Mein Vater, mein Sohn und der Kilimandscharo - Achill Moser - E-Book

Mein Vater, mein Sohn und der Kilimandscharo E-Book

Achill Moser

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Beschreibung

Von Abenteuern, Selbstfindung und Freundschaft Abenteuerlust und Achill Moser gehören zusammen, doch woher rührt die Faszination für die Ferne? Das wird ihm klar, als er mit 28 Jahren seinen leiblichen Vater Harry kennenlernt. Dessen Lebenstraum ist die Besteigung des Kilimandscharo. Weil Achill sich einen Kreuzbandriss zuzieht, geht der Vater allein. Als er Jahre später stirbt, hinterlässt er seinem Sohn eine Tonbandkassette, auf der er von seiner Ostafrikareise erzählt. Erst zehn Jahre später ist Achill bereit, sich die Aufnahmen anzuhören: Mit den Aufzeichnungen im Gepäck macht er sich mit seinem Sohn nach Tansania auf. Sie wandern mit Massai-Nomaden zur Wiege der Menschheit und erreichen schließlich den Gipfel des Kilimandscharo. Eine unvergessliche Reise, eine Annäherung an einen lange Jahre fernen Vater und ein bewegendes Zeugnis, wie sehr es die Verbindung zwischen Vater und Sohn stärkt, wenn man gemeinsam Abenteuer besteht. Mit fotografisch gestalteten Innenklappen und 16 Seiten farbigem Bildteil mit Fotos von Achill und Aaron Moser.  

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Seitenzahl: 209

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Über das Buch

Seit seiner Jugend ist Achill Moser ein großer Reisender, viele Bücher hat er darüber geschrieben – doch woher nur rührt diese Faszination für die Ferne? Das wird ihm klar, als er mit 28 Jahren seinen leiblichen Vater Harry kennenlernt. Dessen Lebenstraum ist die Besteigung des Kilimandscharo. Weil Achill sich einen Kreuzbandriss zuzieht, geht der Vater allein. Nach seinem Tod hinterlässt er dem Sohn eine Tonbandkassette, auf der er von seiner Ostafrikareise erzählt.

Erst zehn Jahre später ist Achill bereit, sich die Aufnahme anzuhören. Mit dieser Aufzeichnung im Gepäck macht er sich mit seinem Sohn Aaron auf nach Tansania. Sie ziehen mit Massai-Nomaden zur Wiege der Menschheit, verfolgen die großen Tierwanderungen. Kurz vor dem Gipfel jedoch verletzt sich Achill Moser den Fuß, ob der Aufstieg gelingt ist fraglich. Doch der Wille ist stärker als der Schmerz, gemeinsam erreichen sie schließlich den Gipfel des Kilimandscharo.

 

 

 

 

Für meinen VaterHarry Karsten (1929–2007)

 

 

 

 

Sein, was wir sind, und werden,was wir werden können,das ist das Ziel unseres Lebens.

Baruch de Spinoza (1632–1677)

 

 

 

 

ERSTER TEIL

Die Magie der Sehnsucht

Träume nicht dein Leben,lebe deinen Traum.

Tommaso Campanella (1568–1639)

Ein Sohn trägt die Geschichte seines Vaters weiter

Es ist still, ganz still, nur die dürren, kniehohen Gräser flüstern im Wind. Libellen überfliegen einen schmalen, lichtblitzenden Flusslauf, der, von grünen Uferpflanzen umgürtet, leise vor sich hinplätschert. Meine Augen schweifen über einen kolorierten Traum von Natur. In der Ferne erstreckt sich eine rostbraun-schwarzgrüne Ebene, die von den Lavaauswürfen des 2890 Meter hohen Vulkans Ol Doinyo Lengai geprägt ist. Für das Volk der Massai, die in dieser Region leben, ist er ein heiliger Berg, dessen Gipfel von einer weißen Ascheschicht überzogen ist.

