeder nur an sich dachte, wieder eine Art Garten Eden, in dem es jedem gut geht, weil jeder auch dem anderen seinen Platz gönnt.

Ich habe dir eine Schneise gelegt. Hau drauf, hau rein – aber mit Liebe! Ich mach dann wieder fröhlich weiter.

Erika Steinbeck, geboren 1937, Studium Mathematik und Physik, Realschullehrerin, verheiratet, zwei Kinder, gern gemalt, Workshops, Entwurf von Kirchenfenstern, Bücher: „Sehnsucht nach neuen Wegen“, „Wenn Löwen beten“ und „Wegfahren um heim zukommen“.

*

im blütenmeer

auf der wiese

lausch ich dem bienengesumm

hör vogelstimmen schwingen

durch lüfte lilablau

windgewirbelt rauschen birkenzweige

kurz ein flugzeug

das auf reisen geht

ein bus

ein auto

stör’n die töne der natur

rasenmäher durchschneiden

das quaken der frösche

dann leises fischflossengleiten

ein kind lacht

zum brummeln der hummeln

Ilse Jung, geboren 1948, lebt in Duisburg als Autorin, Musikerin und bildende Künstlerin. Veröffentlichungen in Papierfresserchen-Verlag: „Sarah und die Blätter“ und „tanzzuckende zehen“.

*

Gemeiner Efeu, du darfst nicht sterben …

Drei, zwei, eins … Ich nehme Anlauf, sause los. Der Anstieg ist jäh, so steil, dass ich kletternd gehe, gehend klettere. Meinen Kopf weit nach vorne über die Beine gereckt, den Oberkörper hineingebeugt in den Hügel. Schrittweise Bewegungen bergan drohen, trotz anfänglicher Dynamik, in ihr Gegenteil zu kehren. Passe ich nicht auf, kippe ich nach hinten. Abrupt bremst mich der Steilhang, ich rudere mit ausgestellten Armen, die einen, wenngleich lächerlichen Versuch unternehmen, mich vor dem Sturz zu bewahren. Auf rätselhafte Weise gelingt mir, mein Wanken auszubalancieren.

Motorgeheul von naher Kreuzung dringt in unseren Garten. Hinter dem Lärmschutzwall bin ich positioniert. Eine Lücke klafft zwischen seinem Sockel und der vorwiegend aus Holzlatten zusammengefügten Wand darüber. Diese Kluft verstärkt den dissonant konzertierenden Geräuschpegel bremsender Lastwagen, anfahrender Busse, das vielschichtige Allerlei des frühmorgendlichen Berufsverkehrs.

Die Luft mieft unter anderem nach stechendem Ethanol, ein Gestank, der gefiltert werden muss. Doch von wem oder durch was?

Zum Entsetzen meiner Frau züngelt über den aufragenden Boden hin zur Lärmschutzwand ein seinem Belieben nach schlängelnder Efeuteppich. „Gemeiner Efeu!“, schimpft sie. Gemein und gewöhnlich soll er laut seiner Namensgebung sein. Wer möchte diese Tatsache beanstanden?

Ich habe auf unbefestigter Erde Stand gefunden, mit nach außen gedrehten Füßen und den Knien aufgedrückten Händen bewege ich mich weiter, weil das, die Erfahrung hat es gezeigt, soliden Halt verspricht. Meine Energie reicht gerade, jene Tautropfen zu bestaunen, die von den Blättern des Efeus im ersten fahlen Sonnenlicht zu Boden träufeln, hineinsickern.

Heute ist einer der klirrend kalten Tage im beginnenden März. Der Zahn jahreszeitlich bedingter Witterungsveränderungen nagt an dem aufgeschütteten Hügel. Das Erdreich des Hangs wird fortlaufend abgetragen. Von strömendem Regen, von meinen Kindern, die den Anstieg im Zuge ihres infantilen Überschwangs für Kletterpartien entfremden, die seine Beschaffenheit durch ihre anderweitig nicht abzubauende Spannkraft schädigen. Meteorologische Phänomene, man sieht es an den Fehlprognosen der Wetterexperten, sind dem Menschen in großen Teilen nicht erschließbar. Vätern mit Kindern im Entdeckungsalter ergeht es bei der Vorhersage deren Absichten ähnlich. Daher büxen sie mir aus und malträtieren den Hang. Doch abgesehen von vorgenannten Einwirkungen ist der Anstieg zur Lärmschutzmauer natürlich kein idealer Nährboden für florierendes Wachstum. Was mich verblüfft? Die Trockenheit des Erdreichs oft binnen weniger Stunden nach schier alles wegschwemmenden Güssen.

