Mein großer Freund von nebenan - Viveca Lärn - E-Book

Mein großer Freund von nebenan E-Book

Viveca Lärn

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Beschreibung

Jennifer, die wegen ihrer roten Haare von allen immer nur Troll genannt wird, ist 13 Jahre alt und gelangweilt! Da trifft sie den 25-jährigen Jonas, der gerade im Nachbarhaus eingezogen ist. Jonas ist schlacksig, gro­ß und so ganz anders als alle Erwachsenen, die Troll kennt. Ein richtiger Träumer. Die beiden werden schnell Freunde und erleben viele Abenteuer mit Jonas' grünem Bus, seinem plappernden Papagei und seiner Gitarre. Doch bald merkt Troll, dass auch in Jonas' Leben nicht immer alles bunt und verträumt zugeht.-

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Mein großer Freund von nebenan

Viveca Lärn

SAGA Egmont

Mein großer Freund von nebenan

Originaltitel: Bas och refräng

Übersetzt von Ursula Isbel Dotzler

Copyright © 1978, 2018 Viveca Lärn und Lindhardt og Ringhof Forlag A/S

All rights reserved

ISBN: 9788711797433

1. Ebook-Auflage, 2018

Format: EPUB 2.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach

Absprache mit Lindhardt og Ringhof gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com

Es ist fad, allein zu sein

Jennifer wurde von allen nur Troll genannt – wohl wegen ihrer roten Haare. Ihr Vater war Lehrer. Man wußte auf die Minute, wann er morgens seine braune Aktenmappe nehmen und zur Schule gehen würde. Und es stand genau fest, wann er nach Hause kam. Fünf vor halb drei am Montag und zwanzig nach eins am Dienstag; mittwochs um Viertel vor sechs, weil er da zusätzliche Unterrichtsstunden hatte, fünf vor halb drei an Donnerstagen und freitags um halb vier. Am Samstag saß er meistens über seiner Briefmarkensammlung, und da war es nicht ratsam, im gleichen Zimmer zu niesen. Sonntags unternahmen er und Trolls Mutter lange Spaziergänge bis zu einer Waldwirtschaft, wo sie Kaffee tranken und Kuchen aßen. Manchmal ging Troll mit ihnen.

Trolls Mutter fastete. Sie hatte eine Briefwaage, auf der sie jedes belegte Brot wog, ehe sie es aß. Besonders morgens wog sie alles, weil sie Angst hatte, zu dick zu werden. Dann schrieb sie in ein kariertes Heft, was sie gegessen hatte, seufzte und stellte sich selbst immer wieder auf die Waage.

Nachmittags aber, wenn sie das Abendessen für die Familie richtete, aß sie von allem etwas, was ihr gerade schmeckte. Ein bißchen Käse hier und eine Handvoll Hackfleisch da, und dann das Innere von allen Marmeladenhörnchen. Später behauptete sie, die Füllung müsse ausgelaufen sein, während sie vom Laden nach Hause ging. Die Füllung, die Troll am liebsten mochte! Troll konnte es nicht leiden, wenn ihre Mutter sich selbst und anderen etwas vorschwindelte.

Dabei war Trolls Mutter eigentlich gar nicht dick. Sie sah aus, wie Mütter eben für gewöhnlich aussehen, und hatte braunes Haar.

Die dreizehnjährige Troll wurde wegen ihrer roten Haare oft gehänselt.

„Du hast Glück“, sagte Trolls große Schwester Liselotte. „Das hübscheste an dir sind deine Haare. Wenn du einmal einen tollen Jungen triffst, dann spring schnell ins nächstbeste Abflußrohr, damit er nur deine Haare sieht. Dann ist er von dir hingerissen.“

Liselotte war einundzwanzig und erwartete ein Kind. Sonst hatte Troll keine Geschwister, und nachdem Liselotte von zu Hause ausgezogen war, fühlte sich Troll manchmal wie ein Einzelkind. Liselotte wohnte nun in einer Zweizimmerwohnung am Stadtrand, zusammen mit ihrem Mann, der Kent hieß und meistens Anzüge trug. Er arbeitete in einer Bank.