Die schier grenzenlose Ebene geht in eine tiefblaue, stellenweise braunrote Wasserfläche über, die durch heiße Quellen mit Soda gespeist wird. Kristallisierte Mineralschollen liegen gestrandet am Ufer des Natronsees, ein 60 Kilometer langer und 20 Kilometer breiter Salzsee im Norden Tansanias. Kleine Gruppen von Steppenzebras wandern elegant dahin. Schneeweiße Pelikane hocken in leuchtend grünem Gestrüpp. Rosagefiederte Flamingos stehen mit gebogenen Schnäbeln dichtgedrängt im seichten Wasser und seihen winzige Lebewesen aus der Sodalauge, gleiten flügelwirbelnd durch die Lüfte. Im Norden ragt die Bergkette der Mosonik Hills auf. Wie stumpfe braungestreifte Zähne wirken die kargen Gipfel, deren zerklüftete Flanken in der tief stehenden Sonne orangerot schimmern. Darüber das intensive Blau des afrikanischen Himmels, in dem Kumuluswolken treiben, himmlische Botschafter der Götter, unaufhörlich auf Reisen, von der Signatur des Windes gezeichnet.

Etwas Magisches nimmt mich an diesem entlegenen Ort Afrikas gefangen, und es berührt mich sehr, hier zu sein. Die Natur liegt einfach da, und ich verliere mich in ihr, der weiten, wilden Ungeordneten. Was für eine Faszination! Dinge, die ich im Alltag kaum wahrnehme, sind hier das Eigentliche. Eine Empfindung, auf die mich nichts vorbereitet hat.

*

Es ist später Nachmittag und ich sitze auf einem Klappstuhl im Schatten einer Sonnenplane. Vor mir ein kleiner, quadratischer Holztisch, auf dem eine Landkarte von Tansania ausgebreitet liegt. Gleich daneben mein in grauen Karton eingebundenes Tagebuch. Mit einem Bleistift mache ich Notizen, sinne über die Ereignisse der letzten Tage nach und stimme das Magische dieses Ortes mit meinen Erinnerungen ab. Ich halte die Begegnungen mit den Massai-Nomaden fest und die wildlebenden Tiere, die im freien Naturraum unterwegs sind: Giraffen, Zebras, Büffel, Hyänen, Schakale; ich schreibe über grandiose Landschaftskulissen, über Anstrengung und Glück – und über meinen Vater Harry. Auf seinen Spuren wandere ich seit Tagen durch das Land der Massai, gemeinsam mit meinem 27-jährigen Sohn Aaron, dem Künstler Carsten Westphal (55), der in der Tradition früher Expeditionsmaler unsere Reise mit Aquarellbildern dokumentieren möchte, sowie dem 46-jährigen Rainer Blank, Kameramann und Regisseur. Zusammen mit meinem Sohn will er unsere Reise filmisch festhalten.

Indem ich über meinen Vater schreibe, erwecke ich ihn wieder zum Leben und fühle mich ihm näher, denn ein Sohn trägt die Geschichte seines Vaters weiter. Es sind oft verzweigte Lebenswege, die eine Familiengeschichte prägen, manchmal unbeschwert, übermütig und aufregend, manchmal beschwerlich, dramatisch und leidvoll. Und manchmal sind es Geschichten von Sehnsüchten und Träumen, die uns beflügeln und inspirieren – und die es wert sind, weitererzählt zu werden. Manche dieser Geschichten begleiten uns über viele Jahre. Es sind Geschichten, die uns nicht loslassen, wir kommen erst zur Ruhe, wenn wir sie selbst nacherlebt haben.

Auch mein Vater hatte eine große Sehnsucht. Seit seiner Kindheit wünschte er sich, den höchsten Berg Afrikas zu sehen und zu besteigen: den Kilimandscharo. Doch erst mit 59 Jahren konnte er sich diesen Traum erfüllen. Getrieben von einem starken Willen brach mein Vater aus dem Alltag aus und reiste nach Ostafrika. Sein Sehnsuchtstraum ist auch mit meinem Leben eng verbunden. Denn das schneebedeckte Dach Afrikas, mit 5895 Metern die höchste Erhebung des schwarzen Kontinents, schenkte ihm und viele Jahre später auch meinem Sohn Aaron und mir, trotz großer Anstrengungen und Tränen, die ganze emotionale Fülle des Lebens. Es bescherte uns ein Glück, das drei Generationen – zu unterschiedlichen Zeiten – bereicherte.