Wende ich mein Gesicht nach unten, sehe ich durch diverse Büsche fragmentiert den traurig auf etwa einen Meter Höhe abgeschnittenen, rundherum von Efeu übersäten Rest eines Baums, der kurz vor seiner Enthauptung keine annehmbaren Äpfel mehr trug. Als verwaister Stumpf markiert er nun den äußersten Rand unseres Grundstücks nach Osten hin. Niemals kann ich beim Anblick des auf ihm in die Höhe sprießenden Efeus aufhören zu denken, seine durchäderten Blätter seien ein in Grün gehaltener Christbaumschmuck, der über Weihnachten hinaus mit unverbrüchlicher Ausdauer auf seinen Fortbestand besteht.

Den in unserem Garten vom Aussterben bedrohten Efeu will ich retten. Hauptsächlich gefährden ihn die in Handschuhen steckenden Hände meiner Frau, sie möchten ihn erdrosseln. Unser Hang, garniert von dürrem, mitunter leblosem Gestrüpp, gibt seit unserem Einzug Anlass zu ehelicher Polarisierung.

„Die Luft muss klarer werden, doch bitte, Rainer, komm mir nicht damit, du möchtest deswegen Efeu in Zentnern ankarren.“ Ganz offensichtlich habe ich mich über ihre Anweisung hinweggesetzt.

Efeu. Aus dem Mund meiner Frau klingt das Wort wie ein Fluch, es wird bloß in Notfällen bemüht, im Falle meiner Verstöße gegen ihr striktes Pflanzverbot. Als eigenständiger Mensch habe ich mich erdreistet, Löcher ins Erdreich zu buddeln, Efeu einzusetzen, und versuche nun anhand seines überbordenden Wachstums, meiner Frau eine wünschenswerte Zähigkeit zu demonstrieren. Ich habe den Efeu an unserem Hang kultiviert und wie zum Dank wurzelt er.

Vergeblich versuche ich, meine auf Ästhetik bedachte Frau für die Vorzüge der keineswegs imposanten Pflanze zu begeistern. Der seelenruhig wabernde, für die Sauerstoffgewinnung unverzichtbare Bodenbelag, er rankt in unaufgeregter Betriebsamkeit, messbare Zentimeter, wahrlich nicht wenige, von Saison zu Saison. Sein stummes, nichts proklamierendes Vorantreiben soll Beispiel sein für den fortschrittlichen, immer zu mittelsamen Menschen. Ohne Aufheben schlängelt er sich, streckt sein weitvernetztes Werk zu meinen Füßen, Bescheidenheit scheint eine Tugend des Efeus. Steigt er doch einmal, wie ich feststelle, er tut es empor der Lärmschutzwand, so fügt er sich, und zwar ausschließlich, den Gegebenheiten der Landschaft.

Seine Kanäle im Untergrund sind feine Antennen, Sensoren, die unbeeindruckt von Zäunen unter selbigen hindurchschleichen und die Nachbarschaft bespitzeln. Ein Einwurf, auf den ich meine Frau nicht bringen will.

Welch kräftige Zugfeder hingegen der Abtransport von Smog in verpesteter Umgebung, solange E-Mobilität ein schmaler Streif am Horizont der Autoindustrie ist. Während ich in der Schräge längst meinen stabilen Stand gefunden habe, rattern Regionalzüge auf Schienen, schrauben Rennboliden mit Straßenzulassung ab Grünsignal der Ampel ihre Drehzahlen ins Unermessliche, ritzen Sägen des im anliegenden Stadtbezirk stationierten Sägewerks Kerben ins Mark argloser Stämme, stieben Wolken mit dem Aroma von Hefe, dem schalen Beigeschmack abgelaufenen Apfelsafts, vom Biomasseheizkraftwerk in die Richtung, in die der Wind sie scheucht.