Umwerfend war Kent ja nicht, fand Troll, aber recht nett. Nicht so nett, daß er Geld von der Bank mit nach Hause nahm und es verteilte – nein, das nicht. Aber manchmal konnte schon ein Fünfer aus seiner schwarzen Brieftasche in Trolls Jeanstasche gleiten. Das war allerdings noch öfter vorgekommen, als Liselotte zu Hause gewohnt hatte und Kent sie besuchte. Nun wurden die Fünfer spärlicher.

Doch die beiden hatten jetzt wohl an anderes zu denken. Sie mußten einen Kinderwagen und Schnuller kaufen, Windeln und Klappern und alles, was ein Baby so braucht.

Der Vorteil an Liselottes Auszug war jedenfalls, daß Troll ein eigenes Zimmer bekam. Das erste, was sie tat, als ihre Schwester die Wohnung verließ, war, daß sie die Bilder von Schlagersängern an die Wand heftete, die sie gesammelt hatte. Liselotte hatte sie nie ein einziges aufhängen lassen. Sie wollte nur Fotos von Mikis Theodorakis und Leonard Bernstein und anderen faden älteren Knaben an der Wand haben.

Aber langweilig war es trotzdem, seit Liselotte ausgezogen war. Niemand redete und lachte mehr über die gleichen Sachen wie Troll. Abends mußte man allein im Bett liegen und mit den Popsternen an der Wand reden. Und die antworteten natürlich nicht. Sie lächelten nur. Es war fast so, daß Troll ihrer überdrüssig wurde. Sie lächelten ein bißchen zuviel.

Jonas, der lustige Nachbar

Es war ein ganz gewöhnlicher Donnerstag Anfang Oktober. Trolls Mutter saß am Küchentisch und las in einer Illustrierten, wie man ohne Mühe innerhalb von vier Wochen sechs Kilo abnimmt. Sicherlich handelte es sich um Gurken.

„Mmm“, sagte sie, als Troll aus der Wohnung ging.

Auf der Straße sah Troll zuerst nach rechts. Dort stand nur ein Haus, und auf dem Balkon waren keine Leute. Zur Linken bemerkte sie einen grünen VW-Bus mit offenen Türen. Er war voller Möbel. Troll spähte hinein, doch niemand saß hinter dem Steuer. Dann sah sie sich um. Die ganze Straße lag still und verlassen in der Nachmittagssonne.

Da stellte sie sich auf die äußerste Kante des Bürgersteigs und rief: „Himmeldonnerwetter, Kruzitürken, Teufel noch mal, zum Geier, Scheißkram und dreimal verfluchter Scheibenkleister!“

Jetzt war es heraus. Sie fühlte sich nicht besser, aber es war heraus. Da passierte etwas sehr Peinliches. Aus einer Decke unter einem alten Schaukelstuhl, der in dem VW-Bus mit der Schiebetür stand, sah ein etwas verschlafener Kopf hervor. Er gehörte zu einem jungen Mann.

„Hat sich jemand weh getan?“ fragte er.

Eine dümmere Frage konnte er wohl nicht stellen! Troll sah ihn an und dachte, daß sie ihm die Sache wohl erklären mußte.

„Ich fluchte“, sagte sie, „weil ich nichts zu tun habe. Und ich ärgere mich schon den ganzen Nachmittag, weil mir so langweilig ist. Nie gibt es etwas, was ich tun könnte. Und es passiert auch nichts Gescheites. Und versuch jetzt bloß nicht, mir zu sagen, daß ich zu den Pfadfindern gehen oder Pingpong spielen soll, weil ich dich sonst auf der Stelle niederschlage!“

Der Fremde machte ein beeindrucktes Gesicht. Er war nun aus dem Bus geklettert und erwies sich als furchtbar groß und dünn.

Troll stieß mit dem Fuß gegen ein Rad seines komischen Autos, um ihm zu zeigen, daß sie es ernst meinte.

„Laß meine Reifen in Ruhe“, sagte der junge Mann. „So was tut mir richtig weh. Du könntest mir statt dessen beim Einziehen helfen,“

„Wirst du in Nummer fünf wohnen?“

„Ja, das habe ich vor. Besonders, wenn lauter so friedliche Leute wie du in dem Haus sind.“

„Nein, sag ehrlich. Wirst du hier wohnen? Woher kommst du?“

Der Fremde lächelte. „Ich bin von Östersund hierhergefahren. Und ich werde heute hier einziehen. Genügt dir das?“

„Nein. Wie heißt du?“

„Jonas. Und du?“

„Jennifer.“

„Was für ein Name! Hübsch ist er natürlich, aber trotzdem ein bißchen hochtrabend. Hat deine Mutter zu viele englische Filme im Fernsehen gesehen?“

Jennifer schwieg zuerst, aber dann mußte sie doch ein wenig lachen.

