Mein liebestoller Onkel, mein kleinkrimineller Vetter und der Rest der Bagage - Frank Jöricke - E-Book

Mein liebestoller Onkel, mein kleinkrimineller Vetter und der Rest der Bagage E-Book

Frank Jöricke

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Beschreibung

"Am Tag, als Janis Joplin starb, unterschrieb mein Vater den Kaufvertrag für unser Reihenhaus. Er legte so den Grundstein dafür, dass eine große Liebe zu einer Gütergemeinschaft verkam." Frank Jöricke präsentiert romanhaft eine witzige Zeitreise durch die verschiedenen Dekaden der jüngeren bundesrepublikanischen Geschichte. Wie sich die schräge Verwandschaft des Protagonisten durchs Leben schlägt, spiegelt die Einflüsse der jeweiligen gesellschaftlichen Ereignisse und Entwicklungen auf äußerst kurzweilige Weise. Seien es die Studentenunruhen, die Ölkrise oder das Aufkommen des Feminismus, Daily Soaps oder die Maueröffnung, alles Anlässe für den Erzähler, mit abgeklärt-kompromisslosem Blick die schrullige Bagage, die sich Verwandschaft nennt, bei ihrem bunten Treiben zwischen Zeitgeist und Fettnäpfchen zu beobachten. Es entstehen typische Charakterbilder skurriler Normalos, die sich tapfer durchs Reihenhausleben schlagen: Onkel, Tante, die Eltern, die sich mit ihrer späten Scheidung "um viele schöne getrennte Jahre" gebracht haben ...

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Der Autor:

Seine Tätigkeit als Werbetexter hat Frank Jöricke nicht geschadet, im Gegenteil, zeichnet sich seine Sprache nicht nur für ein Romandebüt durch ihre Treffsicherheit und lebendige Fabulierkunst aus. Erweitert um den Blick des Texters, der schon von Berufs wegen immer ein genaues Sensorium für die kleinen und großen Widersprüche des Lebens haben muss, verfällt er dennoch nicht dem Zynismus. Dies ist wohl weniger der neuen Ernsthaftigkeit als dem nostalgischen Wohlwollen zu verdanken, das einen erfasst, wenn die eigene Jugend- und Adoleszenzzeit langsam aber sicher zu Geschichte wird. Frank Jöricke hat sie aufgeschrieben.

Ansonsten gilt Jöricke als der Entdecker von Guildo Horn, arbeitet nebenbei als Bad-Taste- und Ü30-DJ, ist Ex-Fußballschiedsrichter und manischer Blutspender (50 Mal in 13 Jahren) – dabei ist sein Buch alles andere als anämisch!

1. Jöricke, Frank:

Mein liebestoller Onkel, mein kleinkrimineller Vetter und der

Rest der Bagage

Münster: Solibro Verlag 1. Aufl. 2007

ISBN 978-3-932927-33-1 / gebundene Ausgabe

eISBN 978-3-932927-53-9 (E-Book)

2. Jöricke, Frank:

Mein liebestoller Onkel, mein kleinkrimineller Vetter und der

Rest der Bagage

Münster: Solibro Verlag 1. Aufl. 2010

ISBN 978-3-932927-36-2 / Broschur-Ausgabe

eISBN 978-3-932927-53-9 (E-Book)

3. Barski, Klaus:

Prügel für den Hausbesitzer.

Tatsachenroman eines Immobilienspekulanten

Münster: Solibro Verlag 1. Aufl. 2012

ISBN 978-3-932927-48-5

eISBN 978-3-932927-52-2 (E-Book)

eISBN 978-3-932927-53-9 (E-Book)

© SOLIBRO® Verlag, Münster 2010

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlaggestaltung: Cornelia Niere, München

Reihengestaltung: Wolfgang Neumann

Foto des Autors: oben: Habib Hakimi, unten: privat

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Am Tag, als Janis Joplin starb, unterschrieb mein

Vater den Kaufvertrag für unser Reihenhaus. Er

legte so den Grundstein dafür, dass eine große Liebe

zu einer Gütergemeinschaft verkam.

Die wilde BRD, man hatte sie zu Tode kultiviert.

Schwäbisch Hall statt Che Guevara.

„Auf diese Steine können Sie bauen“ statt

„Mit diesen Steinen können Sie werfen“

Inhalt

Auftakt

1967:    Studentenunruhen

1968:    Mercedes, Baureihe Strichacht

1969:    Kommune 1

1970:    Neubausiedlungen

1971:    Antiautoritäre Erziehung

1972:    Playboy

1973:    Krisen

1974:    Johan Cruyff

1975:    Spanien

1976:    DDR

1977:    Disco

1978:    Feminismus

1979:    Iran

1980:    Neue Deutsche Welle

1981:    Hausbesetzer

1982:    Michael Jackson

1983:    Die Grünen

1984:    1984

1985:    Boris Becker

1986:    Der Super-GAU

1987:    Missionen

1988:    Acid House

1989:    Maueröffnung

1990:    Wiedervereinigung

1991:    Katerstimmung

1992:    Gute Zeiten, schlechte Zeiten

1993:    Die 70er Jahre

1994:    Internet

1995:    Easy Listening

1996:    Späte Mütter

1997:    Lady Di

1998:    Viagra

1999:    Sonnenfinsternis

2000:    Neuer Markt

2001:    Elfter September

2002:    Die Flut

2003:    Klimawandel

Anhang

Nachweise

Die Mannschaft ist der Star.

Und das Buch ist rund – dafür danke ich:

Erik E. Schneider, Kirsten Jöricke, Christine Jöricke, Regina Binder,

Christian Schaefer, Nathalia Schauer, Mike Kimpel, Ralf Reiter und Barbara Orthbandt.

