Mein Schlüssel zum Frieden - Marianne Oswald - E-Book

Mein Schlüssel zum Frieden E-Book

Marianne Oswald

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Beschreibung

Muss Frieden ein Märchen bleiben? – Diese Frage bewegt Marianne Ch. Oswald bereits ihr ganzes Leben. Sie wurde ihr sozusagen in die Wiege gelegt. 1940 als Kriegskind im schlesischen Breslau geboren, erlebte sie als kleines Mädchen die Schrecken des Zweiten Weltkriegs, Flucht und Vertreibung und den Verlust der heimatlichen Wurzeln. Die Suche nach Frieden wurde zu ihrem Lebensthema. Es war eine Frage der Zeit, bis das Erforschen von Zusammenhängen in die in allen Weltreligionen bekannte und ebenso einfache wie universelle Regel für ein friedliches Miteinander mündete: die Goldene Regel – „Was du nicht willst, das man dir tuʼ, das füg auch keinem andern zu“, so lautet die Quintessenz dieser Welt-Moralformel – dem Zauberschlüssel, der den Menschen den Weg zum Frieden öffnen kann. Von seiner Wirkungsmacht erzählt ihr Märchen „Mein Schlüssel zum Frieden“. … Es war einmal … damals als jedermann ein Schlüsselchen um den Hals trug, das mit seinem Zauber die Herzen der Menschen öffnete. Und als Erster legte der Oberste Hirte den Friedensschlüssel an und trug ihn fortan neben seinem Petrus-Schlüssel … Im äußeren Gewand eines Märchens präsentiert die Autorin ihre Gedanken zu Frieden und Humanität und lässt dabei bedeutende Denker von der Antike bis zur Gegenwart zu Wort kommen. Entstanden ist ein sehr persönliches Buch über eine Utopie, von der Georg Picht sagt: „Es gibt in der technischen Welt, in der wir leben, im Grunde nur eine einzige Utopie, die alle anderen Utopien in sich enthält, nämlich die Utopie des Weltfriedens.“ Lesenswert! Bedenkenswert! Eine Inspiration für den Leser!

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Das Geheimnis eines erfüllten Lebens

liegt darin, alte Weisheiten mit

neuen Erkenntnissen zu verbinden.

(Die Autorin)

»Es gibt eine gute Beunruhigung, einen heilsamen inneren Aufruhr.«

(François Mauriac)

Gewidmet meiner Tochter

Die »Goldene Regel«

(in verschiedenen Versionen)

»Was du nicht willst, das man dir tu’,

das füg auch keinem andern zu.«

Oder:

»Worüber ihr zürnt, wenn ihr es von andern

erleidet, das tut den andern nicht.«

Oder:

»Alles, was ihr von andern erwartet,

das tut auch ihnen.«

Oder:

»Was dir selbst verhasst ist,

das mute auch einem anderen nicht zu.«

Inhalt

Die alte Welt der Un-Menschlichkeit

Der Schock der Geburt

Der Sprachfehler

Die neue Bibel

Die Weltuntergangsstimmung

Das Schicksal

Die Umbruch-Stimmung

Die Zeichen der Zeit

Der Papst-Rücktritt

Die Politikerrede

Die »Goldene Regel«

Der geheime Code

Die Wunderkräfte

Wo war Gott?

Der Wandel

Der neue Zeitgeist

Der Homo-Mensura-Satz

Das neue Leben

Der böse Wolf

Die Erkenntnistheorie

Der neuartige »Heilige Krieg«

Der »Krieg der Frösche«

Die Heiligsprechung

Die Theaterbühne

Die neue Welt der Menschlichkeit

Die Paradoxa

Der kategorische Imperativ

Der Pleitegeier

Die Heilung der Gier

Der Phönix aus der Asche

»Wer betrügt, fliegt«

Die Wahrsagerin

Der Rettungsschirm

Die neue Wunder-Welt

Die versteckten Gesetze

Der Zauberschlüssel

Das neue Vitamin

Der neue Papst

Die Reformen

Die verzauberte Welt

Der globalisierte Frieden

Der Baum der Erkenntnis

Die Friedenskonferenzen

Der Einlass ins Paradies

Das neue Leben

Das Schicksal der Frösche

Der Weisheit letzter Schluss

Das Stoßgebet

Die Friedenshelden

Mein Schlüssel zum Frieden

Die Apokalypse der Un-Menschen Krieg der Frösche

Ein wahres Märchen

geschrieben vom Lebenerdacht von einem Mädchen

aufgewacht aus dem Dornröschenschlaf

I Die alte Welt der Un-Menschlichkeit

Der Schock der Geburt

Es war einmal ein kleines Mädchen. Es lebte vor langer, langer Zeit, in einer Zeit, als es noch Prinzessinnen gab. Das war damals, an der Wende vom 2. zum 3. Jahrtausend nach Christus, als gar wundersame Dinge geschahen.

Als das kleine Mädchen »das Licht der Welt« erblickte, das war Anfang des Jahres 1940, herrschte Krieg, ein Krieg, der sich zum Zweiten Weltkrieg entfachen und die Welt und ihre Völker in eine bisher nie da gewesene Apokalypse der Zerstörung und des Blutvergießens stürzen sollte. Atombomben, Konzentrationslager und Vertreibung töteten Millionen von Menschen oder vernichteten ihre Existenzen.

»Warum nur? Warum gab es keinen Frieden auf der Welt?«, fragte das Mädchen, als es der Welt ansichtig wurde. Diese Frage ließ es fortan nicht mehr los und bewegte sein Denken. »Könnte es sein, dass nur eine Regel, eine ganz einfache, jahrhundertealte Regel, eine Regel mit dem wunderschönen Namen ›Goldene Regel‹, in Vergessenheit geraten war?«, resümierte es schließlich am Ende seines Lebens, als sein Lebens-Licht langsam, aber sicher zu erlöschen drohte.

War es möglich, überlegte es, dass es der Spezies Mensch an einer der wichtigsten, ausschließlich ihr eigenen Befähigung, dem Verstand, mangelte? Jeder Mensch klagte in jener Zeit über sein mangelhaftes Gedächtnis, aber niemand über seinen mangelhaften Verstand. Dieses Phänomen war auch schon einem Diplomaten am Hofe Ludwigs XIV., dem Herzog François La Rochefoucauld (1613 – 1680), aufgefallen. Der »Verstand« wird allgemein definiert als die Fähigkeit, sinnliche oder gedankliche Inhalte im Denken aufzunehmen, zu entwickeln oder zu beurteilen. Und der Philosoph Immanuel Kant (1724 – 1804) betrachtet ihn als das Vermögen zu urteilen und auch als das Vermögen zu begrifflicher Erkenntnis im Unterschied zur Anschauung.

Oder konnte es sein, dass es am »Gewissen«, beziehungsweise dem »schlechten« Gewissen, lag, das den Menschen abhandengekommen war? Das Wissen über Wert und Unwert von bestimmten Handlungen war mehr als ausreichend vorhanden, während die Gewissheit der Verwerflichkeit einer Handlung kein »schlechtes« Gewissen mehr zu verursachen schien.

Oder war es gar denkbar, dass die Ursache eine ausschließlich der Spezies Mensch vorbehaltene ureigene Sucht, die Selbstsucht, war, das heißt der Egoismus des Menschen (»ich«: latein. »ego«)? Oder lag es überhaupt und vor allem nur an dem fehlenden Vermögen, den richtigen Maßstab, das richtige Maß für seine Selbstsucht, nämlich das ausschließlich am eigenen Nutzen und dem eigenen Wohl orientierte Handeln zu finden?