„Ich werde aber Troll genannt.“

„Tatsächlich? Hast du einen Trollschwanz?“

Für einen Erwachsenen war er wirklich lustig.

„Nein, hab ich nicht. Aber vielleicht nennen sie mich so, weil ich mich nicht jeden Tag kämme. Oder weil … Ach, es ist eben einfach so.“

Jonas ging um den Bus herum. Wie groß und schmal er war! Er trug einen abgeschabten grünen Monteuranzug mit großen Taschen. Seine Haare waren ziemlich dicht und fast schwarz. Und er hatte so nette Augen. Ungewöhnliche, graue Augen. Und sehr schwarze, ganz gerade Augenbrauen, die fast über der Nase zusammenwuchsen.

„Wie groß du bist!“

„Ja, ganz im Gegensatz zu dir, so gleicht es sich ja wieder aus“, sagte Jonas. „Was meinst du, womit fangen wir an?“

Troll sah sich im Bus um. Er war wirklich voll. Zuoberst thronte ein Käfig mit einem grünen Papagei darin. Er saß ganz still auf seiner Stange.

„Den nehmen wir zuerst“, sagte sie. „Er friert vielleicht.“

Jonas sollte eine Zweizimmerwohnung im ersten Stock beziehen. Er fand es seltsam, daß Troll keine Ahnung hatte, daß dort jemand ausgezogen war. Sie wohnte schließlich im nächsten Aufgang.

„Woher soll ich das denn wissen?“ fragte sie verwundert. „Bestimmt haben die Leute keine Kinder gehabt. Ich glaube nämlich, daß ich alle Kinder kenne, die hier im Haus wohnen. Drei sind es: Christina, die dauernd Klavier spielt. Und Thomas, der Pfadfinder. Dann noch Erik, der ist Orientierungsläufer, weißt du. Jeden Sonntagmorgen um sieben Uhr rennt er los und stapft mit dem Kompaß im Wald herum. Dann kommt er mit zerrissener Hose und Tannenadeln in den Haaren wieder heim und ist wahnsinnig glücklich. Aber so was ist nichts für mich. Es gibt nichts, was ich tun könnte.“

Sie begannen Jonas’ Habseligkeiten ins Haus zu tragen. Jonas war wahnsinnig stark. Er trug sein Bett auf dem Kopf. Troll trug nur den Papagei im Käfig.

„Später machen wir eine Umzugsmahlzeit“, sagte Jonas. „Wenn wir fertig sind.“

Doch als sie zur Tür von Jonas’ neuer Wohnung kamen, an der noch kein Namensschild befestigt war, blieb Troll stehen und faßte sich an den Kopf.

„Oje, ich darf ja nicht zu Fremden in die Wohnung gehen!“ „Dann springst du eben hinein, wenn du meinst, daß ich ein Fremder bin“, sagte Jonas.

Aber Troll trug nur alles bis zur Türschwelle, und Jonas brachte die Sachen dann in seine Wohnung.

„So gibt’s keinen Streit“, sagte Troll.

„Dabei mag ich Streit gern“, sagte Jonas zwinkernd. „Für mich gibt’s keinen Samstag ohne eine ordentliche Prügelei.“

Wenn er lächelte, wurden seine Augen ganz schmal. Troll fühlte sich richtig aufgekratzt. Es war schön, einen neuen Freund zu haben.

„Wie alt bist du?“ fragte sie.

„Fünfundzwanzig“, erwiderte Jonas. „Jedenfalls ungefähr. Wenn du willst, sehe ich mal in meinem Führerschein nach.“

Er muß doch wenigstens wissen, wie alt er ist! dachte Troll verwundert.

„Aber willst du mich nicht fragen, wie alt ich bin?“ sagte sie schließlich.

„Nein, warum denn? Spielt das eine Rolle?“

„Also, du bist wirklich ein komischer Typ“, sagte Troll.

