Mein Jahr am Nordpol - Marie Tièche - E-Book

Mein Jahr am Nordpol E-Book

Marie Tièche

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Beschreibung

Es ist ein filmreifer Beginn: In einem Pub in der spitzbergischen Stadt Longyearbyen trifft die Britin Marie Tièche auf den deutschen Professor Hauke Trinks, der sie spontan zu seiner nächsten Expedition einlädt. Ein Jahr in einer Hütte im ewigen Eis nördlich von Spitzbergen. Alleine mit ihm und zwei Hunden. Unter einfachsten Bedingungen sind die beiden Fremden auf Monate von der Welt abgeschnitten - in einer zwanzig Quadratmeter großen Hütte. Der sehr persönliche Bericht einer starken Frau.

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Für Hauke – für seine Geduld, seine Liebe und die Möglichkeit, die er mir geboten hat.

Außerdem für Mum und ganz besonders für Dad, der das Erscheinen dieses Buches nicht mehr erleben durfte.

Er wäre stolz gewesen.

In Liebe.

Bearbeitet und aus dem Englischen übersetzt von Tamara Trautner

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe

1. Auflage 2014

ISBN 978-3-492-96320-6

© 2005 Federking & Thaler Verlag GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten

© Piper Verlag GmbH, München 2014

Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, www.kohlhaas-buchgestaltung.de

Covermotiv: Rudi Sebastian / plainpicture

Fotos: Marie Tièche und Hauke Trinks

Lektorat: Eva Clausen

Karten: Eckehard Radehose, Schliersee

Datenkonvertierung: CPI – Clausen & Bosse, Leck

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Prolog

Diese Augen. Sie waren vom sanften Blau eines klaren Winterhimmels, einem leuchtenden, schimmernden Gletscherblau. Sie hatten zu mir gesprochen, mich eingeladen in eine fremde, abgeschiedene, einsame Welt voller Gefahren, in tückische Wetterverhältnisse, zwischen Eisberge. Und ich hatte zugesagt. Was war geschehen? Ich hatte ihn eine Stunde vorher in einem Pub kennen gelernt und zu-gestimmt, ihn bei seiner Expedition auf eine verlassene Insel 1000 Kilometer vom Nordpol entfernt zu begleiten. Nur wir beide. Er und ich. Sonst niemand. Wir würden isoliert in einer kleinen Holzhütte leben, nur zwei Huskys als Gesellschaft und zum Schutz vor Eisbären, diesen riesigen, weißen, wilden Menschenfressern. Ein Jahr lang würden sie unsere Nachbarn sein. Ein ganzes Jahr. Keine Möglichkeit, nach der Hälfte der Zeit umzukehren, wenn es schwierig werden sollte. Ein ganzes Jahr oder gar nicht. Aufgeben war keine Option. Ich muss völlig verrückt gewesen sein. Durchgedreht. Von Sinnen.

Aber so hat alles angefangen.

1 Versuchung

Ich schloss die Tür meines Zimmers, vermummte mich in meiner schlichten, aber warmen, braunen Jacke und stieg in dicken Wollsocken die Treppe des Containerhauses hinunter. Im Flur hörte ich aus einem der angrenzenden Räume das Brummen der großen Gemeinschaftskühltruhe. Jedem der zwölf Apartments war darin ein abschließbares Fach zugeordnet. Eine Gefriertruhe in der Arktis – das war schon merkwürdig, aber draußen gelagerte Vorräte wären ein gefundenes Fressen für Füchse, Mäuse und Diebe gewesen. An der Garderobe erwartete mich ein Regenbogen aus dicken Jacken und Schneeanzügen (die ein wenig an Strampelanzüge erinnerten), darunter das Durcheinander von etwa 20 Paar Stiefeln, Schuhen und Pantoffeln, einige davon alt und verstaubt; ihre Eigentümer hatten das Haus und wahrscheinlich auch Longyearbyen längst verlassen. In einer Ecke standen drei Paar Langlaufskier, die dazugehörigen Stöcke stützten sich gegenseitig wie Betrunkene. Zwischen den Schmelzwasserpfützen am Boden schlüpfte ich in meine bequemen braunen Lederschuhe, zog Mütze und wetterfeste Handschuhe an, drückte die schwere Glastür auf und trat in die Kälte von -20ºC.

Der Schnee war hart, zerfurcht von Schneemobil- und Skispuren, hier und da sah man Fußstapfen oder die Abdrücke von Hundepfoten. Pechvögeln konnte die eisglatte, kompakte Schneedecke dazwischen leicht zum Verhängnis werden. Ganz vorsichtig ging ich zum Ende des langen Holzhauses, schob mich an den metallenen Müllkörben vorbei und dann den Hang hinunter, zum gelb erleuchteten Weg. Ich sog die klare, kalte Luft einer typischen Nacht auf Spitzbergen ein. Am Himmel versuchten die Sterne vergebens, gegen die Straßenbeleuchtung anzustrahlen, und hoch oben, über der anderen Seite des gefrorenen, von Schnee bestäubten Fjords leuchtete ein Dreiviertelmond über dem affengesichtigen Berg Hiorthfell. Der Schnee auf seinen Flächen und eisverklebten Geröllhängen glänzte silbern, und sein ausladender Grat bildete vor dem wolkenlosen, blauschwarzen Himmel eine messerscharfe Silhouette. Am Fuß des Berges war der blassgelbe Schein der Öllampe in einer vereinzelten Hütte zu sehen, und über dem Dach hing eine kaum wahrnehmbare Rauschschwade in der Luft.

Meine Schritte knirschten im Schnee; zwischen mir und dem Adventfjord erstreckte sich das Städtchen in dem kleinen, sich langsam öffnenden Longyear-Tal. Die Straßenlaternen tauchten die Holzhäuser auf beiden Seiten des schnurgeraden Fußwegs in orangefarbenes Licht. Rechts standen zusammengeschusterte, holzverkleidete Apartmenthäuser, ein Stück weiter machten sie aneinander gereihten Häusern mit Spitzdächern Platz. Deren leuchtende Farben – Schoko- und Kaffeebraun, Pink und Grün, Gelb und Orange, Beige und Türkis – wurden durch die Nacht gedämpft. Diese Häuser verloren sich rechts und links im Tal, und dann kam schon das Zentrum.