Auftakt

Als ich neun Jahre alt war, wusste ich, wie die Welt funktioniert. Mir konnte keiner etwas vormachen. Längst hatte ich sämtliche Lebenslügen der Erwachsenen durchschaut. Unbeirrt und unbestechlich diagnostizierte ich das „Genusstrinken“ vereinsamter Hausfrauen und überforderter Abteilungsleiter als diskrete Form des Alkoholismus.

Ebenso weigerte ich mich, Behauptungen wie, man rauche nur deshalb zwei Päckchen HB jeden Tag, weil es so lecker schmecke, widerspruchslos hinzunehmen. Im Gegenteil. Gern gab meine Tante Gertrud bei Familienfeiern jene Episode zum Besten, wie ich auf einer längeren Überlandfahrt eine geschlagene Stunde auf sie eingeredet habe, um ihr die Gefahren des Rauchens in der gebotenen Drastik vor Augen zu führen. Danach sei sie so mit den Nerven runter gewesen, dass sie sich zwei Zigaretten auf einmal habe anzünden müssen.

Auch gab ich mich keinen Illusionen über das Berufsleben hin. Ich sah, wie die tägliche Fron die Väter meiner Freunde verkümmern ließ. Lange bevor der Feminismus die Reihenhauszeilen der Kleinstädte erreichte, war mein Glaube an die Maskulinität erschüttert. Die Männer, die ich kennen lernte, waren keine kohleverschmutzten Kerle, die sich in ihrer Freizeit, wenn es sein musste, für ihre Kinder prügelten. Nein, es waren Schwächlinge, denen nicht nur der zu eng gebundene Schlips die Luft zum Leben nahm.

All dies zu erkennen, war keine Kunst. Auch bilde ich mir nichts darauf ein, das Ehedebakel meiner Eltern Jahre im Voraus kommen gesehen zu haben. Eher wundere ich mich, dass sie sich aus einer törichten, schwer nachvollziehbaren Trotzhaltung heraus weigerten, sich in das Unvermeidliche zu fügen. Warum sie wider jede Vernunft an ihrer Ehe festhielten, habe ich nie begriffen. Sie haben sich damit um viele schöne getrennte Jahre gebracht.

Vielleicht denken Sie jetzt, ich wäre ein altkluges, eingebildetes Kerlchen gewesen. Doch ich hatte allen Grund, eingebildet zu sein. Es gibt nämlich nur wenige Menschen, die von sich sagen können: „Mein Onkel war auf dem Mond.“ Ich gehöre dazu. Mein Onkel Charles Pete Conrad war der Leiter der zweiten Mondexpedition Apollo 12.

Ich gebe zu, die Bezeichnung „Onkel“ ist etwas ungenau. Es ist nämlich so, dass Pete Conrads Urgroßvater auch der Urgroßvater meiner Oma war. Somit sind meine Gene zu 6,25 Prozent identisch mit denen von Pete. Mit diesem Wissen fiel es mir in angespannten Lagen oft leichter, die Ruhe zu bewahren. Ich stellte mir dann vor, wie Pete schwerelos über den Mond hüpft. Oder vom All aus die Welt betrachtet. Von dort oben müssen ihm die Erdbewohner ziemlich klein und lächerlich vorgekommen sein. Sogar unsere Familie. Und das will etwas heißen.

Als ich neun Jahre alt war, wusste ich, wie die Welt funktioniert.

1967: Studentenunruhen

Am Tag meiner Geburt gingen Millionen von Menschen auf die Straße. Gern würde ich behaupten, sie demonstrierten für den Weltfrieden oder gegen den Hunger in Afrika. Es handelte sich aber nur um die alljährlichen Maikundgebungen, bei denen die Werktätigen des Westens das Himmelreich auf Erden einforderten, während ihre Kollegen aus dem Osten kundtaten, dass sie in diesem längst lebten. Das Ganze war eine reichlich verlogene Angelegenheit.

Aufrichtiger ging es einen Monat später zu. Da bekannte ein hochmotivierter Polizist Farbe, indem er einen nicht ganz so motivierten Studenten niederschoss. Dies war „der Tag, der Deutschland veränderte“, das heißt, das Leben lief weiter wie bisher. Meine Mutter quälte sich auch nach dem tödlichen Schuss morgens um sieben aus dem Bett, fand die Welt gar nicht in Ordnung und hetzte zur Arbeit. Mein Vater drehte sich dann noch einmal um, schnaufte kurz und schlief weiter. Nur mein Opa – Gott hab ihn selig! – gewöhnte sich in jenen Tagen an, vom „Studentenpack“ zu sprechen, und vergaß dabei, dass sein eigener Sohn noch die Hochschule besuchte.

Natürlich hatte mein Opa Recht. Nicht weil er irgendwelche Argumente zur Unterfütterung seines Urteils vorgebracht hätte. Er war sich bewusst, dass differenziertes Denken das Leben nur unnötig verkompliziert. Nein, er hatte Recht, weil er mein Opa war und weil man Opas alles verzeiht.

Noch ehe mich in der Mittelstufe ein engagierter Geschichtsreferendar (der später arbeitslos und zum Softwareprogrammierer umgeschult wurde) mit den Verbrechen der Wehrmacht konfrontierte, hatte mein Opa bereits mein Bild des Zweiten Weltkriegs zementiert. Es gab darin keine KZs und keine Massaker an der Zivilbevölkerung. Es gab bloß den saukalten russischen Herbst, der nur deshalb nicht in den saukalten russischen Winter mündete, weil mein Opa, gerade noch rechtzeitig vor Stalingrad, einen Steckschuss erlitt, der ihn in die Heimat zurückbeförderte. Solche mündlichen Zeitzeugnisse, die mit jedem Trester an Farbe und Dramatik gewannen, prägten mein Bild der jüngeren deutschen Geschichte. Noch heute denke ich, wenn ich die Jahreszahl 1944 höre, nicht etwa an das Warschauer Getto oder das Attentat auf Hitler, sondern an meinen Opa, der, schon nicht mehr recht den Endsieg vor Augen, in Monte Cassino Apfelsinen pflückte, statt Trester Grappa soff (was aufs Gleiche hinauslief) und Italienerinnen hinterherpfiff.