Oder aber – ganz einfach gefragt: Fehlte dem Menschen an sich das Vermögen, ein Maß für moralisch ausgerichtetes Handeln, den Antrieb allen Tuns, zu finden? Welches ist der richtige, der einzig wahre Maßstab? Verbirgt er sich womöglich in einer Regel, einer einfachen, eindeutigen, unmissverständlichen Regel, in einer uralten Lebens-Regel? »Demnach«, überlegte das Mädchen, »handelt es sich wohl nicht um den Glauben, den Glauben im Sinne des Für-wahr-Haltens religiöser Lehren, sondern um das Erkennen der Bedeutung einer elementaren Maxime, nämlich der wichtigsten Richtschnur für das menschliche Leben und vor allem das friedliche Zusammen-Leben.«

Oder war alles ganz simpel? War es nur eine Frage der Beschaffenheit des »Gehirns«? Bestand ein Mangel von sogenannten »E«-Gehirnen, von Empathie-Gehirnen, bei Menschen in Machtpositionen? »E« steht für Empathie und bedeutet Einfühlung und schließlich das Vermögen, sich in andere Menschen hineinzudenken und mit ihnen mitzufühlen. Wissenschaftliche Erkenntnisse in der Gehirnforschung hatten gezeigt, dass nur das weibliche Geschlecht mit einem E-Gehirn ausgestattet ist, während das männliche Geschlecht der »Spezies Mensch« über ein sogenanntes »S«-Gehirn, ein System-Gehirn, verfügt.

Oder vielleicht träumte das Mädchen ja nur wieder einen dieser Albträume vom Zweiten Weltkrieg, die es noch 70 Jahre nach Kriegsende regelmäßig heimsuchten, wenn es Bilder von Flüchtlingsdramen auf dem Bildschirm verfolgen musste? Bestimmt, so hoffte das Mädchen, waren es Berichterstattungen von schrecklichen Ereignissen auf einem anderen, weit entfernten Planeten der Galaxis und nicht auf unserem Erdplaneten! Denn: Es konnte und durfte nicht sein, dass es den Menschen des 21. Jahrhunderts nach zwei Weltkriegen im 20. Jahrhundert noch immer an einer ihrer wichtigsten spezifischen Befähigungen, der Befähigung zur Vernunft, gebrach! Hatten die Menschen denn nichts, rein gar nichts aus ihrer Vergangenheit gelernt? Hatten sie immer noch nicht gelernt, miteinander zu leben, statt gegeneinander zu agieren? Hatten die Menschen Anfang des 21. Jahrhunderts denn immer noch nicht begriffen, dass Kriege immer nur neue Kriege gebären und Gewalt immer nur neue Gewalt hervorbringt? Hatten diese Menschen (oder waren es etwa gar Un-Menschen?) denn immer noch nicht verstanden, wie Frieden »geht«? Wer oder was war schuld am Un-Frieden? Und: Wer trug die Verantwortung dafür?

Für alle diese Fragen fand das Mädchen schließlich auf seiner lebenslangen Suche nach Wahrheiten doch noch eine Antwort. Die Lösung all dieser Probleme war eine ganz erstaunlich einfache, wenn auch eine an Wunder grenzende Erkenntnis. Doch im Grunde war es gar keine neue Erkenntnis und auch kein Wunder. Tatsächlich war es nur eine seit Jahrhunderten bekannte, ganz ursprüngliche und in allen Weltreligionen mehr oder weniger geläufige, doch verdrängte, vor allem aber übergeordnete Verhaltens-Regel des friedlichen Zusammenlebens, die in Vergessenheit geraten war!

»Eine Renaissance dieser Regel (oder war es etwa sogar eine Goldene Regel?)«, so überlegte das Mädchen, »müsste doch eigentlich eine Umbewertung der bislang geltenden Werte wie auch die Überwindbarkeit trennender Gesinnungen in der (sittlichen) Lebensführung, ja sogar eine Mutation der ›Un-Menschen‹ zu (Gut-)›Menschen‹ zur Folge haben!« Des großen Rätsels Lösung muss also demnach in der Solidaritätsphilosophie, in einem Solidaritätsprinzip liegen, das sich in sittlich verpflichtender gegenseitiger Verantwortung begründet und zugleich das Baugesetz der menschlichen Gesellschaft schlechthin wie auch der politischen Ethik bildet. Nur ein Verstoß gegen dieses Baugesetz kann die Völker der Welt und ihre gemeinsame Heimstatt, den Planeten Erde, ins Wanken bringen und das Fundament (des Friedens) zum Einsturz. Allerdings gibt es deswegen nicht eine moralische Verpflichtung – wie fälschlicherweise von Staatsoberhäuptern begründet –, sich an kriegerischen Auseinandersetzungen einzelner Nationen militärisch zu beteiligen, und schon gar nicht einen Zusammenschluss von Staaten wie die Europäische Union als Friedensnobelpreisträgerin auszuzeichnen.

Damals allerdings, Anfang des Jahres 1940 n. Chr., als das Mädchen seine winzigen Äuglein öffnete, ahnte es nichts von all den weltbewegenden Phänomenen. Es sah nur in der Ferne eine Ekel erregende Kreatur, ähnlich einer Krötenechse in Gestalt eines Ameisenfressers und völlig bedeckt mit Stacheln. Oder war es eine riesige Blombergkröte mit großen Drüsenpaketen, aus denen sie bei Reizung ein giftiges Sekret abgibt? War das Mädchen etwa selbst als Frosch auf die Welt gekommen? »Wenn dem so sein sollte«, dachte das kleine Geschöpf, »werden die Menschen dennoch meiner Faszination nicht widerstehen können, und schützenswert wäre ich überdies, weil ich unter Artenschutz stehe.« Am schönsten von all den Lebewesen, die es weit und breit gab, fand es den Korallenfingerfrosch und den Laubfrosch. Nur: Darüber war sich das Mädchen schon im Klaren, als es das sogenannte »Licht der Welt« erblickte: Als Unke, die alles »schwarzsieht« und Unken-Weisheiten verkündet, wollte es einmal nicht enden! Weisheiten allerdings, die wollte es schon einmal verkünden, wenn es einmal groß und betagt und vielleicht sogar weise sein würde. Und – so viel stand fest: Es sollten Lebens-Weisheiten sein, die eine ver-rückte Welt ins richtige Licht und wieder geraderücken sollten.

Jedenfalls: So schrecklich wie das stachlige Ungeheuer, das das Neugeborene eben erblickt hatte, wollte es keinesfalls aussehen. »Das ist auch ganz bestimmt kein verzauberter Märchenprinz! Und ganz gewiss kein potentieller Ehekandidat für mich!«, war sich das kleine Geschöpf sicher: »Im Grunde genommen ist es mir ziemlich egal, in welcher Hülle ich leben werde; nur nicht als ein sogenanntes Nutz-Tier, das von der Spezies Mensch gequält und misshandelt wird.« Und vor allem – und das war diesem Lebewesen am allerwichtigsten – nicht ohne ein voll entwickeltes Gehirn mit der Fähigkeit zum Denken.