Zu dieser späten Stunde war es ruhig – die wenigen Geschäfte hatten längst geschlossen –, aber ein paar Leute waren auf der Straße; sie holten Pizza, wollten noch kurz nach ihren Postfächern sehen, oder sie waren wie ich unterwegs in eine der vielen Kneipen, um das Wochenende einzuläuten.

Ich hatte mich zu Hause gelangweilt, war irgendwie kribbelig gewesen und deswegen früher als sonst losgegangen. Es war zwar schon halb elf, aber hier in Longyearbyen würde es noch mindestens eine halbe Stunde dauern, bis das Nachtleben begann, solange wollte ich ein Bier trinken und es mir mit einem Buch aus der Bibliothek des Radisson SAS Polar Hotels gemütlich machen. Das Radisson lag gleich hinter dem Einkaufszentrum und war eine beliebte Anlaufstelle für die paar Menschen in Longyearbyen, ob zur ersten Tasse Kaffee oder für feine Diners im Panorama-Restaurant Nansen. Bescheiden in einer Ecke der Hotellobby befand sich mein Ziel: der Barents Pub – oder puben, wie alle auf Norwegisch sagten.

Der zügige Gang von meinem Zimmer zum Hotel hatte mich die Kälte nicht spüren lassen. Nachdem ich mir den Schnee von den Sohlen gekratzt hatte, wuchtete ich die schwere Tür zum Foyer auf, und ein warmer Luftschwall schlug mir entgegen. Ich stopfte Mütze und Handschuhe in die Taschen, hängte die Jacke an meinen Lieblingshaken in der Ecke der Garderobe und ging hinein. Ich glaube, es ist der düsterste Pub, in dem ich je war, und nach der hell erleuchteten Eingangshalle mussten sich meine Augen erst an das Schummerlicht gewöhnen. Die Wände waren dunkelblau gestrichen und schluckten das Licht des riesigen Deckenleuchters wie ein Meer, dagegen konnte auch die orangefarbene Decke nichts ausrichten. Die Kiefernholzdielen waren der einzige Lichtblick. Es war eine gemütliche Kneipe mit wunderbarer Atmosphäre, besonders wenn es voll war, wie eigentlich immer am Wochenende, und alle zu Blues- oder Rockmusik durcheinander redeten (hier wurde ich Fan von Walter Trout and the Radicals) oder zu den überraschend guten Live-Bands tanzten.

Auf den ersten Blick schien noch kein Mensch da zu sein, ungewöhnlich für diese Tageszeit, denn auch wenn das Nachtleben später begann, war es üblich, sich vorher auf einen Drink oder eine Kleinigkeit zu essen zu treffen oder noch zusammen fernzusehen. Da ich meine Brille nicht aufhatte, konnte ich nicht erkennen, wer im hinteren Teil des Raums war, aber auf den Bänken unter den alten Stichen mit Walmotiven saßen drei oder vier Jugendliche, und ein älterer Typ im Wollpullover lehnte an der Bar unter einem Otard-Cognac-Plakat. Ich hatte ihn noch nie gesehen – wahrscheinlich ein Tourist, dachte ich. Unsere Blicke trafen sich, als ich an ihm vorbeiging, um mir bei Johan ein Pint zu bestellen (ein »halber Liter« klingt in meinen Ohren immer noch komisch). Ich sah um mich, ob ich irgendwo in den dunklen Untiefen der Kneipe vielleicht doch ein bekanntes Gesicht entdeckte. Nichts. So schlenderte ich mit meinem Bier zum kleinen Laden des Hotels, um mich dort ein bisschen umzusehen, danach wollte ich es mir in einem der Sessel im Foyer bequem machen, um in dem Buch über eine Segeltour nach Grönland auf den Spuren Leif Eriksons weiterzulesen.

Der Laden war winzig, etwa ein mal anderthalb Meter, aber das Angebot zu durchstöbern würde ein paar Minuten in Anspruch nehmen. Sie hatten den üblichen Touristenkram: Plüschteddys, T-Shirts, Hüte, Schokolade, Kugelschreiber, Bücher und Postkarten, Schmuck und Figürchen, Teller mit Landkarten von Svalbard, wie die Norweger Spitzbergen nennen – ziemlich viel Zeug für so ein kleines Geschäft. Ich musterte gerade ein paar Schlüsselanhänger aus Robbenfell – vielleicht ein nettes Mitbringsel für meine Nichte oder meinen Neffen? –, als ich jemanden etwas auf Norwegisch sagen hörte. Ich drehte mich um und sah den Mann von der Bar, der mit einem Bier in der Hand direkt vor der Tür des Lädchens stand und mich offenbar angesprochen hatte. Ich stammelte entschuldigend, dass ich nur Englisch spräche. »No problem«, sagte er lächelnd. Er war nicht viel größer als ich (also klein), hatte aschblondes Haar, ein attraktives Lächeln und verschmitzte, sehr blaue Augen (so etwas fällt mir normalerweise nicht auf – ich habe Mühe, mich an meine eigene Augenfarbe zu erinnern). Sein Norwegerpullover – Brustpartie schmutzigweiß, unten zwei Grautöne, schwarzes Muster, ein grüner Streifen in den Bündchen – hatte schon bessere Tage gesehen, offensichtlich sein Lieblingsstück (auch ich mag die meisten meiner Pullover sehr). Er trug Stiefel, dunkelbraune Lederhosen und sah äußerst sympathisch aus, ich mochte ihn sofort.