Ein verirrter Specht hämmert gegen einen Laternenpfahl, bringt ihn zeitweise zum Vibrieren, ein herrlicher Unmutsgesang, die wohl intuitive Rebellion gegen eine aus ihrem Gleichgewicht geratene Umwelt.

Wird meine Frau ihre unterschwelligen Ankündigungen, Efeu zu jäten, ihn in äußerster Konsequenz mit Salzwasser und Essig auszurotten, in die Tat umsetzen?

Ich kontere mit Zuwendung. Nie werde ich mich sattsehen an der rasenden Geschwindigkeit seiner Entwicklung, ich meine gar, in der Gegenwart ein Wachstum wahrzunehmen, das nachher in der Zukunft stattfinden wird. Jedes Knistern, jegliches Knacken, den kleinsten Wimpernschlag, das leiseste Rauschen, all das nehme ich als Anlass, mich an seinem Wuchs zu ergötzen.

Seine violetten, ins Schwarz tendierenden Früchte beunruhigen meine Frau unserer Kinder wegen. Ist es nicht Aufgabe von Erziehung, die Kinder von der Versuchung abzubringen, sie zu lutschen oder schlimmstenfalls zu verspeisen, reize ich Dagmar. Eine Plage, dass es Menschen an Abwehrmechanismen mangelt, die Bestandteile des Efeus erst toxisch machen, moniere ich weiter.

Den Efeu mit einem Kahlschlag eliminieren? Für probater halte ich, die Kinder zu unterrichten, von den betörenden Früchten dürften sie nicht in ihren umnachtetsten Momenten naschen. Eine Schande der Evolution, dass Tiere uns an Verträglichkeit so viel voraushaben.

Tatsächlich! Als ich mich umsehe, erkenne ich Leerstände, von Efeu befreite Lichtungen. Ich muss daran glauben, meine Frau hätte ihren Feldzug bereits gestartet. Den Baumstumpf tief unter mir sehe ich urplötzlich grell in seinen Konturen. Er verkörpert die Rodung des Efeus. Nicht lange wird es dauern und ihm wird unter der Herrschaft meiner Frau allumfassend ein vergleichbares Schicksal ereilen.

Oliver Fahnwurde 1980 in Pfaffenhofen an der Ilm im Herzen Oberbayerns geboren. Der Heilerziehungspfleger lebt bis heute zusammen mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen in der Kreisstadt. Fahn veröffentlicht regelmäßig Beiträge in Kulturmagazinen und verfasst Texte für Anthologien.

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Der alte Baum

Der alte Baum

Monument unserer Verzückung

Herab fällt die Nacht

Und umhüllt

Mit ihrem blauen Mantel

Der Ewigkeiten erahnen lässt

Seinen geheimnisvollen Schlaf

Ingeborg Henrichs

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Über Stunden im Garten

Zeit. Es war stets angebracht, sie sinnvoll und zweckmäßig zu nutzen. Eine gewisse Ordnung musste sein, gerade dann, wenn es um Haus und Garten ging. Das war und ist nicht nur unsere Ansicht …

Franka A., Stephan Mirrens jüngere Cousine und die Eigentümerin einer Wohnung dieses Anwesens, stolzierte eines frühen, regnerischen Abends wieder einmal – mit prüfenden Augen, Gartenschere in der Rechten – über die holprige Wiese des hinteren Gartens. Wie es Stephan in diesem Augenblick aus dem großen Fenster im Obergeschoss beobachten konnte. Er beobachtete Franka auch jetzt mit größter Neugier, war bereit, jederzeit das Treppenhaus herunterzurennen – knurrte vor sich hin, hätte aber dann gern, immer kritischer, aus dem Fenster gerufen, was er zu Frankas Tun meinte. Es war wenig Schmeichelhaftes, aus dem Ärger geboren.