Mit solchen Leuten ließ sich natürlich kein Krieg gewinnen. Wie hätte mein Opa den Iwan auch aufhalten sollen? Ausgerechnet er, der selbst vor meiner Oma, deren einzige Waffe das gesprochene Wort war, in Deckung ging. Ich glaube auch nicht, dass er besonders erpicht darauf war, der Welt den Krieg zu erklären. Der ganz normale Existenzkampf war brutal genug. Vor die Alternative gestellt, sich in ein Heer von Arbeitslosen oder eines von Soldaten einzureihen, hatte er sich für Letzteres entschieden. Das war 1932 gewesen. Kurz nach seinem 19. Geburtstag.

Ein Fall von „dumm gelaufen“. Mein Opa hatte das Pech, zur falschen Zeit jung zu sein. 25 Jahre später hätte er eine feine Rock’n’Roller-Jugend verlebt, mit frisierten Haaren und Mofas und wöchentlichen Wirtshauskeilereien, die in Stuhl-und Schädelbrüchen mündeten. 35 Jahre später wäre er dem Establishment entschlossen entgegengetreten, indem er mit keiner Frau zwei Mal gepennt hätte. Vielleicht hätte er auch ein wenig dummes politisches Zeug gebrabbelt, als Eintrittskarte in die Welt der neuen Bewegung.

Bewegungen brauchen so etwas: dumme Sprüche, die so fett daherkommen, dass sich ein jeder bequem dahinter verstecken kann. Es ist nämlich viel einfacher, in einer Menschentraube „Nieder mit dem Schweinesystem!“ zu brüllen, als seiner Zimmerwirtin von Angesicht zu Angesicht darzulegen, warum es O.K. ist, nach 22 Uhr Damenbesuch zu empfangen. Nur kommt man mit solchen Debatten nicht in die Schlagzeilen.

Wer berühmt werden will, muss Transparente hochhalten wie „Unter den Talaren Muff von 1 000 Jahren“. Mit ein wenig Glück findet man einen Altnazi-Professor, der blöd genug ist, in die rhetorische Falle zu tappen und den Studenten ein „Ihr gehört ins KZ!“ entgegenzuschleudern.

Das Irritierende ist, 25 Jahre zuvor hätte er die Macht gehabt, genau dafür zu sorgen. Das Beruhigende ist, er hat sie nicht mehr. Das wissen natürlich die Studenten. Deshalb erscheint ihr Mut auf einmal nicht mehr ganz so mutig. Vor allem, wenn sie abends nach getaner Demo vor ihrer Zimmerwirtin kuschen. Der Student mit dem Talar-Spruch wurde später übrigens Professor.

Als mein Opa davon las, hat er spontan eine Hasstirade losgelassen. Dafür mochte ich ihn. Er konnte aus dem Stegreif heraus komplette Weltbilder schnitzen. Ansichten vom Leben, die in sich absolut stimmig und schlüssig wirkten. Wenn mein Opa die Studenten hasste, dann hasste ich sie eben auch. Sogar dann noch, als ich einsah, dass hinter jedem anständigen Hass eine gute Portion Selbsthass steckt. Mein Opa verachtete die Studenten, weil er spürte, dass die meisten von ihnen ebensolche Waschlappen waren wie er selbst. Mit dem Unterschied: Er kam bis Monte Cassino, jene nur bis zur Toskana.

1968: Mercedes, Baureihe Strichacht

Am Tag nach dem Attentat auf Rudi Dutschke kaufte sich mein Onkel Ewald seinen ersten Mercedes. Einen mimosengelben 200er Diesel, dessen 55 Pferde regelmäßig, bevor die Tachonadel die 130 touchierte, unter der Last seines eigenen Gewichts in die Knie gingen. Ob dieser notorischen Antriebsschwäche wurde jedes der seltenen Überholmanöver zu einer existenziellen Grenzerfahrung. Noch heute zuckt meine Tante Gertrud zusammen, wenn sie das Wort „Gegenverkehr“ hört.

Auch hatte mein Onkel zusätzliche Maßnahmen ergriffen, den Kampf ums langsamste Großserienfahrzeug für sich zu entscheiden. Indem er sich eine Automatik einbauen ließ, gelang es ihm, die Fahrwerte in unvorstellbare Höhen zu schrauben. Von 0 auf 100 in handgestoppten 41 Sekunden. Für die Elastizität – die Beschleunigung von 80 auf 120 – liegen leider keine Werte vor, da der Versuch meines Vetters, diese zu ermitteln, in einem Straßengraben bei Kastellaun endete.

Meinen Onkel ließen solche Zahlenspiele kalt. Hauptsache Automatik! Er, der im Beruf die 60-Stunden-Woche praktizierte, verweigerte fern seines Arbeitsplatzes jegliche Anstrengung. Schalten gehörte zu jenen Tätigkeiten, mit denen sich ein frisch ernannter Außendienstleiter nicht länger abzugeben hatte. So wurde der Mercedes zum Sinnbild seines Aufstiegs.

