Mein Name ist Estela - Alia Trabucco Zerán - E-Book

Mein Name ist Estela E-Book

Alia Trabucco Zerán

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Beschreibung

Das Mädchen ist tot, die Haushälterin wird vernommen. Zum ersten Mal hören alle Estela zu. Szene um Szene offenbart sie ein schwindelerregendes Kammerspiel unüberbrückbarer Klassenunterschiede.
Sieben Jahre hat Estela im Haus der fremden Familie gelebt, hat tagein, tagaus für sie gesorgt. Die karierte Schürze ist zu einer zweiten Haut geworden, die dünnen Wände ihres Zimmers sind immer näher gerückt. Doch sie ist nicht die einzige Gefangene des Hauses: Im leeren Blick des Mädchens sieht Estela ihre eigene Einsamkeit gespiegelt. Jeder Versuch von Intimität zwischen Angestellter und Kind zerschellt an der ehrgeizigen Mutter und dem autoritären Vater, an der Brutalität der Verhältnisse. Auf engstem Raum ringen vier Menschen ums Überleben und rasen doch unausweichlich auf eine Katastrophe zu.

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Das ist das Cover des Buches »Mein Name ist Estela« von Alia Trabucco Zerán

Über das Buch

Das Mädchen ist tot, die Haushälterin wird vernommen. Zum ersten Mal hören alle Estela zu. Szene um Szene offenbart sie ein schwindelerregendes Kammerspiel unüberbrückbarer Klassenunterschiede.Sieben Jahre hat Estela im Haus der fremden Familie gelebt, hat tagein, tagaus für sie gesorgt. Die karierte Schürze ist zu einer zweiten Haut geworden, die dünnen Wände ihres Zimmers sind immer näher gerückt. Doch sie ist nicht die einzige Gefangene des Hauses: Im leeren Blick des Mädchens sieht Estela ihre eigene Einsamkeit gespiegelt. Jeder Versuch von Intimität zwischen Angestellter und Kind zerschellt an der ehrgeizigen Mutter und dem autoritären Vater, an der Brutalität der Verhältnisse. Auf engstem Raum ringen vier Menschen ums Überleben und rasen doch unausweichlich auf eine Katastrophe zu.

Alia Trabucco Zerán

Mein Name ist Estela

Roman

Aus dem chilenischen Spanisch von Benjamin Loy

Hanser Berlin

Die Frage ist nur, wer wen säubert.

Albert Camus, Der Fall

Mein Name ist Estela, können Sie mich hören? Ich habe gesagt: Es-te-la-Gar-cí-a. Ich weiß nicht, ob Sie das hier aufnehmen oder sich Notizen machen und ob da überhaupt jemand auf der anderen Seite sitzt, aber wenn Sie mich hören, wenn Sie da sind, dann will ich Ihnen einen Vorschlag machen: Ich erzähle Ihnen eine Geschichte, und wenn ich fertig bin, wenn alles gesagt ist, dann lassen Sie mich hier raus.

Hallo? Ist da jemand?

Ich werte Ihr Schweigen mal als ein Ja.

Diese Geschichte hat mehrere Anfänge. Ich würde sogar so weit gehen, zu sagen, dass sie nur aus Anfängen besteht. Aber erklären Sie mir doch, was ein Anfang ist. Erklären Sie mir zum Beispiel, ob die Nacht vor oder nach dem Tag kommt, ob wir nach dem Schlafen erwachen oder ob wir nur schlafen, weil wir wach waren. Oder noch einfacher, um Sie nicht mit meinen Abschweifungen zu nerven, sagen Sie mir doch, wo ein Baum beginnt: beim Samen oder bei der Frucht, zu der dieser Samen vorher gehörte? Oder doch beim Ast, an dem diese Blüte keimte, ehe sie später zur Frucht wurde? Oder bei der Blüte selbst? Kommen Sie noch mit? Nichts ist so simpel, wie es scheint.

So ähnlich ist es auch mit den Ursachen, sie sind so verworren wie die Anfänge. Die Ursachen meines Durstes, meines Hungers. Die Ursachen dafür, dass ich hier eingesperrt bin. Eine Ursache führt zur anderen, eine Karte fällt mit der nächsten. Nur der Ausgang ist gewiss: Am Ende bleibt kein Stein auf dem andern. Und der Ausgang dieser Geschichte ist folgender (wollen Sie das wirklich wissen?):

Das Mädchen stirbt.

Hallo? Keine einzige Reaktion?

Ich sage es besser noch einmal, falls Ihnen gerade eine Fliege ins Ohr gesummt hat oder Sie etwas Wichtigeres oder Schrilleres als meine Stimme abgelenkt hat:

Das Mädchen stirbt. Haben Sie das jetzt verstanden? Das Mädchen stirbt, und es bleibt tot, egal wo ich auch anfange.

Aber auch mit dem Tod ist es nicht so simpel, darin sind wir uns doch einig. Es verhält sich damit so ähnlich wie mit der Länge und Breite eines Schattens. Der unterscheidet sich von Mensch zu Mensch, von Tier zu Tier, von Baum zu Baum. Es gibt keine zwei identischen Schatten auf der Welt, und ebenso wenig gibt es zwei identische Tode. Jedes Lamm, jede Spinne, jede Morgenammer stirbt auf ihre Weise.