Wir stellten uns vor, er hieß Hauke, und ich erfuhr, dass er Deutscher war, ein Wissenschaftler auf einer seiner zahlreichen Forschungsreisen. Er fragte, was eine Engländerin in Longyearbyen treibe, und ich erzählte, dass ich schon seit ein paar Jahren hier lebte. Er war sehr aufmerksam und überschüttete mich geradezu mit seinem Charme. Und er wollte alles Mögliche wissen: ob ich verheiratet sei, wo ich arbeitete, ob mir die Kälte nichts ausmache, ob es mir hier in der Arktis gefiele, ob ich schon Eisbären gesehen hätte. Dann erzählte er von seinem Forschungsprojekt: der Suche nach dem Ursprung des Lebens im Eis. Wenn Bakterien in heißen Unterwasserquellen überleben könnten, warum nicht auch im anderen Extrem, sprich: in eisiger Kälte? Seine Gedanken faszinierten mich, zumal er alles sehr klar und verständlich ausdrückte. Er redete über seine letzte Expedition nach Mushamna. Er hatte sich mit zwei Hunden auf seiner Yacht Mesuf einfrieren lassen, um das Eis zu studieren. Der ist verrückt, dachte ich. Er sieht nett aus, aber er ist ziemlich verrückt. Der sprichwörtliche verrückte Professor.

Und dann legte er richtig los und erzählte mir von seiner geplanten Reise nach Kinnvika, einem Ort viele Kilometer nördlich von Longyearbyen, auf einer Insel namens Nordaustland (ich hatte noch nie davon gehört). Bisher habe niemand die Erlaubnis erhalten, ein ganzes Jahr in Kinnvika zu verbringen, aber für ihn als Wissenschaftler gälten andere Regeln. Er suche nach jemandem, der ihn begleiten wolle, und zwar genauer gesagt nach einer Frau. Die Unternehmung solle ein Jahr dauern, man wäre die ganze Zeit über nur zu zweit, höchstens noch mit ein paar Huskys, es würde ein fantastisches Abenteuer werden, wirklich mit nichts zu vergleichen, und ob ich nicht vielleicht Lust hätte mitzukommen. Wie bitte? Hatte ich richtig gehört? Offensichtlich. Wir würden in einer kleinen Holzhütte leben, fuhr er fort, und Teil der Verabredung wäre es, das Experiment auf keinen Fall mittendrin abzubrechen, wenn mir etwas nicht passte. Es sei eine einzigartige Gelegenheit, ich müsse mich auch nicht über Gebühr mit seiner Forscherei beschäftigen. Ob mich das interessieren könnte, fragte er.

Interessieren? Ich war sprachlos, mir stockte der Atem. In meinem Kopf herrschte ein einziges Durcheinander. Meine Zunge war wie gelähmt, während mein Gehirn versuchte, irgendwie mit diesem unglaublichen Antrag fertig zu werden. Ich stand da wie ein begossener Pudel. Hätte ich in England einen Mann in einer Kneipe kennen gelernt, er hätte mich, wenn es hoch kommt, ins Kino und in irgendeinen Imbiss eingeladen. Hier auf Spitzbergen lief alles ein bisschen anders. Mir fiel jedenfalls auf Anhieb nichts ein, weswegen ich hätte ablehnen sollen, also sagte ich, klar könnte mich das interessieren.

Wir beschlossen, bei anderer Gelegenheit weiter darüber zu reden, und dann sagte er: »Na, dann will ich Sie mal nicht aufhalten, Ihre Freunde warten bestimmt schon.« Er verschwand im Pub und ließ mich mit meinem leeren Glas zurück, ohne mir nicht wenigstens noch ein zweites Bier zu spendieren. Ich wusste nicht, was ich denken, nicht, was ich tun sollte. Die letzte Stunde war vergangen wie im Flug. Ich hatte tatsächlich eine ganze Stunde mit ihm geredet! Aber ich konnte nicht die ganze Nacht verdattert in dem Lädchen herumstehen, meine Kehle war vom Reden ganz trocken, und so holte ich mir noch ein Bier von Johan.

Es war noch immer kein Bekannter da, aber irgendwen zum Plaudern würde ich schon finden. Einer der großen Vorzüge von Orten wie Longyearbyen ist, dass man mit jedem reden kann, ohne dass es missverstanden wird. Es war einfach nett und freundlich hier, die Pubbesuche verliefen entspannt und unkompliziert.

Der Rest des Abends verging wie in einem Rausch. Ich muss mich wohl amüsiert haben, denn ich kann mich nicht erinnern, außergewöhnlich früh nach Hause gegangen zu sein. Ich behielt die ganze Sache für mich, sprach mit niemandem darüber. Vermutlich brach ich wie üblich gegen zwei Uhr auf, wenn der Pub zumachte. Ich ging zurück zu meinem Zimmer. Wie immer am Wochenende hatte ich mein Sofa zum Glück schon ausgeklappt, bevor ich aufgebrochen war, ließ mich niedersinken und schlief ein, in Gedanken bei Hauke und seinem unfassbaren Angebot. Das erste Mal seit sehr langer Zeit schlief ich durch.

Obwohl als Eisbären verkleidete Aliens meine Träume bevölkert hatten, den Ruf »Tötet sie! Tötet sie!« auf den Lippen, wachte ich frisch und munter auf.

Ich mummelte mich in die Decke, damit die Wärme und die Gedanken an den Vorabend nicht entweichen konnten. Es schmeichelte mir, dass er mich gefragt hatte. An meiner Vorbildung konnte es kaum liegen, obwohl ich im Biologieunterricht eigentlich immer ganz gut gewesen war. Ich war nie zimperlich, hatte mich auch nicht geziert, konservierte Rattenkadaver oder Kuhaugen aus der Schlachterei zu zerschnippeln. Ich baute Häuser für Würmer und veranstaltete Rennen für Maden in allen Formen und Farben. Physik mochte ich auch. Es war toll, Diagramme zu zeichnen und zu kolorieren oder mit Stromkreisen, Batterien, Glühbirnen, Bunsenbrennern oder Frequenzmessern herumzuspielen. Großartig! Aber ich beneidete immer die Schüler, die stattdessen auf dem Schulbauernhof arbeiten durften. Für lebende Tiere zu sorgen machte bestimmt viel mehr Spaß als der normale Unterricht.