Während das kleine Geschöpf so vor sich hin grübelte, fiel ihm sofort auf, es konnte ja denken. War es also doch als ein neues Menschlein, vielleicht sogar als eine kleine Prinzessin, auf die Welt gekommen? Vielleicht hatte ihm in diesem Fall die Vorsehung ja auch einen als Frosch verzauberten Prinzgemahl zugedacht! Einen Brunnen in seiner unmittelbaren Umgebung hatte es jedenfalls schon erspäht, den hatte sein Großvater – Brunnenbauer von Beruf – für sein Enkeltöchterchen gebaut. Und eine goldene Kugel zum Spielen – wie im Märchen »Der Froschkönig« – würde ihm bestimmt sein Großonkel schenken; schließlich nannte er ein wunderschönes barockes Märchenschloss im Geburtsort des Mädchens sein eigen.

Immer auf Sicherheit in seinem Leben bedacht und wahrheitsliebend obendrein, musste sich das kleine Geschöpf – wenn auch alles so weit geklärt war – doch noch von seiner wahren Existenz überzeugen: Zum Glück hing ganz zufällig ein Spiegel über seinem Bettchen und so konnte es erkennen: »Ich bin ein Lebewesen der Spezies ›Mensch‹ und gehöre dem weiblichen Geschlecht an.« Erleichtert sank es in sein Wickelkissen zurück und atmete auf. Doch sogleich stockte ihm der Atem. Aus der Ferne hörte das Mädchen ein lautes Quaken, das eigentlich mehr dem Gebrüll eines Ungeheuers glich; es waren unverständliche, Furcht erregende Laute, die die kleinen empfindlichen Ohren des Mädchens zutiefst verletzten. Es hielt sich die Öhrchen zu und blickte in die Richtung, aus der das sonderbare Gequake kam. Und tatsächlich: In der Ferne, oben auf der Wolfsschanze, gestikulierte ein schreckliches Ungeheuer mit Ekel erregender Fratze. Und um dieses Ungeheuer herum scharten sich ebenso abscheulich aussehende Un-Menschen, die immer wieder »Heil Hitler!« riefen. »Sollte ausgerechnet diese Kreatur ›Heil‹ über die Menschen bringen?«, fragte sich das Mädchen verwundert.

Als das kleine Mädchen dann wieder seine Händchen von den Ohren nahm, hörte es Schüsse. Waren das etwa Böllerschüsse, die seine Geburt verkündeten? Nein! Es waren todbringende Schüsse aus Gewehren, gegen die Nachbarn Polen gerichtet, mit einem Anführer namens Hitler. Später, als das Mädchen Lesen und Schreiben gelernt hatte und es nach der Herkunft von Namen forschte, kam es auf eine interessante Spur. Es zerlegte diesen Familiennamen in zwei Silben: »Hit« und »ler«, und es konnte feststellen, dass der Name des Ungeheuers Programm war: »hit« bedeutet umgangssprachlich im Englischen »Mord« und »ler« als Endsilbe eines Namens bzw. eines Berufes verwendet, wie beispielsweise in den Verbindungen Kett-ler oder Wissenschaft-ler oder Tisch-ler, kennzeichnet jemanden, der sein Geschäft und vor allem sein Handwerk gut versteht.

Jetzt endlich, als es den ersten Schock seines Lebens überwunden hatte, blickte das kleine Mädchen in die entgegengesetzte Richtung aus seinem Kinderbettchen. Ein Lächeln, sein erstes, bezauberndes und alle Herzen gewinnendes Lächeln, glitt über sein Gesichtchen. Voller Freude konnte es in glückliche, friedliche Gesichter und die strahlenden Augen seiner Eltern, seiner Großeltern und Tanten blicken. Und das Wichtigste: Sie sahen alle genauso aus, wie sich das Mädchen schon im Mutterleib seine Spezies, die Spezies »Mensch«, vorgestellt hatte.

Doch: Welche Geheimnisse sich um seine Spezies woben und welche Wahrheiten über seine Art es zu ertragen galt, konnte das unschuldige, arglose kleine Geschöpf zu jenem Zeitpunkt nicht ahnen. Zwar erkannte es sofort, dass der richtige Blickwinkel die Sicht der Dinge entscheidend zu beeinflussen schien. Doch welch große Veränderung der Wahrnehmung gerade durch das menschliche Sehorgan, das Auge, bewirkt werden konnte, lehrte es erst das Leben. Und auch, dass es sogar Menschen gab, die »Augen haben und nicht sehen« (ohne medizinisch erkennbare Ursachen), also blind sind, oder gar dass »Liebe blind macht« (so heißt es schon bei Platon, dem griechischen Philosophen, 427 – 347 v. Chr.: »Denn der Liebende wird blind in Bezug auf den Gegenstand seiner Liebe«). Und viel später erst begriff es, dass erst das Licht selbst sehend macht und der Lichtschein jedem Lebewesen eine andere »Schein«-Welt, mit oder ohne Farben und voll von Trugbildern, wie beispielsweise den Polarlichtern, vorgaukelt. Das ist es, was es nicht gerade einfach macht, Lüge von Wahrheit zu unterscheiden und »Menschen« (nicht Un-Menschen!) zu erkennen. Diogenes (um 350 v. Chr.), der berühmteste kynische Philosoph, zündete sich am Tage eine Laterne an, ging umher und sagte: »Ich suche einen Menschen.« Von ihm ist auch überliefert, er habe auf die Aufforderung Alexanders des Großen, sich etwas zu wünschen, geantwortet: »Geh mir aus der Sonne!« Alexander soll geantwortet haben: »Wenn ich nicht Alexander wäre, möchte ich Diogenes sein.« Das menschliche Auge ist das mythenhafteste Organ. Davon zeugt auch der Mythos der Medusa: Ursprünglich in der griechischen Sage eine betörende Schönheit, wurde Medusa, von Pallas Athene als Nebenbuhlerin entlarvt, in ein geflügeltes Ungeheuer mit Schlangenhaaren und glühenden Augen verwandelt; ihr Blick konnte Menschen zu Stein erstarren lassen. »Augen sind das Fenster zur Seele« heißt es auch. »Ein Trugschluss«, dachte das Mädchen, »weil Seelen nichts Sichtbares sind.« »Augen lügen nicht«, so sagt man. Mag sein, doch in die Augen sehen und Lüge oder Wahrheit darin zu erkennen, ist das Problem, wo doch schon »sich selbst zu erkennen« problematisch zu sein scheint. Hilfreich ist auf jeden Fall der Rat des Dichters Johann Wolfgang von Goethe (1749  –  1832), den sich das Mädchen – zwar spät, aber noch rechtzeitig – zu eigen machen konnte: »Durch Betrachten niemals, wohl aber durch Handeln. Versuche, deine Pflicht zu tun, und du weißt gleich, was an dir ist.« Und nicht weniger Bedeutung kommt dem Spruch des Lyrikers Friedrich Rückert (1788  –  1866) zu: »Dein Auge kann die Welt trüb oder hell dir machen; wie du sie ansiehst, wird sie weinen oder lachen.«

Der Sprachfehler

Alsbald lernte das kleine Mädchen zu sprechen. Doch zur großen Verwunderung seiner Eltern war das erste Wort, das es sprach, nicht »Mama« oder »Papa«, es war das Wort »Frieden«. Als es dann endlich die ersehnten beiden Worte sagte, sprach es dazwischen das Wort »Frieden« aus und jedes zweite seiner Worte lautete von nun an »Frieden«.

