Mein Land, mein Leben - Eline Rosenhart - E-Book

Mein Land, mein Leben E-Book

Eline Rosenhart

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Beschreibung

Tel Aviv 2015. Als die Konflikte in Jerusalem aufflammen und eine Welle der Gewalt durch das Land zieht, werden die Ideale von drei jungen Leuten erschüttert. Wael, ein Palästinenser, arbeitet illegal in Tel Aviv. Er hofft auf eine gemeinsame Zukunft mit seiner Verlobten, die er nicht heiraten darf, bis sein Haus in Bethlehem fertiggestellt ist. Yahav, eine Israelin, kehrt zurück in ihr Elternhaus, als ihre Beziehung zerbricht. Nienke, eine Christin, entdeckt erst allmählich die Spaltungen innerhalb der israelischen Gesellschaft – und was das für ihre Beziehung mit Yahavs Zwillingsbruder bedeutet. Sie alle werden konfrontiert mit ihren eigenen tiefliegenden Überzeugungen, bis sie drastische Entscheidungen treffen müssen, die ihr Leben für immer verändern werden. Ein Roman, den man nie wieder vergisst. Mit tiefen Einblicken in das Alltagsleben in Israel und einem Fokus auf den Menschen hinter dem Nahostkonflikt.

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Seitenzahl: 533

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Eline Rosenhart

Mein Land, mein Leben

SCM Hänssler ist ein Imprint der SCM Verlagsgruppe,

die zur Stiftung Christliche Medien gehört, einer gemeinnützigen Stiftung,

die sich für die Förderung und Verbreitung christlicher Bücher,

Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.

ISBN 978-3-7751-7648-4 (E-Book)

ISBN 978-3-7751-6206-7 (lieferbare Buchausgabe)

Datenkonvertierung E-Book: Satz: Satz & Medien Wieser, Aachen

© der deutschen Ausgabe 2024

SCM Verlagsgruppe GmbH · Max-Eyth-Straße 41 · 71088 Holzgerlingen

Internet: www.scm-haenssler.de; E-Mail: [email protected]

First published in Dutch under the title:

Mijn land, mijn bloed.

© 2022 KokBoekencentrum Uitgevers

© 2022 Eline Rosenhart

First published by Uitgeverij KokBoekenCentrum, The Netherlands in 2022

Die Bibelverse sind folgender Ausgabe entnommen:

Neues Leben. Die Bibel,©der deutschenAusgabe 2002 und 2006SCMR.Brockhaus

in der SCM Verlagsgruppe GmbH, Holzgerlingen.

Weiter wurde verwendet:

Elberfelder Bibel 2006, © 2006 SCM R.Brockhaus in der

SCM Verlagsgruppe GmbH, Holzgerlingen.

Übersetzung: Martina Merckel-Braun

Umschlaggestaltung: Oliver Berlin, www.oliverberlin.biz

Satz: Satz & Medien Wieser, Aachen

Inhalt

Über die Autorin

Über das Buch

Vorwort

1

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42

Erklärungen

Bibliografie

Dank

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Über die Autorin

ELINE ROSENHART ist in den Niederlanden geboren und hat über acht Jahre lang in Israel gelebt. Sie studierte »Geschichte des mittleren Ostens und Afrika« in Tel Aviv und arbeitet in einer Non-Profit-Organisation in der Ukraine. Ihr Debüt schrieb sie mit siebzehn Jahren. Dies ist ihr dritter Roman.

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Über das Buch

VON BRUCHSTELLENUND GESPRENGTEN GRENZEN

Tel Aviv 2015. Als die Konflikte in Jerusalem aufflammen und eine Welle der Gewalt durch das Land zieht, werden die Ideale von drei jungen Leuten erschüttert. Wael, ein Palästinenser, arbeitet illegal in Tel Aviv. Er hofft auf eine gemeinsame Zukunft mit seiner Verlobten, die er nicht heiraten darf, bis sein Haus in Bethlehem fertiggestellt ist. Yahav, eine Israelin, kämpft mit den Erinnerungen an ihre Zeit in der Armee. Nienke, eine Christin, entdeckt erst allmählich die Spaltungen innerhalb der israelischen Gesellschaft – und was das für ihre Beziehung mit Yahavs Zwillingsbruder bedeutet. Sie alle werden konfrontiert mit ihren eigenen Überzeugungen, und müssen Entscheidungen treffen, die ihr Leben für immer verändern werden.

Ein Roman, den man nie wieder vergisst. Mit tiefen Einblicken in das Alltagsleben in Israel und einem Fokus auf Menschen hinter dem Nahostkonflikt.

»Eline Rosenhart nimmt die kleinsten Facetten des Landes wahr und präsentiert sie uns, als wären wir mittendrin.«

ASSAF ZEEVI, Autor, Reiseleiter, Referent und Podcaster

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

Vorwort

Liebe Leserinnen und Leser,

als ich an meinem siebzehnten Geburtstag beschloss, nach Abschluss der weiterführenden Schule für ein Jahr nach Israel zu gehen, hätte ich mir nie träumen lassen, dass dieses Land achteinhalb Jahre lang mein Zuhause werden würde. Mein erstes Ziel war, Hebräisch zu lernen, und damit das schneller ging, nahm ich eine ehrenamtliche Tätigkeit in einer Grundschule in der Nähe von Tiberias auf. Nach einem Jahr beschloss ich, nach Tel Aviv zu ziehen, in die zweitgrößte Stadt Israels – wo ich niemanden kannte –, um dort »Die Geschichte des Nahen Ostens und Afrikas« zu studieren.

Anfänglich fand ich Tel Aviv vor allem hässlich. Ich hielt mich dort nur unter der Woche auf, um zu studieren; jedes Wochenende »floh« ich zu meinen Freunden, die an anderen Orten im Land wohnten, die in meinen Augen schöner waren. Tel Aviv hat nicht die geringste Ähnlichkeit mit Jerusalem – der Stadt, in der jeder Pflasterstein eine tausendjährige Geschichte hat – oder mit Tiberias, der Stadt, in der einem alten hebräischen Lied zufolge die »tausend Gesichter des See Genezareth« zu sehen sind. Die romantische Vorstellung vom Heiligen Land wirkt in Tel Aviv sehr weit hergeholt. Es ist eine moderne Stadt, in deren Straßenzügen sich (manchmal baufällige) Häuser im Bauhausstil mit hypermodernen Bürogebäuden und drei- bis viergeschossigen Plattenbauten mit weißen Kunststoff-Fensterläden abwechseln.

Trotzdem habe ich die Stadt und ihre Bewohner im Laufe der Zeit lieb gewonnen. Vor allem der Strand, der nahtlos in die Stadt übergeht, hat es mir angetan. Wenn man in einer Sommernacht im Meer schwimmt, kann man vom Wasser aus die Lichter von Jaffa bis Herzlia sehen. Das Stadtzentrum ist von pulsierendem Leben erfüllt; es gibt viele Hotels und Gaststätten, aber auch Nachtklubs; künstlerische und kulturelle Angebote und Sportmöglichkeiten sind reichlich vorhanden. Vor allem aber herrscht eine sehr entspannte Atmosphäre. Es sind Tag und Nacht Menschen auf der Straße. Viele niederländische Freunde haben mich gefragt, ob ich mich dort sicher gefühlt habe. Meine Antwort war dann immer, dass ich mich gerade wegen der vielen Menschen in Tel Aviv nachts auf der Straße sicherer fühlte als in Velserbroek, wo ich aufgewachsen bin.

Aufgrund der entspannten Atmosphäre schien der Konflikt zwischen Israel und Palästina manchmal weit weg zu sein. Es gab Zeiten, in denen ich völlig vergaß, dass er existierte. Aber es gab auch Momente, in denen er mir sehr bewusst war, zum Beispiel in den Jahren 2015 bis 2017. Ich wohnte in der Nähe des belebten Azrieli Center. Jeden Tag, wenn ich von meinem Apartment zur Universität von Tel Aviv fuhr und wieder zurück, war ich äußerst aufmerksam. Meine Mitbewohnerin brachte mir bei, wie ich in die Schaufenster blicken musste, um zu sehen, ob jemand dicht hinter mir herlief, und dass ich immer darauf achten musste, wo die Leute ihre Hände hielten. Das war die Zeit der sogenannten Messer-Intifada. Menschen wurden auf der Straße mit Messern, Scheren und Schraubenziehern niedergestochen. Auch in meiner Straße.

Ursprünglich war ich mit festen Ansichten über den israelisch-palästinensischen Konflikt nach Israel gekommen. Aber je länger ich dort lebte und mich mit dem Konflikt beschäftigte (und ich habe ihm einen Großteil meines Studiums gewidmet), desto bewusster wurde mir, dass es bei diesem Problem viele Grautöne gibt. Und ich wurde mit der Tatsache konfrontiert, dass die ideologischen Standpunkte und die tägliche Realität oft weit auseinanderklaffen.

Nach dem Erscheinen meines vorherigen Romans habe ich lange Zeit kein fiktionales Werk mehr verfasst. Es dauerte ein paar Jahre, bis in meinem Kopf wieder eine Geschichte entstand, die ich aufschreibenswert fand. Im Laufe der Zeit wurde mir jedoch klar, dass ich durch das fiktive Schreiben etwas von der Komplexität der Stadt wiedergeben wollte, die ich lieb gewonnen hatte. Journalisten und Historiker betrachten den israelisch-palästinensischen Konflikt oft aus einer politischen Perspektive und kritisieren die Handlungsweise der politischen und militärischen Führer. Es ist wichtig, dass die Möglichkeit besteht, Dinge unter einem kritischen Blickwinkel zu betrachten. Aber die Geschichten der einzelnen Menschen, die mit den Traumata kämpfen, die die jahrelangen Konflikte bei ihnen ausgelöst haben, sind in meinen Augen ebenso wertvoll. Sie verleihen einer unglaublich komplexen Gesellschaft eine menschliche Perspektive.