Gut, dass Franka diesen Stephan Mirren von unten her nur schemenhaft sehen konnte, wenn sie denn überhaupt einen flüchtigen Blick in Richtung Haus riskieren wollte! Sie wollte ja im Garten intensiv tätig sein, heute etwas zu Ende bringen. Dieser Strauch dort war schon seit Monaten fällig. Sie ging also zügig zu ihm hin, hätte liebend gern mit ihm gesprochen, doch er zeigte sich äußerst unwillig.

Stephan wusste, was Franka gern getan hätte. „Mit Sträuchern redet man nicht, Franka!“, rief er belustigt in den Garten herunter. Er hatte das große Fenster ein wenig geöffnet. Seine Häme im Gesicht hätte sie sehen sollen!

Aber sie beugte sich nun lediglich in den wuchtigen Strauch mit dicken Ästen hinein. Der alte Stephan konnte ihr gestohlen bleiben, jedenfalls in diesen Stunden!

Die Nachbarin Stolpin, eine Brünette mit frechem Mundwerk, gerade hinter einem Busch aufgetaucht, feixte Franka unverschämt-unverständlich an. Auch darauf reagierte Franka überhaupt nicht. Wieso auch? Die Stolpin war auf ihre spezielle Art großmäulig und stupide. Mir ihr auch nur ein Wort zu wechseln, wäre falsch gewesen. Manchmal war es wirklich nur gut, dass Franka in ihre Gartenarbeit vertieft war!

So sah mancher Nachmittag der Gartenarbeit aus.

War Stephan Mirren ein närrischer alter Herr?

Er war, machte auch keinen Hehl daraus, ein Endsiebziger und lebte schon jahrzehntelang in diesem recht schönen, mittlerweile aber etwas heruntergekommenen Haus, welches er auch sein Eigen nannte, ohne eine besondere Affinität zum Haus selbst entwickelt zu haben – geschweige denn für den weiten Garten, einen von Franka im Alltag der Gartenaktivitäten eher etwas vernachlässigten Garten, für welchen sie neben Stephan die Eigentumsrechte hatte.

„Musst du immer die Bäume fällen, ohne mich vorher zu fragen, Stephan?“, hatte Franka noch letzte Woche einigermaßen freundlich gefragt, als sie sich vor der schäbigen Drei-Fahrzeuge-Garage, die in Rostrot lackierte Türen aufwies, zufällig über den Weg gelaufen waren.

Stephan lachte nur kurz auf und schüttelte seinen Kopf. Allgemein war er um keine hämische Erwiderung verlegen, aber ihm war aufgefallen, dass Franka in den letzten Monaten viel aktiver im Garten geworden war. Er meinte wohl, sie würde sich mit größerer Entschlossenheit und einfach mehr Zeitaufwand dem Garten widmen wollen.

Um sie hier und jetzt loszuwerden, gab er noch ein: „Wir sollten uns nicht so oft streiten!“, von sich. Schon war er fort. Wahrscheinlich hatte er sich in seinen Bereich im Keller verzogen, um dort dem über alles geliebten Zeitvertreib nachzugehen. Die aufgebaute Modelleisenbahn, eine teure Anschaffung, musste täglich gehütet werden! Ohne das Hobby Modelleisenbahn schien er gar nicht leben zu können – seit seiner Kindheit, wohlgemerkt!

Franka fand dies zwar nicht blöd oder kindisch, doch hätte er in der Vergangenheit öfter Zeit für die Gartenarbeit aufwenden sollen. Sie hatte diese Kritik aber nie vorgebracht.

Beide hatten, mit entgegengesetzten Haltungen, Einstellungen und Meinungen ausgestattet, öfter ihre Auseinandersetzungen darüber, wie man mit dem Garten verfahren sollte. Das war ein Garten mit einer weiten Wiese und ein paar alten Bäumen, zumal mit dem Häuschen ganz unten nahe den Schafen des Nachbaranwesens als auch der Terrasse Frankas. Wer hatte was, wann und wie zu erledigen!?