Es war urgemütlich in meinem Zimmer, und ich überlegte, wie sich wohl das Leben in einer Holzhütte gestalten würde – ohne Zentralheizung, Dusche oder vernünftigen Herd … Ich schloss die Augen, und ein erregendes Gefühl der Vorfreude erfüllte mich. Ich könnte es tun, dachte ich. Alles in mir sagte Ja. Warum, entzog sich jeder rationalen Überlegung, aber das machte nichts. Es fühlte sich irgendwie richtig an. Die Expedition würde mir keine Probleme bereiten, das spürte, ja das wusste ich einfach. Ich drehte mich auf die Seite und rollte mich zusammen. Aber wie sollte ich wissen, dass es glatt gehen würde? Ich hatte keine Ahnung vom Überleben in extremer Kälte und bei schlechtem Wetter. Ich würde mich schon nicht allzu blöd anstellen, sollte mich ein Sturm überraschen, aber andererseits … ein winziger Fehler oder eine einzige kleine Fehleinschätzung konnten einen das Leben kosten.

Es gab keine zweite Chance, nur die richtige Entscheidung – oder vielleicht einfach Glück. Aber das schien nicht wirklich auf meiner Seite zu sein. Oder doch? Wenn Glück ein Lottogewinn war, hatte ich keins. Aber wenn Glück bedeutete, immer wieder interessanten Menschen zu begegnen, dann schwelgte ich darin. Und außerdem hatte ich das Glück, Optimistin zu sein. Mein Glas war immer halb voll, nicht halb leer, für mich war nichts so schlimm, wie es schien, alles wurde besser, und die Traurigkeit nach einer Enttäuschung dauerte niemals lange. »Always look on the bright side of life« – diese Zeile aus dem Lied von Monty Python ist meine Devise.

Das Leben ist natürlich nicht so banal, es herrscht auch bei mir nicht nur eitel Sonnenschein, aber ich habe das Gefühl, dass Phasen der Niedergeschlagenheit für mich nicht so schlimm sind wie für viele andere (Ausnahmen bestätigen die Regel). Selbst in Zeiten, in denen sich nichts zu bewegen scheint, gelingt es mir irgendwann, einen kleinen Funken der Hoffnung zu entzünden. Irgendeine Kraft sorgt dafür, dass ich nicht aufgebe, sondern früher oder später wie von selbst wieder in die Spur hüpfe. Ich wackelte mit den Zehen und lächelte. Dies war nun wirklich ein ziemlich großer Funke. Ich musste das Ganze noch ein bisschen in meinem Herzen bewegen. Immerhin war es ein ernstes Unterfangen, eines, das – zur Abwechslung in meinem Leben – wohl bedacht sein wollte. Das schuldete ich mir selbst und Hauke.

»Was meinst du, Moose?«, fragte ich den Kuschelelch, der mit mir das Bett teilte. Er wackelte mit seinen Schaufeln und sah mich mit leerem Blick an. Von ihm war kein Rat zu erwarten. Also dann eine Tasse Tee und ein kleines Frühstück. Ich streckte mich ein letztes Mal genüsslich unter meiner Decke, dann krabbelte ich aus dem Bett und ging in die Küche, um Wasser aufzusetzen.

Ich war spät aufgestanden, räumte den Rest des Morgens mein Zimmer auf und zog mich am Nachmittag zu einem kleinen Spaziergang an, ich musste frische Luft schnappen und mich ein bisschen bewegen. Zunächst stieg ich links den Hügel hinauf, Richtung Nybyen. Als ich die Schule und den Sportplatz hinter mir gelassen hatte, fuhren ein paar Schneemobile an mir vorbei, blauer Rauch quoll aus ihren knatternden Auspuffen. Einige zogen Anhänger mit Ausrüstung, vielleicht waren sie auf dem Weg zu irgendeiner Hütte oben auf dem Longyear-Gletscher oder wollten weiter nach Barentsburg, der russischen Siedlung. Vereinzelte Langläufer kamen ihnen entgegen, unterwegs auf einem erholsamen, wohlverdienten Stückchen Schussfahrt. Sie trugen eng anliegende Anzüge in Mädchenfarben – willkommene Farbtupfer in dem bleigrauen Tag. Der Himmel war bedeckt, von einem sanften, trüben Grau, das Licht war matt, bestimmt nicht einfach für die Schneemobilfahrer, Rinnen und Löcher im Eis auszumachen, wodurch die Fahrt aufregender, einen Tick gefährlicher wurde.

In Nybyen wohnen die meisten der Hand voll Studenten der kleinen Universität Spitzbergen. Die Strecke, die sie täglich zurücklegen müssen, besteht aus zwei ungleichen Hälften: Morgens sausen sie auf ihren Fahrrädern vom höchsten Punkt der Stadt den Hang hinunter, abends mühen sie sich wieder hinauf, jedes Mal zwei Kilometer. Ich bog kurz vor Nybyen rechts ab, nahm den Weg, der hier quer über den Fluss und dann rechts zum Huset führt, einem großen, soliden Gebäude, das, in breiten, verblichenen grauen und pinkfarbenen Streifen gestrichen, ein bisschen trostlos wirkt. Hier müsste mal jemand investieren, aber wenn das Ganze schicker daherkäme, wäre es vielleicht nicht mehr Huset. Es handelt sich um das Kulturzentrum der Stadt. Es gibt eine Gaststätte (wo von Hamburgern bis hin zu Steaks alles serviert wird), die tagsüber auch Café ist und freitags und samstags als Disco genutzt wird. Auch ein gehobeneres Restaurant mit einem exzellenten Weinkeller gehört zum Huset. Sonntags gibt es Theater- und Filmvorführungen, außerdem befindet sich dort ein Geschenkeladen. Obwohl das Ganze außerhalb des Zentrums liegt, ist Huset das eigentliche Herz der Stadt. Ich beschloss, heute keinen Kaffee zu trinken (schwarz und stark, wie es in Norwegen üblich ist), sondern stapfte weiter durch den harten Schnee, um meinen Nachmittagsspaziergang fortzusetzen.