Yahav, Wael und Nienke sind fiktive Personen. Aber viele der Geschichten, die in »Mein Land, mein Leben« erzählt werden, sind wirklich passiert oder hätten so passieren können. Ich durfte Menschen interviewen, die bereit waren, ihre persönliche Erfahrung oder Expertise mit mir zu teilen. So lernte ich einiges über das Baugeschäft in Tel Aviv und im Allgemeinen; über den Prozess, den jüdischen Glauben anzunehmen; die Oketz-Einheit der israelischen Verteidigungsstreitkräfte; die Arbeit in der Altenbetreuung; das tägliche Leben in einem palästinensischen Flüchtlingslager im Westjordanland und zahllose weitere Themen.

Ich besuchte Orte, an die ich normalerweise nie gekommen wäre, wie das Flüchtlingslager Dheisheh und ein Pflegeheim in Petach Tikvah. Ich habe in meinem Buch verschiedene persönliche Erfahrungen festgehalten, zum Beispiel den Bericht eines Kommilitonen, der die Schießerei im Sarona-Park miterlebt hat, und die Geschichten, die ein Professor über seine Großmutter erzählte. Durch die miteinander verwobenen Lebensgeschichten meiner Hauptpersonen habe ich versucht, ein möglichst realistisches und facettenreiches Bild der israelischen Gesellschaft zu zeichnen.

Über ein so umstrittenes Thema wie den israelisch-palästinensischen Konflikt zu schreiben, ist, als würde man in ein Wespennest stechen. Es wird wohl niemandem je gelingen, politisch vollkommen objektiv zu bleiben, aber das ist auch nicht das Ziel dieses Romans. Wenn in diesem Buch Geschichten oder Aussagen stehen, denen Sie aufgrund Ihrer politischen oder religiösen Überzeugung nicht zustimmen, habe ich etwas richtig gemacht. Aber ich hoffe vor allem, dass Sie in diesem Konflikt den Menschen sehen. Wenn das der Fall ist, dann habe ich mit diesem Buch mein Ziel erreicht.

Eline Rosenhart

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

1

WaelSeptember 2015

Wenn Amer nicht gegangen wäre, hätte Wael auch nicht mitgemacht. Amer war der Anführer, schon seit ihrer Kindheit. Amer hatte immer den meisten Mut, am meisten zu sagen und die meisten Bewunderer. Es war Amer, der die verrücktesten Einfälle hatte und auch den Mut, sie in die Tat umzusetzen. Er war derjenige, der Wael mitschleppte und vorwärtsschubste. Er war derjenige, der den ersten Stein in die Hand nahm und ihn direkt auf die Soldaten schleuderte.

Sie hatten sich einem Strom junger Männer angeschlossen und liefen mit ihnen durch die Hebron Road. Wael folgte Amers Vorbild und schrie: »Befreit Al-Aksa! Beendet die Besetzung!«

Gemeinsam mit seinem Cousin marschierte Wael im Rhythmus der skandierten Rufe am Bethlehem Souvenir Center vorbei auf das Ziel zu: den Kontrollposten 300 an der Grenze zwischen Bethlehem und Ostjerusalem. Dort hatten sich Soldaten in ihren grünen Uniformen positioniert. Sie trugen kugelsichere Westen und Helme und hielten Schilde und Granatwerfer mit Tränengasgranaten in der Hand. Aus dem Nichts heraus fuhren zwei Armee-Fahrzeuge in die Hebron Road hinein. Das schrille Geräusch eines Megafons tat Wael in den Ohren weh. Er ignorierte die Aufforderung, stehen zu bleiben, und ging an den Fahrzeugen vorbei.

Die warmen Farben der Sonne waren nun hinter den düsteren Häuserblocks verschwunden und machten den kalten Grautönen der Nacht Platz. Die Gesichter um sie herum wurden zu Schatten. Wael hob die Arme, damit die rot-schwarz-weiß-grüne Flagge, die er hielt, in der Dämmerung noch einigermaßen zu erkennen war.

Amer ging in die Knie und hob einen losen Stein von der Straße auf. Eine Gruppe Teenager rollte Autoreifen in die Hebron Road. Einer von ihnen hielt einen großen Plastikkanister in den Händen. Innerhalb weniger Minuten verbreiteten sich grauschwarze Wolken und der durchdringende Geruch von verschmortem Plastik in Richtung der Soldaten. Der Gestank war Wael vertraut. Genauso hatte es in seiner Kindheit gerochen, wenn er von der Schule nach Hause gegangen war. So rochen seine Kleider nach einem schier endlosen Tag während eines Generalstreiks. Selbst nachdem alle Demonstranten längst verschwunden waren, blieb der Gestank in seiner Straße hängen. Dieser Geruch hatte sich in seine Seele eingegraben.

Die ersten Tränengasgranaten wurden abgeschossen. Es war, als würde jemand Chilipulver in seinen Hals und in seine Augen reiben. Wael zog seine Kufiya fester über Nase und Mund und versuchte zu atmen. Er bedeckte seine Augen mit dem linken Arm und ging in die Hocke. Mit der rechten Hand tastete er nach einem Stein am Wegrand. Er stand wieder auf und ließ die Finger über die Oberfläche gleiten – der Stein fühlte sich rau an und war schwerer als gedacht. Wael drehte den Lautstärkeregler in seinem überreizten Gehirn auf null.

Mit Wucht schleuderte er den Stein in Richtung der Soldaten. »Der ist für Al-Aksa!«, schrie er. Blitzschnell suchte er einen weiteren Stein und bewegte sich ein paar Meter nach vorn, um sein Ziel besser zu erkennen. »Der ist für mein Land, das ihr gestohlen habt!« Der dritte Stein war am schwersten. Wael konnte jetzt deutlich sehen, wie ein Soldat eine Tränengasgranate aufmontierte, um sie abzuschießen. Der Soldat war konzentriert bei der Sache und merkte nicht, dass er ihm immer näher kam. Wael rieb sich die Augen und versuchte, seinen Atem unter Kontrolle zu bringen. »Der ist für Mazen!«

Der Stein traf den Soldaten mit voller Wucht an der Schulter. Der Mann krümmte sich vor Schmerzen und fiel zu Boden, während die Tränengasgranate abgeschossen wurde. Zwei andere Soldaten kamen ihm sofort zu Hilfe und brachten ihn schnell in Sicherheit.

Wael blieb unbeweglich und mit tränenden Augen stehen. Die Szenerie, die ihn umgab, verschwand vor seinen Augen, und er befand sich in Gedanken in einem dunklen Raum. Es war mitten in der Nacht. Durch die Tür des Abstellraums hörte er gedämpft schreiende Stimmen. Plötzlich war da der Lauf eines Gewehrs, und dann das Gesicht, ganz nah. Das Gesicht, durch das sein Leben nie mehr dasselbe sein würde.

»Befreit Palästina!« Der Schrei holte ihn zurück in die Realität.

Er musste sich zurückziehen. Zurück in die Menschenmenge, bevor sie auf ihn schossen. Wael hatte das Gefühl, dass seine Lungen platzten, während die Soldaten weitere Tränengasgranaten abfeuerten. Weißer Nebel versperrte ihm die Sicht. Das Skandieren der Protestslogans wurde immer lauter und der Rhythmus hypnotisierte ihn.

Sekunden wurden zu Minuten und Minuten zu Stunden. Die Straße wurde so dunkel wie eine Höhle, in der die Stimmen der Besucher widerhallten. Nur an einigen Stellen wurde sie vom flackernden Licht brennender Autoreifen erhellt. In Waels Gliedern brannte dasselbe Feuer und hielt ihn auf den Beinen. Für Mazen. Sein Hemd klebte an seinem Körper, und das Tränengas schien ihm nichts mehr auszumachen. Die Menge näherte sich dem Kontrollposten. Schüsse. Kein Tränengas.

Die Zionisten beginnen, Angst zu bekommen, schoss ihm durch den Kopf. Er sah sich um. Wo ist Amer?

Die Armee griff an. Hustend und mit tränenden Augen rannte Wael bei der ersten Querstraße um die Ecke. Mit dem Rücken an der Wand blickte er rechts in die Hebron Road hinein und hielt Ausschau nach Amer. Wieder Schüsse. Der Schweiß tropfte ihm vom Gesicht, während Dutzende von jungen Männern an ihm vorbei in die Seitenstraße liefen. Plötzlich spürte er eine Hand, die seinen linken Oberarm mit kräftigem Griff packte und ihn nach links zog.

»Abhauen, du Idiot!«, schrie Amer, mit Mühe den Lärm übertönend.

Ein Blick auf ihn genügte, um Wael klarzumachen: Sein Cousin konnte kaum aufrecht stehen. Wael bückte sich, fasste Amer an den Oberschenkeln und hievte ihn auf seine rechte Schulter.

»Was machst du da?«, protestierte der, leistete jedoch keinen Widerstand.