Na ja, man einigte sich meistens irgendwie, will heißen auf den kleinsten Nenner, um die Sache nicht zu weit zu treiben. Es blieb bei ihnen oft so ein mulmiges Gefühl zurück. Zufriedenheit? Keine.

Stephan rüpelte – so konnte man manchmal hören – mit Worten, rief also zum Beispiel etwas wie: „Runter und weg damit, sofort auf den Haufen, am besten abtransportieren!“

Es könne für ihn, sagte Franka, nicht genug Tabula Rasa herrschen, wogegen sie darauf bestehe, zumindest in diesem Garten vieles, wenn nicht alles in einer leichten Ordnung zu halten, ohne jeden Hang zur Penibilität. Sie sorgte sich, so war in der Nachbarschaft durchaus bekannt, sogar um die Natur, von der sie umgeben war. Dies wurde nicht von allen Nachbarn geschätzt. Franka meinte sogar, eher unbeliebt zu sein.

Stephans Sorgen bezogen sich, wenn er überhaupt welche hatte, auf seine geliebte Geldbörse und all die kleinen Hobbys, die er mit Hingabe pflegte; besonders seine Modelleisenbahn!

Es zogen sich die Gegensätze, wie oben beschrieben, gar nicht an. Manchmal war es geradezu Horror, der sich in Gefühlsausbrüchen kundtat.

Zumal der unparteiische Berichterstatter, der all dies immer wieder mitbekam, obwohl er es nicht mitbekommen wollte, leicht in etwas hineingezogen wurde. Er berichtet also hier und jetzt aus sicherer Quelle!

Um diversen Auseinandersetzungen wegen des Gartens und wegen anderer Problemfelder möglichst aus dem Wege zu gehen, ignorierte man sich zwar nicht, aber es musste des Öfteren der andere gemieden werden. Also aufgepasst, wer denn gerade in Haus und Garten unterwegs ist! Das war, so ist es wohl heute glasklar zu sehen, kein akzeptabler Dauerzustand. Jedoch hielt sich das Ganze eine halbe Ewigkeit.

An dem besagten frühen Abend mit Regen, der auch immer stärker wurde, sah sich Franka nach vielleicht einer Stunde des Tuns im Garten um. Und wer stand neben ihr? Stephan. Zunächst krittelte er an ihr herum, zeigte ihr dann unverschämt den Vogel und war schon drauf und dran, zu dem alten, selbst gebauten Häuschen zu spurten, was er trotz fortgeschrittenen Lebensalters locker gebracht hätte. Er blieb nach wenigen Ausfallschritten stehen. „Du brauchst einen Mann, liebe Franka, der dir bei den alltäglichen Mühen tapfer zur Seite steht und hilft!“, gab er ironisch zum Besten. Franka hielt die Schere in der rechten Hand und war verärgert. Dergleichen musste sie sich nicht anhören! Sie wollte schon in ein Gelächter ausbrechen …

Stephan hielt ihr aber den Mund zu, mit seiner linken Pranke, die von den Jahrzehnten der harten Arbeit an allen möglichen Arbeitsorten geformt war. Sie schrie auf, als das wieder ging. Glücklicherweise fiel die Schere auf die Wiese. Dann landete die gute Franka, ganz außer sich, auf den Knien hockend im nassen Gras. Und der dreiste Stephan war jetzt geneigt, ihr einen moralischen Vortrag zu halten, der beinhaltete, wie dumm sie sei, ohne Ehemann durchs Leben zu gehen. All die Nachteile des Single-Daseins in Kauf zu nehmen, nur um so ein bisschen Freiheit zu haben. Sich durch das Arbeiten während der teuren Freizeitstunden aufzureiben.

Franka stand wieder schnell auf den Beinen, zeigte dann die Abwehraktion der belästigten Frau, indem sie den Alten zurückstieß! Dort lag er nun, schrie wutentbrannt …

Auf den Wiesen der anderen Nachbarn derartiges zu beobachten, war dem Berichterstatter während der letzten Jahre nicht vergönnt gewesen. Als umso schöner hat er das gerade Berichtete empfunden! Sehr gern will er weiter berichten! Diese beiden hatten und haben noch einen Umgang, der auf der einen Seite als recht normal gelten kann, auf der anderen Seite aber Sprengstoff in sich birgt. Dies ist ein solcher, der, wenn er irgendwann wirklich hochgehen sollte, zu einem bösen Ende führen könnte!

