Mein Mann, der Rentner, auf Tour statt Kur - Rosa Schmidt - E-Book
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Mein Mann, der Rentner, auf Tour statt Kur E-Book

Rosa Schmidt

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Beschreibung

Zwei Rentner wollen mehr: die Schmidts auf großer Fahrt

Die Schmidts sind im Ruhestand – und nun packt sie das Fernweh. Doch ihre Vorstellungen, wie ein perfekter Urlaub aussieht, gehen komplett auseinander. Während Günther von einem Campingurlaub träumt, will sich Rosa an Bord eines Kreuzfahrtschiffes verwöhnen lassen. Beide beharren auf ihrem lang ersehnten Traumurlaub – bis Tochter Julia die rettende Idee hat und eine Urlaubswette vorschlägt: Erst geht’s im Wohnmobil an den Gardasee, danach mit der Queen Mary auf Kreuzfahrt. Und am Ende entscheiden sie, auf welcher Reise sie mehr Spaß hatten. Dosenravioli treffen auf Galadinner – auf ins Abenteuer!

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Seitenzahl: 344

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ROSA SCHMIDT, seit 43 Jahren mit Günther verheiratet, lebt in einer Kleinstadt, ist stolze Besitzerin einer eigenen E-Mail-Adresse und mehrerer Lachfalten.Aufgezeichnet wurde Rosas geheimes Tagebuch von Anne Hansen. Sie schreibt für überregionale Medien und hat bereits mehrere Romane veröffentlicht. 2014 landete sie mit dem Buch Mein Mann, der Rentner einen SPIEGEL-Bestseller. Wenn sie nicht am Schreibtisch sitzt, hockt die Wahlberlinerin wahlweise am Pokertisch oder auf dem Rücken eines Islandponys.

Außerdem von Rosa Schmidt lieferbar: Mein Mann, der Rentner, und dieses Internet. Das geheime Tagebuch einer Ehefrau

Besuchen Sie uns auf www.penguin-verlag.deund Facebook.

ROSA SCHMIDT

DAS GEHEIME REISETAGEBUCH EINER EHEFRAU

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

PENGUIN und das Penguin Logo sind Markenzeichen von Penguin Books Limited und werden hier unter Lizenz benutzt.

Copyright © 2019 Penguin Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Die Zitate auf S. 18 stammen aus: Goethe’s sämtliche Werke in vierzig Bänden, Cotta.

Covergestaltung: Bürosüd

Covermotive: Peter Bartels/Die Illustratoren

Satz: Uhl + Massopust GmbH, Aalen ISBN 978-3-641-23872-8V002 www.penguin-verlag.de

Januar

Vielleicht wird es ja noch juxig

Montag, 1. Januar

Himmel, bin ich gerädert. Dabei war es gestern doch gar nicht so spät. Wir können auch nichts mehr ab. Wie spät ist es? 16 Uhr? Ach so, das geht ja, ich mach die Augen noch mal zu. Hach, tut das gut.

Eine Sekunde später

16 Uhr???

Dienstag, 2. Januar

Ich komme immer noch nicht darüber hinweg, dass ich gestern wirklich bis 16 Uhr geschlafen habe. Letztes Jahr am 1. Januar war es noch 15 Uhr. Bitte, wo soll das hinführen? Günther, Ingenieur im Ruhestand, aber immer noch im Herzen Vollblutmathematiker, hat das mal hochgerechnet: Wenn wir so weitermachen und pro Jahr eine Stunde dazukommt, werden wir mit 80 den kompletten 1. Januar durchratzen und erst am 2. aufwachen.

Wirklich, es wird jedes Jahr schlimmer. Bisher haben wir es immer auf äußere Faktoren geschoben, warum wir nach Silvester so gerädert waren. Bier auf Wein, das lass sein! Die Männer haben irgendwann Zigarre geraucht! Klar, das geht doch sofort auf die Bronchien! Großes Glas Sekt um 12! Und, und, und …

Aber machen wir uns nichts vor: Es liegt an unserem Alter. Schlicht und ergreifend. Günther wird dieses Jahr 67, ich 65. Und: Wir sind Rentner. Kurzfassung der letzten drei Jahre, nachdem Günther während des Frühstücks den verhängnisvollen Satz »Ich gehe in Rente« sagte:

Das erste Jahr verbrachten wir in einer Schockstarre. Von hundert auf null über Nacht. Das verkraftet keiner so schnell. Kein Mann, der bis dato Workaholic war. Und keine Ehefrau, die plötzlich einen Rentner zu Hause hat – und zwar in Vollzeit. Am Anfang lief Günther mir wie ein junger Hund hinterher, vergaß manchmal absichtlich etwas in der Stadt, nur um noch einmal lostingeln zu können (glaube ich zumindest), und bügelte – ich traute meinen Augen nicht – Handtücher und Unterhosen. Ich sag ja: Wir waren in einer Art Schockstarre beziehungsweise wir hangelten uns von einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme zur nächsten. Zum Glück bekam Günther nach ein paar Wochen einen Bandscheibenvorfall. O Gott, habe ich gerade wirklich »zum Glück« geschrieben? Es klingt wahrscheinlich gemein, aber ich möchte fast sagen, dass dieser Bandscheibenvorfall ein Geschenk des Himmels war! Plötzlich war Günther beschäftigt! Er ging zweimal die Woche zur Rücken-Rehabilitation und saß zu Hause stundenlang zufrieden wippend auf einem Gymnastikball. Wie sagt man so schön? Das Leben hatte wieder einen Rücken, hihi.

Im zweiten Jahr – wir hatten uns inzwischen mit dem Rentner-Dasein angefreundet – überkam uns ein gewisser Aktionismus, und wir buchten uns einmal quer durch das VHS-Programm. Kochkurs »Mediterrane Küche«, Discofox-Kurs, Golf-Schnupperkurs und, und, und. Im dritten Jahr trudelten unsere Aktivitäten zwar langsam aus, doch wir schlitterten prompt in das nächste Vollzeitprogramm: Wir entdeckten nämlich das Internet. Julia – unsere Tochter – hatte uns ein Tablett geschenkt, und obwohl ich dem ganzen Technikkram am Anfang überhaupt nichts abgewinnen konnte, fühlte ich mich nach kurzer Zeit wie Boris Becker in dieser Werbung, in der er vor dem Computer sitzt und fassungslos stöhnt: »Ich bin drin.«

Nun, Günther und ich sind auch drin, aber wie! Seit einem halben Jahr gehen wir nun zweimal die Woche in einen (Rentner-)Computerclub, wir sind bei Facebook (einmal hat Günther die Einladung zu unserem Grillen öffentlich bei Facebook gepostet. Fragen Sie nicht … es war ein Albtraum! Seitdem klappt aber alles reibungslos.), und: Ich habe eine eigene E-Mail-Adresse! Mit Julia schreibe ich viel hin und her, und meine alten Klassenkameraden von früher sind in unserem Mail-Verteiler auch ganz fleißig dabei. Wenn mir das jemand vor einem Jahr gesagt hätte, hätte ich ihn für verrückt erklärt. Ach, und ich zeig Ihnen mal was. Mooooment, hier haben wir’s: Sind die nicht süß?! Ich lieeeebe Emojis!