»Das Kind wird doch nicht einen Sprachfehler haben?«, mutmaßten seine Eltern entsetzt. Doch ihre Vermutung bestätigte sich, und es sollte noch schlimmer kommen: Als das kleine Mädchen das Schreiben lernte, schlich sich ein Schreibfehler ein, immer wieder rutschte seine Schreibhand zwischen die geschriebenen Zeilen und notierte das Wort Frieden. Und das sollte dann auch sein Leben lang so bleiben.

Die neue Bibel

Im Alter von 70 Jahren endlich verspürte das Mädchen den unwiderstehlichen Drang, über den Frieden, diesen heilsamen Zustand der Harmonie und Sicherheit, ein Buch zu schreiben. Es sollte sein »Buch der Bücher«, seine kleine Bibel, und vor allem eine kleine Friedens-Fibel für alle friedfertigen und für alle un-friedfertigen Menschen und Un-Menschen und auch für alle gläubigen und un-gläubigen Menschen und Un-Menschen des inzwischen angebrochenen 3. Jahrtausends n. Chr. und aller folgenden Jahrtausende sein. Die Rufe der Menschen nach einer »zeitgemäßen« Bibel waren immer lauter und drängender geworden. Und es sollte eine »Bibel« von Frauenhand geschrieben, geprägt von der Denk- und Anschauungsweise eines weiblichen Wesens der Spezies Mensch, sein, und das darin verkündete »Wort« natürlich nur die irdische Offenbarung einer heiligen volkstümlichen uralten Lebens-Weisheit und die Beschreibung einer wahren Lebensgeschichte. Keinesfalls sollte die neue Bibel einen so langen Überlieferungsprozess durchlaufen wie die alte Bibel mit mündlichen und schriftlichen Übersetzungsfehlern von Patriarchen, Propheten und anderen Gottes-Männern. Und es sollte eine Bibel sein in einer einfachen, für jeden Erdenmenschen jeden Sprachraumes verständlichen Sprache ohne Übersetzungs- oder gar Auslegungsfehler und vor allem ohne Feindbilder (ursprünglich fanden Lesungen der Bibel in lateinischer Sprache statt, erst Martin Luther, 1459  –  1530, legte eine Übersetzung der Bibel in deutscher Sprache vor). Und es sollten andere als die in früheren Epen geschilderten Heroen im Mittelpunkt stehen – die sogenannten Friedenshelden im Ringen um das Leben.

Und: Es müsste ein humanistisches Pendant sein zu der im Januar des Jahres 2016 neu aufgelegten barbarischen »Schwarte« eines moralisch Schwachsinnigen mit dem Titel »Hitler, Mein Kampf«.

Lesen würde das an Jahren gereifte Mädchen dieses Druckerzeugnis jedenfalls nie! Das Mädchen würde es nicht ertragen, diese menschenverachtende Ideologie, die die Welt in Schutt und Asche gelegt hat, schwarz auf weiß gedruckt und in Buchdeckeln materialisiert, in Händen zu halten. Musste doch schon seine Mutter nach dem Zweiten Weltkrieg den hinterlassenen Schutt dieser Doktrin als sogenannte Trümmerfrau beseitigen. Und eine Frage quälte das Mädchen bis heute: Wo war eigentlich die Asche des Uronkels geblieben, der seinerzeit als politischer Gegner im Konzentrationslager Sachsenhausen inhaftiert wurde, dort zu Tode kam und verbrannt wurde? Die Spuren des Elends, in das dieser Un-Mensch die ganze Familie des Mädchens gestürzt hatte, waren tief eingebrannt in seine Seele und sein Gedächtnis und bestimmten fortan entscheidend sein Leben und Handeln.

So kam es, wie es kommen musste: Noch in späten Lebensjahren musste sich das Mädchen anlässlich der – wenn auch kommentierten – Neuausgabe des Machwerks mit dem Phänomen »Hitler und moralischer Schwachsinn« befassen. Durch die Erkenntnisse der Tiefenpsychologie war es auf eine geradezu unheimliche Entdeckung gestoßen: eine Entdeckung, die sein ganzes fast zu Ende geschriebenes Buch und überdies »seine Goldene Regel« in Frage stellen sollte! Als moralischer Schwachsinn wird das Fehlen des Gefühls für die Moralität einer Handlung bei sonst ungestörten Geistesgaben bezeichnet, wobei der Intellekt keine Rolle spielt. Diese Geisteskranken vergehen sich gegen Sitte oder Gesetz, ohne sich dessen überhaupt bewusst zu sein! Sie sind also »moralische Krüppel«, die ausschließlich von ihrem Trieb gesteuert werden. Ihre Identifizierung ist allerdings meist schwierig, weil sie Spezialisten der Tarnung sind.

»Mit dieser Sorte Mensch geht Frieden jedenfalls nicht«, überlegte das Mädchen.

Schon eher pflichtete es der Auffassung von Marcel Prévost (1862 – 1941), einem viel gelesenen Pariser Sittenschilderer, bei, der meinte, dass »die Bekanntschaft mit einem einzigen guten Buch ein Leben ändern« kann. Schließlich und endlich sollte die neue kleine Bibel ein kleiner Codex, ein Codex Aureus, sein, ein Reformwerk zur Vereinfachung des menschlichen Zusammenlebens (auch von Mann und Frau), so die Überlegung des Mädchens, und es sollte eine Entdeckungsreise sein in die Geheimnisse des Bewusstseins, des Selbstbewusstseins und des neu entdeckten Selbstbewusstseins des weiblichen Geschlechts der Spezies Mensch. Womöglich braucht die Welt ja ganz einfach nur »mehr Weiblichkeit«?, fragte sich das Mädchen und meinte damit natürlich nicht die Ausstattung mit weiblichen Hormonen, sondern die Verbreitung spezifisch weiblicher Charakter-Eigenschaften beziehungsweise deren höhere Wertschätzung an sich, wie Fürsorglichkeit, Großherzigkeit, Dienst- und Pflegebereitschaft, die sich illustrativ in den sogenannten typischen, doch wenig geschätzten Frauenberufen niederschlagen. Oder ist etwas ganz anderes vonnöten, erwog das Mädchen weiter: Vielleicht brauchten »Gott und die Welt« ja nur in dem »eingehauchten« Odem von Liebe einen sanften Hauch von Verantwortungs-Bewusstsein!

Zugriff zu den Geheimnissen von Maria Magdalena, einer aus Galiläa stammenden Frau und frühesten Anhängerin des Apokalyptikers Jesus, hatte das Mädchen leider Gottes nicht (die meisten gnostischen Schriften, die von ihrer Rolle und von ihrer Beziehung zu Jesus kündeten, waren ja schon im 4. Jahrhundert in Oberägypten verloren gegangen oder aber beiseite geschafft worden; auch sind ganze 20 Lebensjahre von Jesus ein Geheimnis geblieben). Auch sollte die neue Friedensfibel keine biblischen Strafen beschreiben, wie die 10 biblischen Plagen – ausgelöst im Übrigen durch das verheerende Seebeben 1500 Jahre v. Chr. in Santorin, dem eine ganz natürliche ökologische Kettenreaktion folgte (der unterseeische Vulkan unter der südlichsten griechischen Kykladeninsel brach zuletzt im Jahre 1956 aus). Die neue Bibel sollte nur über eine einzige kleine Plage, eine Frosch-Plage, berichten, heraufbeschworen durch in Frösche verwandelte Un-Menschen, die zwar auch auf eine »Bewegung« – gleichsam eine Meeres-Welle –, jedoch auf eine Friedens-Bewegung zurückgehen sollte, verursacht durch eine weltweite Welle des Überdrusses an den kriegerischen, blutigen und gewalttätigen Auseinandersetzungen in einer männlich orientierten und skrupellosen Welt, und auch beflügelt durch ein neues Selbstbewusstsein der unterdrückten Frauen, selbst in der arabischen Märchen-Männer-Welt. Eine mutige muslimische Frau hatte es in jener bewegten Zeit gar gewagt, den Islam öffentlich als eine ganz und gar nicht gewaltfreie Religion zu kritisieren.