So viel zur Arbeit in Haus und Garten. Sie hat soziale Relevanz. Nun, Nachbar zu sein, ist manchmal problematisch.

Kay Ganahl,Jahrgang 1963 mit dem Lebensmittelpunkt Solingen/NRW, von Beruf Diplom-Sozialwissenschaftler und Schriftsteller, begann in jungen Jahren, sich mit Literatur, Politik und Philosophie auseinanderzusetzen, sodass es selbstverständlich war, diese Interessen mit dem Studium der Sozialwissenschaften weiter zu verfolgen.

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Die Gartentür

Es war einmal eine alte, gusseiserne Gartentür, die war zwischen zwei langen Steinquadern festgemacht und trennte damit den Rest der Gartenzaunlatten nach außen hin ab. Der alte Zaun war längst wie der Garten verfallen, verwildert und ungenutzt. So blieb nur noch die Gartentür übrig, doch auch diese war mehr oder weniger nutzlos. Irgendwie verständlich, wenn man nicht mehr abgeschlossen oder geschlossen wurde, den ganzen Tag über offen stand und ungenutzt blieb.

Es war Peter Kunko, der ihr eines Tages neuen Mut gab. Peter war alt und lebte weit abseits besagter Gartentür am Rande der kleinen Stadt. Eines Tages machte er einen Spaziergang. Als er die alte Gartentür sah, kramte er in Gedanken in Erinnerungen seiner Kindheit. Er ging zu der Tür, öffnete sie und schloss sie wieder. Dann zog er eine kleine Büchse Maschinenöl aus der Manteltasche, die er zufällig dabei hatte vom Ölen seiner Fahrradkette, ehe er losgegangen war, und ölte die alte, verrostete Gartentür. Er dachte an früher und wie sie schon damals immer gequietscht hatte, wenn er in diesen Garten gelaufen war.

Der Gartentür war gar nicht klar, wie ihr geschah. Plötzlich kümmerte sich jemand um sie, ölte sie sogar, sie wurde geschlossen und wurde wieder gebraucht, nach Jahren, in denen nichts mit ihr passiert war. Sie wurde wieder froh. Peter Kunko auch – er war froh, dass er die Tür nochmals hatte sehen dürfen. Diese Tür war Teil seiner Kindheit gewesen, die er in diesem Garten erlebt hatte, und an diese Kindheit erinnerte ihn die Tür. So ging wohl alles gut zu Ende: Peter ging glücklich heim und die Gartentür fiel ins geölte Schloss.

Und wenn sie nicht zerfallen ist, dann quietscht sie heute wieder.

Schluss – aus – geschlossen.

Simon Käßheimer hat seine Wurzeln am Bodensee. Infos unter www.simonkaessheimer.de.

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Am Brunnen

Drei Basaltsäulen in unterschiedlicher Größe stehen harmonisch beieinander. Meistens quillt Wasser oben aus der Mitte von jeder und fließt über die Steine, lässt sie tiefschwarz erscheinen – so streng, so schwarz, doch durch das Wasser von anziehender Lebendigkeit. Das Wasser spiegelt das flimmernde Licht – eine kleine Augenweide.

Es kommt vor, dass der Wasserfluss der beiden größeren Säulen versiegt. Sie sehen dann grau und leblos aus. Dann kommt das Wasser nur noch aus der dicken, kleinsten Säule.

So ist es auch heute. Immer wieder kommen Vögel zum Trinken oder zum Baden. Da – eine Meise sitzt zögernd am Rande des kürzesten Steins. Sie tappt nach vorne und trinkt aus der kleinen, sprudelnden Quelle – dann setzt sie sich entschlossen darauf. Sie schlägt mit den Flügeln, damit das Wasser überall hinkommt. Dabei guckt sie immer wieder unruhig in alle Richtungen.