Ich blickte in die Höhen der Klippen links von mir und lauschte den fernen Rufen der ersten Dreizehenmöwen, die aus wärmeren Breiten in ihre Brutgründe in den unzugänglichen zackigen Felsen zurückgekehrt waren. Die ersten hörte man bei entsprechenden Wetterbedingungen meist Anfang März. Ich freute mich auf den frühen Sommer, auf riesige Schwärme, die in Wolken über mir kreisten, in synchronen Kurven und Kreisen, mal silbern, mal unsichtbar vor dem strahlenden Blau des Firmaments. Letzten Sommer hatten sich ein paar auf meinen Fenstersims gesetzt und mir aus der Hand gefressen. Zum Dank spuckten sie fischigen Schleim auf meine frisch geputzten Scheiben. Ich war nicht gerade begeistert gewesen.

Versteckt in den schneebedeckten Geröllhängen am Fuß der felsigen Steilkante des Tals liegt ein einsamer, kleiner Friedhof, letzte Ruhestätte einiger verunglückter Bergleute. Ihre einsamen Kreuze in der kalten, harten Ödnis sind eine Erinnerung an die Gefahren ihres Berufs. Die jungen Männer sind einen Kilometer von einer modernen, rostfarben gestrichenen Holzkirche begraben, deren große Glasfenster eher an ein Gewächshaus erinnern, in deren Wärme sich genüsslich ein wilder Dschungel verschlungener Pflanzen ausbreitet. Das graue Spitzdach der Svalbard Kirke, geformt wie das der Häuser gegenüber, wird von einem Glockenturm mit kegelförmigem Dach und Wetterfahne überragt. Zwischen den Sesseln des gemütlichen Gemeindesaals der Kirche steht ein ausgestopfter Eisbär, die Nase in Richtung Küche gestreckt, aus der der Duft von Kaffee und Waffeln herüberweht.

Dann bog ich scharf rechts ein, nahm die Melkeveien, die Straße, die hinter jenem verwitterten, grauen, karussellartigen Gebilde vorbeiführt, mittels dessen man früher die Kohleeimer aus den Minen tief im Innern der hohen Berge zu den am Kai liegenden Schiffen befördert hatte. Das Gerüst war aus massiven Balken gebaut, und man sah noch immer die verrosteten Winden sowie dicke, rot-braune Taue und Verbindungsstücke. In der ganzen Stadt wird man an den Bergbau erinnert, den historischen wie den heutigen: einige riesige Kohleeimer, aufgereiht an einem verbliebenen Stück Seilbahn zur Taubanesentralen, der Verteilungsstation, die aussieht wie ein bedrohliches, staksendes Insekt auf langen Eisenbeinen; hohe pyramidenförmige Holzkonstruktionen, die die alten Kabel führten, sehen noch immer aus, als würden sie hintereinander in die Berge marschieren; da sind die Laster, die die Haupstraße auf und ab rumpeln und den Schnee mit einer feinen Kohleschicht bestäuben; ein Denkmal und Minenarbeiter-Statuen im Stadtzentrum; die kleinen Kohlewagen vor dem kleinen Museum.

An der Stelle, wo die Straße wieder auf den zugefrorenen Fluss trifft, sausten ein paar Schneemobile unter den Brückenpfeilern hindurch, die Fahrer dick eingemummelt und gegen die Kälte geschützt, die Köpfe eingezogen, man kann ja nie wissen … Von hier waren es nur noch ein paar Schritte bis zum Stadtzentrum. Da Samstag war, hatten die meisten Läden schon seit zwei Uhr geschlossen, aber die Lebensmittelabteilung des Einkaufszentrums Svalbardbutikken hatte noch auf, ein Auto nach dem anderen schlängelte sich auf den Parkplatz oder verließ ihn wieder. Mein kleiner Kühlschrank war gut gefüllt, ich konnte also gleich zu den Postfächern, um nachzusehen, ob etwas für mich angekommen war.

An der Wand befanden sich etwa 500 blaue Metallboxen, oben die kleinen, unten am Boden die großen. Ich konnte das Schloss ohne Tritt erreichen, war aber zu klein, um hineinzusehen und musste mich strecken und den Inhalt meines Fachs ertasten. Ich fand einen grauen wattierten Umschlag und riss ihn auf. Es war ein Brief von Hauke, der mich auf eine Pizza ins Kroa einlud, eine weitere Bar mit Restaurant, um noch einmal über die Expedition zu reden. Er wollte offenbar keine Zeit verlieren – der Brief musste vom frühen Vormittag sein. Er hatte auch seine Telefonnummer aufgeschrieben und bat mich, schnell Bescheid zu sagen, da er in ein paar Tagen nach Deutschland müsse. Im Licht des kalten Tages und ohne Alkohol im Blut wurde ich ziemlich nervös. Jetzt war ich am Zug. Ich musste genau nachdenken, bevor ich ihn anrief. Wollte ich wirklich mit auf diese Expedition oder hatte ich gestern nur zugesagt, weil seine Avancen und seine Hartnäckigkeit mir schmeichelten? Dies war kein Kneipengeplänkel mehr. Erst jetzt wurde mir klar, dass es sich um einen ernsthaften Vorschlag handelte und nicht um ein Gedankenspiel. Ich konnte damit nicht umgehen wie mit irgendeiner unverbindlichen Partyeinladung. Wenn ich hier erst einmal zugesagt hätte, gäb es kein Zurück mehr. Alles oder nichts. Scheiße. Ich stand vor meinem offenen Postfach und schüttelte langsam den Kopf. Scheiße, dachte ich. Verdammter Mist. Ich faltete Haukes Brief zusammen, steckte ihn in den Umschlag zurück und schob ihn in meine Jackentasche. Dann schloss ich das blaue Türchen ab und machte mich auf den Heimweg. Zeit für eine weitere Tasse Tee.