Um es noch deutlicher zu sagen: Der Aufbruch zum Kilimandscharo war für meinen Vater nicht nur Abenteuer und Sehnsuchtserfüllung, es war ein buchstäblicher Griff nach den Sternen, der unsere Familie über den Tod hinaus verbinden sollte. Doch davon später mehr. Ich will die Dinge der Reihe nach erzählen.

Der Leopard im Schnee

Die Basis des Glücks ist ein sinnerfülltes Leben, heißt es. Doch was ist der Sinn des Lebens? Welche Rolle spielt das Schicksal? Was ist Zufall oder Bestimmung? Es stellt sich auch die Frage, ob uns die Suche nach dem Sinn als innerer Kompass dient, oder ob jede Sinnsuche nur eine Art Schutzschild ist, um die Turbulenzen des Lebens zu meistern.

All diese Fragen, die mich seit Jahrzehnten beschäftigen, diskutierte ich gelegentlich auch mit meinem Vater, den ich erst im Alter von 28 Jahren kennenlernte. Bevor es zu dieser schicksalhaften Begegnung kam, die mein Leben von einem Tag auf den anderen veränderte, war ich innerhalb eines Jahrzehnts immer wieder hinaus in die Welt gezogen.

Es waren ereignisreiche Jahre, in denen Neugier und Unrast mein Leben bestimmten. Wind und Wetter trieben mich in die entlegensten Winkel der Erde. Ich war in Wüsten, Urwäldern und Bergen unterwegs, auf Flüssen und Ozeanen. Dabei entwickelte ich ein inniges Verhältnis zur Natur und zu den unterschiedlichsten Nomadenvölkern, bei denen ich lange Zeit lebte. Auf all diesen Reisen erhoffte ich, angetrieben von Abenteuerlust und Begegnungsneugier, einen weisen alten Mann zu finden, der mir all meine Fragen beantworten konnte. Den Worten eines solchen Mannes, der vielleicht im Schatten einer Tamariske am Lagerfeuer saß, vor dem Eingang einer Felshöhle oder am Ufer eines plätschernden Flusses, wollte ich lauschen, um all die Geheimnisse des Lebens und den Sinn meiner Existenz zu erfahren.

So einem weisen Mann bin ich nie begegnet. Doch im Laufe der Jahre habe ich unterwegs viele Menschen getroffen, die in Aussehen, Lebensform, Sitten und Glaubensvorstellung vollkommen anders lebten als der moderne Zivilisationsmensch. Diese Menschen gaben mir wertvolle Denkanstöße. Vor allem in Afrika und Asien habe ich eine Menge Gebräuche, Rituale und uralte Weisheiten fremdartiger Völker sammeln können, die sich den Erfordernissen und Rhythmen der Natur angepasst hatten, in gutem Einvernehmen mit ihrer Umwelt lebten, und in die natürlichen Abläufe nur eingriffen, wenn es keine andere Möglichkeit gab, um nicht selbst zerstört zu werden.

Trotz all dieser lebensbereichernden Erfahrungen, die ich in der Welt machte, blieben viele Aspekte meiner Sinnfragen unbeantwortet, sodass ich mich an einige Worte von Hermann Hesse hielt, die mir auf meinen Reisen und Expeditionen ein wunderbarer Begleiter waren: »Wir verlangen, das Leben müsse einen Sinn haben – aber es hat nur ganz genau so viel Sinn, als wir selber ihm zu geben imstande sind.«

In jenen Aufbruchsjahren waren mir Bücher angenehme Weggefährten, Vermittler von Emotionen und wichtige Impulsgeber. Schon in der Kindheit und auch in Jugendjahren warteten fast täglich neue Abenteuer auf mich. Was meine Umwelt damals nicht hergab, holte ich mir durch Lektüre ins Haus. Was habe ich nicht alles gelesen: Es begann mit Karl May, mit jenen dicken Bändchen mit gold-grünen Buchrücken, die mich in der Fantasie in alle Herren Länder führten: nach Amerika, Afrika und in den Orient. Es folgten Stevensons ›Schatzinsel‹, Melvilles ›Moby Dick‹ und James Fenimore Coopers Indianergeschichten. Zudem verschlang ich alle möglichen Reiseberichte, an denen sich meine geheimsten Sehnsüchte festmachten.