„Alle Erwachsenen fragen doch, wie alt man ist und in welche Klasse man geht und worin man am besten ist.“

„Also gut“, erwiderte Jonas. „Wie alt bist du und worin bist du am besten – und was war da außerdem noch?“

„Wenn du es unbedingt wissen willst“, sagte Troll, „ich bin dreizehn Jahre und zwei Monate und sieben Tage. Ungefähr jedenfalls. Und ich bin in keinem Fach am besten. Besonders nicht in Gymnastik, wo ich gern am besten wäre, damit jeder mich Schmetterling oder Sperber oder so was nennen würde. Einmal, als ich an der Sprossenwand hing, sagte die Lehrerin, daß ich wie eine Eule aussehe, aber das ist ja wohl nicht ganz dasselbe.“

Jonas lachte, und Troll freute sich. Der Papagei sah sie an. Er hatte vielleicht Heimweh nach seinem früheren Zuhause. Es war wohl auch nicht immer ein reines Vergnügen, ein Papagei zu sein.

Es begann dunkel zu werden, als der Bus leer und der Flur in Jonas’ neuer Wohnung voll war. Jonas und Troll seufzten gleichzeitig, und dann nahm Jonas einen Christstollen, eine Flasche Saft und eine Gitarre aus seinem grünen Rucksack.

„Christstollen!“ sagte Troll. „Im Oktober!“

„Christstollen ist doch etwas Feines“, erwiderte Jonas verwundert und zupfte an seiner Gitarre. „Wenn man Christstollen mag, kann man ihn wohl das ganze Jahr über essen, sooft man Appetit darauf hat. Christstollen ist übrigens das einzige, was mir an Weihnachten gefällt. Alles andere ist so anstrengend.“

Jonas saß genau innerhalb der Türschwelle und Troll genau außerhalb auf dem Steinfußboden des Treppenhauses. Es war ein prima Umzugsschmaus. Eine Frau, die die Treppe herunterkam, musterte sie neugierig und mißbilligend zugleich.

„Hätten Sie gern ein Stück Christstollen?“ fragte Jonas.

Sie antwortete nicht, sondern polterte nur die Treppe hinunter, daß die Räder ihres Einkaufswägelchens ratterten.

„Kannst du nicht etwas Schönes spielen?“ schlug Troll vor. „‚I do, I do, I do‘ vielleicht?“

„Nein, so was Komisches kann ich nicht. Zu Hause habe ich immer mit einem Freund zusammen gespielt. Ich war meistens für Baß und Refrain zuständig. Ja, Baß und Refrain, das bin ich.“

„Ach so“, sagte Troll. „Tschüs dann, Baß und Refrain, jetzt muß ich heim.“

Jonas nickte nur und zupfte weiter an seiner Gitarre. Er war wohl nicht gerade der Typ, der „bis bald“ sagt.

Er spielte und sang leise dazu: „Wir fahren in einem Boot nach Cytherae, mit dem Nachtwind als Segel, und keiner sieht uns dabei …“

Lustig klang das. Eigentlich sogar richtig schön, fand Troll.

Mein neuer Freund von nebenan

„Hallo, kleine Jennifer“, sagte Trolls Vater. Er saß an seinem braunen Schreibtisch und korrigierte Hefte. „Wo bist du gewesen?“

„Draußen“, erwiderte Troll.

„Ach, wirklich?“ murmelte ihr Vater, ohne aufzusehen.

Troll seufzte ein wenig und sah ihn an. Er war kahlköpfig bis auf einen Kranz von dünnen Haaren an den Seiten. Und er trug ein kariertes Hemd, das wenigstens nicht ganz hoffnungslos war. Glücklicherweise hatte er ja auch nicht so eine überkämmte Glatze wie jener Mann, der im Haus wohnte. Dieser Typ frisierte seine Haare vom einen Ohr über den Kopf und auf der anderen Seite wieder herunter. Troll und Liselotte beschatteten ihn einmal, als es windig draußen war, doch nichts geschah. Er strich sich bestimmt Fettcreme ins Haar. Trolls Mutter sagte stets, wenn sie ihn sah: „Besser eine ehrliche Glatze als eine überkämmte.“

Nun war sie gerade damit beschäftigt, das Abendessen zu richten. Es duftete nach Tomaten, Porree und verschiedenen anderen Gemüsesorten. Liselotte und Kent sollten abends kommen, und Trolls Mutter fürchtete immer, daß Liselotte nicht ordentlich aß, wo sie doch jetzt ein Baby erwartete.