Den ganzen nächsten Tag versuchte ich, meine Gedanken zu ordnen. Zweifelsohne hatte ich Blut geleckt. Auf einem Blatt Papier listete ich die Vor- und Nachteile auf, um mir Klarheit zu verschaffen. Der größte und offensichtlichste Nachteil war, dass ich meine drei Jobs und somit auch mein Zimmer würde aufgeben müssen. Nach der Expedition hätte ich in Longyearbyen also weder Geld noch eine Bleibe. Klar, eine Weile würde ich bei Freunden auf dem Sofa schlafen oder irgendwo etwas mieten können, aber wenn ich nicht schnell wieder einen Job fände, wäre selbst das zu teuer. Ich hatte ein paar Ersparnisse, doch wollte ich wieder nach England, müsste ich wenigstens das Geld für die Reise zurückbehalten. Für die Teilnahme an der Expedition würde ich zwar keinen Cent bekommen, dafür wäre aber für die gesamte Verpflegung und Ausrüstung gesorgt, hatte Hauke gesagt. Immerhin müsste ich nichts investieren. Mein Monatseinkommen aus drei Jobs reichte gut für meine Lebenshaltungskosten, auch ohne dass ich jeden Cent umdrehen musste; die Expedition würde mich also vermutlich nicht in den Ruin stürzen …

Aber konnte ich ein Jahr lang mit einem Mann leben, den ich gerade erst kennen gelernt hatte, in einer Hütte Hunderte Kilometer von allem entfernt, mit keinem anderen Gesprächspartner? Wie würde ich es aushalten, wenn es schief ging und wir uns nach einer Weile nicht mehr ausstehen konnten? Was, wenn er sich als Axtmörder entpuppte? Er könnte mich zerstückeln und den Hunden zum Fraß vorwerfen, und niemand käme hinter den Mord, schließlich gäbe es keine Zeugen … Aber im Ernst: Würde ich mich vielleicht zu Tode langweilen? Ein Jahr kann unendlich lang sein. Und öder als ein Fußball-Endspiel.

Für die meisten hätte all das großes Gewicht, für mich jedoch spielte es fast keine Rolle (über die Eisbären wollte ich im Augenblick nicht weiter nachdenken). Vielleicht gab es noch andere Punkte, die ich in meine Liste hätte eintragen sollen, aber für den Moment fiel mir nichts mehr ein. Die »Wider«-Liste war ziemlich kurz.

Die Argumente dafür waren viel einfacher zusammenzustellen. Egal, wie es ausging: Es würde ein einzigartiges, unvergessliches Abenteuer werden. Und bisher mochte ich Hauke gern. Kann man sich auf den ersten Eindruck verlassen? Keine Ahnung. Ich hatte einige Menschen kennen gelernt, die ich zunächst gemocht hatte und die sich dann als harte Brocken entpuppt hatten. Wie auch immer, Hauke gehörte in die »Für«-Spalte.

Völlig abgeschieden in der Natur und mit den Elementen zu leben war eine spannende Herausforderung: Eisberge, die absolute Dunkelheit der Polarnacht (keine Straßenbeleuchtung da oben!), das Nordlicht, die Sterne … Wir würden Hunde haben, und auch wenn der Gedanke mich jetzt etwas ängstigte: Es würde großartig sein, Eisbären in ihrer natürlichen Umgebung zu sehen, ihre Gewohnheiten und Aktivitäten, ihr Zusammenleben zu beobachten. Und andere Tiere würde ich auch sehen, Robben zum Beispiel und Meeresvögel.

Nur zu zweit aufeinander gestellt zu sein erschien mir bei näherer Betrachtung nicht als Nachteil. Ich versuchte, keine Probleme zu konstruieren, wo gar keine waren, ich wollte objektiv sein. Dinge wie Kochen oder Waschen würden sich gestalten, wie sie sich jahrhundertelang gestaltet hatten, man würde sich eben daran gewöhnen müssen, keine Waschmaschine und keinen Elektroherd zu haben. Und außerdem würde ich Hauke bei seinen Experimenten helfen. Ein Jahr konnte auch ganz schön kurzweilig sein, wie das legendäre Cresta-Rennen, bei dem sich die Rodler mit dem Kopf voran den Eiskanal hinabstürzten.

Eigentlich war ich sicher, dass ich nach Kinnvika wollte. Warum nur wollte es mir nicht gelingen, objektiv zu sein? Alles in mir sagte bei dem leisesten Zweifel bloß »Warum nicht?«. Die »Fürs« gewannen die Oberhand.

Wenn ich wirklich mit wollte, sollte ich Hauke anrufen, mit ihm sprechen, um herauszufinden, ob ich irgendetwas nicht bedacht hatte. Aber ich hatte trotz allem Angst, ihn anzurufen. Und je länger ich wartete, desto schwieriger wurde es. Ich schob die Entscheidung hinaus. Typisch.

Am Montag hatte ich ziemlich viel zu erledigen, musste früh aufstehen, denn ich arbeitete im Einkaufszentrum Isbjørnbutikken für einen kleinen Tante-Emma-Laden, wo unter anderem Zeitungen, Süßigkeiten und Andenken verkauft wurden, außerdem gab es einen Videoverleih. Montags und mittwochs fuhr ich mit dem Firmenlaster zu den diversen Großhändlern und holte Dosen und Flaschen, Brot zum Aufbacken, Eis und Würstchen von dem Händler am Hafen, T-Shirts, Zigaretten und Stofftiere von dem Lager nahe dem Kohlewerk, dann weiter zur Bäckerei oben in Nybyen, wo die Hot-Dog-Brötchen bereitlagen. Anschließend ging es zur Post, ich holte Zeitungen, Zeitschriften, Briefe und Pakete ab, die ich wieder zu Isbjørnbutikken fuhr – oder zu dem Damen- und Herrenbekleidungsgeschäft Motekroken im Lompensenteret, wo ich ebenfalls einen Job hatte, beziehungsweise zu Sport 1, dem Outdoor-Laden.