Nehmen wir zum Beispiel das Karnickel … Werden Sie nicht ungeduldig, das ist wichtig. Haben Sie mal ein Karnickel im Arm gehabt? Das ist, als hielte man eine Granate, eine flauschige Zeitbombe. Ticktack, ticktack, ticktack, ticktack. Es ist das einzige Tier, das häufig vor Angst stirbt. Der Geruch eines Fuchses, der entfernte Verdacht einer Schlange reichen schon aus, damit das Herz zusammenzuckt und sich seine Pupillen weiten. Dann versetzt das Adrenalin dem Herzen einen Hammerschlag, und das Karnickel stirbt, noch ehe sich die Eckzähne in sein Genick bohren. Die Angst bringt es um, verstehen Sie? Die reine Erwartung tötet es. Im Bruchteil einer Sekunde spürt das Karnickel, dass es sterben wird, es ahnt, wie und wann. Und diese Gewissheit seines eigenen Endes ist sein Todesurteil.

Bei den Katzen oder Spatzen oder Bienen oder Echsen kommt so etwas nicht vor. Ganz zu schweigen von den Pflanzen, beim Tod einer Weide oder einer Hortensie, einer Ulme oder eines Canelo. Oder beim Tod eines Feigenbaumes, diese robusten Exemplare mit Stämmen so fest und grau wie Zement. Um so einen umzubringen, braucht es schon schwerere Geschütze. Einen tödlichen Pilz etwa, der Winter um Winter, Jahr um Jahr in seine Äste kriecht und nach Jahrzehnten schließlich seine Wurzeln zersetzt. Oder eine Säge, die seine Äste amputiert und seinen Stamm in einen Sack Brennholz verwandelt.

Und so ist es mit jeder Spezies, mit jedem Lebewesen, das diesen Planeten bewohnt. Ein jedes muss die passende Todesursache finden. Eine Ursache, die in der Lage ist, sein Leben zu bezwingen, einen hinlänglichen Grund. Und das Leben klammert sich, wie Sie wissen, an manche Körper mit ganz besonderer Kraft. Es wird zäh, widerspenstig und ist kaum loszubekommen. Man braucht dafür das richtige Werkzeug: die Seife für den Fleck, die Pinzette für den Stachel. Können Sie mich da drüben hören? Passen Sie überhaupt auf? Ein Fisch kann nicht auf dem Grund des Meeres ertrinken. Und ein Angelhaken wird dem Wal höchstens den Gaumen zerkratzen. Und überhaupt hat alles seine Grenzen, mehr als sterben kann man nicht.

Ich schweife nicht ab, keine Angst, wir befinden uns im Randbereich der Geschichte. Und es ist notwendig, ihn zu umkreisen, bevor wir weiter ins Innere vorstoßen. Damit Sie verstehen, wie ich hier gelandet bin, welche Taten mich in diese Zelle gebracht haben. Und damit Schritt für Schritt die Todesursache des Mädchens ans Licht kommt.

Ich habe getötet, das stimmt. Ich verspreche, dass ich Sie nicht anlügen werde. Ich habe Fliegen und Motten getötet, Hühner, Würmer, einen Farn und einen Rosenbusch. Und vor langer Zeit habe ich aus Mitleid ein verletztes Ferkel umgebracht. Das habe ich aufrichtig bedauert, aber ich tötete es, weil es ohnehin sterben würde. Es wäre langsam und schmerzhaft gestorben, also bin ich dem zuvorgekommen.

Aber diese Tode interessieren Sie nicht, das ist nicht, was Sie hören wollen. Keine Sorge, ich werde zum Punkt kommen, zur ersehnten Todesursache: eine Handvoll Tabletten, ein Flugzeugabsturz, ein Strick um den Hals … manche überleben trotz allem. Für diese wenigen ist die Aufgabe zu sterben keine leichte. Männer, die die Wucht eines Lastwagens benötigen, einen Schuss in die Brust. Frauen, die aus dem sechsten Stock springen, weil der fünfte nicht reichen würde. Bei anderen wiederum genügt eine einfache Lungenentzündung, eine Verkühlung, ein im Hals steckengebliebener Kern. Und einigen ganz wenigen, wie dem Mädchen, reicht schon eine Idee. Eine gefährliche, schneidende Idee, die aus einem schwachen Moment heraus entsteht. Von dieser Idee will ich Ihnen berichten, Ihnen erzählen, wann sie erstmals aufkam. Und jetzt lassen Sie liegen, was auch immer Sie gerade tun, und hören Sie mir zu.

Die Stellenanzeige lautete:

Hausmädchen gesucht, gepflegtes Erscheinungsbild, Vollzeit.

Sonst stand da nichts, außer einer Telefonnummer, die sich bald in eine Adresse verwandelte, zu der ich mich in weißer Bluse und dem gleichen schwarzen Rock aufmachte, den ich auch jetzt trage.

Sie öffneten mir gemeinsam die Tür. Ich meine den Señor und die Señora, den Chef und die Chefin, die Bosse, die Hinterbliebenen. Sie werden schon wissen, wie Sie sie nennen wollen. Sie war schwanger, und als sie die Tür öffnete, musterte sie mich von oben bis unten, noch ehe sie mir die Hand gegeben hatte: mein Haar, meine Kleidung, meine noch weißen Turnschuhe. Es war ein prüfender Blick, als ob sie dadurch etwas Wichtiges über mich in Erfahrung bringen könnte. Er dagegen schaute mich nicht einmal an. Er tippte eine Nachricht in sein Handy und deutete, ohne den Blick zu heben, auf die Tür, die zur Küche führte.

Ich kann mich an die Fragen nicht mehr erinnern, die sie mir stellten, aber dafür an etwas sehr Kurioses. Er hatte sich rasiert, und ein Hauch von Schaum glänzte unter seiner rechten Kotelette.