Nach Luft schnappend, versuchte Wael, sich so schnell wie möglich von der Hebron Road zu entfernen. Amers Gewicht lastete schwer auf seiner Schulter. Die Bilder der Straße zogen wie in einem Stummfilm an ihm vorbei. Er schaltete auf Autopilot und lief weiter, ohne zu überlegen. Gerade in dem Moment, als ihn die Kraft verließ, Amer noch weiter zu tragen, kamen ihm zwei junge Männer auf der Straße zu Hilfe. Zusammen trugen sie Amer an einen Platz, wo der Service nach Dheisheh halten würde.

Erst als sie wieder auf der Hebron Road waren und die Autos hupend an ihnen vorbeifuhren, bekam der Stummfilm Geräusche und Farbe. Die Straßenlaternen waren grell und rissen ihn aus seinem Taumel. Zu dritt legten sie Amer vorsichtig hin. Erst jetzt konnte Wael seinen Cousin genau anschauen.

Von Amers aufgeschürften Oberarmen lief Blut und in seiner Jeans war ein großes, blutverschmiertes Loch. Wael suchte in seinem Rucksack nach etwas, das die Blutung stillen konnte. Er fand eine Schere und machte einen Schnitt in seine Kufiya, riss sie auseinander und band die beiden Teile um Amers Arme. Amer erlaubte ihm nicht, in die Nähe seines Beines zu kommen.

Sie brauchten zum Glück nicht lange auf das nächste Bustaxi zu warten. Wael zahlte dem Fahrer die sechs Schekel, die für ihn und Amer fällig waren, und half Amer beim Einsteigen. Ein Freund von der weiterführenden Schule erkannte sie beim Hereinkommen und ging nach hinten durch, um Platz für Amer zu machen. Eine Freundin seiner Cousine, die ihn im grellen Licht des Busses sah, tat dasselbe, sodass er neben Amer sitzen konnte. Wael hatte den Eindruck, dass sofort von allen Seiten Fragen auf sie einprasselten. Doch er war zu müde, um sie zu beantworten.

»Ich nehme an, ich soll euch beim Dheisheh Health Center absetzen?«, fragte der Fahrer, dessen Gesicht ihm auch bekannt vorkam.

»Das wäre nett, ja«, sagte Wael.

Viele Fahrgäste sprachen in ihr Handy hinein und die Geräusche hallten in seinem Kopf wider. Ab und zu sah er zu Amer hinüber, dessen versteinertes Gesicht in kurzen Abständen vom Licht der Straßenlaternen erhellt wurde. Amer hatte die Zähne zusammengebissen und seine Arme hingen schlaff am Körper herunter.

Vor dem Dheisheh Health Center hielt der Fahrer an. Der Schulfreund half Wael, Amer zum Gesundheitszentrum zu bringen, das sich neben ihrer alten Grundschule befand.

In dem engen zentralen Wartezimmer hielten sich um die dreißig Personen auf. Mehrere Patienten krümmten sich vor Schmerzen. Manche hatten ihre ganze Familie dabei, andere Hilfesuchende lagen der Länge nach auf dem Boden ausgestreckt. Der Schulfreund begleitete Amer zu einem wackligen Stuhl und verabschiedete sich dann mit einer flüchtigen Gebärde. Wael machte sich auf die Suche nach einem anderen Cousin, der hier arbeitete. Der sorgte dafür, dass sie früher an die Reihe kamen.

Während Wael der Sekretärin die erforderlichen Informationen gab, schaute er zu Amer, der mit zurückgelehntem Kopf auf seinem Stuhl saß. Er hatte ihn schon öfter so gesehen. Amer hatte es schon zweimal fertiggebracht, sich ein Bein zu brechen. Das erste Mal war er als Kind von einem Baum gefallen. Das zweite Mal war während der Zweiten Intifada gewesen, als er als Teenager von Dach zu Dach gesprungen war und so getan hatte, als ob er ein Freiheitskämpfer wäre, der auf der Flucht vor den Zionisten war. Amer hatte die anderen Jungen angestachelt, es ihm nachzumachen. Aber Wael war nicht auf das Dach geklettert, obwohl das seinem Ruf geschadet hatte und er danach monatelang verspottet worden war.

Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als er Amers UNRWA-Nummer angeben sollte.

»Telefonnummer?«, fragte die Sekretärin anschließend.

Nachdem er ihr die Zahlen diktiert hatte, gab sie ihm ein Formular. »Ihr werdet gleich aufgerufen.«

»Danke«, sagte Wael und ging zurück zu Amer. Er ließ sich auf den Plastikstuhl neben ihm fallen.

Amer kniff ihn in den Oberarm.

Wael nickte seinem Cousin zu. »Ich gehe mal eben aufs Klo. Bis gleich.«

Wael blieb im Toilettenraum stehen. Mit den Händen formte er eine Schale, in der er das Wasser aus dem Hahn auffing und dann sein Gesicht damit wusch. Sein Spiegelbild in dem gebrochenen Spiegel konfrontierte ihn mit seinen blutunterlaufenen Augen, die ihn schmerzlich an die von Mazen erinnerten, an jenem letzten Tag. Sie waren hellbraun wie die Erde von Al Bureij, dem Dorf, aus dem seine Großeltern 1948 vertrieben worden waren. Sein Urgroßvater hatte, solange er noch bei ihnen gelebt hatte, mit dem Schlüssel seines alten Hauses unter dem Kopfkissen geschlafen.

Wael spürte, wie ihm schwindlig wurde. Er rutschte mit dem Rücken an der Wand langsam hinunter auf den Boden. Er rieb sich heftig die Augen. Das Bild einer gelbblauen Sonne auf seiner Netzhaut wich einem Streifenmuster, das an Gitterstäbe erinnerte. Das Tränengas hatte seine Sicht getrübt.

Die Flammen in seinem Innern begannen zu erlöschen. Die Bilder der Hebron Road, die er im Kopf hatte, machten anderen Platz, die das Flüchtlingslager Dheisheh zeigten, sein Zuhause. In Gedanken hörte er die Stimmen der Nachbarn, während sein Vater auf seinem altmodischen Plattenspieler die Lieder von Umm Kulthum spielte. Im Hintergrund war das Surren der Nähmaschine zu hören, mit der seine Mutter Stofffetzen in Kleidungsstücke verwandelte. Er roch den aufdringlichen Duft der Seife, die seine Schwester benutzte. Die Erinnerung an ihre Seife hellte seine Gedanken auf.

Er sah sich selbst in einer dreckigen israelischen Gefängniszelle. Oder noch schlimmer, in einer Zelle der Palästinensischen Autonomiebehörde, wenn diese Verräter wieder einmal mit den Kolonialisten zusammenarbeiteten. Lohnte sich der Widerstand gegen die Besatzungsmacht? Die Zionisten machten doch sowieso, was sie wollten. Sie konnten ihr vereinigtes Jerusalem bis nach Bethlehem ausdehnen, und er konnte demonstrieren, bis ihr Messias kam.

Der Boden war angenehm kühl und das Stimmengewirr aus dem Krankenhaus schien weit entfernt. Wael schloss die Augen. Erst nachdem etwas Zeit vergangen war, fühlte er sich gut genug, um sich wieder unter Menschen zu begeben.

Zeit hatte in der Notaufnahme keine Bedeutung. Der Arzt, der Amer schließlich untersuchte, vermutete, dass das linke Bein gebrochen war, und verschrieb ihm Schmerztabletten. »Zuerst wird meine Mitarbeiterin die Wunden an deinen Armen neu verbinden«, sagte er zu Amer. »Dann schicke ich dich zur Radiologieabteilung, um ein Röntgenbild machen zu lassen.«

»Kann Wael bei mir bleiben?«, fragte Amer leise.

»Ja, das geht«, antwortete der Arzt.

Wael sah zu, wie eine Krankenschwester die Kufiya mit dem geronnenen Blut einweichte und vorsichtig von Amers Armen abwickelte. Amer starrte mit entschlossenem Gesicht vor sich hin, während die Krankenschwester ein Desinfektionsmittel auf seine Wunden strich und einen sauberen Verband anlegte. Danach dauerte es ein paar Stunden, bis die Röntgenbilder gemacht werden konnten. Als Amers Bein schließlich gerichtet und der Gipsverband angelegt war, schimmerte schon das Morgenlicht durch die kleinen Fenster.

Sie saßen nebeneinander auf dem Flur des Gesundheitszentrums und warteten auf Amers Vater, der sie abholen kommen sollte. Sogar auf dem wackligen Plastikstuhl gelang es Wael noch, ein paar Minuten wegzudösen.

Amers Stimme riss ihn aus dem Schlaf. »Danke«, sagte er.

»Kein Problem.«

»Ich hasse Blut.«

»Ja, ich weiß.«

Amer schwieg kurz, bevor er fortfuhr: »Ich kann vorläufig nicht auf die Baustelle. Du wirst ohne mich gehen müssen. Vielleicht kannst du ein gutes Wort für mich einlegen, damit sie mich nicht rausschmeißen.«

»Hmmm. Wenn du in der Zwischenzeit nicht versuchst, mir Filastine wegzuschnappen.«

Amer grinste. »Ich? Dir Filastine wegschnappen? Ohne mich wärt ihr überhaupt nicht zusammengekommen.«

»Ach ja, gib ruhig weiter an!«

»Ich brauche deine Filastine nicht. Sie ist mir zu still, zu fromm.« Amer bewegte sein unversehrtes Bein und kniff die Augen zusammen.