Später wagte ich mich an etwas schwerere Kost heran, von der ich mir entscheidende Weichenstellungen erhoffte, um das drängende Wissen über die eigene Existenz zu füttern. Ich las Texte von Augustinus, Platon, Marcel Proust, Arthur Schopenhauer, Gottfried Wilhelm Leibniz, Jean-Jacques Rousseau, Henry David Thoreau und Søren Kierkegaard. Texte, die ich damals nicht alle verstand, die aber eine überraschende Quelle der Sachkenntnis waren – und eine ungeheure Kraft entfalteten. Noch heute bin ich dankbar, dass mir viele dieser Bücher – zur richtigen Zeit – in die Hände gefallen sind. Bücher, in denen ich auf Sichtweisen und Reflexionen stieß, die sich stark von den gewohnten unterschieden, Bücher, in denen ich Denkansätze fand, die meine Neugier auf Freiraum weckten und mir Stück für Stück den Weg ebneten.

In den 1960er- und 1970er-Jahren fühlte ich mich in den engen und vorgestanzten Formen des politischen und gesellschaftlichen Korsetts äußerst eingezwängt. Das Vorgestanzte reichte bis in meine Familie hinein, und schnürte mir zuweilen regelrecht die Luft ab. Dennoch schrieb ich mich, zum Gefallen meiner Eltern, in den Studiengang Betriebs- und Volkswirtschaftslehre ein. Parallel dazu studierte ich auch Afrikanistik, was mich sehr viel mehr interessierte. Der Haken war nur: Zu Hause konnte ich niemandem davon erzählen, ohne mich in endlosen Debatten rechtfertigen zu müssen. Mein Stiefvater – meine Mutter hatte ihn geheiratet, als ich sechs Jahre alt war – war Amtmann bei der Verwaltungsberufsgenossenschaft und wünschte sich, dass auch ich eine Beamtenlaufbahn mit Pensionsanspruch einschlage. Mit seiner Kritik konnte er mich zutiefst verletzen und es fiel mir schwer, seine Besserwisserei zu ertragen. Mit einer großen Portion Zynismus hätte er mir dargelegt, dass das Studium der Afrikanistik absurd, brotlos und ohne Perspektive sei. Also schwieg ich lieber, entschied alleine, was gut oder schlecht für mich war – und las alles, was mir über den afrikanischen Kontinent in die Hände fiel: Sachliteratur, Reiseerlebnisse, Romane.

In dieser Zeit stieß ich auch auf Ernest Hemingways Texte über Afrika. Mit Begeisterung verschlang ich ›Die grünen Hügel Afrikas‹ und die Erzählung ›Schnee auf dem Kilimandscharo‹ berührte mich so sehr, dass ich sie gleich mehrmals las. Dieser Text ließ mich Afrika regelrecht physisch spüren.

Vor meinem geistigen Auge sah ich die grenzenlose Savanne, den gewaltigen Himmel und den schneebedeckten Kilimandscharo. All das ließ sich buchstäblich mit den Händen greifen. Schon die ersten Sätze von ›Schnee auf dem Kilimandscharo‹ elektrisierten mich. Dem Tod geweiht liegt der weiße Jäger Harry auf einem Feldbett am Fuße des Kilimandscharo und lässt sein Leben noch einmal Revue passieren:

»Der Kilimandscharo ist ein schneebedeckter Berg von sechstausend Meter Höhe und gilt als der höchste Berg Afrikas. Der westliche Gipfel heißt bei den Massai ›Ngàja Ngái‹, das Haus Gottes. Dicht unter dem westlichen Gipfel liegt das ausgedörrte und gefrorene Gerippe eines Leoparden. Niemand weiß, was der Leopard in jener Höhe suchte.«

Diese Zeilen waren für mich magisch, wie Sternschnuppen, die auf mich herabfielen. Mehr noch, diese Sätze vermittelten mir nicht nur das Bild eines toten Leoparden im Schnee, hoch oben im Gipfelbereich des Kilimandscharo, sondern lösten auch ein weiteres Nachdenken aus, ein In-sich-Gehen, sodass die Darstellung eines gefrorenen Leopardengerippes unterhalb des Kilimandscharo-Gipfels für mich zur Metapher für die Suche nach dem Sinn des Lebens wurde.