Auch erwies sich der Wagen als wirksamer Schild in der Abwehr von Widersachern. Jede Stern-Fahrt wurde zum Triumphzug durch Feindesland. Die anderthalb Tonnen Metall, in die er Tag für Tag stieg, waren sein Harnisch gegen eine Welt, deren Unberechenbarkeit sich bereits im Berufsverkehr zeigte. Da versuchten wild gewordene Enten, ihn von der Seite anzurempeln, oder tollwütige Käfer, ihm ins Hinterteil zu zwicken. Sein alter Ford Taunus war auf diese Weise zur blechernen Narbenlandschaft geworden, Zeugnis des täglichen Gefechts mit angriffslustigen Verkehrsteilnehmern.

Der Mercedes hingegen ließ alle Attacken souverän an sich abprallen. Ein aufdringlicher Fiat 500 verlor an dessen Stoßstange die Schnauze, und ein todesmutiger Mini Cooper, der sich die Vorfahrt zu erzwingen suchte, musste sein Kamikaze-Unternehmen mit der Schrottpresse bezahlen.

Mein Onkel aber gewann mit jedem Scharmützel an Selbstsicherheit. Die durch nichts zu beeindruckende Karosserie gab ihm ein Gefühl von Unverwundbarkeit. Es war, als gönne ihm das Leben eine Auszeit. Als könne er in jenem Kampf, den er seit seiner Kindheit führte, endlich eine Verschnaufpause einlegen. Vorbei der Nachkriegshunger! Vorbei das Ringen um seinen gesellschaftlichen Ruf, der darunter gelitten hatte, dass er als Achtzehnjähriger einer Siebzehnjährigen einen dicken Bauch gemacht hatte! Vorbei auch der steinige Weg nach oben, den er nie als Wirtschafts-„Wunder“ empfunden hatte, sondern immer nur als Ochsentour!

Ja, er hatte – verdammt noch mal! – ein Recht darauf, stolz zu sein. Einen Gang zurückzuschalten. Und selbst das erledigte die Automatik für ihn. Er hatte es mit seinem Talent weit gebracht. Gute Gene. Von meinem Opa mochte er die scharfen Augen und die feine Nase geerbt haben, doch wichtiger war das Vermächtnis meiner Oma: das Mundwerk. Die Gabe, den lieben Mitmenschen seinen Willen aufzuzwingen.

Dieselbe Überzeugungskraft, die bewirkt hatte, dass sich ein hochreligiöses in ein hochschwangeres Mädchen verwandelte, kam ihm im Beruf zugute. Er machte Karriere als Vertreter für Wellpappe. Ich glaube nicht, dass ihn das Produkt sonderlich interessierte. Er hätte, wenn es verlangt worden wäre, auch Vegetariern Gänsestopfleber verkauft. Denn alles, was er über das Leben wissen musste, hatte er als Elf-, Zwölfjähriger auf dem Schwarzmarkt gelernt. Wie man Waren so bewirbt, dass sie Mondpreise erzielen.

Natürlich hätte es meine Tante stutzig machen müssen, dass er, der stets in Eile war, der immer „grad noch eben“ ein Geschäft abschließen musste, plötzlich die Entschleunigung entdeckte. Die Wahrheit ist: Sein Wagen diente der Tarnung. Er sollte den Eindruck erwecken, sein Besitzer sei ein braver Familienvater, dessen „Exzesse“ sich darauf beschränkten, beim Sonntagsausflug drei Stück Torte zu vernaschen. Der Strichacht schützte ihn vor Klatsch und Tratsch. Er war ein Panzer gegen die Neugier.

Und eine Droge, die meinen Onkel in einen anderen Menschen verwandelte. Er glitt, kaum dass die Fahrertür mit einem fetten Klack ins Schloss gefallen war, in einen Bewusstseinszustand hinüber, den andere erst durch jahrelanges Kiffen oder ausgedehnte Übungen im Zen-Buddhismus erreichen. Er setzte ein Lächeln auf, selig und entrückt, als führe ihn der Daimler schnurstracks ins Nirwana.

Nichts und niemand konnte ihn aus dieser für ihn so untypischen Gleichmut herausreißen. Nicht das Quengeln meines Vetters, er möge doch schneller fahren, nicht der säuerliche Kommentar meiner Tante, man wolle heute noch ankommen, und erst recht nicht das Hupen der fluchenden Hintermänner, die in ihm nicht das transzendente Individuum sahen, sondern bloß einen Sonntagsfahrer, der die Straße blockierte.

So wurde mein Onkel zum größten Verkehrshindernis des Hunsrücks. Selbst für andere Mercedes-Fahrer. Den Strichacht gab es nämlich auch als Benziner. Mit 185 PS. Von 0 auf 100 in 9,9 Sekunden. Höchstgeschwindigkeit: 203 Stundenkilometer.

1969: Kommune 1

Am Tag, als Neil Armstrong einen großen Schritt für die Menschheit tat, kehrte Onkel Ewalds Familie entnervt aus Rimini zurück. Sie hatten mehrere Stunden am italienischen Zoll zugebracht, waren danach in einen Auffahrunfall geraten und gerade noch rechtzeitig nach Hause gekommen, um zu erfahren, dass sie die Mondlandung verpasst hatten. Womit ein Katastrophenurlaub seinen gebührenden Abschluss fand.

Gleich am ersten Tag hatte Tante Gertrud ihre Handtasche verloren, natürlich samt Papieren, was einige zermürbende Behördengänge nach sich zog. Das „moderne, zentral gelegene Drei-Sterne-Hotel“ entpuppte sich als statisch bedenklicher Waschbetonbunker mit Blick auf den Autobahnzubringer. Das Geld, das zum Schmieren der Bauaufsicht nötig gewesen war, hatte man an der Schalldämmung eingespart. So wurden mein Onkel und meine Tante Nacht für Nacht Ohrenzeugen der recht turbulenten Flitterwochen eines jungen englischen Paares. Meiner Tante schlug dies so auf den Magen, dass sie mehr Zeit im Badezimmer als am Strand zubrachte. Auch meinen Onkel ließen die nächtlichen Balzschreie nicht kalt.