Wo war ich stehen geblieben? Ach ja, bei Silvester. Dieses Jahr haben wir bei Kurt und Irene gefeiert. Kurt und Günther waren Arbeitskollegen, und seitdem Kurt vor einem Jahr auch in Rente gegangen ist (wir sind den beiden zwei Jahre voraus), haben wir richtig viel Kontakt.

Letztes Jahr rief Irene mich gefühlt alle zwei Tage an, und in etwa lief jedes »Gespräch« so ab:

Irene: »Kurt hat mich gerade zum dritten Mal innerhalb von einer Stunde gefragt, ob wir noch was von Lidl brauchen.«

Ich: »Das ist normal.«

Irene: »Kurt will unbedingt die Fenster putzen. Dabei soll es doch morgen wieder regnen.«

Ich: »Das geht vorbei.«

Irene: »Kurt hat für 150 Euro ein Vogelhaus gekauft.«

Ich: »Das ist normal.«

Irene: »Kurt blättert seit einer Stunde im Duden. Im Du-den!«

Ich: »Das geht vorbei.«

Ich sag Ihnen, ich kann bald eine Rentner-Hotline aufmachen! Wie ein Buddha würde ich auf verzweifelte Ehefrauen einreden und ihnen Mut zusprechen. Rosa Schmidt: Sie nannten sie einen Guru.

Zurück zu Silvester.

Eigentlich wollten Ute (meine beste Freundin) und ihr Mann Wolfgang auch kommen, doch die beiden hat es voll erwischt. Seit dem 29. Dezember liegen die Armen mit Magen-Darm flach. Ute wollte bis zur letzten Sekunde nicht wahrhaben, dass ihr Platz an diesem Abend im Bett anstatt an Irenes Esstisch sein würde.

»Soooooo ansteckend ist Magen-Darm gar nicht«, maulte sie. »Wir waschen uns auch immer die Hände. Wirklich, Rosa, wir fühlen uns schon ganz …«, sie stockte, »wirklich, es geht bergauf. Ich spüre das.«

Am Anfang habe ich noch versucht, ihr durch die Blume zu verklickern, dass es vielleicht keine so gute Idee wäre zu kommen, wenn man krank ist (noch dazu mit so einem Magen-Darm-Virus!), doch als Ute ernsthaft fragte, wie weit denn die Toilette vom Esszimmer entfernt sei (»Ich kenne ja die Räumlichkeiten bei Irene nicht«), platzte es ganz direkt aus mir raus: »KOMMT BITTE NICHT!!!«

»Du hast ja recht«, sagte sie kleinlaut. »Aber es wäre schon schön gewesen. Großer Gott, ich ruf dich gleich noch mal an. Es kommt wieder …« Aufgelegt.

Es war das erste Jahr, dass wir mit Kurt und Irene gefeiert haben, aber schon jetzt steht fest: Wir werden uns fortan immer über den Jahreswechsel bei ihnen einquartieren. Das gesamte Haus war mit Luftschlangen geschmückt. Schon auf der Anrichte im Flur standen vier kleine süße Schornsteinfeger aus Marzipan, im Wohnzimmer baumelte quer durch den gesamten Raum eine bunte Girlande, in den Blumentöpfen auf den Fensterbänken steckten kleine Raketen aus Pappe. Dazwischen entdeckte ich neun schmale Vasen in Neongelb, auf denen in schwarzen Buchstaben »S«, »I«, »L«, »V«, »E«, »S«, »T«, »E« und »R« stand.

»Irene!«, brachte ich atemlos hervor. Ich fühlte mich wie in einem amerikanischen Spielfilm. Mit offenem Mund ließ ich die Atmosphäre auf mich wirken, als ich plötzlich in einer Bambusschale zwei Haarreifen entdeckte, an denen übergroße, rosafarbene, glitzernde Hasenohren befestigt waren.

»Irene!«, rief ich wieder und zeigte auf die Haarreifen.

»Vielleicht wird es ja noch juxig«, kicherte sie und zwinkerte mir zu.

Ich glaubte zwar nicht, dass wir die jemals in diesem Leben aufsetzen würden, aber eins musste man Irene lassen: Sie hatte das Motto »Silvesterfeier« bis ins letzte Detail durchdrungen.

Der Esstisch toppte dann noch einmal alles. Auf der gesamten Fläche standen dicht an dicht kleine Schüsselchen mit allen möglichen Leckereien. Vier verschiedene Gläser für jeden waren ein untrügliches Signal, dass die beiden Größeres mit uns vorhatten. Und in der Mitte thronte das eindrucksvollste Raclette-Gerät, das ich je gesehen habe. Es hatte drei (!) Stockwerke für jeweils acht Pfännchen, es gab eine große Grillplatte und darüber einen Fondue-Topf. Jetzt war es Günther, der atemlos hervorbrachte: »Kurt!« (Mit technischen Geräten kriegst du einen Ingenieur immer!)

Während Irene und ich die Getränke aus der Küche holten, versammelten sich die Männer ums Feuer … äh … den Raclette-Thron. Immer wenn ich ins Wohnzimmer kam, schnappte ich Bruchstücke von Kurt auf. »… Grillplatte aus Alu-Guss …«, »… Chromstahlgriffe …«, »… kannst du alles stufenlos regulieren …«, »… der bringt 1400 Watt auf die Kette …«. Günther stand in Denkerpose mit gesenktem Kopf und Zeigefinger am Mund daneben und kommentierte mit ernster Miene. »Hut ab«. »Stark«. »Alle Achtung«. Man hätte meinen können, Kurt habe ihm ein neues Raumfahrtprojekt vorgestellt.

»So, nun setzen wir uns aber mal«, unterbrach Irene die fachsimpelnden Ingenieure a. D. »Jetzt geht’s an die Tisch-Grillade.«

»Tisch-Grillade?« Ich musste lachen und zwickte Günther in die Rippen. »Wir sind hier bei Profis eingeladen.«

Es stellte sich heraus, dass der Verkäufer im Laden 20 Mal das Wort »Tisch-Grillade« benutzt hatte (»dabei haben wir bei den ersten ja noch gar nicht mitgezählt«) und es seitdem ein geflügeltes Wort bei den beiden ist.

»Na, dann«, sagte Günther feierlich und erhob sein Glas in die Runde: »Auf die Tisch-Grillade – und einen schönen Abend!«

Wir waren gerade jeder bei der sechsten Pfanne (ab heute wird definitiv abgespeckt!), als Kurt und Irene verräterische Blicke austauschten. Kurt nickte Irene aufmunternd zu, woraufhin Irene sich räusperte und bedeutungsschwer sagte: »Wir müssen euch was sagen.«

In meinem Kopf fing es sofort an zu rattern. Was um Himmels willen wollten sie so offiziell ankündigen? Schwangerschaft fiel aus, ebenso wie Hausbau oder Hochzeit. (Klassische »Wir-müssen-euch-was-sagen«-Themen.)