Afrika hatte mich gepackt, war für mich der Kontinent. Dorthin zog es mich, dorthin musste ich. Mit 17 Jahren brach ich erstmals nach Marokko auf. Mit einem Interrail-Ticket fuhr ich quer durch Europa bis nach Marrakesch und per Lkw in die Nordsahara. Für meinen Stiefvater, der mich nur widerwillig ziehen ließ, war ich damals nur »ein Träumer«, während meine Mutter meine Reiselust unterstützte, obwohl sie sich große Sorgen machte. Es folgten Reisen nach Tunesien, Ägypten und in den Sudan. Zu Fuß, per Kamel und aus dem Faltboot lernte ich die afrikanisch-arabische Welt kennen und lieben, lebte zweitweise auch bei Beduinen und Tuareg. In der unermesslichen Weite aus Himmel, Sand und Stein lernte ich eine ursprüngliche und gleichmäßig ruhige Lebensweise kennen. Ich erlebte den verborgenen Reichtum nomadischer Gesellschaften und wurde für das Schicksal der Naturvölker sensibilisiert. Damals wurde mir auch bewusst, wie es um den Zustand der zivilisierten Welt bestellt war: Weit entfernt davon, sich aufs Wesentliche zu konzentrieren, befand sie sich in einer starken Entfremdung von der Natur und dem Göttlichen.

Zurück in Hamburg, wurde ich sechsmal von der Schule verwiesen, weil ich die Sommer- und Herbstferien hin und wieder auf eigenen Wunsch verlängert hatte, um in der Sahara mit Beduinen zu leben. Das Abitur endlich in der Tasche, reiste ich mit Mitte 20 nach Ostafrika. Im inneren Gepäck hatte ich Hemingways einleitende Sätze aus dem Buch: ›Schnee auf dem Kilimandscharo‹ dabei, die ich mit einem Denkanstoß des amerikanischen Schriftstellers Henry Miller verknüpfte: »Wenn man auf der Suche nach dem Wissen oder der Weisheit ist«, schrieb Miller, »geht man am besten direkt an die Quelle. Und die Quelle ist nicht der Wissenschaftler oder der Philosoph, der Meister, der Heilige oder der Professor, sondern das Leben selbst, die unverfälschte Lebenserfahrung.«

In Kenia und Tansania war ich monatelang in den unterschiedlichsten Regionen unterwegs, ehe ich im Tsavo-Nationalpark erstmals den Kilimandscharo sah. Ich erlag sofort der Ausstrahlung dieses gewaltigen Berges, der das Umland dominierte. Vor der majestätischen Kulisse des Riesenvulkans mit Schneehaube, die im Sonnenlicht gleißte, wanderte eine Elefantenherde durch die Savanne. Wie zu einer Parade aufgereiht, folgte ein Tier dem anderen. An ihrer Spitze ging ein großer Bulle, der mit hoch erhobenem Kopf seine Stoßzähne zum Himmel gerichtet hatte. Einen Steinwurf entfernt sah ich eine Gruppe Giraffen, einen wandernden Äs-Verein. Mit sanftmütigen Schritten zogen die Riesentiere dahin, blieben gelegentlich an einer Schirmakazie stehen, um mit gestrecktem Hals und langer Zunge die begehrten Akazienblätter zu fressen. Ihr Fell, ein untrügliches Zeichen ihrer Identität, war einzigartig gezeichnet, keine Giraffe glich der anderen.

Diese Bilder prägten sich fotografisch in mein Gedächtnis ein. Und auch das Staunen, das ich im Angesicht des Kilimandscharo empfand, ist mir geblieben. Es war ein Blick ins Paradies. Das klingt nach Klischee, doch so empfand ich es wirklich. Denn diese Augenblicke, als ich unter einem tiefblauen Himmel über die weite Savanne auf Afrikas Olymp blickte, ließen mich in Ehrfurcht erstarren. Es waren Momente, in denen ich den Geist Afrikas zu spüren glaubte. Ein Geist, der sich in der Verehrung der Natur und der Tierwelt offenbarte.