Schon lange führten die beiden eine Ehe, in der das Einzige, was dampfte und brodelte, das abends aufgewärmte Mittagessen war. Meine Tante bekümmerte dies wenig. Ihre Einstellung zum Geschlechtsakt war die gleiche wie zum Hausputz: Von Zeit zu Zeit ließ er sich einfach nicht vermeiden, doch sie konnte sich – weiß Gott! – Schöneres vorstellen.

Meinen Onkel hingegen plagte die häuslich eingeschränkte Triebabfuhr. In früheren Jahren hatte er die angestaute Energie in seinen Beruf gesteckt, Kunden so lange penetriert, bis diese ihre eigene Entmündigungserklärung unterschrieben hätten. Doch nun, da ihm die sexuelle Revolution aus allen Zeitschriften entgegenplärrte, kam das Gefühl in ihm hoch, etwas verpasst zu haben. Anders als mein Opa, der in jenen Tagen den Begriff „Hippiegesocks“ prägte, konnte sich mein Onkel nicht dazu durchringen, junge langhaarige Menschen für ihre freimütige Einstellung zur geschlechtlichen Betätigung zu verdammen.

Im Gegenteil. Auf geradezu hypnotische Weise faszinierte ihn das Thema „freie Liebe“. Noch heute sehe ich das erstaunte Gesicht meiner Tante vor mir, als er, dessen Wochenlektüre sich bis dato auf die aktuelle Hörzu beschränkt hatte, plötzlich zum Stern-Käufer wurde: „Seit wann liest du denn DEN?“

Nun, um genau zu sein, seit Heft 28/1969, das unter der Überschrift „Glut im Eisschrank – Mädchen 1970“ eine sehr kokette Mireille Darc zeigte. Heft 46/1969 sollte meinem Onkel dann vollends den Verstand rauben. Die Titelstory „Das ist die Liebe der Kommune“ stürzte ihn in tiefe Verwirrung. Ihn, der zeit seines Lebens zu früh an die Reihe kam, der als Kind erwachsene Geschäfte führen musste, sich als Schüler in der Rolle des Familienvaters wiederfand und als frisch entlassener Obergefreiter an die Verkaufsfront seiner Firma abkommandiert wurde, ihn erwischte mit 34 Jahren die Lebensmittenkrise.

Doch wäre mein Onkel nicht mein Onkel gewesen, hätte er seine missliche Lage klaglos hingenommen. Viel zu stark war sein Drang, es dem Schicksal mal wieder zu zeigen. Hier waren Taten verlangt. Die gleiche Energie, die er sonst auf die Eroberung neuer Kunden verwendete, setzte er nun in der Gewinnung sexueller Zielgruppen ein.

Zunächst musste der Markt sondiert werden. Natürlich widerstrebte es ihm, den einfachen Weg zu gehen. Den, der in Bars und Bordelle führte. Warum für etwas bezahlen, was anderswo nichts kostete? Mein Onkel wusste, dass es genug Frauen gab, die nur darauf warteten, den Alltag ein wenig versüßt zu bekommen. Zum Beispiel Sekretärinnen. Jene, die zu früh geheiratet hatten und, nachdem sie ihrer Pflicht zur Reproduktion nachgekommen waren, notgedrungen ihrem alten Beruf wieder nachgingen. Schließlich musste das Haus ja abbezahlt werden.

Mein Onkel kannte viele solcher Frauen. Als Frontschwein der Firma hatte er täglich mit ihnen zu tun. Ich kann nicht behaupten, dass er ihnen sonderlich viel Respekt entgegengebracht hätte. Er benutzte sie. Sie waren der Türöffner zum Chefbüro. Indem er sie rhetorisch einseifte, stellte er sicher, dass sie ihren Vorgesetzten die richtigen Worte ins Ohr säuselten. Sein Kredo: „Sei nett zur Sekretärin, dann ist ihr Boss nett zu dir.“

Doch nett sein allein genügte ihm nun nicht mehr. Er testete aus, wie weit er gehen konnte. Nach und nach überschritt er die Grenze zwischen unverfänglichem Flirt und entschlossener Anmache. Bis dahin hatte er geglaubt, der Hunsrück wäre ein Plateau der Tugend, von dem aus rechtschaffene Kirchgänger auf die Sündenpfuhle der Metropolen – also Mainz, Trier, Saarbrücken und Koblenz – hinabblickten. Nun wurde er eines Geileren belehrt. Das beschauliche Hochland offenbarte in Lendenhöhe nicht vermutete Qualitäten.

Mein Onkel blühte auf. Zwischen Kirn und Zell entdeckte er mit zwanzig Jahren Verspätung die befreiende Kraft der Sexualität. Doch brach auch auf diesem Gebiet der für ihn typische Ehrgeiz durch. Er trachtete danach, zum größten Einreiter zwischen Emmelshausen und Hermeskeil aufzusteigen. Mit ihm sollte Simmern zum Sodom und Morbach zum Gomorra werden.

Vorher aber musste er einige Hürden nehmen. Die erste war die einfachste: die Fantasie des Zielobjekts in Schwung bringen. Dafür musste er das übliche Komplimentengeseire kräftig verschärfen. Nicht nur das Kleid loben, sondern auch den Körper darunter. Der nächste Schritt war dann die Einladung zum Essen.