Liselotte und Kent aßen wirklich nicht viel. Die einzige, die eine Menge verzehrte, war Trolls Mutter. Typisch. Sie, die eigentlich nur eine halbe Tomate zu sich nehmen sollte!

Liselotte seufzte während des Essens darüber, daß ihre elektrischen Lockenwickler kaputtgegangen waren.

„Daß du dich mit solchem Zeugs abgibst!“ sagte Troll. „Das werde ich bestimmt nie tun.“

Sie verschwand rasch in ihr Zimmer und schloß die Tür, sobald das Abendessen beendet war. Dort versuchte sie Jonas aus dem Gedächtnis zu zeichnen. Es klappte aber nicht so recht.

Sie ärgerte sich richtig, als ihre Mutter rief, sie sollte doch wenigstens noch mit Tee trinken. Troll haßte Gebäck. Ihre Mutter hatte zu allem Überfluß auch noch so besonders ekelhafte Hörnchen gekauft, die wie kleine Staubsauger aussahen. Oder wie Fadenspulen.

Schließlich ging Troll doch ins Wohnzimmer, um Streit zu vermeiden, doch es war wirklich langweilig. Ihr Vater hielt einen kleinen Vortrag über die Ausgaben des Staates für das Gesundheitswesen. Kent saß auf dem. Ledersofa, ein Bein übers andere geschlagen, und hörte sehr höflich zu. Trolls Mutter suchte nach alten Fotografien, und während sie in einer Schublade kramte, hielt es Troll nicht länger aus.

Sie flüsterte Liselotte zu: „Du, heute hab ich einen Freund gefunden!“

Typisch, typisch! Gerade in dieser Sekunde waren zufälligerweise alle mäuschenstill. Kein Wort von Krankenhäusern oder Bildern oder etwas in dieser Art.

Und Trolls Geflüster fiel ungefähr siebenmal so laut aus wie sie es beabsichtigt hatte. Alle sperrten die Augen auf, und Trolls Mutter lächelte und tätschelte ihr die Hand.

„Aber wie schön für dich, Herzchen. Du vermißt doch schon so lange eine Freundin. Wie heißt sie denn?“

„Jonas“, erwiderte Troll.

Ihre Eltern wechselten einen raschen Blick.

„Ach so, ach so“, sagte ihr Vater. „Und wo wohnt er?“

„Hier im Haus. Er ist heute eingezogen. Nicht in so eine riesige Wohnung wie unsere, sondern in eine kleine. Eigentlich ist sie viel hübscher.“

„Aha.“ Trolls Vater nickte. „Dann kommt er ja in die gleiche Schule wie du.“

Troll mußte bei der Vorstellung, daß Jonas zur Schule gehen sollte, so lachen, daß sie beinahe vom Sofa fiel.

„Er geht nicht zur Schule!“ stöhnte sie, als sie genug gelacht hatte.

Nun runzelten ihre Eltern die Stirn. Sie sahen beinahe wie Ziegen aus. „Was macht er denn dann?“ fragte Trolls Mutter.

„Er ist Drucker“, antwortete Troll. „Er druckt Zeitungen.“

Ihr Vater räusperte sich. „Wie alt ist dieser Jonas, den du deinen Freund nennst?“

„So um die fünfundzwanzig herum, ich weiß nicht genau. So was spielt doch keine Rolle. Er ist mein Freund, begreift ihr das nicht?“

Wieder wechselten ihre Eltern einen Blick.

„Es ist wohl besser, wenn du Umgang mit Gleichaltrigen hast, Kleines“, sagte ihr Vater mit seiner allerdeutlichsten Schulstimme.

„Ach, ihr versteht ja überhaupt nichts!“ rief Troll, stürzte in ihr Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu. Durch die Wand hörte sie ihre Familie miteinander sprechen.

„Sie hat es ja so schwer, Freunde zu finden …“

„Keine richtigen Interessen …“

„Als ich ein Kind war, ging man gemeinsam in den Wald und freute sich.“

„Es muß ja nicht jeder Pfadfinder sein …“

„Beruhigt euch doch! Es ist wohl nicht verboten, Leute zu mögen, die nicht genauso alt sind wie man selbst.“ Das war Liselottes Stimme. „Denkt doch einmal an euch selbst. Zwischen euch sind zehn Jahre Altersunterschied. Als du so alt wie Troll warst, Mama, war Papa auch schon dreiundzwanzig.“

„Aber wir haben uns damals schließlich noch nicht gekannt!“ Troll zog sich aus, schlüpfte in ihr rosa Nachthemd und zog die Jalousie herunter. Sie konnten ihr alle gestohlen bleiben!