»Nun sagt schon!«, stieß ich hervor.

Irene räusperte sich wieder, sah zu Kurt rüber und sagte schließlich: »Wir fahren nach Patagonien.«

Es folgte: der aberwitzigste Reiseplan, von dem ich jemals gehört hatte. Nicht einmal diesem langhaarigen Naturfilmer, der dauernd in Talkshows sitzt, hätte ich ihn zugetraut. Geschweige denn Irene, die so abenteuerlustig ist wie ich. Also gar nicht. Mit offenem Mund hörten Günther und ich uns an, was die beiden sich vorgenommen hatten: Ihre Nichte Marlene macht gerade ein Auslandssemester in Buenos Aires (was die jungen Leute heutzutage alles so machen!), und am Telefon hatte sie irgendwann gefragt, ob Kurt und Irene sie nicht abholen wollten; ihre Eltern, also Irenes Schwester plus Mann, hatten sie nämlich schon hingebracht.

Die Idee habe sich dann verselbstständigt, und ehe sie es sich versahen, hatten sie eine Rundreise gebucht: Sie würden nach Buenos Aires (Irene hat furchtbare Flugangst! Was um Himmels willen hat sie genommen?!?) und dann weiter mit einem Inlandsflug (!) in den Süden des Landes fliegen. Von dort aus geht es mit dem Bus quer durch das ganze Land. In 22 Tagen. Von irgendwelchen Wanderungen war die Rede und von »Basislagern« (!). »Klingt jetzt anstrengender, als es ist«, versicherte Kurt. »Die Reise hat nur zwei Stiefel.« Irene ergänzte mit einem Strahlen über das ganze Gesicht: »In der Einheit misst der Veranstalter den Schwierigkeitsgrad. Süß, oder?« Schemenhaft hörten wir noch was von irgendwelchen Pinguinkolonien und »subantarktischen Vogelwelten«.

»Und wann geht es los?«, fragte ich schließlich fassungslos.

»Am 12.«, kicherte Irene überdreht. »Man muss auch mal was riskieren!«

Günther und ich sahen uns immer noch ungläubig an. Die meinten das wirklich ernst. Kurt beendete schließlich die Stille mit den Worten: »Ich glaub, wir haben uns jetzt alle einen Schnaps verdient.«

Es kam, wie es kommen musste.

Pünktlich um elf hatten wir alle einen im Kahn. Irene und ich setzten uns die Hasenohren-Haarreifen auf, Günther schoss mit dem Handy Fotos, wie wir Grimassen schnitten, und Kurt prostete: »Auf die Grillade!«

Pünktlich um zwölf fielen wir uns in die Arme und stießen mit einem Glas Sekt an. Kurz darauf piepte mein Handy mehrfach hintereinander.

»Drei neue Nachrichten« stand auf dem Display.

Von Julia: »mama, ich bin betrunkn und habe lars geschrben dasss ich in ihn verliebrt bin. es ist alles albtraum. was mach ich jetzt nurrrrrr«

Von einer unbekannten Nummer: »Liebe Rosa, lieber Günther, diese Zeilen schreibt dir Schwester Marianne für uns. Wir wünschen euch ein schönes neues Jahr. Bis bald. Eure Lotti und Wilhelm. Ende.«

Von Ute: »Frohes Neues, ihr Lieben! Seid froh, dass wir nicht mitgekommen sind. Kommen nicht vom Klo runter. Ist noch schlimmer geworden. LG U&W«

Mittwoch, 3. Januar

Lange mit Julia telefoniert, sie ist fix und fertig wegen der Nachricht an Dr. Friedrichsen.

Ach so, kurze Erklärung. Dr. Friedrichsen ist besagter Lars, auf den sie ein Auge geworfen hat. Anscheinend. Hätte ich ja nicht zu hoffen gewagt. Dabei wusste ich ja gleich, dass die beiden gut zusammenpassen würden. Streng genommen habe ich ihn auch zuerst kennengelernt und entdeckt. Über die Blase von Wilhelm Reinke.

Großer Gott, Sie verstehen wahrscheinlich nur Bahnhof, oder? Botschaft angekommen, ich glaube, ich muss ein wenig ausholen.

Alsooo: Julia war acht Jahre mit Richard zusammen, bis er ihr endlich einen Antrag machte und unsere gesamte Familie kollektiv aufatmete. Leider hatten wir die Rechnung ohne Richard gemacht, denn nach dem Antrag kam: nichts. Die Hochzeit wurde immer wieder verschoben, weil Richard immer neue Ausreden parat hatte. Zeitnot, Stress, Zeitnot, Stress. (Nun, es waren wohl doch nur zwei verschiedene Gründe; diese wurden aber immer je nach Belieben kombiniert.) Julia hat für mein Empfinden die Hinhaltetaktik viel zu lange mitgemacht. Aber nach über einem Jahr war endlich Schluss. Ja, endlich! Denn ich bin fest davon überzeugt, dass sie jemanden findet, der sie wirklich liebt.

Und an dieser Stelle kommt die Blase von Wilhelm ins Spiel.

Wilhelm Reinke ist der zweiundneunzigjährige Heimmitbewohner meiner achtundachtzigjährigen Tante Lotti. Die beiden sind der beste Beweis, dass man auch im Alter noch seine große Liebe finden kann. Denn zwischen Heizdecken, Rollatoren und Kartoffelpüree hat es bei ihnen doch tatsächlich gefunkt. Am Anfang haben wir die Liebelei nicht so richtig ernst genommen, doch irgendwann verkündeten sie feierlich: »Wir heiraten!«

Da aber unsere Familie dem strengen Drehbuch des Lebens »Nichts darf nach Plan laufen« folgt, wurde Wilhelm kurz vor der Hochzeit mit einer schweren Blasenentzündung ins Krankenhaus eingeliefert. Und genau dort betrat Dr. Lars Friedrichsen die Bühne, sein behandelnder Arzt. Er war in Julias Alter, war – wie Julia – unwahrscheinlich sympathisch, sah – wie Julia – gut aus, war – wie Julia – einfühlsam (er hat sich rührend um Wilhelm gekümmert) und konnte – wie Julia – gut zuhören. (Ich dachte wirklich auffallend oft »wie Julia«.)