Denn: »Frauen und Männer sind als Menschen einander gleichgestellt«, dachte sich das Mädchen, »und das weibliche Geschlecht ist weder für die Sünde auf der Welt noch für die ›Vertreibung aus dem Paradies‹ verantwortlich zu machen – wie es die von Männern und für Männer geschriebene Geschichte des Alten Testaments glauben machen will. Frauen stammen auch nicht aus einer Rippe Adams ab«, bekräftigte das Mädchen, »und sie verfügen über ein eigenes Gehirn, einen eigenen Willen und ein eigenes Gefühlsleben.« Frauen als Menschen zweiter Klasse zu werten und zu unterdrücken, so rekapitulierte es, ging auf die Pastoralbriefe (und nicht auf Jesus) zurück, worin Paulus erklärt: »Ich erlaube einer Frau nicht, dass sie lehrt oder über ihren Mann herrscht, sie soll sich still verhalten. Eine Frau soll sich in aller Unterordnung belehren lassen. Denn Adam wurde zuerst gebildet, danach Eva« (1. Timotheus 2: 11, 12, 13). Somit sollte sich also aus der Reihenfolge der Schöpfung ableiten, wie Gott Lehr- und Aufsichtsaufgaben verteilt haben wollte? Daran waren zumindest Zweifel angebracht.

Seine Zweifel am »Sündenfall« äußerte schon Karl Valentin, ein Münchner Komiker (1882 – 1948), humoristisch: »Dass das eine Sünde ist, wenn man in einen Apfel hineinbeißt, das kann ich nicht verstehen, und auf der anderen Seite heißt es immer, esst frisches Obst.«

Als das Mädchen also zu Beginn seines siebten Lebensjahrzehnts, es war im Jahre 2010 n. Chr., gewahrte, dass immer noch kein Frieden auf der Welt herrschte, obwohl schon seit zweitausend Jahren die Hüter der verschiedenen Glaubensbekenntnisse »Friede auf Erden« beschworen, wurde es sehr traurig. Dabei hatte doch Gott seinen eingeborenen Sohn dafür geopfert. Das Mädchen konnte sowieso nicht verstehen und es rief bei ihm Bestürzung hervor, dass ein Vater seinen Sohn ausliefern und ans Kreuz nageln lassen konnte wie einen gewöhnlichen Verbrecher zur damaligen Zeit. »Da hilft nur eines«, dachte das Mädchen, »sich nicht die Gedanken des Kirchenschriftstellers Tertullian (160 – 220 n. Chr.), maßgebend in der Trinitätslehre und Christologie (der Lehre über Jesus Christus und seine Person), zu eigen zu machen, sondern lieber der Vorstellung im christlichen Gnostizismus Glauben zu schenken, nämlich dass Christus da, wo er als Erlöser auftaucht, keinen Anteil an der Materie hat, sondern nur einen Scheinleib besitzt und deshalb nur scheinbar leidet (und stirbt).« Als Scheinleib oder auch Ätherleib bzw. Astralleib sehen viele Neu-Platoniker, Gnostiker und Anthroposophen einen dem körperlichen Leibe zugrunde liegenden, durch die Seele bzw. das Lebensprinzip erzeugten unsichtbaren Leib, der von dem sichtbaren Leibe trennbar ist und ihn überdauert. Deren anthropozentrische Weltanschauung, nach der der Mensch Mittelpunkt der Welt und die Welt selbst nur auf den Menschen zu beziehen ist, konnte das Mädchen allerdings nicht teilen.

Zwei Jahre zuvor war etwas Unerwartetes im Leben des Mädchens geschehen, etwas, das sein Leben in den Grundfesten erschüttern und verändern sollte. Es war kurz vor Weihnachten des Jahres 2008 n. Chr., als es die Diagnose Brustkrebs erhielt. Und die Nachricht fiel ja tatsächlich in eine Zeit, da für die nahe Zukunft wieder einmal der Weltuntergang prophezeit worden war. Schon für 1914, 1925 und 1975 n. Chr. hatten die Zeugen Jehovas das Jüngste Gericht angekündigt, dieses Mal beriefen sich die Weltuntergangstheoretiker auf den Kalender einer der frühen Hochkulturen der Menschheit, der Mayas. Der legendäre Kalender endete, so hieß es, nach dreizehn aufeinander folgenden Zyklen seit Beginn der Jahreszählung dieses Volkes nach 3114 Jahren, also im Jahre 2012 unserer Zeitrechnung. Präzise gesagt: am 21. Dezember 2012. Sollte dies wirklich das Ende allen Menschendaseins auf Erden sein? Viele Menschen schienen es zu glauben. Sie verloren sich in wilden Spekulationen und versetzten einander in Weltuntergangsstimmung. Dem Mädchen aber war klar, dass das Ende allen Menschendaseins nicht so schnell kommen würde. Es war sich allerdings auch sicher, dass das Ende allen Un-Menschendaseins sehr bald kommen und ein ganz neues, ein menschlicheres Zeitalter im Jahre 2013 anbrechen würde. Die Szenarien existenzieller Bedrohung sind zwar unberechenbar, aber dennoch ist eine solche Gefahr in naher Zukunft, das heißt in den kommenden 100 Jahren, eher unwahrscheinlich. Die größte Bedrohung der Menschen sind die Menschen selbst beziehungsweise die Un-Menschen unter ihnen. Die Erde wird wahrscheinlich erst in 5 Milliarden Jahren von der Sonne verschluckt. Nicht etwa Gammastrahlenblitze, wandernde schwarze Löcher, Asteroiden oder Kometen, Ausbrüche von Supervulkanen, wie die Zeitbombe, der Yellowstone, nicht die Verschiebung der Kontinentalplatten und nicht unbekannte Intelligenz stellen die größte Bedrohung dar, sondern es sind die Risiken ihres eigenen Handelns, mit denen sich die Menschen selbst vernichten: Bakterien und Viren, die sich durch den globalen Massentourismus blitzschnell über den Luftverkehr zu Pandemien ausbreiten, ohne dass Mediziner ausreichend schnell einen Impfstoff entwickeln können; es sind Mutationen der Vogelgrippe, die von Tieren auf Menschen übertragen werden, die Wildtiere als Haustiere halten, oder es ist ein Kollaps der Klimakatastrophe durch Kohlendioxyd- und Methangasanstieg in der Atmosphäre oder eine Kettenreaktion durch Nuklearbombentests, die die Menschheit in einen nuklearen Winter versetzt; oder es sind physikalische Experimente in diesem Jahrhundert, deren Ergebnis die Forscher nicht einzuschätzen vermögen, so wie bei der Erforschung der Entstehung des Universums im 27 Kilometer langen Genfer Ringtunnel, oder es sind Supercomputer und Roboter, ausgestattet mit »menschlicher« Intelligenz (bereits im Jahre 1997 erzwang ein Schachcomputer die Niederlage des Schachweltmeisters mit einem strategischen Superzug), also Maschinen, die sich gegen die Menschen wenden. Doch die größte und wahrscheinlichste Bedrohung der Menschheit ist die Nanotechnologie: Neben anderen Einsatzgebieten ermöglicht sie zum Beispiel die Entwicklung neuester Waffen in Form winziger Flugapparate, mit denen über weite Entfernungen Bakterien injiziert werden (sie existierten schon zu Beginn des 21. Jahrhunderts!). Aber unbestritten rangieren auf der Gefahrenscala zur Vernichtung der Menschen Unfälle durch menschliches Versagen oder gar vorsätzlichen Missbrauch in den mit großen Investitionen bedachten (!) Laboren für synthetische Biologie zur Züchtung von Superbakterien und Killerviren, die alles Leben vernichten, wenn sie in die Umwelt entweichen, an erster Stelle.