Hallo? Was denn? Darf ein Hausmädchen etwa nicht das Wort »Hauch« benutzen?

Mir war, als hätte ich da Gelächter, ein nicht eben freundliches Lachen auf der anderen Seite der Wand gehört.

Ich wollte sagen, dass mich dieser Fleck aus der Fassung gebracht hat, als ob man ihm ein Stück Haut herausgerissen hätte und darunter weder Blut noch Knochen zum Vorschein gekommen wären, sondern etwas Weißes, Künstliches. Der Señora fiel auf, dass ich nicht aufhören konnte, ihn anzustarren, und als sie schließlich den Schaum bemerkte, feuchtete sie ihren Daumen an und säuberte seine Haut mit ein wenig Spucke.

Sie werden sich fragen: Warum ist das von Bedeutung? Überhaupt nicht, lautet die Antwort, auch wenn ich mich gut an die Geste des Señor erinnere, die Art und Weise, wie er die Hand seiner Ehefrau wegschob, als werfe er ihr vor, etwas derart Intimes vor einer vollkommen Fremden zur Schau zu stellen. Einige Wochen später machte ich gerade das Ehebett, als er plötzlich aus dem Badezimmer kam. Ich dachte, er sei schon zur Arbeit gegangen, aber da stand er nun, mir gegenüber, vollkommen nackt. Bei meinem Anblick erschrak er nicht, es schien ihn nicht einmal zu irritieren. In aller Ruhe suchte er nach seiner Unterhose, ging ins Badezimmer zurück und schloss die Tür hinter sich. Erklären Sie mir, was zwischen dem ersten Tag und den darauffolgenden passiert war.

Sie benötigten so schnell wie möglich jemanden. Der Señor sagte: Am besten ab Montag.

Die Señora: Am besten ab heute.

Am Kühlschrank hing ein Zettel mit all meinen Aufgaben. So umging man die Frage, ob die Angestellte lesen, ob sie den Einkaufszettel schreiben oder die Nachrichten von Anrufern notieren konnte. Ich ging ein Stück näher, las die Liste, nahm den Zettel und verstaute ihn in meiner Rocktasche. Ordentlich, folgsam, eine Angestellte mit ausreichender Bildung.

Ich kann am Montag anfangen, sagte ich.

Sie nahmen mich sofort. Nicht einmal ein Empfehlungsschreiben verlangten sie. Später verstand ich, dass alles in diesem Haus ein Wettlauf gegen die Zeit war, auch wenn ich ihre Eile, diese ewige Eile, nie nachvollziehen konnte. Wer sich beeilt, verliert die Zeit, das sagte meine Mama immer, wenn ich zu spät zur Schule aufbrach und die Abkürzung durch den Gemüsegarten nahm. Und gegen die Zeit, warnte sie, kann man nicht gewinnen. Dieses Rennen ist vom Tag unserer Geburt an entschieden. Aber ich schweife ab … Ich sprach von den Stunden, die ihren Tagen fehlten, und von den wenigen Tagen, die noch fehlten, bis ihre erste Tochter auf die Welt kommen sollte.

Ich weiß schon, was Sie mich fragen wollen, und die Antwort lautet nein. Ich hatte keine Erfahrung mit Kindern, und ich log sie diesbezüglich nicht an. Meine Mutter hatte mir am Telefon gesagt: Lüg sie nicht an, Lita, lüg nie am ersten Tag. Also sagte ich, ohne zu zögern:

Ich habe keine Kinder, ich habe keine Nichten und Neffen, ich habe noch nie eine Windel gewechselt.

Aber die Entscheidung war bereits gefallen. Der Señora hatten meine weiße Bluse, mein langer und ordentlich geflochtener Zopf gefallen, meine geraden und sauberen Zähne und dass ich zu keinem Zeitpunkt versucht hatte, ihrem Blick standzuhalten.

Sobald die Fragen geklärt waren, zeigten sie mir den Rest des Hauses:

Hier sind die Putzmittel, Estela.

Die Gummihandschuhe, der Mopp.

Hier das Erste-Hilfe-Schränkchen.

Die Schwämme, das Chlor, das Spülmittel, die Bettwäsche.

Hier das Bügelbrett, der Korb für die Schmutzwäsche.

Die Seife, die Waschmaschine, das Nähkästchen, die Werkzeuge.

Dass ja nichts vergammelt, Estela.

Dass ja nichts abläuft.

Grundreinigung am Montag.

Nachmittags den Garten gießen.

Und niemandem aufmachen, nie, unter keinen Umständen.

An viel mehr erinnere ich mich nicht mehr, außer dass ich an jenem Tag einen Gedanken hatte und dieser Gedanke in mir haften blieb. Während ich durch den Flur ging, durch die Bäder, und den Kopf in jedes Zimmer streckte, während ich das Wohnzimmer betrachtete, das Esszimmer, die große Terrasse und das Schwimmbad, dachte ich mit großer Klarheit: Das hier ist ein richtiges Haus, mit Nägeln, die in den Wänden stecken, und Gemälden, die an diesen Nägeln hängen. Und dieser Gedanke, ich weiß nicht, warum, schmerzte mich genau hier, zwischen den Augen. Als ob er ein Feuer entfachte, das genau hier brannte.

Das Hinterzimmer zeigten sie mir nicht. Ich rede vom Tag des Vorstellungsgesprächs. Dieses Zimmer, das sie »dein Zimmer« nannten und das ich das Hinterzimmer nennen werde. Erst am folgenden Montag, meinem ersten Arbeitstag, bekam ich es zu Gesicht. Die Señora nahm mich in Empfang, bleich war sie, das Gesicht schweißgebadet.