Damals öffneten im Hunsrück die ersten Pizzerien. Mein Onkel spürte, dass ein wenig italienisches Flair seinem Vorhaben dienlich sein könnte. Zarte Gefühle sprießen leichter bei Lasagne und „Volare“ als bei Schlachtplatte und Marschmusik. Auch erweichte die Erinnerung an den Italienurlaub so manches zögerliche Herz.

Den Rest besorgte dann der rote Vino. Mein Onkel achtete darauf, die Gläser nicht leer werden zu lassen, um Willensbekundungen der Gegenpartei – „Jetzt hab ich aber wirklich genug!“ – im Schwips zu ersticken. In dem Maß, in dem der Promillepegel stieg, fielen etwaige sittliche Bedenken. Schließlich, nach hartnäckiger alkoholforcierter Dauerumgarnung, war die Stunde der Belohnung gekommen.

Nun aber tat sich das größte Hindernis auf: das Finden eines Liebesnests. Natürlich war in Orten wie Thalfang und Rheinböllen nicht daran zu denken, ein Fremdenzimmer zu mieten. Ebenso gut hätte er sein Unterfangen im Trierischen Volksfreund oder der Rhein-Hunsrück-Zeitung ankündigen können. Auch hätte er bei aller Wortgewandtheit schwerlich meiner Tante vermitteln können, dass ein Geschäftsessen im Nachbarkreis eine Übernachtung nötig machte.

Und also fiel mein Onkel in das Entwicklungsstadium eines amerikanischen Teenagers zurück, mit anderen Worten: Er trieb es im Auto. Ich bezweifle, dass jene, die die sexuelle Befreiung propagierten, in seinem Tun ein Vorbild gesehen hätten. Auch würde ich nicht darauf wetten, dass die geschlechtliche Vereinigung auf knüppelharten Sitzen der Firma Daimler-Benz der weiblichen Orgasmusfähigkeit förderlich war.

Doch sind solche Fragen letztlich unerheblich. Wenigstens aus Sicht meines Onkels. Er hatte seinen Frieden mit der neuen Zeit geschlossen. Mehr noch: Er sah sich, innerhalb der ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, als Teil der sexuellen Bewegung. Von Tucholskys Ausspruch: „Wenn in Deutschland eine Idee populär wird, dann bleibt die Popularität, die Idee geht zum Teufel“, hatte er garantiert nie gehört.

1970: Neubausiedlungen

Am Tag, als Janis Joplin starb, unterschrieb mein Vater den Kaufvertrag für unser Reihenhaus. Er legte so den Grundstein dafür, dass eine große Liebe zu einer Gütergemeinschaft verkam.

Bis dahin waren meine Eltern auf höchst eigentümliche Weise aneinander gekoppelt. Mein Vater wusste, dass er in puncto Gefühle gehandikapt war. In seinem Kopf fehlte jene Verbindung, die es Menschen ermöglicht, Empfindungen in Worte zu fassen. Es fiel ihm leichter, die Statik des im Bau befindlichen World Trade Centers zu erklären als die seiner Beziehung. Also überließ er das Thema meiner Mutter. Sie signalisierte ihm, wann Händchenhalten und wann „Hosen runter!“ angesagt war.

Und mein Vater fuhr gut damit. Er fühlte sich, ohne dass er dies hätte formulieren können, verstanden und geliebt. Er folgte dem Instinkt meiner Mutter, weil sein eigener orientierungslos in der Gefühlswelt umherirrte. Sie war der Wegweiser, dem er vertraute. Bis zu dem Zeitpunkt, da das neue Baugebiet ausgewiesen wurde.

Es war mein Onkel, der die Ereignisse in Gang brachte. Als großer Bruder mit sieben Jahren Vorsprung wähnte er sich für meinen Vater verantwortlich. Er glaubte, ihm das Leben erklären zu müssen, was in seinem Fall hieß, noch die abgedroschenste Binse als originelle Einsicht zu verkaufen. Folglich musste ein Mann nicht nur ein Kind zeugen und einen Baum pflanzen, sondern auch noch ein Haus bauen. Was meinem Vetter, breit grinsend, die Bemerkung entlockte, er wolle lieber ein Haus sprengen, einen Baum fällen und ein Kind überfahren.

Mein Vater aber konnte sich den Worten meines Onkels nicht entziehen. Es imponierte ihm, wie dieser sich von Tag zu Tag die Wirtschaftswunder-Plakette mit Eichenlaubkranz neu verdiente. Hier sprach ein Mann der Tat, der es würdig war, dass man ihm zuhörte.

Zu allem Unglück schlug meine Oma in die gleiche Kerbe. Sie stimmte das Hohe Lied vom heimischen Herd an und schreckte nicht davor zurück, mich, den meinungslosen Dreijährigen, als Kaufargument vorzuschieben. Mit drastischen Bildern beschrieb sie, wie meine zarte Kinderseele in einer engen Mietwohnung auf Dauer Schaden nehmen würde. Um solcherlei Unheil abzuwenden, erklärte sie sich bereit, den Kauf des Hauses mit 10 000 Mark zu unterstützen.

Das war auch nötig. Längst stiegen die Immobilienpreise so schnell, dass mein Vater mit dem Ausrechnen der Zins- und Tilgungssätze nicht mehr nachkam. All dies erzeugte eine panische „Jetzt oder nie“-Stimmung, vor der meine Mutter schließlich kapitulierte. Sie spürte, dass sie im Begriff war, den Fehler ihres Lebens zu begehen. Gleichzeitig war sie realistisch genug, die Aussichtslosigkeit ihres Widerstands zu erkennen. Mit meinem Vater allein wäre sie fertig geworden. Doch vor einem hartnäckigen Onkel und einer verbissenen Schwiegermutter kapitulierte sie.