Allerdings: Die gefährlichste tickende Zeitbombe in jener Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, das war der Un-Mensch.

Die Weltuntergangsstimmung

In eine persönliche Weltuntergangsstimmung jedenfalls war zu jener Zeit das Mädchen mit seiner Krebsdiagnose geraten. Seine kleine private Welt drohte an dieser Diagnose zusammenzubrechen. Hatte es nicht schon genug Leid in seinem Leben erfahren müssen? Hatte es nicht schon hinreichend um seine Gesundheit kämpfen müssen, gepeinigt von Migräne in ihrer schwersten Form von Jugend an? Hatte es nicht schon – hineingeboren in den Krieg – sattsam kämpfen müssen, auch um seinen Seelenfrieden? Seine frühkindlichen Erlebnisse waren tief in seine Seele gegraben und hatten fortan sein Leben geprägt. Oder wollte das Mädchen gar eigenhändig Schicksal spielen und hatte sich seine Krebserkrankung sozusagen »selbst zugelegt«, um irgendwie und in absehbarer Zeit allen herrschenden Missständen auf diese Weise entrinnen zu können? Verhielt es sich wie damals, als das Mädchen gerade drei Jahre alt geworden war und sein geliebter Vater in den Krieg ziehen musste? Damals kletterte es auf den wunderschönen Kirschbaum im Garten seiner Großeltern, so hoch hinauf, wie es nur konnte. Die Kirschen hatten gerade die richtige Reife und einen köstlichen Geschmack, den das Mädchen zeitlebens nicht vergessen konnte, und es verschlang die Kirschen mitsamt den Kernen. Sein Großvater stand die Hände ringend unter dem Baum und verging fast vor Angst, sein »kleiner Räuber« – so nannte er liebevoll seine lebhafte Enkeltochter – könnte herunterstürzen. Doch die größte Gefahr lag woanders: Die verschluckten Kirschkerne waren in den Blinddarm gelangt und verursachten eine Blinddarmentzündung und -vereiterung bis zum lebensbedrohlichen Darmdurchbruch. Die Ärzte im Krankenhaus machten seiner Mutter keine Hoffnung und meinten: »Das Kind wird nicht überleben.« »Das würde seinem Vater das Herz brechen, wo er sich doch so sehr ein Kind gewünscht hatte«, weinte seine Mutter.

Doch – wie durch ein Wunder – überlebte das kleine Mädchen, es wollte wohl seinem Vater nicht »das Herz brechen«. Und so geschah das Wunderbare dann 67 Jahre später noch einmal: Das Mädchen überlebte seine Krebserkrankung. Doch: Wofür hatte dieses Mal die Lebenskraft über die Todesnot gesiegt? Wofür war ein geschenktes zweites Leben gut? Die Zeiten hatten sich nicht gebessert, auch die Menschen nicht. Im Gegenteil: Es herrschten in Politik, in Kirche und Gesellschaft Unfrieden, Unmoral, Intoleranz, Korruption, Egoismus, Streit, Würdelosigkeit, Respektlosigkeit, Geld- und Machtgier und Verantwortungslosigkeit gegenüber Mensch und Natur. Immer noch tobten Kriege und eine Gewissenlosigkeit nie gekannten Ausmaßes hatte um sich gegriffen. Die Menschheit hatte den höchsten Wissens-Stand ihrer Geschichte erreicht, bis beinahe hin zur Entschlüsselung der Entstehung der Welt, und gleichzeitig hielt sie die Instrumente zu deren Vernichtung in Händen. Doch was dabei verkümmert war, war das Ge-Wissen. Das Gewissen ist es, das den Menschen erst zu seiner überragenden Stellung unter den anderen Lebewesen berechtigt und zur Spezies Mensch, der sogenannten »Krone der Schöpfung«, macht. Alle guten Eigenschaften, die einen Menschen auszeichnen, waren den Gesellschaften verloren gegangen, so stellte das Mädchen voller Kummer fest. Und damit nicht genug: Es mangelte den Erdbewohnern an Herzens-Bildung, während sie sich immer mehr der Fort-Bildung widmeten. Damit wollte sich das Mädchen nicht abfinden.

Es begann, nach den Ursachen dieser Entwicklung zu forschen. Eine der Ursachen, dachte das Mädchen, liegt doch ganz klar auf der Hand: Es gab keine guten Vorbilder mehr! Das war ganz besonders schlimm für die Jugendlichen jener Zeit. Woran sollten sich die Kinder und Jugendlichen dieser aus den Fugen geratenen Welt denn orientieren? Ihre Perspektiven waren verloren gegangen, und damit ihre Motivation. Die Perspektivlosigkeit provozierte Aggressionen und die Frustration führte zu zunehmender Gewalt. Die täglichen Nachrichten der damaligen Zeit waren voll von Berichten über erschreckende Ereignisse in aller Welt und erschütterten die Welt der Menschen bis hinein ins Private. Die Politiker taten, was sie wollten, ohne Rücksicht auf den Willen ihrer Völker, und schon gar nicht war die Richtschnur ihres Handelns das Wohl der Menschen, auch wenn eine damals regierende Kanzlerin eines der mächtigen und reichen Staaten der Erde gebetsmühlenartig in ihren streitbaren Reden immer wieder zu betonen pflegte, ihre Regierung tue etwas »für die Menschen«. Doch die Frage war: Für welche Menschen? Ausschlaggebend waren allein die wirtschaftlichen Interessen und die Profitgier der Wirtschaftsmächtigen, denen sich die Politiker unterordneten und denen sie dienten. Wozu also war es unter diesen Umständen noch nötig, Vertreter des Volkes zu wählen und sie ihres hohen und verantwortungsvollen Amtes walten zu lassen, wenn sie – und das wohlgemerkt in einer Demokratie – den Willen des Volkes nicht vertraten und nur als »Hampelmänner« einer übermächtigen Wirtschafts- und Finanzindustrie fungierten und lediglich die Rolle der Beschwichtiger einnahmen? Für das Mädchen unterlag es keinem Zweifel: Daran würden mutmaßlich auch nicht das Hinzukommen neuer Parteien und die Durchsetzung einer (allerdings dringend nötigen!) höheren Frauenquote etwas ändern. »Von Bedeutung allein« – so spann das Mädchen seine Überlegungen fort – »ist das ethisch-moralische Verantwortungsbewusstsein und vorausschauende Handeln eines Menschen, gleich welchen Geschlechts.« Doch: Gerade das gab es in jener amoralischen Zeit nicht. Auch müssen in einer echten und ihrem ursprünglichen Gedanken verpflichteten Demokratie die Bürger bei der Entscheidung über Sinn oder Unsinn der Durchführung von (Groß-)Projekten von Anfang an und vor deren Beschließung durch Gesetz an der Debatte beteiligt werden. Dann wären auch Demonstrationen und ebenfalls kostspielige Volksbegehren, die noch dazu selten zum gewünschten Erfolg führen, überflüssig, wie beispielsweise die Demonstration gegen eine Verlängerung der Laufzeit von Atomkraftwerken unter Einsatz von Tausenden Polizisten. Die Politikverdrossenheit, so befürchtete das Mädchen, würde wahrscheinlich darin enden, dass über kurz oder lang niemand mehr den Weg zur Wahlurne gehen wollte.