Fühl dich wie zu Hause, sagte sie und ging davon, um sich auszuruhen.

Ich ging allein in die Küche und wunderte mich, diese merkwürdige Tür nicht schon vorher bemerkt zu haben. Sie verlor sich zwischen den Fliesen an der Wand, wie eine Geheimtür. Ich trat ein Stück näher und schob sie auf. Wussten Sie schon, dass es sich um eine Schiebetür handelte? Um keinen Raum zu vergeuden. Um nicht an das Bett zu stoßen. Man öffnete sie also nicht wie eine normale Tür, sodass ich sie nach links schob und zum ersten Mal hineinging.

Notieren Sie bitte, was es dort drinnen alles gab, vielleicht ist das irgendwie von Bedeutung: ein Einzelbett, einen kleinen Nachttisch, ein Lämpchen, eine Kommode, einen alten Fernseher. In der Kommode sechs Schürzen: Montag, Dienstag, Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag. Sonntag war mein freier Tag. Es gab keine Bilder, auch keine Dekoration, nur ein kleines Fenster. Dafür ein Bad mit Dusche, ein alter Schminktisch und ein paar feuchte Stellen an den Wänden, die sich vor Lachen auszuschütten schienen.

Ich schloss die Tür hinter mir und blieb stehen, die Lippen plötzlich ganz trocken. Ich spürte, wie meine Beine weich wurden, und setzte mich auf die Bettkante. Und dann hatte ich ein Gefühl … wie soll ich das beschreiben. Ich fühlte, dass ich das Zimmer noch gar nicht betreten hatte und dass ich selbst, von draußen her, die Frau betrachtete, die ich ab jenem Moment sein würde: die über dem Rock gefalteten Hände, die trockenen Augen, der trockene Mund, die schnelle Atmung. Ich bemerkte, dass die Zimmertür aus geripptem Milchglas war. Der Señor musste hier eines seiner Lieblingswörter benutzt haben: ge-schlif-fen. Eine Tür aus mattem Glas verband das Schlafzimmer mit der Küche. Und dort lebte ich sieben Jahre lang, auch wenn ich es nie, nicht ein einziges Mal, »mein Zimmer« nannte. Schreiben Sie das in Ihre Akten, na los, keine falsche Scheu: »Weigerte sich kategorisch, den Raum als ihr Zimmer zu bezeichnen«. Und am Rand fügen Sie noch hinzu: »Weigerung«, »Ressentiment«, »mögliches Tatmotiv«.

Nach einer Weile hörte ich, wie jemand in die Küche kam und draußen auf mich wartete … oder drinnen. Ich weiß es nicht. Womöglich war das Zimmer draußen und die Küche drinnen. Diese Dinge sind verworren, für mich zumindest: drinnen, draußen; gegenwärtig, vergangen; vorher, nachher.

Die Señora räusperte sich, ich schluckte und sagte:

Ich komme.

Oder vielleicht räusperte sich auch niemand, und ich sagte nichts, und jene Frau, die ich für die folgenden sieben Jahre sein würde, zog sich aus und streifte sich die Kittelschürze über den Kopf. Sie kam mir am Hals sehr straff vor, zu eng für mich, aber als ich den obersten Knopf öffnen wollte, merkte ich, dass da kein Knopfloch war. Ein dekorativer Knopf am Hals der Hausangestellten. Die anderen fünf Schürzen hatten den gleichen falschen Knopf.

Es ist seltsam, dass ich mich gerade an dieses Detail erinnere, aber nicht die geringste Ahnung habe, was ich den Rest des Tages über tat. Ich weiß nicht, ob ich kochte. Ich weiß nicht, ob ich wusch. Ich weiß nicht, ob ich die Pflanzen goss. Ich weiß nicht, ob ich bügelte. Aus diesen Wochen erinnere ich mich an nichts außer an unsere anhaltende Verfolgungsjagd. Wenn ich das Wohnzimmer betrat, entschwand die Señora leise ins Esszimmer. Wenn ich das Esszimmer betrat, flüchtete sie Richtung Badezimmer. Wenn ich das Badezimmer saubermachen wollte, sperrte sie sich in ihrem Arbeitszimmer ein. Ich wusste nicht, was ich tun, wohin ich gehen sollte. Wegen ihrer Schwangerschaft bewegte sie sich nur mit Mühe, doch sie nahm lieber Reißaus vor mir, als allein und stumm mit einer Fremden zusammen zu sein. Denn das war ich ja, eine Fremde. Ich weiß nicht, zu welchem Zeitpunkt ich aufhörte, es zu sein. Als sie mich zu bitten begann, ihre Unterhosen mit der Hand zu waschen, mir zu sagen, Estelita, die Kleine hat gebrochen, bitte, wisch den Boden mit Chlor. Aber fragen Sie sie mal nach meinem Geburtstag, fragen Sie sie, wie alt ich bin.

In jener ersten Woche wussten sie nicht einmal, wie sie mich anreden sollten. Immer wieder rutschte ihnen der Name der Frau heraus, die vorher im Haus gearbeitet hatte. Diejenige, die ihnen bisher den Grund der Kloschüssel geschrubbt und dienstags und freitags den Müll rausgebracht hatte. Die Salat Olivier für sie zubereitet und ihnen beim Schlafen zugesehen hatte. Sie sagten es mir nie, aber ich weiß es, weil keiner der beiden in der Lage war, meinen Namen richtig auszusprechen.

Mmmestela, sagten sie.