An diesem Morgen erwarteten mich bei der Post Berge von Paketen mit neuer Ware für beide Geschäfte. Ich war schon spät dran, ich würde die verlorene Zeit niemals aufholen und zu spät in Randis Nähstube eintreffen, wo ich immer nachmittags jobbte, aber da konnte ich notfalls ein paar Stunden dranhängen. Es waren so viele Pakete, dass ich zweimal fahren musste, und schon als ich die erste Ladung ablieferte, war ich in Schweiß gebadet, trotz der Kälte. Die Kisten waren nicht schwer, aber sperrig und groß, ich bekam sie nur mit Mühe an beiden Seiten zu fassen. Ich war nervös und gereizt. Und während ich endlich das letzte Paket ablieferte, stieß ich im wahrsten Sinne des Wortes auf Hauke, den ich hinter meiner riesigen Kiste nicht gesehen hatte. Als wir uns begrüßten, strahlte er förmlich und fragte ohne Umschweife, was denn nun mit unserer Pizza sei. Ich entschuldigte mich, sagte irgendetwas von wegen »gerade überhaupt keine Zeit«, stellte die Kiste ab und rief nur noch »Ich melde mich später«, während ich an ihm vorbeisauste, aus dem Einkaufszentrum zum Laster, mit dem ich dann viel zu schnell die kurze Strecke über den Parkplatz und zu Isbjørnbutikken zurücklegte. Wenn man ohnehin schon eine halbe Stunde zu spät ist, kommt es auf ein paar Minuten eigentlich auch nicht mehr an. Also warum die Panik? War meine Reaktion ein Anzeichen dafür, dass ich Hauke nicht wiedersehen, dass ich doch nicht mit auf die Expedition wollte? Brauchte ich einfach noch ein bisschen Zeit? Oder war es nur ein schlechter Moment gewesen? Ich wusste es nicht. Ich wusste nur, dass ich schwitzte und meine Nerven flatterten, und dass ich ziemlich unhöflich zu Hauke gewesen war.

Und trotzdem rief ich ihn nicht an.

An einem Spätnachmittag einige Tage darauf, als ich gerade an der Kasse von Svalbardbutikken stand, um ein paar Lebensmittel zu bezahlen, guckte ich, wer sonst noch in der Schlange stand – und blickte direkt in Haukes Augen. Wir waren beide überrascht, auch er hatte nicht gemerkt, dass er genau hinter mir stand. Hier an der Kasse gab es kein Entkommen. Ich wäre am liebsten im Boden versunken. Hauke wurde knallrot. Wie ein Schuljunge, der zum ersten Mal ein Mädchen anspricht, fragte er, wann wir uns denn nun treffen könnten. Wir einigten uns auf den kommenden Montag. Ach du Scheiße, ojeojeoje … ogottogottogott.

Ich sah dem Rendezvous mit ziemlichem Nervenflattern entgegen, immerhin würde es über meine nächste Zukunft entscheiden. Würde ich eine neue Stelle als Expeditionsassistentin antreten? Ich war wahnsinnig nervös. Und zu allem Überfluss rief mich Hauke dann auch noch in Randis Nähstube an, um die Verabredung abzusagen, ein Wasserrohrbruch im Zentrum, das Restaurant sei geschlossen, ob es stattdessen auch am nächsten Abend ginge. Ausgebucht war ich nun wirklich nicht, klar ging das. Weitere 24 Stunden Warten. Grauenhaft …

Kroa bedeutet auf Norwegisch Kneipe, und nicht etwa Krähe, wie ich vermutet hatte, als ich nach Svalbard kam, wobei die schwarzblaue Fassade diese Assoziation durchaus nahe legte. Die über die Jahre bräunlich gewordene Holzvertäfelung innen war übersät mit vergilbten Schwarz-Weiß-Fotos von ehemaligen Bewohnern Spitzbergens, mit Proviantlisten, Fellen, Landkarten und einem riesigen Gemälde eines blutüberströmten Eisbären, der tot im Schnee lag. Eine Stalin-Büste (oder war es Lenin?) schmückte das Ende der Bar. Die schweren Tische bestanden aus langen, lackierten Baumstammhälften, als Sitzgelegenheit dienten dicke Baumstümpfe, die mit Robbenfell bezogen waren. Die Barhocker waren aus Relikten der Eisenminen gemacht.

Hauke saß mit seinem Bier an einem Tisch vor einem der Panoramafenster und trug wie immer Stiefel, Pullover und Lederhose. War er aufgeregter als ich? Das konnte ich mir nicht vorstellen. Als ich auf seinen Tisch zusteuerte, stand er auf. Wir gaben uns die Hand, lächelten und begrüßten uns herzlich, dann machte ich es mir auf der Bank gegenüber bequem. Jede Aufregung verflog – so rasch wie eine Seeschwalbe, die im Flug einem Spaziergänger etwas vom Kopf pickt. Wir entspannten uns sofort und plauderten bei Bier und Pizza wie alte Freunde.

Das Gespräch war schön, und wir erfuhren sehr viel voneinander. Erst später ging mir auf, wie hintergründig Haukes scheinbar harmlose Fragen waren. Er wollte die Fähigkeiten seiner potenziellen Expeditionsassistentin genau ergründen. Es war das lustigste Vorstellungsgespräch meines Lebens, denn es fühlte sich überhaupt nicht danach an. Die ganze Zeit lachten wir und machten Witze.