Die beiden haben sich dann bei der Hochzeit von Tante Lotti und Wilhelm Reinke (fand einige Monate später tatsächlich statt! Herzzerreißend!) zum ersten Mal gesehen und sich vor Kurzem auf einen Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt getroffen. Seitdem denke ich, wie wunderbar es wäre, wenn Julia und Dr. Friedrichsen …

»Ist das nicht alles ein Albtraum?« Die verweinte Stimme von Julia schreckt mich aus meinen Gedanken. »O Gott, Mama, ich fühl mich wie ein Teenie. Warum schreib ich ihm auch betrunken? Anke hätte mich daran hindern müssen.«

Beruhige sie mit der zugegebenermaßen gewagten Theorie, dass die Nachricht ihm wahrscheinlich gar nicht auf dem Handy angezeigt wurde. »Zu Silvester sind doch ohnehin die Netze überlastet.«

»Sehr witzig, Mama. Du verstehst wirklich gar nichts von Technik.«

Nachmittags noch Tante Lotti im Heim besucht. Sie saß zusammen mit Wilhelm Reinke auf dem Sofa im Wintergarten, und ich sah schon beim Reinkommen, dass sie schlecht gelaunt war.

»Dunkle Wolken über dem Paradies?«, fragte ich und kniff sie sanft in den Oberarm.

»Frag nicht, Rosa. Ich wollte gerade die Schwester bitten, dir eine Nachricht zu schicken. Du weißt schon, mit diesem Dingsda, diesem Handy. Aber denkst du, sie gibt es mir?«

Ich musste lachen. »Tante Lotti, wer hätte das gedacht, dass du dich noch mal für so etwas interessierst?«

»Schon Goethe hat gesagt: ›Was nicht vorwärtsgehen kann, schreitet zurück‹«, sagte Wilhelm und gab Tante Lotti sanft einen Handkuss. »›Derjenige aber, der anders denkt, der vorwärts will, mache sich deutlich, dass nur ein ruhiges, folgerechtes Gegenwirken die Hindernisse, die sie in den Weg legen, obgleich spät, doch endlich, überwinden könne und müsse.‹«

Tante Lotti sah ihn an und runzelte die Stirn. »Wie bitte?«

»Johann Wolfgang, ebenfalls, meine Liebe. Lass mich überlegen, woher diese Passage genau stammt.«

Tante Lotti hatte irgendwie einen anderen Fokus und brummte: »Ich will jetzt so ein Handy haben.« Sie ist achtundachtzig.

Kurz: Das neue Jahr ist noch nicht einmal eine Woche alt, und der Alltagswahnsinn hat mich schon wieder. Wenn ich jetzt noch nach Patagonien müsste … Horror!

Ach ja, wie es sich rausgestellt hat, hat Günther doch tatsächlich das Foto von Irene und mir mit den Hasenohren auf dem Kopf auf Facebook gepostet. Öffentlich! So, dass es jeder, aber auch wirklich jeder sehen kann. Arrrrggghhhh. Normalerweise passiert ihm das nicht mehr, aber anscheinend war er zu beschwipst und hat im Rausch von Patagonien und Schnaps irgendwas falsch angeklickt.

Die ersten drei Kommentare (von insgesamt 86):

»Wenn es Stefan Raab noch gäbe, würden die ganz groß rauskommen«

»Ich schmeiß mich weg. Rentner drehen durch«

»hahahahahahahahahahaha«

Samstag, 6. Januar

War nachmittags Kaffee trinken mit Ute. Sie scheint wieder auf dem Damm zu sein, allerdings bestellte sie sich einen schwarzen Tee und ließ ihn geschlagene zwanzig Minuten ziehen. »Sicher ist sicher«, erklärte sie.

»Hast du etwa immer noch …?« Ich rückte instinktiv ein wenig von ihr ab.

»Nur ganz wenig«, druckste sie.

Irene wollte auch erst mitkommen, hatte dann aber in letzter Minute abgesagt. »PVS, Rosa.« Sie hatte eine Kunstpause eingebaut und mich dann glucksend aufgeklärt: »Patagonien-Vorbereitungs-Stress. Die Abkürzung hat sich Kurt ausgedacht.«

Das gesamte Kaffeetrinken mit Ute drehte sich dann nur um eins: wie froh wir waren, NICHT nach Patagonien reisen zu müssen. In unserem Alter noch Experimente eingehen? Gott bewahre!

Sonntag, 7. Januar

Wieder lange mit Julia telefoniert. Sie hat das Problem um Dr. Friedrichsen gelöst. Beziehungsweise, Zitat Julia: »Ich mache alles nur noch schlimmer.«

Gestern Abend hat sie ihm eine SMS geschrieben, in der sie ihm mitgeteilt hat, dass sie sich an Silvester »versmst« habe. Die Nachricht sei eigentlich für jemand anderen bestimmt gewesen, mit dem sie seit einiger Zeit anbandele.

»Du machst es dir aber auch immer schwer! Kannst du ihm nicht einfach reinen Wein einschenken? Ist doch schön, dass du ihn magst!«

»Bist du wahnsinnig? Noch einen Korb verkrafte ich nicht. Nee, die Blöße tu ich mir nicht an. Aber ist das alles nicht armselig? Mama, ich bin über dreißig!«

»Ach, Julchen, in deinem Alter hatte ich doch auch solche Probleme.«

Julia schluckte. »Hä? Du hast da doch mit Papa schon im Reihenhaus gewohnt. Wo genau ist jetzt die Ähnlichkeit?«

»Ja, gut …«, stotterte ich. »Ich will doch nur sagen, dass jede Zeit ihre Herausforderung mit sich bringt. Und der Richtige für dich wird bestimmt bald kommen. Da bin ich mir sicher.«

(Verkniff mir den Hinweis, dass Tante Lotti mit fast neunzig noch ihre große Liebe getroffen hat … befürchte, das ist kein Trost für sie.)

Dienstag, 9. Januar

Waren den ganzen Nachmittag im Computerclub. Jeder sollte eine Liste mit seinen zehn Vorsätzen fürs neue Jahr erstellen und dann mit so einem komischen Programm animieren. Grundsätzlich finde ich es ja wirklich klasse, was man mit dem Computer alles machen kann, aber worin der Sinn besteht, die Worte »abnehmen« und »mehr Bewegung« optisch ineinanderlaufen zu lassen, erschloss sich mir nicht ganz. Aber bitte schön, wenn mich irgendwann jemand mal fragt, ob ich seine guten Vorsätze mit dem Computer animieren kann: Ja, Rosa Schmidt kann auch das! Danach sollten wir alles in einem zentralen Ordner abspeichern (ich bin wirklich selbst erstaunt, was ich mit diesem Ding alles kann, aber hier und da geklickt und es hat funktioniert!).

Günther II (unser Lehrer) hat dann ein Tortendiagramm mit unseren Vorsätzen erstellt.