Ich frage mich immer noch, wie wohl der Name meiner Vorgängerin lautete: María, Marisela, Mariela, Mónica. Der Anfangsbuchstabe steht außer Frage, erst nach Monaten verschwand er.

Ich für meinen Teil nannte sie immer »die Señora«. Die Señora ist nicht da. Möchte die Señora etwas essen? Um wie viel Uhr kommt die Señora zurück? Aber sie heißt Mara, Doña Mara López. Sicher haben Sie, als Sie sie vorgeladen haben und die Señora Sie wie einen Fleck angestiert hat, als registrierte sie einen Fehler, zu ihr gesagt: »Señora Mara, nehmen Sie bitte Platz. Möchten Sie ein Glas Wasser? Einen Tee? Zucker oder Süßstoff?«, während Sie sich, genau wie ich, gefragt haben, wer in aller Welt so heißt. Als würde man Jula oder Veronca heißen. Wie man mit so einer Lücke leben konnte.

Da war etwas an ihr. Wie … lassen Sie mich nachdenken. Verdrossenheit. Oder nein, das ist nicht das richtige Wort. Verachtung, das ist es. Als ob alle Welt Langeweile in ihr hervorriefe oder sie jegliche Form von Nähe ablehnte. Das war zumindest ihre Fassade. Die Maske, die sie sorgfältig Morgen für Morgen anlegte. Darunter lief sie vor Wut rot an, wenn ihr Mann zu spät von der Arbeit kam oder ihre Tochter das schon durchgekaute Essen auf den Teller zurückspuckte; und ihr Lid, das linke, zuckte unablässig, als ob ein Stückchen ihres eigenen Gesichts sich davonmachen und nie wiederkommen wollte.

Aber ich schweife ab, das stimmt. Muss die mangelnde Gewohnheit sein. Das Gesicht der Señora hat keinerlei Bedeutung, ich muss Ihnen auch von ihm erzählen.

Ihn nannte ich, Sie haben es schon erraten, den »Señor«, auch wenn ich ihn manchmal auch »dein Papa« nannte. Wo ist dein Papa? Ist dein Papa schon da? Aber sein Name war Cristóbal. Don Juan Cristóbal Jensen. Ein etwas schroffer Mann mit frühen Geheimratsecken und hellblauen Augen, die der Flamme des Gasboilers ähnelten. Jeden Morgen murmelte er den gleichen Satz, ehe er zur Arbeit ging: Wieder ein neuer Arbeitstag. Vielleicht war es nur eine Marotte, oder aber er verabscheute sie wirklich. Ich rede von seiner Arbeit, kein Grund zur Panik. Er hasste seine Kollegen, die Krankenschwestern, jeden einzelnen seiner Patienten. Sicher haben Sie ihn schon gesehen mit seinem glatt gebügelten Hemd, den wohlpolierten Schuhen, in Erwartung, dass ihm jemand dafür dankt, sein Leben gerettet zu haben. Oder vielleicht hat er schon seinen weißen Kittel an, damit man ihn »Herr Doktor« nennt. Das liebte er nämlich, wenn man über ihn als »Doktor Jensen« sprach. Aber halten Sie das in Ihren Papieren fest: Doktor zu sein, bedeutet überhaupt nichts. Nicht, wenn deine einzige Tochter stirbt. Nicht, wenn du unfähig bist, sie zu retten.

Wir sprachen wenig miteinander, er und ich. Es genügte, ihm pünktlich das Essen zu servieren und seine Hemden zu waschen und zu bügeln. Ich wüsste nicht, wie ich ihn noch beschreiben sollte, vielleicht können Sie mir helfen. Wie würden Sie eine Person definieren, die nicht raucht, die kaum trinkt, die, bevor sie den Mund aufmacht, jedes Wort abwägt, abmisst, um so unbedachte Antworten zu vermeiden, die nur Zeit kosten würden? Ein Mann, besessen von der Zeit:

Wir essen in einer Stunde, Estela.

Wärm das Essen in fünfzehn Minuten auf.

Ich komme zehn Minuten zu spät in die Klinik.

Ich habe zwei Minuten fürs Frühstück.

In zehn Minuten bin ich da, öffne das Tor.

Ich zähle bis drei.

Zwei.

Eins.

Ein ewiger Countdown.

Das Mädchen kam am fünfzehnten März zur Welt, eine Woche nach meiner Ankunft. Ein Schmerzensschrei ließ mich aufschrecken, gefolgt von einer Anweisung: Hol Luft.

Es war fünf Uhr morgens, ich schlief noch, obwohl, wer weiß, manchmal zweifele ich daran, ob ich wirklich jemals Schlaf fand in diesem Zimmer. Der Schrei ließ mich hochschrecken, ich stand auf und spähte in den Flur. Die Señora hielt sich den Bauch. Der Señor hatte sie an den Hüften gepackt und versuchte sie davon zu überzeugen, zur Autotür zu gehen. Ein Schritt, ein Schrei. Sie schrie, als gäbe es keine Grenze für die Schreie, die man in einem Leben ausstoßen kann, als ob nicht ein einziger Schrei eine Million Wörter ersetzen könnte.

Ein paar Tage später kehrten sie zurück. Ich hatte sie viel früher erwartet, aber bei der Geburt hatte es Probleme gegeben, und mir hatte niemand Bescheid gesagt. Wozu auch … was teilt man schon der Hausangestellten mit. Das Warten war seltsam. Sie waren nicht zu Hause, aber auch nicht ganz weg. Ich erinnere mich, wie ich stundenlang im Esszimmer saß, die Hände auf dem Tisch, den Blick starr auf den Bildschirm über dem Kühlschrank gerichtet: Jahrhundertdürre im ganzen Land, Straßensperren in der Araucanía, Waschmaschinen im Flash Sale. So vergingen meine Tage, zwischen Tragödien und Werbung. Vermutlich hätte ich die Gelegenheit nutzen können, mich im Schwimmbecken abzukühlen, den ganzen Nachmittag zu telefonieren, die Reste aus der Whiskyflasche zu trinken und den Schmuck der Señora anzuprobieren. Das haben Sie doch erwartet, oder? Dass ich nicht lache.