»Das sagst du nur, weil du eifersüchtig bist. Weil sie die einzige Frau ist, die nicht auf dich abfährt.«

»Ich kann jede Frau haben, die ich will.«

»Schön für dich. Zum Glück brauche ich das nicht.«

»Nein, du hast Filastine. Und in einer Million Jahren hast du endlich dein Haus fertig gebaut, und dann wird ihr Vater dir erlauben, sie zu heiraten. Und in der Zwischenzeit darfst du sie aus der Ferne bewundern.«

»Ist deine Situation denn so anders als meine, Amer? Wir kommen aus derselben Familie, wir haben denselben Beruf, bekommen denselben erbärmlichen Lohn und wohnen in demselben schäbigen Flüchtlingslager.«

»Ich muss zumindest nicht so lange auf Frauen warten.«

Amers Handy klingelte. »Vater steht am Eingang«, sagte Amer, nachdem er das Gespräch beendet hatte. Er steckte sein Handy in die Hosentasche.

Wael stellte sich hinter ihn und griff ihm unter die Achseln, um ihn hochzuziehen.

»Sie hat Glück mit dir als Verlobtem«, sagte Amer lächelnd.

»Ja, ja«, erwiderte Wael. »Geh doch das Meer pflastern!«

[ Zum Inhaltsverzeichnis ]

2

YahavSeptember 2015

»Es sind Demonstrationen geplant, unter anderem in Bethlehem und Hebron. Die Tour ist abgesagt«, las Yahav laut von ihrem Smartphone ab. »Gut, dann geh ich einfach alleine.«

Nachdem sie sechs Kartons gepackt und ausgiebig gefrühstückt hatte, nahm sie den Bus vom Zentrum Tel Avivs zum Arlozorov-Busbahnhof. Sie stieg aus und wartete im Schatten, bis der Egged-Bus 480 seine grüne Tür öffnete und die Schlange wartender Passagiere einließ. Zwei Teenager versuchten, sich vorzudrängen.

»Wartet gefälligst, bis ihr dran seid«, sagte Yahav schnippisch. Sie ignorierte deren Reaktion und schob sich nach vorn in den Bus hinein. »Jerusalem«, sagte sie zum Fahrer, während sie ihren giftgrünen Pass auf das Kartenlesegerät legte.

Sie ging durch den Gang und suchte sich einen Platz hinten im Bus. Dann nahm sie ihre Kopfhörer aus dem Rucksack und klickte auf dem Handy ihre Lieblings-Playlist an. Mit Bob Marley im Hintergrund scrollte sie durch ihren Facebook-Newsfeed. Sie sah ein Foto von ihrem jüngeren Cousin in seiner Uniform, der nun im Schimschon-Bataillon der Etzion-Brigade diente. Schnell scrollte sie herunter. Dann bekam sie eine Textnachricht von jemandem, der ihr Sofa ersteigern wollte. Der Bus fuhr durch die gelben Felder im Jerusalemer Korridor. Yahav starrte aus dem Fenster zu dem Baugelände, auf dem die neuen Bahnschienen verlegt werden sollten.

Nun kam eine WhatsApp-Nachricht von Dor herein. Das Bett ist verkauft. 1000 Schekel.

Okay, antwortete sie und legte ihr Smartphone hin.

Zwei weitere Nachrichten von Dor. Seufzend öffnete Yahav die App erneut. Bist du in der Wohnung?, wollte er wissen. Der Mann kommt das Bett ungefähr um 18 Uhr abholen.

Ich bin heute Abend nicht da, erwiderte sie.

Wo bist du?

Yahav hob den Blick und betrachtete die Landschaft, die immer hügeliger und bewaldeter wurde, und holte tief Luft.

Drei neue Nachrichten von Dor: Ich muss arbeiten. Das weißt du doch, oder? Der Mann kommt aus Rechovot und ist nur heute Abend in Tel Aviv. Wo bist du?

Geht dich nichts an, tippte sie.

Sie öffnete die Nachrichtenseite der Haaretz und las einen Artikel über die neuen Maßnahmen von Präsident Netanjahu gegen die steinewerfenden Demonstranten am westlichen Jordanufer. »Lächerlich«, murmelte sie, während sie einen zwei Wochen alten Hintergrundartikel über die Spannungen auf dem Tempelberg in Jerusalem anklickte.

Die Klänge von Taylor Swifts Stimme gingen in die »Worldmusic« von Idan Raichel über. Yahav hörte die ersten paar Verse des amharischen Textes an, doch sobald sie die ersten hebräischen Worte hörte, stellte sie die Musik sofort wieder ab.

Inzwischen war der Bus nach Jerusalem hineingefahren und hielt kurz darauf am zentralen Busbahnhof. Yahav stieg aus und lief schnell zur Straßenbahn, wo sie sich durch die Menschenmenge hindurchschlängelte. Die Türen gingen direkt hinter ihr zu. Als die Straßenbahn losfuhr, prallte Yahav mit einem bärtigen Mann zusammen, der ganz in Schwarz-Weiß gekleidet war. Er trug einen Fedora, ebenso wie ihr älterer Bruder. Sein Gesicht wirkte so sauer wie eine Zitrone.

»Mann, geh doch wieder zurück in dein Schtetl in Polen«, flüsterte sie unhörbar.

Zu dem Zeitpunkt, als sie am Damaskustor ankamen, war die Straßenbahn halb leer. Yahav stieg aus und musste kurz suchen, bevor sie den palästinensischen Kleinbus nach Hebron fand. Eine junge Frau mit grünem Kopftuch und langer Überjacke sah Yahav stirnrunzelnd an, während sie durch den Gang nach hinten ging. Yahav strich sich das dunkelblonde, halblange Haar aus dem Gesicht und setzte sich auf einen Fensterplatz auf der linken Seite.

Das Display ihres Handys leuchtete auf. Zwei verpasste Anrufe von Dor und eine Nachricht von ihrer Mutter, die fragte, wann sie am nächsten Tag das Auto brauchte, um ihre Kartons zu transportieren. Morgens, antwortete Yahav.

Während sie an den Apartmentkomplexen von Talpiot und Givat HaArbaa vorbeifuhren, sah Yahav sich selbst in Gedanken wieder in der steifen Armee-Uniform mit den schwarzen Stiefeln, Sybil an der Leine, auf dem Weg zu einem neuen Einsatz.

»Was wirst du nach der Armee machen?«, fragt Jonathan.

»Ich gehe nach Indien und komme vorläufig nicht mehr hierher zurück.«

An der Ausfahrt nach Bethlehem kam der Kleinbus langsam zum Stehen, und es ertönte ein immer heftiger werdendes Hupkonzert. Der Blick auf die Stadteinfahrt nach Bethlehem wurde von einem Meer von Autos versperrt. In der Dämmerung konnte Yahav den Kontrollposten 300 am Stadteingang nicht ausmachen.

»Letzte Karte!«, sagt Jonathan.

Sie betrachtet ihre eigenen Karten und legt eine blaue Vier ab.

Talal muss eine Karte ziehen und nimmt einen Zug von seiner Zigarette.

»Fertig!«, verkündet Jonathan grinsend.

»Nächstes Mal gewinne ich«, sagt sie.

»Ja, wenn es einen palästinensischen Staat gibt«, witzelt Talal.

Auf Jonathans Stirn bildet sich eine Falte. »Dann haben wir keine Zeit mehr, um Taki zu spielen …«

Der Busfahrer öffnete sein Fenster und eine erstickende Abgaswolke drang ins Businnere. In der Ferne hörte Yahav das Geräusch von Schüssen und Protestparolen. Eine Demonstration!

Sofort nahm sie ihr Handy und begann zu filmen. Eine Rauchwolke trieb in ihre Richtung, und sie spürte die brennende Wirkung des Tränengases. Der Busfahrer machte das Fenster wieder zu. Yahav begann zu husten.

Der Busfahrer hupte, aber das Auto vor ihm bewegte sich keinen Zentimenter.

Yahav öffnete ihr Facebook, lud ihr neues Video hoch und schrieb: Seht mal, was gerade in Bethlehem los ist. Beendet die Besetzung!

Die Lichter der Straßenlaternen auf der Autobahn glitten rhythmisch über den Bus hin, der nach Tel Aviv unterwegs war. Allmählich schlief sie ein.

Gegen ein Uhr nachts kamen sie an. Yahav stieg aus und ging an den hypermodernen, hohen Bürotürmen der Jabotinsky Street vorbei. Sie war auf dem Weg zum Apartment ihrer Eltern in dem Teil von Ramat Gan, in dem die »normalen Menschen« wohnten.

Am nächsten Morgen um sechs Uhr klingelte ihr Wecker. Sie tastete nach ihrer Brille, die neben ihr auf dem Fußboden lag, wie sich herausstellte. Yahav merkte, dass sie in Kleidern und Schuhen auf dem Wohnzimmersofa eingeschlafen war. Zum Glück war Oma noch nicht wach, denn die hätte das bestimmt nicht unkommentiert gelassen.

Yahav ging an dem großen, eingerahmten Bild ihrer Tante vorbei in die Küche, um Kaffeewasser aufzusetzen. Es fühlte sich an wie damals, als sie noch ein Teenager gewesen war und sich für die Schule fertig gemacht hatte. Während sie darauf wartete, dass das Wasser kochte, öffnete sie die Schiebetür zum Balkon und zündete sich eine Zigarette an. Der Rauch verflog in der kühlen Morgenluft. Sie starrte auf die sandfarbenen Häuserblocks und hörte die Autos auf der Jabotinsky Street hupen.

Es ist ein normaler Tag, dachte sie.