„Baß und Refrain“, summte sie in ihr Kopfkissen. „Gute Nacht und schlaf gut, Baß und Refrain!“

Der Kleinbus stand nicht mehr auf der Straße, als Troll am nächsten Tag zur Schule ging. Während der Unterrichtsstunden fiel es ihr nicht leicht, aufzupassen. In der Vormittagspause ging sie mit dem Hund spazieren, der der Besitzerin des Blumenladens neben der Schule gehörte. Fast alle anderen Mädchen gingen paarweise über den Schulhof, manche sogar Arm in Arm. Troll hatte nie eine richtige Freundin gehabt. Wenigstens keine richtige beste Freundin.

„Hör mal, Moses“, sagte sie zu dem Hund. Es war ein Schäferhund, aber ein gutmütiger. „Ich hoffe, du bist nicht beleidigt. Ich habe nämlich einen neuen Freund – einen Menschen. Er heißt Jonas, aber ich nenne ihn Baß und Refrain. Er hat ziemlich dichtes, fast kohlschwarzes Haar und ganz graue Augen. Und glaube mir, er ist nicht wie andere Erwachsene. Überhaupt nicht.“

Moses sah nachdenklich drein und drehte eine Extrarunde um einen Stein.

Als Troll von der Schule nach Hause kam, ging sie geradewegs zu Jonas’ Tür und klingelte. Ein Namensschild hatte er noch immer nicht angebracht.

„Nur hereinspaziert!“ rief er.

Troll lachte. Genau das sagten ihre Eltern auch immer, wenn sie auf dem Land waren und jemand an die Tür ihres Sommerhauses klopfte. Doch in der Stadt ist so etwas ja nicht üblich. Man versperrt seine Tür und öffnet nur ganz vorsichtig, legt vielleicht sogar eine Sicherheitskette vor.

Jonas’ Tür aber war nicht versperrt. Er lag im großen Zimmer auf dem Fußboden und sah zur Decke hoch. Troll trat ein.

„Welche Platten hörst du für gewöhnlich?“ fragte sie, als sie den Schallplattenspieler entdeckte, und setzte sich neben ihn auf den Boden.

„Für gewöhnlich?“ wiederholte er schläfrig. „Ich tue nie etwas für gewöhnlich. Das ist ein langweiliger Ausdruck, ‚für gewöhnlich“, finde ich. Was machst du denn für gewöhnlich?“

„Oh, ich mache wahnsinnig vieles für gewöhnlich“, sagte Troll. „Zum Beispiel bürste ich mir die Zähne für gewöhnlich jeden Morgen um zwanzig vor sieben. Dann esse ich für gewöhnlich Corn-flakes mit Milch und anschließend trinke ich für gewöhnlich Fruchtsaft, wenn noch einer da ist. Sonntags fahre ich für gewöhnlich zu meiner Großmutter. Sie hat übrigens genauso eine Stupsnase wie ich. Und jeden Samstag, das ist morgen, fahre ich für gewöhnlich auch zum Großvater, aber da fährt Mama für gewöhnlich nicht mit, weil sie dann für gewöhnlich Kopfschmerzen hat. Doch ich hab das für gewöhnlich nicht, denn Großvater macht für gewöhnlich Knüpfteppiche und Rindenboote und alle möglichen schönen Sachen, obwohl er nur zwei Finger an der einen Hand hat. Und dann gehe ich für gewöhnlich …“

„Herrje, mir geht all dein ‚für gewöhnlich‘ auf die Nerven!“ erwiderte Jonas. „Wie hältst du das bloß aus? Da habe ich einen besseren Vorschlag. Wir nehmen die Gitarre und fahren an irgendeinen hübschen kleinen See mit Wellen drauf. Dann setzen wir uns unter einen Baum und schauen, ob man vielleicht schon merkt, daß der Winter kommt.“

Schließlich fuhren sie tatsächlich an einen See. Jonas spielte unter einem Baum Gitarre, und Troll füllte ihre Holzpantoffeln mit roten und goldenen Herbstblättern. Die Blätter sahen aus wie Trolls Haare, fand Jonas.