Zu jener Zeit hatte auch ein Politiker Aufsehen erregt, der sich als Protagonist einer »Spaß-Gesellschaft« verstand und mit seinem »Spaß-Mobil« auf Stimmenfang unter die Menschen ging und durch die Gegend reiste. Er trat auch in Trash-Sendungen des Fernsehens auf und biederte sich als Berufsjugendlicher bei jungen Leuten an, um seine Popularität zu erhöhen. Und: Genau! Exakt dieser Politiker trat in der darauf folgenden Wahlperiode – es war im Jahre 2009 n. Chr. – das Amt als Vizekanzler und Außenminister des reichen und mächtigen Landes an und übernahm Regierungsverantwortung. Er war an der Spitze seiner »Spaß-Gesellschaft« angekommen. »Brot und Spiele« – das Prinzip der Massenunterhaltung – hatte diese Strategie des Wählerfangs nicht schon in der Antike Früchte getragen? Das Mädchen sah durchaus Parallelen zu jener Zeit. Damals allerdings mussten in der Arena Gladiatoren, meist Kriegsgefangene, Verbrecher oder Sklaven, um ihr Leben kämpfen – zum Spaß der Gesellschaft. Mit »Brot und Spiel« wurde die damalige Gesellschaft zur Stimmabgabe geködert. Konnte das denn auch den Geschmack der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts treffen?

Doch nicht zu vergessen: Einen Politiker gab es in jener Zeit, der den Menschen Hoffnung machte, Hoffnung auf Frieden. Er brachte ein Gesetz auf den Weg, das die Wehrpflicht aussetzen sollte. Das war im Jahr 2010 n. Chr. »Welch ein wunderbarer Ansatz zum Frieden auf der Welt!«, dachte das Mädchen. »Wenn es keine Soldaten mehr gäbe, gäbe es auch keine Kriege mehr!«, jubelte es. War es doch selbst in einen Krieg, den Zweiten Weltkrieg, hineingeboren worden und hatte alle Schrecken eines Krieges von Kindheit an erfahren und erleiden müssen. Dieser Krieg hatte ihm tiefe Wunden zugefügt, und kaum war deren Heilungsprozess ein wenig vorangeschritten, rissen sie jedes Mal erneut wieder auf bei einem neuen Kriegsgeschehen und jeder gewalttätigen Handlung in jener Welt. »Warum nur kann nie Frieden sein auf dieser Welt?«, stellte sich das Mädchen wie schon so oft seine Lebensfrage. Wo lag die Ursache für die heillose Zerrüttung? Und da es schon einmal eine ebenso herzerfrischende wie wahre Antwort auf eine seiner Fragen in den Sentenzen des Münchner Komikers Karl Valentin gefunden hatte, nahm das Mädchen erneut eine Sammlung von dessen Zitaten zur Hand (»Mein komisches Wörterbuch«, erschienen 2006):

»Kriegsursachen:

Aber Vata, wenn das so ist, wie du mir das alles erklärst, gibt es niemals einen ewigen Frieden auf der Welt.Niemals – deshalb heißt es ja doch: Solange es Menschen gibt, gibt es Kriege.Menschen? Nein, Vata – in dem Fall müsste es heißen: Solange es Arbeiter gibt, gibt es Kriege.Nein, es muss heißen, solange es solche Schwindler gibt, die die Arbeiter immer wieder anschwindeln, solange gibt es Kriege.Dann ist ja der Schwindel schuld an den Kriegen.Ja, so ist es – und diesen Schwindel heißt man internationalen Kapitalismus.Kann man den denn ausrotten?Nein, höchstens mit Atombomben, die die ganze Welt vernichten!Gell, Vata – aber der wunde Punkt is halt der: Wer macht zum Schluss die Atombomben?Natürlich auch wieder die Arbeiter.Wenn sich aber die ganzen Arbeiter auf der Welt einig wären, gäb’s dann auch noch an Krieg?Nein – dann nicht mehr – das wäre der ewige Friede.Aber gell, Vata – die werden nie einig.Nie!«

Das Mädchen kam ins Grübeln. »Ja, natürlich! Das ist es! Das ist doch ganz einfach und ist auch gar nicht komisch, sondern völlig stichhaltig – auch wenn ein Komiker zu dieser Erkenntnis gekommen ist. Die Einigkeit ist es, die Menschen erzielen müssen, die Einigkeit darüber, keine tödlichen Waffen herzustellen, keine Massen-Vernichtungs-Werkzeuge, sondern nur Werkzeuge, die der Erleichterung menschlicher Tätigkeit und Arbeit dienen!« Es konnte und durfte doch nicht sein, dass der »Mensch«, der sich als sogenannte »Krone der Schöpfung« über die Tiere erhob, im Gegensatz zu diesen vorsätzlich tötete, einzig für Reichtum, Erfolg und Machtausweitung und -erhalt, und hierfür immer neue todbringende Waffen erschuf. Hoffnungsvoll malte sich das Mädchen aus: »Keine Wehr-Pflicht bedeutet doch, nur Freiwillige würden einen Wehrdienst ableisten. Bestimmt, ganz bestimmt«, dachte es, »würde kein junger Mensch freiwillig Soldat spielen wollen, denn Krieg ist kein Spiel und Waffen sind kein Spielzeug.« Es geht immer um Leben und Tod, um das eigene Leben oder das des »suggerierten« (!) Feindes, es geht um die eigene Unversehrtheit von Leib und Seele und um die des vermeintlich feindlichen Gegenübers, der wiederum ebenfalls gegen seinen vorgeblichen Widersacher aufgehetzt worden ist. Dabei schrecken die Mächtigen auch nicht vor Lüge, Propaganda und Verführung zurück, um ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen durchzusetzen. Und es geht auch und vor allem um das Gewissen eines Menschen. »Hierzu muss man weiter und tiefer ausholen, als es Karl Valentin tat, der freilich als Humorist auch zu Vereinfachungen griff«, sagte sich das Mädchen. »Um den ›Kriegsursachen‹ auf die Spur zu kommen, muss man Ursachenforschung betreiben: die Kausalzusammenhänge von ›Krieg‹ und ›Frieden‹ auf eine philosophische Erkenntnisweise beleuchten. Es gilt, die Gewissensfrage zu stellen!« Gewissen ist eigentlich nichts anderes als Vernunft beziehungsweise das Vermögen, aus eigenen Grundsätzen zu urteilen, und zwar immer und ausschließlich unter der Anerkenntnis der sittlichen Werte und Gebote sowie von deren Auswirkungen, den Ansichten des Philosophen Immanuel Kant folgend. Selbst Gott hat bei seiner Prüfung des Gehorsams der Menschen (des Abraham im Buch Genesis) der Vernunft einen Platz vor dem Gehorsam eingeräumt. Auch im Grundgesetz der Verfassung (Art. 4) jenes reichen Landes war das Recht, ohne Behinderung dem persönlichen Gewissen entsprechend zu handeln, eingeräumt (Gewissensfreiheit). Und außerdem: »Krieg ist kein ›Töten für den Frieden oder für das Vaterland‹«, bekräftigte das Mädchen, »es ist ein ›Töten für die Mächtigen dieser Welt‹, für den Erhalt oder die Ausweitung ihrer Macht.« Krieg bedeutet Schuld auf sich zu laden und gegen das 5. Gebot zu verstoßen, dem Christenmenschen verpflichtet sind. Waffen in der Hand von Kriegern können keinen Frieden schaffen. Und ein für alle Mal steht fest: Es gibt keine ethische Rechtfertigung für irgendeinen Krieg! Nur mit diplomatischem Geschick können blutige Auseinandersetzungen vermieden werden, vor allem auch durch vorausschauende und vorbeugende intelligente Maßnahmen im Vorfeld eines Konfliktes. Was aber, wenn ein Mensch – vor allem in Vorbild- und Machtfunktion – gar nicht über ein Gewissen verfügt? Was gilt dann noch sein möglicherweise geleisteter Schwur, »nach bestem Wissen und Gewissen« zu handeln? Und was, wenn dieser auch noch die Einstellung vertritt: »Wenn ich es nicht tue, dann tun es andere« (beispielsweise die Anordnung des unkontrollierbaren Laserwaffeneinsatzes)?