Von zehn Teilnehmern hatten angegeben:

abnehmen (alle)gesünder essen (acht)mehr Bewegung (sieben. Günther auch! Pfffff!)mit dem Rauchen aufhören (zwei. Keiner wollte sagen, wer es geschrieben hatte. Gudrun fragte Klaus mehrfach, ob er etwa immer noch heimlich im Garten rauche. War kein Spaß.)weniger Zeit vorm Computer (einer oder eine. Wieder wollte keiner sagen, wer es war. Günther II trocken: »Das in einem Computerclub anzugeben – dafür braucht man Chuzpe!«)

Freitag, 12. Januar

Heute war der historische Tag der Tage. Kolumbus ist nach Amerika aufgebrochen … na ja, nicht ganz … aber zwei Rentner namens Kurt und Irene haben doch tatsächlich ein Flugzeug nach Patagonien bestiegen.

Doch das war eine schwere Geburt.

Als wir die beiden von zu Hause abholten (wir hatten versprochen, sie zum Flughafen zu fahren), schleppte Kurt gerade mit hochrotem Kopf zwei riesige Koffer aus dem Haus. In der Einfahrt standen schon eine Reisetasche und ein kleiner Rollkoffer. Man hätte denken können, eine Großfamilie ziehe um. Doch dahinter steckte ein ausgeklügelter Plan, wie Irene erzählte, als wir alles mit Ach und Krach im Kofferraum und auf dem Mittelplatz der Rückbank verstaut hatten. (Zwischen Irene und Kurt stand der größte Koffer, was Günther zu dem sinnigen Witz verhalf: »Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen.«)

Die Reisetasche sowie der kleine Rollkoffer enthielten nämlich sogenannte Kann-Kleidung. »Wir brauchen sie nicht unbedingt, aber es wäre schön, sie dabeizuhaben.«

»Aber dürft ihr nicht jeder nur ein Gepäckstück mitnehmen?«, fragte ich.

»Ja, aber wir gucken einfach mal, wer hinter dem Schalter steht«, erklärte Irene. »Wenn die Frau sehr nett ist, schieben wir schnell alles aufs Band.« »Eben«, ergänzte Kurt. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie bei zwei Rentnern so streng sind. Da ist doch immer ein gewisser Spielraum vorhanden. Kulanz ist das Stichwort!«

Wir waren gerade etwa zehn Minuten unterwegs, als Irene plötzlich die verbotenen fünf Wörter rief. »Haben wir den Herd ausgemacht?«

»Natürlich«, sagte Kurt und rollte mit den Augen.

»Man macht immer den Herd aus«, sagte Günther hinter dem Steuer und stöhnte.

»Zur Not haben wir doch den Schlüssel. Ich sehe nachher mal nach«, sagte ich.

Doch nichts half. Irene war nicht mehr zugänglich für rationale Argumente. Sie steigerte sich so in die These rein, zum ersten Mal in 65 Jahren ausgerechnet heute den Herd nicht ausgemacht zu haben, dass wir tatsächlich umdrehen mussten. »Lieber eine halbe Stunde verlieren als das ganze Haus«, sagte sie melodramatisch. »Oder wollt ihr dafür verantwortlich sein, dass wir auf der Straße sitzen?«

»Es hat keinen Zweck, ich befürchte, wir müssen wirklich noch mal nach Hause fahren«, flüsterte Kurt uns von der Rückbank zu. »Sie würde mir die ganze Zeit damit in den Ohren liegen. Wir haben doch noch Zeit, oder?«

Während Günther bei der nächsten Gelegenheit das Auto wendete, wippte Irene so nervös mit den Beinen, dass sie mir jedes Mal durch den Sitz einen kleinen Stoß verpasste. Sie war sich inzwischen sicher, die Platte hinten rechts nicht ausgemacht zu haben. Wie Miss Marple rekonstruierte sie den Tathergang: Sie hatten sich heute Mittag noch die Linsensuppe warm gemacht. Sie hatte extra die Platte hinten rechts genommen, da sie sich immer einbilde, die würde am schnellsten heiß. Während des Auffüllens hatte ich dann angerufen, um zu sagen, dass wir eine halbe Stunde früher kämen, weil auf der Autobahn Stau sein soll. Während Kurt die Teller ins Esszimmer gebracht hatte, hatte sie mit mir gesprochen. Und wahrscheinlich darüber den Herd ganz vergessen. »Es ergibt alles einen Sinn«, murmelte Irene. »Es ist die Platte hinten rechts. Ich seh quasi vor meinem inneren Auge, wie der Schalter noch auf fünf steht … O Gott, auf fünf! Schneller, Günther!«

Sobald wir die Einfahrt erreicht hatten, stürmte Irene aus dem Auto, als müsse sie eigenhändig ein Flammenmeer löschen.

Zwei Minuten später kam sie zurück.

»Und?«, fragte Kurt. »Lass mich raten. Der Herd war aus, oder?«

Irene schnallte sich wortlos an. Irgendwann sagte sie: »Er hätte aber an sein können. Und dann wärt ihr mir alle dankbar gewesen.« Wir mussten alle lachen, und selbst Irene konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Wir waren gerade zehn Minuten unterwegs – zweiter Versuch –, als Irene wieder erstarrte. »O Gott, hab ich abgeschlossen?«

Zum Glück konnten wir ihr klarmachen, dass wir keine Zeit mehr hatten, um wieder umzudrehen.

»Wirklich, Irene. Wir waren alle Zeuge, wie du die Tür abgeschlossen hast. Ihr verpasst noch den Flug, wenn wir uns jetzt nicht beeilen«, redete ich beruhigend auf sie ein.

»Gut, wenn ihr meint«, stöhnte sie. »Dann soll die Bande jetzt bitte unser gesamtes Haus leer räumen.« Sie verschränkte die Arme und guckte schmollend aus dem Fenster. »Ich lass es jetzt laufen.«

Als wir am Flughafen ankamen, war nicht nur Irene mit den Nerven am Ende. Auch Kurt hatte inzwischen das Reisefieber gepackt. Die beiden stürmten mit Sack und Pack zum Schalter (wo natürlich sofort feststand, dass die »Kann-Kleidung« nicht mit an Bord durfte und wir die beiden Koffer an der Backe hatten). Zurück in der Halle, lief Kurt kopflos von einer Anzeigentafel zur anderen, um herauszufinden, zu welchem Gate sie mussten. Immer wenn er wieder zu uns kam, um zu sagen, dass das Gate immer noch nicht angezeigt wurde, nuschelte er abwechselnd die Sätze »Was haben wir uns nur eingebrockt?« und »Jetzt kann es aber auch mal losgehen« vor sich hin. Irene hörte überhaupt nicht mehr hin, sondern starrte ratlos auf eine Packung Tabletten. Da sie Flugangst hat (wie ich!), hatte sie sich von ihrem Arzt extra ein Medikament verschreiben lassen. Eine Dreiviertel- bis eine Stunde vor Abflug sollte sie mit »viel Flüssigkeit« eine Tablette einnehmen. Vor lauter Nervosität sprach sie unaufhörlich mit sich selbst.