Der Wasserkocher schaltete sich aus, und Yahav ging zurück, um sich eine Tasse Nescafé zu machen. Den Schlüssel vom Skoda Octavia ihrer Eltern fand sie auf dem Wohnzimmertisch. Mit ihrem Kaffee in der einen und ihrer Tasche in der anderen Hand ging sie aus der Tür. In dem Moment, als sie das Auto anließ, konnte sie ihren eigenen Schweiß riechen. Was macht es schon aus.

Eine Viertelstunde später war sie in ihrem alten Apartment. Sie schloss auf und trat fest gegen die Tür, so wie sie es gewöhnt war. In der Wohnung roch es muffig und die Dunkelheit war bedrückend. Yahav ließ die Handtasche auf den staubigen Fußboden fallen und machte das Licht an. Es war kaum Platz, um zu laufen. Der ganze Flur stand voller Kartons, teils gepackt und teils noch leer.

»Da bist du ja!«

Sie machte einen Schritt zurück und schaute in die Richtung, aus der die Stimme kam.

Dor saß auf dem Sofa. Seine dunklen Augen waren glasig, sein dunkelbraunes Haar war zerzaust, und sein abgeschnittenes Armee-Hemd sah schmutzig und zerknittert aus. Auf dem Tisch standen in Reih und Glied sieben leere Bierflaschen.

»Na, kleine Party gefeiert gestern?«, fragte Yahav trocken und ging in die Küche.

Dor stand vom Sofa auf und trottete hinter ihr her zum Kühlschrank.

»Hast du das Bett noch verkaufen können?« Sie nahm ein Glas aus dem halb leeren Küchenschrank und schenkte sich Wasser ein.

Dor lehnte am Kühlschrank. »Nicht, dass wir das dir zu verdanken hätten – aber ja, das Bett ist verkauft.«

Sie wich seinem bohrenden Blick aus. »Schön.«

»Du warst also in Bethlehem gestern?«

Yahav verließ die Küche, ohne darauf einzugehen, und hörte, wie er hinter ihr herkam.

»Was in aller Welt machst du in Gebiet A? Die roten Schilder stehen da nicht umsonst! Es gibt schon einen Grund dafür, warum wir da nur in gepanzerten Fahrzeugen und in Uniform hingehen.«

»Ach, jetzt machst du dir auf einmal Sorgen um meine Sicherheit?« Sie starrte vor sich hin und nahm einen Schluck Wasser.

»Siehst du denn nicht, dass du zu weit gegangen bist, Yahav?« Er legte ihr eine Hand auf die Schulter, aber sie wandte sich ab.

»Ich sehe, dass du zu weit gehst. Du mischst dich zu sehr in mein Leben ein. Ich bin nicht hergekommen, um mir eine neue Predigt anzuhören. Ich bin hier, um meine Kartons zu packen und meine Sachen mitzunehmen.«

»Bitte schön, kein Problem.«

Sie machte den Fehler, ihm in die Augen zu sehen. Er kam näher, und sie blieb stehen.

»Warum, Yahav? Warum ist es das wert?«

Sie holte tief Luft und hob den Kopf. »Möchtest du gern zu einem Apartheids-Staat gehören?«

»Warum so extrem, Yahav? Glaubst du, ich bin begeistert von der Situation in den Gebieten? Aber warum musst du deine Identität und alles, was dir lieb ist, für einen unerreichbaren Traum aufgeben?«

Sie ging zurück in die Küche und nahm eine Schere und eine Rolle Klebeband aus der Schublade. Neben einem Karton, den sie vor ein paar Tagen gepackt hatte, ging sie in die Hocke und schnitt ein langes Stück Klebeband ab. »Der Traum ist nur wegen Menschen wie dir unerreichbar. Menschen, die nicht bereit sind, ein bisschen was aufzugeben, damit es endlich Gleichberechtigung gibt. Damit dieser endlose Konflikt und all das damit verbundene Leid enden.«

Er stellte sich neben sie und blickte auf sie herab. »Kein Wunder, dass keiner von unseren Freunden Lust hatte, etwas mit uns zu unternehmen. Du kannst dich überhaupt nicht mehr entspannen. Du denkst nur noch an Politik.«

Sie klebte zwei weitere Kartons zu und stand auf. »Du meinst, ich soll es schön finden, dass deine Freunde rassistische Bemerkungen machen über arabische Israelis, Palästinenser und Äthiopier? Dass es mir gefallen soll, wenn sie mich für eine eingebildete Aschkenasia halten, während sie gleichzeitig behaupten, dass ich wegen meiner irakischen Herkunft keine Ahnung habe vom Holocaust?«

»Du nimmst das alles viel zu persönlich! Wenn du nicht bei jeder Party einen Haufen postzionistischen Unsinn von dir geben würdest, hätte doch niemand irgendwas gegen dich.«

Yahav kniff die Augen zusammen und stemmte die Hände in die Hüften. »Ich bin die Einzige, die überhaupt irgendetwas Vernünftiges sagt auf deinen blöden Partys. Was hat es denn für einen Sinn, den ganzen Abend zu trinken und darüber zu lachen, wie die anderen sich gehen lassen? Mehr habt ihr mir nicht zu bieten? Wenn das alles ist, kann ich darauf verzichten.«

»Ich hab ein Leben, Yahav. Was du hast, ist Sand, der dir durch die Finger rinnt. Irgendwann ist nichts mehr davon übrig.« Er strich ihr mit dem Zeigefinger über die Wange, und sie spürte, wie ihr ein Schauer über den Rücken lief.

Dor drehte sich um. Yahav biss die Zähne zusammen, aber dann konnte sie sich nicht mehr beherrschen. »Dein Leben ist ein Sumpf!«, schrie sie. »Du denkst, dass du fest auf deinen Beinen stehst, aber in Wirklichkeit gehst du langsam unter.«

»Du benimmst dich wie ein hysterisches Weib!«

»Das wird dir noch leidtun«, flüsterte sie.

Es war einen Moment still, dann drehten die Nachbarn den Lautstärkeknopf ihres Radios bis zum Anschlag. Aus den Tiefen rufe ich zu dir. Komm zu mir …

»Was in aller …«, murmelte Dor und riss die Wohnungstür auf. »Macht die Scheißmusik aus!«, schrie er nach oben. Keine Reaktion. Er zog die Tür hinter sich zu, und Yahav hörte, wie er die Treppe hinaufging.

Sie erkannte nun laut und deutlich die Gitarrenmusik und die Stimme von Idan Raichel, der sang: Wer ist es, der heute Nacht nach dir ruft? Hör zu. Wessen Stimme singt zu dir – vor deinem Fenster?

In ihr zerbrach etwas. »Ich hasse dich! Ich hasse dich!«, flüsterte sie.

Wer gibt seine Seele für dein Glück?

Sie sah sich um und ihr Blick fiel auf Dors Gitarre. Die Gitarre, auf der er so oft die Melodie von »Mimaamakim« gespielt hatte. Mit der Schere, die sie immer noch in der Hand hatte, ging sie zu dem Instrument hinüber und schnitt die Kunststoffsaiten eine nach der anderen durch. An der ersten Stahlsaite zerbrach die Schere. Yahav warf die Schere weg, schnappte sich die Handtasche vom Boden und rannte aus der Wohnung.

Sie öffnete die Fahrertür des Skoda Octavia, stieg ein und schlug die Tür zu. Reglos blieb sie mit dem Autoschlüssel in der Hand sitzen.

Was bildete sich Dor überhaupt ein? Wie konnte er es wagen, sie so zu kritisieren? Er wusste, wer sie war. Aber vielleicht hatte er gedacht, dass er aus ihr eine folgsame, anhängliche Freundin machen könnte. Vielleicht hatte er die ganze Zeit über ihre Träume gelächelt, so wie ein Erwachsener über ein Kind lächelt, das sagt, dass es später mal den Mars erforschen will. Natürlich, er war ein Mann und dachte wie ein Mann. Ja, Frauen versuchten vielleicht ab und zu mal einen Tag lang, ihre Ideale umzusetzen, aber sie würden sowieso wieder aufgeben, ehe die Sonne unterging. Als Mann sah er seine Aufgabe darin, Frauen vor den Schrecknissen dieser Welt zu beschützen. Und natürlich hatte er als Mann das alleinige Recht, sich ins wahre Leben hinauszuwagen!

»Hau doch ab und verschwinde im ›Herz der Finsternis‹!«, sagte sie laut und ließ das Auto an.

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3

YahavOktober 2015

Yahav stellte den letzten Umzugskarton ab. Es gab kaum Platz zum Laufen. Nur das Bett, in dem sie seit ihrer Kindheit geschlafen hatte, war noch frei. Die weißen Wände ihres Zimmers waren kahl, und in den Ecken begann die Farbe abzublättern. Das Fenster, das zu hoch war, um nach draußen sehen zu können, ließ viel Hitze ins Zimmer.

Seufzend schaltete Yahav die Klimaanlage ein und ließ sich aufs Bett sinken. Während sie sich den Hals massierte, kam ihre Mutter ins Zimmer. Sie hatte einen Becher schwarzen Kaffee und ein Teppichmesser dabei. Sie legte das Messer auf einen Stapel Kartons und reichte Yahav den Becher.