Und so zogen wir in ein Neubaugebiet. In ein Viertel, das sich vor Gegensätzen kaum retten konnte. Denn seine Planer hatten den beliebten emanzipatorischen Grundsatz, „alle Menschen sind Brüder und deshalb werden sie gefälligst auch Nachbarn“, beherzt aufgegriffen und ohne lang zu fackeln in die Tat umgesetzt. Zwischen Proletenhochbunker und Neureichenbungalow lagen grad mal hundert Meter.

Und Welten. Die Proletenkinder bekamen zuhause kräftig Keile, dafür kein Mittagessen und kompensierten dies, indem sie mehr tranken, bevorzugt Hochprozentiges. Die Neureichenkinder bekamen Lacoste-Hemden und Tennisstunden und flanierten durchs Viertel, als wären sie Statisten in einer Effi-Briest-Verfilmung. Vielleicht weil sie nie Fußball spielen durften. Eine Kette von Indizien, die nahelegten, dass es nicht gut sein konnte, in Hochbunkern oder Bungalows zu leben. Die Erwachsenen dort kamen offensichtlich auf seltsame Gedanken und trieben ihre Blagen entweder in den Suff oder in Lacoste-Hemden.

Und die Mittelschicht? Sie saß, überschuldet und überfordert, in Reihenhäusern wie dem meiner Eltern. Mit 130 Quadratmetern Wohnfläche und vermoostem Rasen, der in zehn Minuten gemäht war. Hier lebten Menschen, die das Verlangen nach dem Aufstieg und die Angst vor dem Abstieg dazu antrieb, sich selbst auszubeuten.

Mein Vater war dafür das deutlichste Beispiel. Mit dem Tag des Einzugs stürzte er sich in die Arbeit. Er wusste: Mit jeder Überstunde tilgte er einen Bruchteil seiner Schulden und – was er nicht wusste – ein Stück seiner Liebe. Je mehr er sich seinem Beruf als Ingenieur widmete, ganze Wochenenden damit zubrachte, die Statik von Gebäuden zu berechnen, desto instabiler wurde seine Ehe.

Das alles für ein Reihenhaus mit Blick auf andere Reihenhäuser. Für ein Reihenhaus mit dünnen Wänden und undichten Fenstern. Vor allem aber für ein Reihenhaus, das viel zu teuer war. So teuer, dass mein Vater beschloss, die Heizkosten zu senken. Und da hatte er die Idee mit den Asbestplatten ...

1971: Antiautoritäre Erziehung

Am Tag, als Romy Schneider öffentlich bekannte, sie habe abgetrieben, bekam ich die erste Ohrfeige meines Lebens. Der Täter war die eigene Mutter, der Tatort die Süßwarenabteilung von Kaiser’s. Als mildernde Umstände können geltend gemacht werden: eine postnatale Depression – meine Schwester Claudia war drei Wochen zuvor auf die Welt gekommen – und das störrische Verhalten des späteren Opfers – unter sirenenartigem Geschrei weigerte ich mich, auch nur einen der von mir beanspruchten zwölf Schokoladenriegel wieder zurückzulegen.

Auch schwor sich meine Mutter danach, nie mehr zuzuschlagen, womit sie ihrem gesellschaftlichen Umfeld in puncto Erziehungsfragen um etwa ein Jahrzehnt voraus war. In Großstädten mochten antiautoritäre Kinderläden gegründet werden, doch hier in der Provinz galt schon der als progressiv, der auf allzu offensichtliche Formen elterlicher Gewalt verzichtete.

Es ist nämlich keineswegs so, dass Menschen, denen von Generation zu Generation eingebläut wurde, eine Tracht Prügel habe noch niemandem geschadet, plötzlich ihr Erziehungsprogramm umstellen, nur weil ein paar Intellektuelle die Geschichte der Pädagogik neu schreiben. Also rutschten im Hunsrück auch weiterhin Hände aus, Lehrer testeten die Elastizität kindlicher Ohrläppchen und Eltern den Einfluss der Notengebung auf die eigene Gewaltbereitschaft.

Meine Mutter war einfühlsam genug, auch ohne Fachliteratur den richtigen Ton zu treffen. Es fiel ihr leicht, Wärme und Liebe zu geben, und nie hatte ich, der Erstgeborene, den geringsten Zweifel daran, dass ich der wichtigste Mensch in ihrem Leben war.

Lediglich ihr Hang zur übergroßen Vorsicht sollte sich hemmend auf meine Entwicklung auswirken. Die typischen Mutterängste – „Junge, pass auf, dass du nicht runterfällst / dich verbrennst / dir wehtust“ – wurden zu meinen eigenen. Noch heute male ich mir im Angesicht neuer, ungewohnter Situationen aus, was alles passieren könnte. Und da ich über eine lebhafte, mitunter unkontrollierte Fantasie verfüge, werde ich von meinen eigenen Gedanken ausgebremst. Ich gerate ins Wanken, zaudere, zögere, muss mir erst einen Ruck geben, bevor ich den nächsten Schritt tue.

Julia war anders. Sie begegnete der Welt ohne Furcht. Und das ist das Gegenteil von Mut zeigen. Mein Onkel Ewald mochte sich voller Todesverachtung in jede noch so ausweglose Lage stürzen. Doch hinter seinem Mumm, seiner aberwitzigen Courage bleckte die Angst. Der innere Druck, sich immer und überall beweisen zu müssen – wenn er nicht grad mit seinem Strichacht den Verkehr aufhielt.

Julia kannte keinen Druck. Sie war das erste Kind des Hunsrücks, das antiautoritär erzogen wurde. Was ich als Vierjähriger natürlich nicht wusste. Aber ich spürte es. Und ich sah es sogar. Sie wirkte schmuddelig. Ihre Haare waren ungekämmt und fettig, ihre Schuhe ungeputzt, und ihr Kleid hatte Frühstücksflecken.