Das Schicksal

Das Mädchen grübelte weiter, dachte über sein eigenes Schicksal nach und das seiner Familie. Es hatte seinen Vater für so viele Jahre seiner Kindheit entbehren müssen, einen grundanständigen Menschen, der mit dem Naziregime und seiner Tötungsmaschinerie nichts zu schaffen haben wollte und doch Krieg und Gefangenschaft ertragen musste. Doch was er nicht ertragen bzw. tragen konnte, war ein Gewehr, denn der Gedanke, aus einer Waffe vielleicht tödliche Schüsse auf einen Menschen abgeben zu müssen, erfüllte ihn mit Grauen. Als ihm bei seiner Musterung ein Gewehr in die Hand gedrückt wurde, zitterten seine Hände so stark, dass sogar seinen »Musterern« sofort klar wurde: Dieser Mensch würde nie auf einen anderen Menschen schießen können. Und so setzte man ihn ausschließlich als Funker ein. Denn in den mörderischen Krieg ziehen, das musste er dennoch, sonst wäre er als sogenannter Kriegsverweigerer hingerichtet worden. Vielleicht hätte er aufgrund seiner aufrichtigen Gesinnung sogar den Tod durch Erschießen durch die NS-Militärjustiz dem Kriegseinsatz vorgezogen, hätte er dann nicht für alle Ewigkeit seine Ehefrau und sein kleines Töchterchen alleine auf dieser Welt zurücklassen müssen. Sein Vater, der Großvater des Mädchens, der noch als alter Mann mit fast 60 Lebensjahren als sogenannter Volkssturmmann in den sinnlosen mörderischen, längst verlorenen Krieg ziehen musste, hatte seinem Leben allerdings in seiner größten Verzweiflung selbst ein Ende bereitet. Nur so viel wusste das Mädchen von seinem Großvater väterlicherseits: Dass er ein Jahr nach Kriegsende den Hungertod einer Vertreibung aus seiner geliebten niederschlesischen Heimat vorzog. Seines schönen Hauses am Oderufer in Breslau beraubt, entrechtet und um seine deutsche Staatsangehörigkeit und seine Muttersprache gebracht, fand man den Verhungerten unweit seines Hauses auf einem Friedhof auf, wo man ihn begrub. Die Erinnerung an seine unerschütterliche Heimatliebe verlieh dem Mädchen Stolz und Stärke und begründete seine Lebensphilosophie, dass die Würde eines Menschen und dessen Heimat über alles zu erheben und als »heilig« zu bewerten sind.

Das Mädchen forschte weiter in der Chronik seiner Familie und war sehr gespannt, was es über seine Vorfahren mütterlicherseits in Erfahrung bringen konnte. Was waren sie wohl für Menschen? Und: Waren sie überhaupt »Menschen« und nicht nur ihr wesensfremde, beziehungslose »Leute« oder gar »Un-Menschen«? Um all dies zu erfahren, wagte es einen tiefen Blick in seine Vergangenheit. Es entschloss sich – das war Anfang der 1990er Jahre n. Chr., das Mädchen war inzwischen etwas über 50 Jahre alt – zu einer Reise in seine Vaterstadt Breslau (Wrocław) in Schlesien. Um diese Heimat war es durch die Vertreibung seiner Familie nach dem Zweiten Weltkrieg gebracht worden. Man hatte es »seiner Wurzeln beraubt«! »Seiner Wurzeln beraubt« – immer wieder ging dem Mädchen diese bildhafte Redewendung durch den Kopf. Worin lag wohl ihr Sinn, vor allem wenn man sie in Zusammenhang mit dem Verlust der »Heimat« gebrauchte? Wie eine Erleuchtung kam es dem Mädchen vor, als es im späten Alter von 70 Jahren auf eine philosophische Betrachtungsweise hierzu stieß: »All das Meinige trage ich bei mir« soll der Philosoph Bias von Priene (um 500 – 530 v. Chr.), der wie Solon und Chilon zu den »Sieben Weisen« (einer Gruppe vorbildlicher griechischer Staatsmänner und Philosophen) gehörte, gesagt haben. »Wenn dem so ist, dann kann ich ja gar nicht meiner Wurzeln beraubt worden sein, also auch meiner Heimat nicht!«, beruhigte sich das Mädchen.

Fast ehrfurchtsvoll betrat es seinen Heimatboden und spürte sofort den Unterschied zu jedem anderen Boden der Welt, auf den es in den vergangenen 40 Jahren seines Lebens seine Füße gesetzt hatte. Diese Heimaterde war dem Mädchen gleich wieder vertraut, wohl bekannt auch die tiefen Schlaglöcher der Wege der kleinen Siedlung im Westen Breslaus, die sich Lissa (polnisch Leśnica) genannte hatte, die noch immer nicht zugeschüttet worden waren.

Das Mädchen versank in Erinnerungen. Es spürte wieder das warme Wasser der Pfützen nach einem Gewitterregen im Sommer, die es barfuß durchwatet hatte. Als wäre es gestern gewesen, sah es vor seinem geistigen Auge noch einmal die herrlichen Obstbäume im Garten seiner Großeltern blühen, ließ den unvergleichlichen Geschmack der reifen Früchte genüsslich auf seiner Zunge zergehen und jeden Baum, jeden Strauch, jede Blume wiedererstehen; es sah seinen Großvater, wie er nach getaner Arbeit friedlich seine Pfeife, gestopft mit Tabak aus dem Garten, schmauchte. In den Sommermonaten pflegte er schon um 4 Uhr morgens in seinem großen Garten zu arbeiten, noch bevor er seinem Beruf als Brunnenbauer nachging. Auch stieg plötzlich wieder die Erinnerung an seine Großmutter in ihm auf, wie diese todmüde von der vielen Arbeit am Küchentisch eingenickt war. Bild auf Bild stellte sich ein – einmal fühlte sich das Mädchen wieder auf den schummrigen Heuboden zurückversetzt, ein andermal vermeinte es den Traktor tuckern zu hören und das Gackern der Hühner und das Schnattern der Gänse, die gerne hinter dem Mädchen herrannten und es in seine Waden zwickten.