»Danke, Mama.«

»Ich gehe deiner Oma helfen, das Tebit für die Schabbat-Mahlzeit zu kochen«, erklärte ihre Mutter. »Bis du sicher, dass du heute Abend nicht mitwillst zu Benny und seiner Familie?«

»Damit ich dann den ganzen Abend auf alle ihre Regeln achten muss? Nein, danke.«

Yahav stellte sich vor, am Esstisch in der Laubhütte ihres älteren Bruders und ihrer Schwägerin zu sitzen. In Gedanken sah sie ihre Neffen im Alter von drei, fünf und sieben Jahren in ihren strahlend weißen Hemden auf ihren Stühlen sitzen – die Kippa schief auf dem Kopf und die Siddur in den Händen. Sie hörte die endlosen Gebete, die ihr Bruder herunterratterte, als ob er am selben Abend noch zum Zug müsste. Sie sah ihn am Kopfende des Tisches sitzen und darauf warten, dass seine Frau das Essen servierte. Eine Mahlzeit, für die sie stundenlang in der Küche gestanden hatte. Und für die er keinen Finger gerührt hatte, obwohl seine Frau tagein, tagaus in einem Bekleidungsgeschäft stehen musste, um die Familie zu ernähren, während er stolz am Kollel studierte. Und beim Essens würde es dann wieder eine Diskussion über den Schulchan Aruch geben.

In Gedanken versetzte Yahav sich zwölf Jahre zurück und sah den Benny von damals. Den Benny ohne Bart. Den Benny mit Motorrad, der jede Woche eine andere Freundin hatte. Und dann den Benny von vor zehn Jahren, der tagelang nicht in der Schule auftauchte und den sie schließlich am zentralen Busbahnhof von Tel Aviv erwischte. Da stand er mit einem Mann zusammen, der von Kopf bis Fuß tätowiert war und ihm eine durchsichtige Plastiktüte mit weißem Pulver überreichte. Yahav erinnerte sich an die Nächte, in denen sie gehört hatte, wie ihr Vater ihre Mutter getröstet hatte, weil Benny um vier Uhr nachts immer noch nicht zu Hause gewesen war. Und später an den ersten Besuch in der Entzugsklinik, wo sie als ganze Familie hingegangen waren, um Benny zu unterstützen.

Und jetzt? Jetzt fühlte Benny sich zu heilig, um in der Küche seiner eigenen Eltern zu essen.

Ihre Mutter zuckte die Schultern. »Im Kühlschrank stehen noch Reste«, sagte sie und ging aus dem Zimmer. Yahav sah, dass der Rücken ihrer Mutter krumm zu werden begann und dass ihr blondes Haar grauer und dünner wurde.

Yahav nahm einen Schluck Kaffee, klickte die Playlist ihres Handys an und schnitt mit dem Teppichmesser den ersten Karton auf. Ihre Toilettenartikel. Wie gut, dass sie die jetzt schon gefunden hatte. Sie ging Richtung Badezimmer, um dort einen Platz für sie zu suchen, und begegnete im Flur ihrer Oma.

Oma küsste sie auf die Wange. »Ziehst du wieder zu Hause ein, Liebes?«

»Ja, Oma.«

»Und Dor? Wo geht der hin?«

»Keine Ahnung. Das ist seine Sache.«

Zwischen Omas Augenbrauen bildeten sich neue Falten.

»Es ist vorbei, Oma. Dor und ich haben uns getrennt.«

»Mir erzählt hier niemand was.« Oma hob die Hände. »Zu meiner Zeit war das eine Schande. In Bagdad …«

»Aber wir leben nicht mehr in Bagdad, Oma«, sagte Yahav ruhig. »Das Konzept der Scham bedeutet die Unterdrückung der Frau. Wir müssen Widerstand gegen die patriarchalische Gesellschaft leisten.«

»Meine Mutter hat schon mit sechzehn geheiratet …«

Yahav ging an Oma vorbei ins Badezimmer und begann, ihre Sachen einzuräumen.

»Ich sehe, dass du schon ein bisschen ordentlicher bist als früher«, hörte sie Oma hinter sich sagen.

Mit dem leeren Karton ging Yahav zurück in ihr Zimmer. Sie machte die Musik lauter und packte weiter aus. Sie stopfte ihre Kleidung in den Kleiderschrank und stellte den Karton mit den Lehrbüchern auf ihren Schreibtisch. Der nächste Karton, den sie aufmachte, hatte von dem Gewicht der Bücher und der eingerahmten Fotos, die darin lagen, Risse bekommen. Yahav nahm ein Kinderbild von Benny, sich selbst und ihrem Zwillingsbruder heraus und stellte es auf den Schreibtisch neben den Karton mit den Lehrbüchern.

Dann griff sie nach dem nächsten eingerahmten Bild. Doch mitten in der Bewegung hielt sie inne. Plötzlich wurde ihr bewusst, was Idan Raichel sang: Komm zu mir. Wenn du wiederkommst, kehrt das Licht in meinen Augen zurück. Yahav betrachtete ihre eigene Silhouette vor einer majestätischen Himalaya-Landschaft. Dor hatte dieses Foto gemacht.

»Was ist das hier für ein Durcheinander!«, ertönte genau in diesem Moment Omas Stimme. Es klang beinahe so, als hätte Dor ihr das zugeflüstert.

Wer gibt dir seine Hand, um dir dein Haus zu bauen? Wer gibt sein Leben, um dich aufzurichten? Wer lebt wie Staub zu deinen Füßen?

Yahav schaltete die Musik aus, steckte das Bild in einen leeren Karton und stellte ihn auf einen wackligen Stapel anderer Kartons. Sie holte tief Luft und rieb sich die Augen, bevor sie sich zu ihrer Oma umdrehte. »Wenn ich die Tür zumache, siehst du das Durcheinander nicht mehr.«

Oma schob ein paar Kartons mit dem Fuß beiseite und kam näher. Yahav spürte Omas Hand auf ihrer Schulter. »Mach dir keine Sorgen, Liebes. Es gibt für alles eine Lösung.«

»Was meinst du damit?«

»Du bist fünfundzwanzig. Es ist immer noch Zeit, einen Mann zu finden.«

»Na dann. Danke, Oma.«

Omas dunkle Augen glänzten. »Weißt du, dass ich besondere Amulette habe? Die sind noch von meiner Großmutter. Mit ein bisschen Magie können wir sichergehen, dass es mit der Liebe klappt.«

Yahav ließ sich auf ihr Bett fallen. »Ist es etwa meine Schuld, dass meine Beziehungen alle nicht lange gedauert haben? Brauche ich etwa übernatürliche Kräfte, damit ein Mann bei mir bleibt?«

Oma strich ihr über die Wange und hob mit dem Finger ihr Kinn an. »Natürlich nicht, Liebes. Du bist ein wunderbares Mädchen und du hast Mumm in den Knochen. Dein Opa hat es gewusst! Magie hilft uns nur ein bisschen. Und wir können stolz sein auf die kulturellen Schätze aus unserer Vergangenheit.«

»Ich bin bestimmt stolz auf mein Bagdader Erbe. Aber Amulette, Oma?!« Yahav schaukelte mit den Beinen vor und zurück.

Oma richtete sich zu ihrer vollen Größe auf. »Ich garantiere dir, dass es funktioniert. Ich hab sogar den Rabbi danach gefragt.«

»Was der Rabbi darüber denkt, ist mir vollkommen egal!«, giftete Yahav ihre Oma an. Gleich darauf sah sie, wie diese mit dem Daumen über die Finger ihrer anderen Hand strich und auf den Boden blickte. Wenn sie sich doch nur ab und zu auf die Zunge beißen könnte!

Oma ging aus dem Zimmer und Yahav hörte sich selbst atmen. Sie horchte auf den Verkehrslärm und die Stimmen, die von der Straße her heraufdrangen. Die Gesprächsfetzen, die sie auffing, sagten ihr nichts. Das Leben da draußen schien so weit entfernt. Stumm blieb Yahav auf ihrem Bett sitzen. Ihr ganzer Körper fühlte sich schwer und müde an.

Die Liebe, wie Idan Raichel sie beschrieb, gab es nicht. Paare, die jahrelang zusammen waren, blieben letztendlich nur beisammen, weil es praktisch war. Selbst die heftigen Gefühle, die das Leben von Frischverliebten auf und ab tanzen ließen wie ein Schiff auf hohen Wellen, ebbten im Laufe der Zeit ab. Nur Menschen, die mitten im Sturm saßen, waren bereit, für ihre Liebsten ins Meer zu springen.

Und dennoch … dennoch ließen diese Worte Yahav nicht los.

Sie nahm ihr Skizzenbuch aus der Handtasche und blätterte die Zeichnungen durch, die sie in den vergangenen Tagen gemacht hatte. Sie stieß auf die Zeichnung von Dor, die sie gestern zu Papier gebracht hatte: das scharf geschnittene Gesicht mit den glasigen Augen, die auf die leeren Bierflaschen auf dem Wohnzimmertisch blickten. Sie hatte sein Haar besonders zerzaust gezeichnet und ihm einen Bauchansatz verpasst. Der Titel des Bildes war: »Ich habe ein Leben«. Die nächste Zeichnung ließ Dor in einem Sumpf versinken, während er trotzig auf ein Boot zeigte, das in der Ferne am Horizont erschien.

Yahav nahm ein neues Blatt und setzte die ersten Linien aufs Papier. Strich um Strich formten sie sich zu Vierecken und dann zu Kartons, Stapeln von Kartons, die jeden Moment umfallen konnten. Mitten in diesem Kartonmeer erschien der Arm einer Frau, die ihn aus den Wellen herausstreckte und darauf wartete, dass jemand sie herauszog.