»Das hätte er ja auch ein bisschen genauer sagen können, oder? Ich meine, eine Dreiviertelstunde oder eine Stunde ist ja schon ein Unterschied.«

»Wann exakt fliegen wir denn? Nicht, dass wir noch Verspätung haben und ich zu früh ausgeknockt werde.«

»O Gott, habe ich gerade ausgeknockt gesagt? Meinst du, das haut so richtig rein?«

»Ich hab Angst vor den Nebenwirkungen. Man hört ja so allerhand.«

»Oder soll ich es lieber ein bisschen später nehmen, damit die Wirkung auch bis nach Südamerika hält?«

»O Gott, wir fliegen wirklich nach Südamerika.«

»Südamerika!«

»Grundgütiger.«

»Hätte es nicht auch Mallorca getan?«

Zwischendurch träufelte sie sich immer wieder hektisch »Bachblüten Rescue Tropfen« in den Mund.

Als dann noch ein Mann, der neben uns wartete und mitbekommen hatte, dass Irene … nun … leicht angespannt war, lachend sagte: »Sie brauchen doch keine Angst vor dem Fliegen haben. Runter komm’ se alle«, war das Chaos perfekt. Irene ließ sich mit Tablettenpackung und Bachblüten auf die Bank fallen.

Eine halbe Stunde später stand endlich das Gate fest, und wir sahen, wie Kurt und Irene durch die Sicherheitskontrolle wankten. Ein letztes Mal drehten sie sich noch um und lächelten schief.

»Denkst du, was ich denke?«, fragte Günther. Ich nickte. »Gut, dass wir nicht verreisen müssen.« Er nickte.

Zusammen mit den beiden Kann-Koffern im Schlepptau gingen wir auf die Aussichtsplattform und schauten durch eine riesige Glasscheibe auf das Rollfeld. Da gefühlt jede Minute eine Lufthansa-Maschine abhob und wir nicht wussten, in welcher Kurt und Irene saßen, noch 40 Minuten ins Blaue gewunken.

Mittwoch, 24. Januar

Asche auf mein Haupt. Fast zwei Wochen kein Tagebuch geschrieben. Aber irgendwie hatte ich ein kleines bis mittleres Tief. Am Himmel gab es ausschließlich Graupel, Schnee, Schneeregen und wieder Graupel – und auf der Erde flogen die Viren umher! Alle um uns herum waren krank. Und Günther und ich waren halb krank. Das ist das Schlimmste: Man ist nicht richtig krank und auch nicht wirklich gesund. Man hat keine ernsthafte Begründung, sich ins Bett zu legen, und ist gleichzeitig zu krank, um irgendwas zu machen. Man schnupft nur unentschlossen vor sich hin. Trostlose Tage! Der Computerclub fiel auch aus, weil Günther II – natürlich – komplett mit Grippe flachlag.

Verbrachte also Abend für Abend mit Sockenstopfen und Fernsehen.

Willkommen im Rentnerdasein.

Dummerweise hatten Kurt und Irene ihr Versprechen »Wir melden uns mal per Mail« eingelöst. Beziehungsweise: übererfüllt. Fast jeden Tag flatterte ein »Update« ins Postfach, und irgendwie hatten wir dann doch jeweils … nun ja … unterschiedliche Tages-Highlights.

Wir

Kurt und Irene

Samstag

Günther hat im Internet die »Karte des Grauens« (BILD) entdeckt. Sie zeigt die Ausbreitung der Grippewelle in Deutschland. Man klickt auf »Start«, und schon setzen sich bunte Kreise in Bewegung: Grüne (noch alles in Ordnung), gelbe (die Viren kommen), orange (sie sind da) und rote (sie sind jetzt richtig da). Unser Landkreis ist inzwischen rot. Tiefrot. Mehrfach angeklickt. Mehrfach »Gott bewahre« gesagt. Entschluss gefasst: Gehen nicht mehr aus dem Haus, sondern machen einen auf Selbstversorger. Zehn Minuten später: Entschluss zurückgenommen. Nicht genügend Vorräte im Keller. Hmpf.

»Ihr Lieben, ihr glaubt es nicht. Kaum sind wir angekommen, haben wir eine Milonga besucht. So nennt man hier die Tango-Tanzlokale. Herrlich. Sogar ein paar Schritte gelernt. Und so nett alle hier. Und wie gut die aussehen! Sind zwar noch müde vom Flug (klappte gut, haben überlebt), aber schlafen kann man, wenn man alt ist, sagen wir uns jetzt! Wenn jetzt die Reise zu Ende wäre, hätte sie sich schon gelohnt. Was für ein Auftakt. Hoffen, euch geht es gut. Bis bald, Irene & Kurt«

Sonntag

Komplett verschlafen. Günther weckte mich um halb zwölf! Danach innerhalb von einer Stunde gefrühstückt und Mittag gegessen. Danach Magengrummeln gehabt. War wohl alles zu schnell hintereinander. Wir denken immer, dass wir die Essensreihenfolge einhalten müssen. Auf Frühstück kann ich nicht schon wieder Kaffee trinken. Irgendwas Herzhaftes brauche ich einfach dazwischen. Manchmal geht der Schuss aber nach hinten los. Mann, das zieht aber im Magen. Und im Hals kratzt es auch schon wieder.

»Nur ganz kurz: Es ist sooo warm hier. Schwitzen! Keine Wolke. Windstill. Herrlich. So, müssen Schluss machen. Melden uns. K&I«

Montag

Günther hat auf dem Friedhof Karl-Heinz getroffen. Kamen natürlich auf Grippewelle zu sprechen. Karl-Heinz schwört auf hoch dosiertes Zink, wirkt wohl prophylaktisch. Er war damit schon zwei Jahre nicht mehr krank. Sofort Familienpackung Zink aus Apotheke geholt. Gutes Gefühl, das Schicksal selbst in der Hand zu haben. Es geht bergauf.

»Hola aus dem Tiger-Delta nach Alemania! Haben am Ufer einen Jaguar gesehen. Immer noch sprachlos. Infos folgen. K&I«

Dienstag

Kurzen Spaziergang gemacht. Waren aber ziemlich schnell k.o. Nach zwanzig Minuten zurück. Sofa. TV. Tee trinken. Zink lutschen.

»Hallo ihr Lieben, der Jaguar war ja schon ein Highlight, aber der heutige Tag kann mithalten. Waren im versteinerten Wald von Sarmiento. 75 Millionen Jahre alt sind die Bäume, Naturspektakel sondergleichen. Kurt macht Fotos ohne Ende. Foto-Abend folgt. Sprachlos. K&I«

Mittwoch

Im Supermarkt zufällig Karl-Heinz getroffen. Überschwänglich für Zink-Tipp bedankt. Karl-Heinz (ist manchmal etwas tüddelig) sagte: »Aber dass man das mit Vitamin C zusammen einnehmen muss, habe ich euch gesagt, oder? Sonst bringt es ja nicht viel.«

Hektisch noch Vitamin C in der Apotheke gekauft. Die Apothekerin begrüßte uns mit den Worten: »Na, Sie schon wieder!«

»Hallo ihr Lieben, das Internet funktioniert hier nicht richtig. Mal sehen, ob die Mail überhaupt ankommt. Heute UNESCO-Weltkulturerbe. Prähistorische Felszeichnungen gesehen, wären was für Günther gewesen. Hoffen, ihr macht euch auch eine schöne Zeit. Bis bald!«

Donnerstag

Wieder kurzen Spaziergang gemacht. Wie kurzatmig man ist, wenn man nicht ganz fit ist. Konnten nicht sprechen, nur stumm geschlurft. Danach Sofa. TV. Zink und Vitamin C lutschen.