Wer schleicht denn da um den Stein? Eine zweite Meise! Sie flattert keck auf den Brunnenrand. Mit kleinen Angriffsgesten hüpft sie rund um unsere planschende Meise. Diese dreht sich ständig, damit sie die Angreiferin immer im Auge hat, „Mein Bad“ signalisiert sie.

Gibt die Nummer zwei auf? Ja, sie flattert weg.

Nein, doch nicht! Jetzt kommt sie von der anderen Seite. Ohne Zögern greift sie an. Unsere Badende geht schnell in eine Gegenwehrposition. Sie hat Erfolg, die Rivalin fliegt weg. Das Feld gehört wieder ihr allein. Doch, sie ist noch in Kampfbereitschaft, da kommt schon ein dritter Angriff!

Die beiden Vögel stehen sich in höchst aggressiver Haltung gegenüber – und das bei zwei niedlichen Meisen! Wer hätte das gedacht. Streit auch hier. Ohne direkten Kampf räumt Meise eins schließlich das Feld.

Die Siegerin stürzt sich in das Quellwasser. Es wird für sie nur ein kurzes Vergnügen. Nummer eins ist schon wieder am Rand des Steins. Es entsteht ein zögerliches Hin und Her mit kleinen Attacken zwischen den beiden. Keine ist mehr im Wasser.

Auf der höheren (trockenen) Säule erhebt jetzt eine dritte Meise ihre Ansprüche – einfach so von oben herab. Und mit Staunen sehe ich, wie die kleinen Streithähne erst zögern, dann fliegen beide in verschiedenen Richtungen davon.

Was mag sie dazu bewogen haben?

Welches Signal hat Meise drei ihnen gegeben?

Dieser Episode habe ich in einem kleinen Film festhalten können. Ich schicke ihn an unseren Nachbarn. Er ist es, der meistens dafür sorgt, dass aus allen drei Säulen Wasser sprudelt.

Er schreibt gleich zurück.

Ich zitiere: Vielen Dank. Das ist ja unglaublich schön anzusehen. Doch ich habe es gemerkt. Eine Wasserstelle ist viel zu wenig. (lachender Smiley) Ich denke, morgen wird es wieder drei Wasserstellen geben. (Smiley mit Augenzwinkern)“

Und wirklich fließt am nächsten Tag wieder Wasser aus allen drei Säulen! Wunderbar: ein intakter lebendiger Quellbrunnen, ein lieber Nachbar und – hoffentlich weniger Streit unter den badewilligen Piepmätzen.

Aber kann es wirklich so sein in der Welt, dass es weniger Streit gibt, wenn für alle mehr da ist?

Renate (Rana) Welk verbrachte ihre Kindheit in Berlin, ihre Jugend in Duisburg. Sie studierte Sozialpädagogik in Berlin und später noch Soziologie und Volkswirtschaft in Köln. Berufliche Erfahrungen sammelte sie auf verschiedenen Gebieten der Kinder-, Erwachsenen- und Behindertenarbeit. Seit Ende der Siebzigerjahre leben ihr Mann und sie in Neuss, wo auch ihre beiden Söhne aufwuchsen. Für ihre vier Enkelkinder begann sie mit dem Schreiben und Illustrieren von Kinderbüchern, was sie auch weiterhin tun wird. Auf diesem Weg fand sie aber auch zum Schreiben von Gedichten, Essays und Kurzgeschichten.

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Und es gibt sie doch ...

Sabine sass an einem schönen Sommerabend in ihrem Garten in ihrem Liegestuhl. Sie genoss den Duft der Blumen und des dazwischen wachsenden Grases. Zwischendurch schlief Sabine immer mal wieder ein und träumte von einer Welt ohne Kriege, einer Welt, in der sich alle Lebewesen miteinander verstanden und keiner benachteiligt, verletzt oder getötet wurde.

Sie erinnerte sich gerne an den Artikel, den sie vor einiger Zeit gelesen hatte, in dem berichtet wurde, dass eine Orang-Utan-Dame in Neuseeland freigelassen werden musste. Zwar hatte der Kläger eigentlich erreichen wollen, dass alle gefangenen Tiere in ganz Neuseeland freigelassen würden. Das allerdings klappte nicht. Aber immerhin wurde dieser Orang-Utan-Dame eine Persönlichkeit zugesprochen und daher durfte sie nicht gegen ihren Willen eingesperrt werden und bleiben.