Meine Tante, die der Grund dafür war, dass Sagrotan erfunden wurde, empörte dies. Sie, die in der Vernichtung von Keimen eine Lebensaufgabe sah, war fassungslos darüber, wie ein Kind derart fahrlässig Schmutz und Dreck ausgesetzt werden konnte. Einmal angefangen, wusste sie sich nicht mehr zu beruhigen, hielt Kampfreden über die Verantwortungslosigkeit der Eltern, die ihre Tochter dem Verfall anheim gaben, sie zur leichten Beute für Viren und Bazillen machten. Widerworte waren zwecklos. Lobgesänge über den Segen der Dreckimmunisierung prallten an ihr ab wie an Stahlbeton.

Die äußere Verwahrlosung erschien ihr als Spiegelbild der inneren. Julia war nicht getauft. Ein Heidenkind. Eine Seele, die schon in jungen Jahren an den Leibhaftigen verloren war – dachten meine Tante und meine Oma. Es war schlimm genug, dass die katholische Brut sich freudig vermehrte. Die beiden sahen in jedem Katholen einen Agenten des Papstes, der die Gegenreformation vorantrieb. Doch dass Eltern sich entschieden, ihr Kind gottlos der Welt auszuliefern, überstieg ihre Vorstellungskraft. Hier musste gehandelt werden. Und so geschah es, dass die beiden, die ansonsten ein Schwiegermutter-Schwiegertochter-Verhältnis pflegten, das jedes Klischee bediente, sich ein einziges Mal einig waren: Die stille Post wurde geöffnet.

Binnen kurzer Zeit gelang es ihnen, die halbe Nachbarschaft aufzuwiegeln. Und die wiederum stellte sicher, dass die rohe Botschaft sich zügig verbreitete. Eltern hetzten ihre Zöglinge auf, und diese schnitten Julia fortan. Zu allem Übel versäumten es die Kindergärtnerinnen, zwei antriebsarme bigotte Mittvierzigerinnen, das verzogene Pack ins Gebet zu nehmen. Es war ein entwürdigendes Schauspiel.

Nur hatten alle die Rechnung ohne meine Mutter gemacht. Sie dachte nicht im Traum daran, sich in die allgemeine Ablehnungsfront einzureihen. Im Gegenteil. Einmal, als ich ihr empört berichtete, dass Tante Gertrud Julia als „Drecksgöre“ bezeichnet hatte, sagte sie nur: „Vom Weltraum aus sehen alle Kinder gleich aus.“ Als ich fragte, woher sie das wisse, erzählte sie mir von Onkel Pete, der oft im All spazieren gegangen sei.

Ich war stolz darauf, einen solch weitgereisten Onkel zu haben. Aber noch stolzer war ich, als meine Mutter Julia zum Mittagessen einlud. Ich freute mich wie ein Schneekönig. Auf dem Nachhauseweg, als ich in unsere Straße einbog, nahm ich Julias ungewaschene Hand und zog mit ihr gemessenen Schrittes an den Reihenhäusern und Doppelhaushälften vorbei, so als wollte ich einer ungläubigen Nachbarschaft zeigen: „Seht her, hier kommt die neue Königin!“

Das war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Julia zeigte mir, wie man Kaulquappen fängt, ich half ihr, auf Bäume zu klettern. Julia brachte mir Kraftausdrücke bei, ich trainierte ihren Torschuss. Julia erklärte mir die Welt der Ameisen, ich zeigte ihr meine Würmersammlung. Und gemeinsam sauten wir uns regelmäßig ein. Keine Pfütze, an der wir vorbeigingen. Kein Schlammloch, das unbeachtet blieb.

Auch lernte ich ihre Eltern kennen. Beide arbeiteten zuhause. Ihr Vater war Architekt, ihre Mutter Übersetzerin. Manchmal, wenn Julias Vater eine Schaffenspause brauchte, nahm er sie auf seinen Schoß und las ihr eine Geschichte vor. Oder er kochte einen Pudding. Dann stellte ich mir meinen Vater vor, der nicht einmal wusste, wie man einen Herd einschaltet.

Als Julia fünf wurde, ist sie mit ihren Eltern weggezogen. „Ich gehe jetzt in eine ganz große Stadt“, hat sie gesagt, „aber irgendwann sehen wir uns wieder.“ Zum Abschied hat sie mir ihre Kaulquappen geschenkt. Und ich musste plötzlich weinen, vielleicht weil ich wusste, ich würde sie dann nicht mehr wiedererkennen. So wie man eine Kaulquappe nicht mehr wieder erkennt.

Achtzehn Jahre später traf ich Julia auf einer Geburtstagsfete in Kaiserslautern-Einsiedlerhof. Ich habe lange gerätselt, ob sie es tatsächlich ist. Denn sie sah überhaupt nicht mehr schmuddelig aus. Und obwohl ich sie minutenlang von oben bis unten musterte, konnte ich keinen einzigen Frühstücksfleck ausmachen. Später haben wir zusammen getanzt. Noch später, nach zu vielen Bieren, habe ich sie gefragt, ob sie mit mir schlafen will. Und da bekam ich die zweite Ohrfeige meines Lebens.

1972: Playboy

Am Tag, als der deutsche Playboy das erste Mal erschien, lag mein Vater mit Magen-Darm-Grippe danieder. Er langweilte sich entsetzlich. „Ich brauch was zu lesen“, stöhnte er zwischen zwei Sitzungen auf dem WC. Und schließlich schickte er mich zu Edeka den Playboy kaufen.