»nlnsdvn<sjdnvöjsdnvjsdnjnfk dsnv sdöngjsbgkrsgvb<skörjgb<rjkgb<ä«

Freitag

Küchenschlacht gesehen, wie jeden Tag. Unser Lieblingskandidat Ralf ist Wochensieger geworden. Fast ein wenig stolz gewesen. Wussten schon am Montag, dass der das Rennen macht!

»Ihr Lieben, irgendwie spinnt unser Internet hier. Habt ihr die Mail gestern bekommen? Wollten euch ein Video vom Viedma-Gletscher schicken, atemberaubend! Heute Ausflug ins Paine-Massiv. Einfach wunderschön. Die Mutter Erde hat so viel zu bieten, werden noch zu richtigen Abenteurern. Planen schon nächste Reise. Und ihr? Hoffentlich seid ihr wieder fit. Drücken alle Daumen!«

Samstag

Noch mal alle Folgen der Küchenschlacht nacheinander gesehen. Mit dem Wissen, dass Ralf Wochensieger wird, ganz anderen Blick gehabt.

»Guck mal, wie der schon die Karotten schneidet. Toll!«

»Pinguin-Kolonie gesehen. Irene hat geweint. So gerührt. Infos folgen. K&I«

Während Günther am Anfang noch parallel im Internet recherchierte, wo die beiden gerade steckten, und dann Dinge sagte, wie »Die Wanderung am El Abanico muss man bei der Administration anmelden, na hoffentlich hat der Reiseleiter dran gedacht«, kippte seine Laune irgendwann. »Die haben nicht schon wieder geschrieben, oder?!«

(Vielleicht schwang ein klitzekleines bisschen Neid mit.)

Februar

Niedergestreckt

Mittwoch, 28. Februar

Ich korrigiere mich: Halb krank ist doch besser als ganz krank. Pünktlich zum Monatsanfang hat es uns erwischt. Wir wurden niedergestreckt und waren sogar zu schwach, um die Küchenschlacht zu sehen. Furchtbar, zwei Wochen Lazarett vom Feinsten. Erst Hals, Nase, Ohren. Dann ging’s eine Etage tiefer. Zehn Tage Dauerhusten. Mit Auswurf. Ich erspar Ihnen die Details, aber ich kann Ihnen sagen: Es war kein Spaß. Irgendwann hatten wir richtig Muskelkater vom Husten und fühlten uns wie Gewichtheber nach Olympia.

Dann endlich halb gesund gewesen. Dann kurz wieder halb krank gewesen. Seit einer Woche fastrichtiggesund.

Erkenntnisse aus dem Februar:

Ich liebe die Wetterlage Graupel, Schnee, Schneeregen und wieder Graupel. Während wir schniefend und hustend und jammernd aus dem Fenster gestarrt haben, konnten wir zumindest mantramäßig krächzen: »Wir verpassen nichts.« Tante Lotti entwickelt sich zum Teenager zurück. In der halb gesunden Phase unseres Daseins haben Günther und ich sie im Heim besucht. Während sich Wilhelm im Wintergarten zufrieden und in sich ruhend die Buddenbrooks-Verfilmung ansah, saß Tante Lotti schmollend in ihrem Zimmer. Schwester Marianne weigere sich, ihr Stationshandy noch mal rauszurücken. Sie wolle doch soooo gerne wieder »simsen« (WOHERKENNTSIEDASWORT?). »Wir werden hier richtig kurz gehalten«, sagte sie und schob eingeschnappt die Unterlippe nach vorne. »Zum Kaffeetrinken gehe ich heute nicht. Abendessen auch nicht. Wollen wir doch mal sehen, wer am längeren Hebel sitzt.« (Konnte ihr nicht verklickern, dass nur sie darunter leidet, wenn sie nichts mehr isst.)Irene und Kurt sind wieder da. Patagonien belebt: Irene hat fünf Kilo abgenommen, und Kurt walkt seit ihrer Rückkehr jeden Tag zwei Stunden in voller Sportmontur. Ohne Worte.Julia ist komplett überarbeitet und steht nach eigenen Angaben kurz vor dem Burn-out. »Vielleicht lass ich mich mal richtig lange krankschreiben und zieh wieder ins Hotel Mama. So für zwei Monate.« Ich weiß nicht, ob das ein Scherz war.Ziehe alles zurück, was ich über die Übung neulich im Computerclub gesagt habe. Günther II und die anderen haben uns mit demselben Programm ein Aufheiterungsvideo gemailt, als es uns richtig schlecht ging. Die Sätze »Ihr schafft das«, »Ihr seid stark«, »Bald reißt ihr wieder Bäume aus« und »Euch kann doch nichts aufhalten« morphten ineinander. Gänsehaut. Günther hätte fast ein Tränchen verdrückt. Hab’s genau gesehen, er hat es aber auf seine Erkältung geschoben. »Jetzt geht der Infekt doch prompt noch auf die Augen.«

Ach ja, und wir haben uns was vorgenommen:

WIRWOLLENVERREISEN!!!

Während unserer Grippe hat Günther irgendwann angefangen, seine verbrauchten Taschentücher zu zählen und Strichliste darüber zu führen (ein Ingenieur kann trotz 39 Grad Fieber nicht aus seiner Haut!). Eines Tages hatte er einen ganzen DIN-A4Zettel voll. Er nieste, schnaubte aus, knüllte das Taschentuch zusammen und strich die letzte Fünfer-Kolonne durch. »Wenn wir das hier überstanden haben, machen wir die Biege«, sagte er mit gebrochener Stimme. Ich nickte schwach.

März

Früher Kribbeln im Bauch, heute Knacken im Knie

Montag, 5. März

Die Grippe sitzt uns immer noch in den Knochen. Dabei war es nur eine Grippe! Permanent muss ich seitdem denken: Carpe diem, nutze den Tag!

Waren gestern Abend bei Ute und Wolfgang zum Essen eingeladen, und als wir beim Themenkomplex »Krankheiten« angekommen waren (so nach etwa fünf Minuten), sagte Ute: »Na klar, die Einschläge kommen näher.«

»Denkst du auch gerade an den Oberschenkelhalsbruch von Doris?«, fragte Wolfgang.

Ute nickte.

»Wer ist Doris?«, fragte ich.