Als Sabine jetzt so darüber nachdachte, döste sie im Halbschlaf vor sich hin. Plötzliche meinte sie, eine leise, sehr leise Stimme zu hören. Zuerst war sie sich nicht sicher, ob das ein Teil eines Traumes war oder ob sie, von wem oder was auch immer, wirklich gerufen wurde.

Sabine machte vorsichtig ihr linkes Auge zur Hälfte auf – und da sah sie ein sehr starkes Glitzern vor ihrem Auge. Wegen des vielen Glitzers konnte sie erst gar nicht erkennen, was da los war.

Dann sprach etwas aus dem Glitzer heraus: „Sabine, wir wissen, dass du etwas Besonderes bist. Und wir Naturwesen, also alle Elfen, Elben, Trolle, Hexen, Vampire, Werwölfe und alles, was es da sonst noch so gibt, haben uns entschlossen, dass DU unsere Botschafterin in der Menschenwelt sein sollst. Wir wissen, dass das nicht einfach ist, aber wir wollen gerne, dass es wieder so wird wie vor vielen Tausenden von Jahren, als die Menschen und die Naturwesen sich noch gut verstanden. Erst mit dem Krieg von Glencool entschieden wir Naturwesen, uns in Zukunft den Menschen nicht mehr zu zeigen, denn anders als ihr Menschen verabscheuen wir Krieg ... Ja, ich weiß schon, die meisten Menschen wollen auch keinen Krieg, aber ständig ist irgendwo einer. So etwas gibt es in der Naturwesenwelt nicht. Und damals, nach dem großen Krieg, hatten wir große Angst, dass ihr diese Kriege auch in unsere Welt bringen würdet. Ich bin Xenirallalal und kann Gedanken lesen. Deshalb habe ich mir vorhin deine Träume angesehen und mich dazu entschieden, mich dir zu zeigen und mit dir zu sprechen.“

Sabine war sehr überrascht, denn sie hatte zwar irgendwie schon immer geahnt, dass es Feen oder Elfen gab, doch ein solches Wesen direkt vor sich zu sehen, war dann doch noch einmal etwas anderes. Andererseits freute sich Sabine natürlich sehr, dass ausgerechnet sie zur Botschafterin der Naturwesen ernannt wurde.

Schon am nächsten Tag machte sie sich auf den Weg. Zuerst ging sie in die Stadtverwaltung, doch dort lachte man sie nur aus – ebenso wie beim Bürgermeister. Sie ging zu unzähligen Institutionen, doch nirgendwo glaubte man ihr, dass sie mit einem echten Naturwesen gesprochen hatte. Im Gegenteil, sie hatte großes Glück, dass niemand den psychiatrischen Dienst und die Herren mit den weißen Jacken und Ärmeln anrief.

Sabine wollte jedoch so schnell nicht aufgeben und so versuchte sie es wochenlang bei den verschiedensten Ämtern in ganz Deutschland. Doch nirgendwo wollte man ihr auch nur im Ansatz glauben. Jeden Tag erzählte sie Xenirallalal von ihren Versuchen, Gehör zu finden, und jeden Tag wurden beide immer trauriger.

Nach 333 Tagen entschlossen sich beide, den Versuch aufzugeben, und Xenirallalal und Sabine sagte wie aus einem Mund: „Die Menschen werden es wohl leider nie mehr lernen, dass es viel mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gibt als das, was man sehen kann. Nur einige wenige Menschen werden berufen sein, die Naturwesen zu erkennen und mit ihnen zu sprechen, doch so wie früher wird es wahrscheinlich nie mehr werden ... Oder hast du noch eine Idee, wie man die Menschen überzeugen kann, dass es Elfen, Elben und andere Naturwesen in unseren Gärten gibt?

Susanne Weinsantowurde 1966 in Karlsruhe geboren.

---ENDE DER LESEPROBE---