Eines Morgens hörte ich schließlich die Bremsen des Autos, die Schlüssel in der Tür. Ich war auf Geschrei gefasst, aber das kleine Wesen war nicht zu hören. Es hatte bei der Geburt nicht geweint, wussten Sie das? Der Señor würde, jedes Mal wenn das Mädchen einen Wutanfall hatte, über diese Stille scherzen. Jedes Mal wenn es ihm nicht gelang, die Ausbrüche seines kratzbürstigen Mädchens zu besänftigen, würden er und seine Frau sich daran erinnern, wie ihre Tochter die ersten Tage ihres Lebens in vollkommener Stille zugebracht hatte. Als ob es ihr an nichts gemangelt hätte. Als ob sie zufrieden auf die Welt gekommen wäre.

Die Señora trug das Bündel im Arm und im Gesicht ein steifes, gekünsteltes Lächeln, das einer Grimasse des Schreckens gleichkam. Ich merkte, dass die Anstrengung des Weges vom Auto zum Haus sie erschöpft hatte. Ihre Haut war verhärmt und gräulich, die Lippen rissig, und ein Schweißfilm bedeckte sie, der sie noch wochenlang begleiten sollte. Mach die Fenster auf, Estela, die Türen, alle Türen, schaff Durchzug, bitte. So sagte sie es, bitte, als ob es sich um einen Gefallen handelte, für den sie sich irgendwann bei mir revanchieren würde.

Sie tat ein paar kurze Schritte, blieb auf der Türschwelle stehen und stieß einen langen Seufzer aus. Ich glaube, es war das einzige Mal, dass ich Mitleid mit der Señora empfand. So sind wir Menschen, nicht wahr? Das pflegte meine Mama zu sagen, wenn sie den Streunern auf der Plaza von Ancud einen Teller Milch hinstellte. So sind wir, wiederholte sie, wenn sie einwilligte, auf ein paar fremde Katzen aufzupassen, oder irgendeinem Alten die Tüten vom Geschäft nach Hause trug. So sind wir, so sind wir. Aber es stimmt nicht. So sind wir Menschen nicht, unterstreichen Sie sich diesen Satz irgendwo.

Als ich es hochhob, überraschte mich das Gewicht des Mädchens, so unscheinbar und zerbrechlich, dass man in Tränen hätte ausbrechen können. Die großen Lider und das runde Gesicht sahen aus wie bei jedem neugeborenen Wesen. Der gleiche Geruch, die gleiche Verzweiflung, wenn sie die unscharfen Augen öffnen. Es erschien mir kleiner, als ich es mir vorgestellt hatte, aber was wusste ich schon. Sehr bald würde es wachsen und mit ihm seine Nägel, die ich Tausende Male würde schneiden müssen im Laufe seines robusten und trotzigen Lebens, wie das Leben eben zu sein hatte.

Als ich es im Arm hielt, sagte die Señora, dass sie sich ausruhen müsse und ich auf es aufpassen solle. Seinen Namen nannte sie nicht, wissen Sie? Sie sagte »es«, sonst nichts. Pass auf es auf, Estela. Leg es bitte schlafen. Vielleicht war sie deswegen für mich immer nur das Mädchen, aber eigentlich hieß sie Julia, auch wenn Sie das sicher schon wissen.

Ich nahm es mit in das Zimmer am Ende des Flurs. Sie hatten es mit Gänseblümchentapete, einer Holzwiege und einem sich unaufhörlich drehenden Mobile mit Zebras und Sonnen ausgestattet. Ich legte es auf den Wickeltisch aus Korb und begann, ihm die Kleider auszuziehen. Den Überwurf, eine Baumwolldecke, einen zu weiten Strampler. Bis es nur noch Windeln anhatte und ich den Rest seines Körpers betrachten konnte. In all seinen Nuancen, mit gelben Flecken und dem schwarzen Rest der Nabelschnur. Es zog die Arme an, als es die Kälte spürte, aber es weinte nicht. Es öffnete seinen zahnlosen Mund, doch außer Luft kam nichts heraus. Er würde sich schon mit Worten füllen: Gib mir, ich will, komm, nein.

Ich öffnete den Verschluss der Windel, und ein säuerlicher Geruch erfüllte das Zimmer. Ich dachte immer, Neugeborene hätten keinen Geruch, aber was wusste ich schon. Scheiße ist Scheiße, egal woher sie kommt, pflegte meine Mama zu sagen, während sie den Schweinestall oder die Sickergrube auf dem Feld saubermachte, und vermutlich hatte sie damit recht.

Ich tupfte das Mädchen mit ein paar Feuchttüchern ab, bis es tadellos sauber war. Ich zog ihm eine frische Windel an, einen kleineren Strampler, und am Ende steckte ich seine Hände in ein Paar winzige weiße Handschuhe. Ich hatte gehört, dass sich die Kinder nach der Geburt das Gesicht zerkratzen. Was für ein Reflex aber auch: auf die Welt kommen und sich das eigene Gesicht zerschrammen.