»Doris ist die Schwester von Wolfgangs Schulfreund Erwin. Ist die Treppe runtergestürzt, muss jetzt operiert werden und darf dann nur liegen. Albtraum!«

»Oder Uwe«, sagte Wolfgang. »Grauer Star. Kunstlinse geht wohl nicht einmal mehr.«

»Wer ist Uwe?«, fragte ich.

»Angeheirateter Schwager meiner Cousine.«

»Oder Gerda«, sagte Ute. »Hat die Arthrose jetzt auch in den Knien. Der Knorpel ist wohl vollständig im Eimer.«

»Wer ist Gerda?«, fragte ich.

»Nachbarin meiner Schwester.«

»Oder Reinhardt,« sagte Wolfgang. »Wirbel angebrochen, schon zum dritten Mal. Darf nichts mehr heben.«

»Wer ist Reinhardt?«, fragte ich.

»Mann von Gerda.«

Wie bei einem Tischtennisspiel drehten Günther und ich die Köpfe hin und her. Wahrscheinlich ist Krankheiten-Pingpong der Dorfklatsch für die Generation 60 plus. Mit jedem Richtungswechsel bekam ich schlechtere Laune. Zugegeben, Günther und ich kannten niemanden davon, aber uns wurde noch mal klar, dass viele um uns herum gerade krank waren. Gut, eine banale Erkenntnis. Bei 80 Millionen Deutschen ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass just in diesem Moment Tausende krank sind, ach was, Millionen! Aber irgendwie ist man ja emotional ganz anders dabei, wenn die anonyme Masse plötzlich Namen bekommt.

»Das ist ja schon blöd für Gerda und die anderen«, hörte ich mich bedröppelt sagen.

Zum Glück verhinderte Ute, die nach eigenen Angaben bei der Geburt in einen Kessel Pragmatismus gefallen sein muss, dass es ein Wir-sind-typische-Rentner-und-reden-nur-über-Krankheiten-Abend wurde.

Sie erhob ihr Glas und toastete in die Runde: »Ich sag immer: Früher Kribbeln im Bauch, heute Knacken im Knie. Auf das Alter! Und darauf, dass ihr zwei jetzt eine schöne Reise macht. Das habt ihr euch nach den letzten Wochen aber auch verdient!« Plötzlich fing sie an zu kichern und prustete: »Rentner auf Tour – statt Kur!«

Es wurde ein später und vor allem essensreicher Abend. Ute hatte viel zu viel gekocht und brachte mit den Worten »Ich weiß auch nicht, aber irgendwie hat mein Körper immer noch das Gefühl, etwas aufholen zu müssen« eine Schüssel nach der anderen herein. Wahrscheinlich wird sie in zwanzig Jahren immer noch sagen: »Wissen Sie, mit Mitte 60 hatte ich eine Magen-Darm-Grippe, da konnte ich gaaaaar nichts essen. Furchtbar. So, jetzt her mit dem Nachschlag!«

Was ich aber eigentlich sagen will: Die vier Ws sind in unser Leben getreten.

WIRWOLLENWIRKLICHWEG!

Dienstag, 6. März

Streng genommen sind es fünf Ws.

Denn: WOHIN???

Montag, 12. März

Viele Paare nähern sich ja mit den Jahren – oder Jahrzehnten – immer weiter an. Wie sagt Ute immer? »Irgendwann siehst du entweder dem Hund ähnlich oder dem Mann.«

Unsere Nachbarn Brigitte und Hans zum Beispiel (Hans ist der Mann, nicht der Hund, hihi): das doppelte Lottchen in Reinstform. Sie tragen die gleichen Jacken, fahren das gleiche Fahrrad und reden ausschließlich in der Wir-Form. Wenn die uns mit ihren blauen Jack-Wolfskin-Jacken entgegenkommen, zucken wir immer für einen kurzen Moment zusammen, weil wir denken, zwei Polizisten laufen Streife. Partnerlook hat ja auch immer etwas von Einsatztruppe. Es sieht eben schnell offiziell aus. Aber die beiden ziehen das durch. Sobald Tchibo das gleiche Teil für Männer und Frauen hat, schlägt Brigitte zu. Der größte Liebesbeweis sei ihr zufolge, dass Hans die Wäsche im Garten exakt so aufhänge wie sie selbst. Vorne die Handtücher, dann die Oberteile, dahinter die Hosen, dann die Unterwäsche, dann die Socken, und bei jedem Teil: Etiketten nach oben. Einmal habe Oliver (ihr Sohn) die Wäsche aufgehängt, und alles war durcheinander. »Der hängt ja komplett ohne System«, stöhnte Brigitte. Sie habe im Wintergarten gesessen und versucht, das Chaos auszuhalten. Es ging nicht. Nach einer Stunde hilflosem Starren auf die verkehrte Welt – nicht einmal Socken hatte Oliver paarweise sortiert – sei sie rausgestürmt und habe alles umgehängt. Sie konnte einfach nicht anders. Im ganzen Körper habe es gekribbelt.

Der Partnerlook der beiden macht auch vor der Wahlkabine nicht halt. Neulich sprachen wir nur im Nebensatz über die Wahl (ich finde es immer so schade, wenn die Politiker auf den Plakaten so schlecht getroffen sind), da sagte Brigitte doch glatt (Hans war nicht dabei): »Wir wählen ja die CDU.«

O Gott, jetzt hab ich ausgeplappert, was Brigitte und Hans wählen. Bitte schnell vergessen. Was ich eigentlich sagen wollte: Neben den siamesischen Zwillingspaaren gibt es Paare wie Günther und mich. Fragen Sie nicht, wie wir uns gefunden haben. Denn vom Partnerlook sind wir so weit entfernt wie von einer Reise nach Patagonien, um mal beim Thema zu bleiben. Orangenmarmelade (ich) trifft auf Harzer Roller (Günther), Inga Lindström (ich) auf SOKO (Günther), Meer (ich) auf Berge (Günther), Kaffee (ich) auf Tee (Günther), ständig frieren (ich) auf schnell schwitzen (Günther), malen (ich) auf rechnen (Günther), Romane (ich) auf Sachbücher (Günther). Kurz: Da ist nix mit Partnerlook, innerlich wie äußerlich.

Bei der Urlaubswahl ist es eigentlich genau dasselbe. Wenn Günther frei entscheiden könnte, würde er wahrscheinlich mit Pickel und Eishammer über die Alpen wandern (sofern sein Knie es mitmacht) oder irgendwo vor einem Zelt ein Lagerfeuer machen.

Wenn ich dagegen an Urlaub denke, sehe ich mich irgendwo auf einer Bastmatte rumliegen, während ein Masseur meinen Rücken durchwalkt. Im Hintergrund läuft leise Musik, und im Anschluss wird mir ein Cocktail gereicht. Vielleicht gönne ich mir danach noch eine Gesichtsbehandlung, um abends schön essen zu gehen.

Kurz: Luxusentspannung (ich) trifft auf Naturerlebnis (Günther).