Yahav konnte sich nicht daran erinnern, wann sie wach geworden war, aber schon bevor sie die Augen geöffnet hatte, spürte sie, dass ihr Zwillingsbruder im Zimmer war. Er war wie üblich hereingekommen, ohne zu klopfen.

»Hey, Yahav, ich habe mich heute mit Talal in Haifa verabredet. Kannst du in einer halben Stunde fertig sein?«

Auch wenn der Ton seiner Stimme beim letzten Wort nach oben ging, fragte er sie nicht, ob sie mitkommen wollte. Es war schon beschlossene Sache. Und anders als sonst verspürte Yahav nicht automatisch den Impuls, sich zur Wehr zu setzen. Sie ging barfuß ins Badezimmer und nahm sich zur Abwechslung mal die Zeit, sich die Haare zu waschen und Conditioner zu verwenden. Nachdem sie sich angezogen und ihre Kontaktlinsen eingesetzt hatte, ging sie in die Küche, um den Wasserkocher einzuschalten. Aber Itai drückte ihr schon einen Becher Nescafé in die Hand und stellte ihre Schuhe neben ihren Stuhl am Küchentisch.

»Mach mal langsam, Mann«, murmelte sie, während sie sich die Schnürsenkel in die Schuhe stopfte und ihre Handtasche aus dem Zimmer holte.

Er hielt ihr die Tür auf, und sie tat ihr Bestes, um mit dem Becher am Mund nicht über die Treppenstufen zu stolpern. Sie hatte keine Lust, auf den Schabbat-Lift zu warten. Itai öffnete die Tür seines alten Hyundai Getz und entriegelte die Beifahrertür für sie. Sobald er den Motor anbekam, begannen die Beatles zu singen. Im Auto roch es nach dem Aftershave, das Itai benutzte, seit sie fünfzehn waren. Die Tatsache, dass sie die Geschichte hinter all den kleinen Dekorationsgegenständen im Auto nicht nur kannte, sondern selbst Teil dieser Geschichte war, half Yahav dabei, sich zu entspannen.

Das Kettchen mit der Hamsa unter dem Innenspiegel hatte Oma ihm geschenkt, als Itai den Führerschein bekommen hatte. Es sollte ihn vor dem bösen Blick schützen. »Und vor seinen eigenen Augen«, hatte Yahav hinzugefügt. Sie wusste, dass Itai fünfmal durch die Fahrprüfung gefallen war, weil er das erste Mal einen Passanten, dann ein Verkehrsschild und dreimal ein anderes Auto übersehen hatte. Nun betrachtete sie die Sticker mit dem Logo von Maccabi Tel Aviv auf dem Armaturenbrett und erinnerte sich an das Basketballspiel, das sie zusammen im strömenden Regen angeschaut hatten. Und an die unbändige Freude, die sie empfunden hatten, als Tal Burstein kurz vor Spielende noch einen Korb warf und Maccabi Tel Aviv das Spiel gewann.

Itai nahm die Abfahrt zum Ayalon Highway, gab Vollgas und schaltete in den Overdrive, den Yahav die ersten paar Male, als sie Itais Auto gefahren hatte, nicht hatte finden können. Sie lächelte, als sie an Benny dachte, der sich brav an die Schabbatgebote des Talmud halten und die Lichtschalter in seinem Haus nicht anrühren würde, während sie und Itai über die Autobahn sausten. Wenn ein Außenstehender die drei auf der Straße sah, würde er wohl schwerlich erraten, dass sie von demselben Vater gezeugt und von derselben Mutter geboren worden waren.

Die erste halbe Stunde der Fahrt verbrachten sie schweigend. Es war wunderbar, jemanden zu haben, mit dem man schweigen konnte. Dor hatte sie in dem Punkt nie verstanden. Er redete ununterbrochen: über die neusten Gadgets, die er kaufen wollte, über seinen Manager, der ihm keine Ruhe gönnte, über die Champions League und – immer und immer wieder – über seine Zeit in der Armee. Vor allem, wenn er sich mit seinen Freunden traf.

Dann sprachen sie wie alte Männer über ihre Rückenschmerzen und ihre Kniebeschwerden. Und sie machten Witze darüber, dass sie, Yahav, und ihre Kameraden in der Armee wie Könige behandelt wurden. Dor und seine Freunde kamen im August in ihren Panzern vor Hitze um, mussten die ganze Nacht Wache halten und aßen nur Thunfisch aus der Dose, während Yahav mit ihrem Hund trainieren durfte, gut zu essen bekam und alle Aktionen mitmachen durfte. Aber es war besser, dass Dor und seine Freunde es nicht begriffen. Und es war besser, es zu vergessen.

Aber wenn sie Talal heute sah, würde sie sich wieder erinnern. Er war ein Eckteil des Puzzles ihrer Armee-Zeit, das sie am liebsten sicher im Karton verwahrte. Drei Jahre lang hatten Talal, Jonathan und sie in der Oketz-Einheit, der Hundestaffel gedient. Wenn sie alle drei auf der Heimatbasis in Mitkan Adam gewesen waren, hatten sie ihre Freizeit gemeinsam verbracht. Die drei Außenseiter. Sie, eine Frau, die sich nicht leicht mit anderen Frauen identifizieren konnte; Jonathan, der New Yorker, der sich selbst als messianischen Juden bezeichnete, und Talal, der Druse aus Beit Jann, der Hebräisch mit arabischem Akzent sprach. Talal war auch ein Freund von Itai, weil er oft an die Givati-Brigade »ausgeliehen« worden war, in der Itai gedient hatte.

Itai unterbrach ihre Gedanken. »Worauf hast du Lust? Wir gehen nach Wadi Nisnas. Da können wir Hummus essen und Knafeh als Nachspeise, was sagst du dazu?«

»Klingt fantastisch!«, sagte Yahav, im Gegensatz zu ihren sonstigen Gewohnheiten ohne den geringsten sarkastischen Unterton. Itai wusste, wie er sie aufheitern konnte.

Sie fuhren an der Küste entlang und Yahav betrachtete den Horizont. Dor hatte ihr Anfang der Woche vorgeworfen, dass sie die ganze Zeit das Bestreben hätte, den Horizont zu erreichen. Und dass sie nie so weit kommen würde, weil ihr Boot im Meer versinken würde. Yahav schaute in das endlose Blau und fragte sich, ob ein Friedensabkommen wirklich so weit weg war wie der Horizont. Oder war sie die Einzige, die den Mut hatte, an Unmögliches zu glauben? Sie zupfte an einem Niednagel und versuchte, den Blick unverwandt auf den Weg zu richten, den Weg, der zu der süßen, orangefarbenen Knafeh führte, deren warme Füllung aus geschmolzenem Käse einem an den Lippen kleben blieb.

Inzwischen näherten sie sich dem Karmel-Gebirge. Die Häuser ragten hoch über die Autobahn hinaus. Yahav war hier oft gewesen, als Itai am Technion studiert und sie noch einen Vollzeitjob im Pastarestaurant Bar Gurion in Tel Aviv gehabt hatte, weil sie sich nicht entscheiden konnte, was sie studieren wollte.

Itai heizte durch die Straßen von Haifa, und sie fragte sich zum x-ten Mal, wie er es geschafft hatte, den Führerschein zu bekommen. Itai wusste immerhin genau, wo er sein Auto abstellen konnte. Einen Augenblick später gingen sie durch die Straßen von Wadi Nisnas, wo sie die Aussicht auf die symmetrischen Bahai-Gärten genießen konnten, die wie eine riesige Treppe am Berghang angelegt waren. Dies war Itais Lieblingsort in Israel. Er hatte ihr oft gesagt, wie sehr ihn die perfekte Symmetrie dieser Gärten beruhigte.

Yahav teilte sein Empfinden nicht. Die Perfektion der Gärten überwältigte sie, der Tempel war zu weiß und zu golden, das Gras zu grün, und die Blumen waren zu unberührt. Es war kein Leben in dem Garten. Ihr chaotisches Gehirn konnte dort nicht zur Ruhe kommen. Aber hier, in Wadi Nisnas, erwartete sie eine angenehme Mischung von Menschen, Gerüchen und kleinen Geschäften. In Wadi Nisnas brauchte sie nicht irritiert nach oben zu blicken, sie konnte einfach nach vorn schauen und sich zu Hause fühlen.

Am Restaurant, wo sie verabredet waren, warteten sie auf Talal. Er war zu spät, wie üblich. Aber Itai und sie tranken zusammen ein Glas Pfefferminzlimonade und achteten nicht auf das Ticken der Uhr.