Wir erzählten von unseren Familien und stellten fest, dass wir beide getrennt lebten; während ich kinderlos war, hatte er drei Kinder sowie sieben Enkel, auf die er sichtlich stolz war. Er war 15 Jahre älter als ich, aber die Frage des Alters war mir schon immer egal. Entweder mag man jemanden, oder man mag ihn nicht. Obwohl – ich glaube, ich komme insgesamt besser mit Älteren aus. Kurioserweise war ich damals 43 und sein Geburtsjahr ist ’43, während er 58 war und meines ’58, die einzigen Jahreszahlen, bei denen dieses Wechselverhältnis besteht. Schicksal?

Was ich von Beruf sei. Nun ja, ich hatte keinen. Mich interessieren seit jeher so viele Dinge, dass ich mich nach der Schule nicht entscheiden konnte, womit ich mein Geld verdienen wollte. Folglich habe ich nie einen richtigen Beruf erlernt (was ich allerdings auch nicht bereue). Ich habe in einer Apotheke gearbeitet, Post ausgetragen und als Kassiererin gejobbt. Ich kann ziemlich gut nähen und alte Autositze neu beziehen. Vor Spitzbergen war ich im National Motor Museum in Beaulieu, Hampshire, Bibliothekarin gewesen. Ich war praktisch veranlagt und konnte meine Autos, Motorräder oder Nähmaschinen meistens selbst reparieren.

Hauke erkundigte sich ausgiebig nach meiner Gesundheit, denn an einem abgelegenen Ort wie Kinnvika war medizinische Hilfe je nach Wetterlage Stunden oder gar Tage entfernt, selbst bei Notfällen. Nahm ich regelmäßig Medikamente? Nein. Wie fit war ich? Ich war ziemlich durchtrainiert und sportlich. In England war ich passioniertes Mitglied des Ruderclubs von Lymington gewesen, hier in Longyearbyen fuhr ich im Sommer auf dem Fjord Kajak und machte im Winter in der Sporthalle Zirkeltraining. Und konnte ich Ski fahren? Ich konnte jedenfalls ziemlich gut hinfallen! Und wie steht es mit Sekretariatsaufgaben? Nun, ich fand die Tasten auf der Tastatur, bekam einigermaßen ordentliche Dokumente hin, wenn ich nicht gehetzt wurde, aber eine Ausbildung zur Sekretärin hatte ich nicht und konnte auch nicht mit zehn Fingern tippen. Und Waffen? Besaß ich eine, zum Schutz gegen Eisbären? Ja, ich besitze eine Ruger. Aber kannst du auch damit umgehen? Dir werd ich’s zeigen, dachte ich. Mit meinem Kleinkalibergewehr schoss ich schon seit ich 16 war, ich war begeisterte Tontaubenschützin und übte auch hier in Longyearbyen jede Woche. Ja, schießen konnte ich.

Hauke hakte die Liste in seinem Kopf ab, und nur er wusste, ob ich die richtigen Antworten gab, aber ich dachte mir: Wahrscheinlich schon, sonst würde er kaum weitermachen.

Nach ein paar Gläsern Bier nahm er seine Fragerei wieder auf. Er wollte meiner Lebenseinstellung auf den Grund gehen, meiner Haltung gegenüber Problemen, meinem Optimismus, meiner Erfahrung. Ich erzählte ihm davon, wie ich alleine auf Wanderungen und Campingreisen gegangen war, er berichtete von seinen Einhand-Segeltouren über den Atlantik und von der ersten Expedition nach Mushamna. Wir stellten fest, dass wir beide praktisch veranlagt sind (eigentlich ungewöhnlich für einen Wissenschaftler, aber was wusste ich schon?), dass wir eine ähnliche, unkonventionelle Sicht der Dinge hatten. Wir waren in so vielen Punkten einer Meinung, es war schon fast unheimlich, wie oft ich »Finde ich auch« oder »Hätte ich auch gemacht« sagen wollte.

Es machte Spaß, gemeinsam zu kichern und Witze zu machen, toll, auf einen anderen Erwachsenen getroffen zu sein, der gerne albern war. Whopee! Andererseits – bin ich überhaupt je erwachsen geworden? Ich habe mich schon immer eher meiner Schuhgröße als meinem Alter gemäß benommen, und meine englische Schuhgröße ist fünf!

Die Stunden vergingen wie im Flug, irgendwann wollten wir einen Tapetenwechsel. Hauke, ganz der Gentleman, den ich erwartet hatte, übernahm großzügig die Rechnung, wir zwängten uns in unsere zerknautschten Jacken und machten uns auf den Weg ins Tal. Auf ins puben.

Ich wollte nichts Alkoholisches mehr trinken und bestellte einen Kaffee, der allerdings aussah wie ein Cognac, als er serviert wurde. Ein Bekannter von Hauke setzte sich zu uns, so dass wir jetzt zu dritt waren. Ich weiß noch, dass ich mich fragte, warum ich dem jungen Mann noch nie begegnet war, immerhin war er Koch des Restaurants und ein waschechter Engländer. Anthony und ich machten uns bekannt, und auch zwischen uns sprang sofort der Funke über. Zu dritt brachen wir zum Karlsberger Pub auf, um doch noch einen Absacker zu trinken. Es war ein großartiger Abend, und ich hatte das Gefühl, mit Hauke und Anthony zwei neue Freunde gefunden zu haben.

Der Wind war stärker geworden, und feiner Schneestaub fegte wie weißer Sand durch die Luft. Er peitschte die Haut und stach in den Augen wie die Krallen einer Katze. Vor dem Pub fragte Anthony, ob er mich nach Hause begleiten solle, er wohne ganz in der Nähe, oder ob ich mit Hauke ginge. »Ich gehe mit Hauke«, antwortete ich sofort, und so wünschten wir uns gegenseitig eine gute Nacht und überließen Anthony seinem Schicksal. Wir zogen unsere Kapuzen fester, hakten einander ein, und gingen, die Köpfe gebeugt, um uns gegen den Wind zu schützen, den Hügel hinunter, zu Hauke, wo auch immer er wohnte.

Ende der Leseprobe