Ich nahm es auf den Arm, und erst da blinzelte es. Seine Augen waren grau, verloren, unfähig, die Umrisse der Dinge zu fixieren. In dem Moment dachte ich: So muss die Stille sein, wenn die Dinge ihre Kontur verlieren. Und ich wiegte es hin und her, um diese Stille loszuwerden, die mich überkam. Glücklicherweise schlief das kleine Wesen sofort ein. Oder vielleicht schloss es auch nur die Augen und blieb wach, ich weiß es nicht. Ich legte es sanft in die Wiege und sah zu, wie es sich darin räkelte. Nie zuvor hatte ich auf ein kleines Mädchen oder gar ein Neugeborenes aufgepasst. Ich hatte die Señora darauf hingewiesen, als sie mich einstellte, aber sie ging davon aus, dass ihre Angestellte schon wissen würde, wie man mit der Waschmaschine, dem Bügeleisen, mit Nadel und Faden umging. Und dass sie es, selbstverständlich, verstehen würde, sich um ihre Tochter zu kümmern. Um ihre Julia, die jetzt schlief und dabei einige spitze und traurige Töne von sich gab.

Ich habe keine Ahnung, wie viel Zeit seitdem vergangen ist. Wie viel Zeit sich angehäuft hat, während ich über den Schlaf dieses Mädchens wachte: zehn Minuten, sieben Jahre, der Rest meines Lebens. Ich verharrte wie gelähmt, über das Gitter der Wiege gebeugt, ohne meine Augen von dieser Brust abwenden zu können, die sich hob und senkte, unfähig, Zuneigung von Verzweiflung zu unterscheiden.

Eines Morgens, das war noch am Anfang, nahm ich eine Dusche, zog mir die Kittelschürze über und ging in die Küche, wo ich eine Nachricht an der Kühlschranktür bemerkte. Ich war überrascht, dass die Señora mir nicht Bescheid gesagt hatte, dass sie so früh mit der Kleinen aus dem Haus gehen würde. Ein Test, dachte ich. Sie wollte prüfen, ob die neue Angestellte bei der ersten Gelegenheit allein zu Hause am Telefon hängen würde, um mit ihren Tanten, ihren Cousinen, ihren unzähligen Nichten zu tratschen.

Ich vergewisserte mich, dass das Telefon ordentlich aufgelegt war, und nahm wieder den Zettel zur Hand:

Spülmittel

Windeln

Light-Joghurt

Vollkornbrot

Wörter und ein Geldschein, den ich tief in meine Tasche schob. Lesekundig, vertrauenswürdig, gepflegtes Auftreten.

Das Klingeln des Telefons ließ mich aufschrecken. Es war die Señora, wer sonst, zweifellos war sie es, aber ich wusste nicht, was ich tun sollte: abheben und ihr beweisen, dass die neue Angestellte aufmerksam war; oder nicht abheben, es bis zum Wahnsinn läuten lassen und der Señora am Ende der Leitung etwas noch viel Wertvolleres zu verstehen geben: dass niemand ans Telefon gehen würde und ihre Angestellte, effizient, wie sie war, sich schon auf dem Weg zum Supermarkt befand.

Ich hob nicht ab.

Draußen hatte die Hitze ihre Wut an den von der Sonne ausgezehrten Lorbeerbäumen ausgelassen. Ich ging aus dem Haus, wie ich war, in meiner Schürze und meinen Turnschuhen, und da sah ich auf der anderen Straßenseite eine Frau. Sie trug eine identische Schürze, mit den gleichen weißen und grauen Karos wie bei meiner, dem gleichen falschen Knopf, sie trug den gleichen Zopf und die gleichen Schuhe und führte ganz langsam eine alte Frau mit gefärbtem und frisiertem Haar am Arm, die Perlenohrringe und eine Handtasche über der Schulter trug. Ich korrigiere, nein … das ist nicht ganz richtig. Sie führte die alte Frau nicht am Arm. Sie schleifte sie mühsam hinter sich her, in Trippelschritten und mit von dem Gewicht gebeugtem Rücken. Die Frau sah mich, wir schauten uns an und hielten gleichzeitig inne. Ihr Gesicht war meines, dachte ich, und ein Schaudern überkam mich. Wenn ich meinen Arm wegzöge, wenn ich plötzlich davonliefe, dann würde die Alte an ihrer Seite mit dem Gesicht voran zu Boden stürzen.

Ich schritt in aller Eile in die entgegengesetzte Richtung davon. Ich wusste nicht, wo der Supermarkt war, aber die reine Vorstellung, gegenüber von dieser Frau gehen zu müssen, kam mir unerträglich vor. Ich kam an einigen privaten Wohnstraßen und umzäunten Villen vorbei. Es war schon Spätsommer, und obwohl einige Bäume bereits ihre ersten Blätter verloren, lag kein einziges davon auf dem Gehweg. Makellos war er, frisch gefegt. Der Asphalt ohne Verwerfungen, die baumgesäumte Straße, kein Bus, der vorbeifuhr. Wie die Kulisse eines Films, das war mein Gedanke, und ich beschleunigte meine Schritte.

Ich glaube, wegen dieser durchdringenden Stille merkte ich auch, dass mir jemand folgte. Ein Schatten, ein Knirschen; hinter mir musste diese Frau gehen, die ich in einigen Jahren sein würde. Die mir auf die Hacken trat mit meinen Turnschuhen und mir mit meiner Stimme ein Geheimnis zuflüsterte. Ich spürte mein Herz schneller schlagen, meine kalten und feuchten Hände. Ich war mir sicher, dass ich ohnmächtig werden würde. Ich würde mir den Kopf auf dem Asphalt aufschlagen. Im Krankenhaus würde ich wieder zu mir kommen. Die Señora würde mich rauswerfen, weil ich zu schwach, zu kränklich war. Ich würde auf die Insel zurückkehren und meiner Mutter recht geben müssen: Alles war ein Fehler gewesen, ich hätte nie nach Santiago gehen sollen. Da sagte ich zu mir: Estela, es reicht. Und abrupt machte ich kehrt.