»Da sind ja meine Superzwillinge!«, lachte Talal, während er erst Itai und dann Yahav umarmte. »Habt ihr schon Essen bestellt?«

»Nein, wir wollten auf dich warten«, sagte Itai und winkte dem Kellner. »Wir hätten gern ein Hummus Ful, ein Hummus Maschauscha und ein normales. Und dann noch Falafel und einen großen Salat.« Nachdem der Mann die Bestellung notiert hatte, wandte sich Itai zu Talal und klopfte ihm auf die Schultern. »Hey Bruder, wie geht’s dir?«

»Es geht mir super! Ich habe seit zwei Monaten einen neuen Job bei einem Start-up-Unternehmen für Computersoftware. Gutes Geld, nette Kollegen, und ich habe vor, diesen Monat nach Haifa zu ziehen.«

»Herzlichen Glückwunsch!«, sagte Itai. »Das klingt echt gut! Weißt du schon, in welche Gegend du ziehen willst?«

»Ich bin noch dabei, mich umzuschauen.«

»Wie finden es deine Eltern, dass du aus eurem Dorf wegziehst?«

Talal grinste. »Mein Vater ist nicht so dafür. Er hat Angst, dass ich ein Mädchen nach Hause bringe, das keine Drusin ist.«

»Und wie denkst du darüber?«

»Das ist bei uns ein sehr sensibles Thema. Ich könnte das meinen Eltern und meiner Gemeinschaft tatsächlich nicht antun.«

»Unsere Eltern hatten es auch nicht leicht«, meinte Yahav und grinste Itai vielsagend zu. Sie musste an die Geschichten denken, die ihre Mutter erzählt hatte. Wie deren polnische Mutter darauf reagiert hatte, dass sie sich mit einem Iraker angefreundet hatte, einem Misrachi. Mit einem Mann ohne Kultur, der Frauen als minderwertig betrachtete und barbarische Gewohnheiten pflegte, so die Vorurteile. Und dass Yahavs polnische Oma, als sie ihren künftigen Schwiegersohn nach der Verlobung kennengelernt hatte, kaum ein Wort mit ihm gewechselt hatte. Hatte sie diesen schrecklichen Holocaust überlebt, um mitanzusehen, wie ihre Tochter einen orientalischen Juden heiratete?

Was die Eltern von Yahavs Vaters betraf, sah es nicht viel besser aus. Was wollte ihr Sohn mit so einer Aschkenasia? Wahrscheinlich konnte sie nur gefilte Fisch kochen. Wie konnte er sich freiwillig dafür entscheiden, an allen Feiertagen solche trostlosen Mahlzeiten zu essen?

Letztendlich war es Oma gewesen, Yahavs liebe abergläubische Oma, die in einem Traum gesehen hatte, dass ihre zukünftige Schwiegertochter ihren gefilte Fisch aus dem Fenster warf. Da hatte sie versprochen, nie wieder ein schlechtes Wort über das schüchterne Mädchen zu sagen, das ihre Schwiegertochter werden würde. Das arme Kind hatte in seiner Kindheit keine echte Liebe erfahren. Oma würde das wiedergutmachen. Und wenn Oma etwas entschieden hatte, dann war es beschlossene Sache. Innerhalb von einem Jahr war Yahavs Mutter ein unverzichtbares Mitglied der Bagdader Familie geworden.

Itai lächelte.

»Und was ist mit euch? Immer noch in Tel Aviv?«

»Ja, ich arbeite jetzt in der Nähe der Bursa für eine Firma, die Schmuckgegenstände herstellt. Ich entwickle auch Software«, antwortete Itai.

»Ich fange demnächst mit dem zweiten Studienjahr an«, erklärte Yahav. »Englische Literatur und Politikwissenschaft.«

»Und was willst du damit machen?«, erkundigte sich Talal und lächelte. »Das fragt dich bestimmt jeder, dem du das erzählst, oder nicht?«

»Mal schauen.«

»Ich habe immer gedacht, dass du dich mit Haut und Haaren in die Politik stürzen würdest, Yahav. Ich könnte mir dich gut als Vorsitzende der Meretz-Partei vorstellen. Dein ganzes Facebook und Instagram sind voller politischer Slogans. Bist du letzte Woche nicht sogar in Bethlehem gewesen?«

Natürlich hakte Itai nun sofort nach und fragte, ob ihr Cousin, der im Schimschon-Bataillon der Etzion-Brigade diente, dort nicht ebenfalls während der Unruhen gewesen sei.

Yahav zuckte die Schultern. Sie hatte heute keine Lust, sich auf eine Diskussion einzulassen. Sie wusste, welche politischen Vorstellungen Talal hatte. Er war dem Staat loyal, das hatte er ihr mehrmals gesagt. Er hatte nur ein einziges Mal für die Chadasch-Partei gestimmt, als ein bekloppter Kamerad ihn kurz vor der Wahl einen dreckigen Araber genannt hatte. Sein Onkel war für die Likud-Partei in der Knesset.

Das Essen wurde serviert und das Gespräch über Politik stockte. Itai und Talal, die beide gerne kochten und gut aßen, begannen begeistert neue Rezepte auszutauschen.

Auch während der restlichen Unterhaltung wurde Dor mit keinem Wort erwähnt. Yahav vermutete, dass Itai Talal im Voraus informiert hatte, dass Dor ein verbotenes Gesprächsthema war. Gut so. Stattdessen wollte Talal unbedingt ihre Zeichnungen sehen. Yahav holte ihr Skizzenbuch, das sie ständig bei sich trug, aus der Handtasche. Sie schlug es am Anfang auf, sodass Talal nur die Zeichnungen sehen konnte, die sie vor ein paar Monaten gemacht hatte.

Da war ein Bild von ihren Neffen am Schabbattisch, auf dem der jüngste seine Kippa festhielt, während er unter dem Tisch die Katze am Schwanz zog. Der älteste Neffe schaute brav seinen Vater an und hielt gleichzeitig ein Schälchen mit Fisch unter den Tisch, damit die Katze ihn aufaß. Dann gab es da noch das Bild von vier streitenden Menschen im Postamt. Doch die Zeichnung, die Talal am besten gefiel, war das Porträt von Itai, das sie an einem Sommerabend gezeichnet hatte, als sie zusammen auf dem Balkon gesessen hatten. Talal fand, dass Itai auf diesem Porträt seiner Schwester wie aus dem Gesicht geschnitten war.

Konnte sie mit diesen Zeichnungen nicht ihren Lebensunterhalt verdienen?

Yahav schüttelte den Kopf. Das war ihr Hobby, ihre Art, ihre Gedanken zu ordnen. Ihre Zeichnungen waren nicht verkäuflich.

Erst im Auto kam Itai auf das heikle Thema zu sprechen. Ob sie darüber reden wollte oder ob er es lieber ruhen lassen sollte. Ob Dor ihr wehgetan hätte.

»Lass gut sein«, sagte sie. »Du hast ja gehört, was Talal gesagt hat: Ich bin für die Politik bestimmt und nicht für Beziehungen.«

»Unsinn«, antwortete Itai. »Denkt Dor das etwa?«

Yahav schwieg. Sie hatte irgendwann mal irgendwo gelesen, dass letztlich jeder seine eigene Seele retten musste. Dor dachte, dass er das tat, indem er »ein Leben hatte«. Itai hatte seinen Lebenssinn darin gefunden, beruflich erfolgreich zu sein. Und Benny glaubte, er hätte ihn in seiner Religion gefunden. Aber sie? Was hatte sie?

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4

WaelOktober 2015

Wael wurde gegen die Wagentür gedrückt, als der Fahrer eine scharfe Linkskurve machte. Heute war ein normaler Werktag. Die Sonne hatte noch keine Gelegenheit gehabt, Dheisheh zu erleuchten, als Wael auf der Hebron Road abgeholt worden war. Nun saß er auf der Rückbank des Kleintransporters, mit dem Lunchpaket, das seine Schwester gemacht hatte, in den Händen und seinem Rucksack zwischen den Beinen.

Er war zusammen mit drei anderen Bauarbeitern auf dem Weg nach Tel Aviv. Zwei von ihnen kannte er aus der Grundschule; sie arbeiteten schon jahrelang auf dem Bau. Der dritte war neu, aber Wael kannte seine Familie. Der Mann neben ihm hatte sich ans Fenster gelehnt und schlief. Ab und zu, wenn sein Kopf hart ans Glas prallte, wachte er auf. Der neue Bauarbeiter hatte ebenfalls die Augen geschlossen; durch die Bewegungen des Kleinbusses wackelte sein Kopf ständig hin und her. Der Wagen machte scharfe Kurven und fuhr eine vollkommen ungewöhnliche Strecke, um die Kontrollposten zu umgehen.

Wael musste geradeaus auf die Straße blicken, damit ihm nicht übel wurde – vor allem, als nun der penetrante, süßliche Geruch von After Shave den Fahrgastraum erfüllte. Ein fünfter und ein sechster Bauarbeiter wurden abgeholt. Wael erkannte sie als Cousins eines Freundes aus der sechsten Klasse, mit dem er einmal heimlich die Geburtskirche in Bethlehem besucht hatte. Dort fand gerade eine Osterfeier statt, und sie hatten sehen wollen, was die Leute da eigentlich machten.

Jetzt stiegen weitere vier Bauarbeiter ein, die zur Al-Nabulsi-Familie gehörten.

Hoffentlich gibt es heute keine strengere Kontrolle, dachte Wael.

Endlich erkannte er die Gebäude von Battir dicht an der Grenze. Ein paar Minuten später hielt der Fahrer an. »Yalla, alle aussteigen!«

Dann fuhr der Mann weiter in Richtung des Kontrollpostens, der den Eingang zum israelischen Gebiet bewachte. Der Fahrer war der einzige der Männer, der eine Arbeitserlaubnis hatte und die »Grenze« legal passieren durfte. Er würde auf der anderen Seite auf sie warten.

Wael atmete dankbar die frische Morgenluft ein. Jetzt kam der unangenehme Teil. Das Gras durchnässte seine Arbeitsschuhe, während er mit den anderen Männern durch den Olivenhain lief.

Das erste Mal war es spannend gewesen; da hatte es sich angefühlt, als ob er sich sein eigenes Land zurückerobern würde. Inzwischen war es Routine geworden: das Hin-und-her-geschleudert-Werden im Kleinbus, das Schleichen durch den Olivenhain und das Tal, das Hochklettern zur Barriere auf der anderen Seite und dann das Suchen nach dem Loch im Zaun. Und heute war er allein, ohne Amer.