Ein Haus neben dem anderen, ein Elektrozaun nach dem nächsten, keine Menschenseele auf der Straße. Es herrschte Dürre, das wissen Sie schon, aber der Rasen, die Vorgärten, die Beete strotzten vor Grün. Ein harmonisches Viertel, friedlich, eine Miniaturstadt. Ich blieb stehen, um durchzuatmen, trocknete mir die Hände an der Schürze ab und sah, dass es an der Ecke gegenüber eine Tankstelle und den ersehnten Supermarkt gab.

Ich überquerte die Straße und lief diagonal durch die Tankstelle, um den Weg abzukürzen. Ich weiß nicht, warum ich das tat. Wozu wollte ich den Weg abkürzen, Zeit gewinnen, eher da sein. Der junge Tankwart starrte mich an, viel länger als erlaubt. Es schien ihn nicht zu kümmern, ob ich mich dabei unwohl fühlte, oder vielleicht hatte er es genau darauf abgesehen. Natürlich muss man sich auch fragen, wer auf die Idee kommt, in Hausangestelltenuniform und mit so einer Panik im Gesicht aus dem Haus zu gehen. Aus den Augenwinkeln schaute ich zu ihm rüber. Er war jung, drahtig, hatte einen Farn auf den Arm tätowiert, und vor ihm lag ein großer brauner Hund. Er ließ mich nicht aus den Augen, bis ich den Supermarkt erreicht hatte. Als ob jene Frau, also ich, eine wahrhaftige Erscheinung wäre.

Die Sonderangebote lenkten mich ab, und ich zog den Einkaufszettel aus der Tasche:

Spülmittel

Windeln

Light-Joghurt

Vollkornbrot

Ich strich die Dinge durch, wie manche von Ihnen wahrscheinlich einige meiner Worte durchstreichen. Die, die Ihnen unangemessen oder unwahrscheinlich vorkommen; die, die Sie für falsch halten. Ich zahlte, steckte die Quittung ein, zählte das Rückgeld und trat zurück auf die Straße hinaus. Und jetzt passt auf, meine Freunde. Ja, ihr habt mich schon verstanden, mit euch rede ich, mit euch, die ihr auf ein Geständnis wartet. Was ist los mit euch? Ich meine, da einen Vorwurf hinter der Tür gehört zu haben. Stört es euch, wenn ich euch »Freunde« nenne? Zu übergriffig? Wie würdet ihr denn gerne von mir genannt werden? Eure Hoheit, Eure Durchlaucht, hochverehrte Damen und Herren?

Mehr als einmal habe ich mich gefragt, wer ihr eigentlich seid. Ob ich eure Gesichtsausdrücke erraten könnte, wenn ich ganz dicht an die Scheibe heranträte. Aber so dicht ich auch komme, so sehe ich doch nichts als mein eigenes Spiegelbild, und so betrachte ich meine Augen, meinen Mund, die ersten Falten auf meiner Stirn, und frage mich, ob die Müdigkeit nur ein vorübergehender Zustand ist und ob ich irgendwann in der Zukunft vielleicht wieder das Gesicht haben werde, das ich früher einmal hatte.

Aber jetzt ist mir die Geschichte wieder aus den Händen geglitten, habt Nachsicht mit mir. Als ich wieder vor dem Supermarkt stand und die Sonne mit voller Kraft auf meinen Körper knallte, geschah es zum ersten Mal. Ich hob den Kopf, schaute mich um und wusste nicht, wo ich war. Das ist keine Redensart. Ich spinne hier keine Geschichten. Meine Augen wanderten über den Asphalt, über die Blätter, die an den Quillayes zitterten, über den Namen, der auf dem Schild über der Tankstelle stand. Aber wie lange meine Augen auch durch diese Wirklichkeit streiften, die mich umgab, so wenig erschloss sich mir, wie ich in diese Straße, in dieses Viertel, in diese Stadt, zu dieser Arbeit gekommen war. Ich konnte die Erde nicht vom Asphalt unterscheiden, ein Fahrrad nicht von einem Tier, ein Bein nicht vom andern, jene Angestellte dort drüben nicht von mir selbst. Allein die Vorstellung von einem Tier, vom Asphalt über der Erde, von einer Angestellten, die in ihrer Uniform in der Sonne herumlief, war mir vollkommen fremd. Es war, als hätte ich mich verdoppelt … irgendwie war ich dort gelandet und konnte nicht mehr fort.

Geblendet vom Licht, vor Angst gelähmt, verharrte ich, während ich verzweifelt nach etwas Ausschau hielt, das mich in meinen Körper zurückbrächte. Ich schlug mir mehrmals ins Gesicht und rieb mir mit den Fäusten die Augen. Dann sah ich wieder diesen Hund: braun, struppig, wilder Blick. Der Hund, der tätowierte Farn auf dem Arm des Jungen, die makellose Straße, jene Frau, die ich eines Tages beim Spaziergang mit ihrer gealterten Chefin sein würde. Der Weg zum Haus fiel mir wieder ein, und ich lief los.

Kaum hatte ich die Tür geöffnet, hörte ich das Telefon.

Señora, sagte ich, ohne abzuwarten, dass sie etwas sagte.