Damals wäre mir niemals in den Sinn gekommen, das weiße Dach Afrikas zu besteigen. Das hätte ich als Frevel empfunden. Denn für den ostafrikanischen Nomadenstamm der Massai, bei dem ich längere Zeit gelebt hatte, gilt der Kilimandscharo als Sitz ihres Gottes. Er ist Symbol ihres Glaubens, ein Ort der Ehrerbietung, voller Mythen und Geheimnisse, der so selbstverständlich zu ihrem Leben gehört wie ihre roten Tücher, ihre bunten Perlen und Rinder. Dieser Berg, seine Legenden und die damit verwobenen religiösen Vorstellungen bilden ein spirituelles Band zwischen Tradition und Gegenwart. Es begründet die ungeschriebenen Gesetze, nach denen die Naturvölker in Ostafrika seit Jahrhunderten leben. Ein solcher Ort verlangt Respekt, darf nicht gestört, geschweige denn bestiegen werden.

Dieser Verzicht war für mich eine Geste der Achtung und des Respekts gegenüber den Massai. Und es war ein Zeichen der Dankbarkeit für all das, was ich auf meinen Afrikareisen an Hilfsbereitschaft und Gastfreundschaft erfahren hatte. Was konnte ich an diesem wunderbaren Ort mehr geben, als die Heiligkeit dieses Berges unangetastet zu belassen?

Doch Jahre später, als ich meinen leiblichen Vater kennenlernte, kam alles ganz anders.

Ein Telefonanruf, der mein Leben verändert

Mein Vater hinterließ mir eine Tonbandkassette, auf der er von seinem Aufstieg zum Gipfel des Kilimandscharo erzählte. Eine ebenso bewegende wie abenteuerliche Geschichte, die ich seit mehr als zehn Jahren mit mir herumtrage. Viele Jahre brachte ich es nicht übers Herz, mir diese Aufnahme anzuhören. Nur ein einziges Mal habe ich die Kassette nach dem Tod meines Vaters abgespielt und seinen Worten gelauscht, danach nie wieder. Es war mir kaum möglich, die Stimme meines leiblichen Vaters zu hören, den ich vermisse – und den ich erst im Alter von 28 Jahren kennenlernte:

Es war Anfang der 1980er-Jahre und ich lebte in einer kleinen Dachwohnung in Hamburg-Bramfeld. Eines Abends, es war schon spät, klingelte das Telefon viermal, ehe ich den Hörer abnahm. Eine zögernde, leicht zitternde Männerstimme sagte: »Guten Abend, Achill, hier ist Harry Karsten. Ich bin dein Vater.«

Diese Worte, die ein wenig entschuldigend klangen, hatte ich jahrelang ersehnt – und ebenso gefürchtet. Es waren Worte, die sich fest in meinem Kopf eingebrannt haben; Worte, die mein Leben von einem Moment auf den anderen nicht nur veränderten, sondern regelrecht auf den Kopf stellten. Von einer Sekunde auf die andere war nichts mehr wie zuvor. Ein Stück Vergangenheit, das für mich fast drei Jahrzehnte im Nebulösen gelegen hatte, wurde diffus lebendig. Ein Stück Vergangenheit, das meine Mutter mir vorenthalten hatte, weil sie nach den Erlebnissen und Erfahrungen mit meinem Vater verbittert und unversöhnlich war.

Als sich meine Eltern Mitte der 1950er-Jahre scheiden ließen, war ich eineinhalb Jahre alt. Unterschiedliche Lebenspläne, Unfriede und Streit hatten zum Bruch geführt. Per Gerichtsbeschluss hatte meine Mutter bewirkt, dass mein Vater mich nicht sehen durfte. Nicht einmal das Besuchsrecht wurde ihm eingeräumt. Ich wusste nichts über meinen Vater. Meine Mutter erzählte nie von ihm, erwähnte nur, dass das Zusammenleben mit ihm nicht funktioniert hätte. Alle meine weiteren Fragen blieben unbeantwortet: Wo lebte er? Welchen Beruf übte er aus? Wie war er als Kind gewesen? Welche Träume und Erwartungen hatte er als Jugendlicher gehabt? Was waren seine Leidenschaften, was machte ihm Freude? Und: Wer war er überhaupt? Antworten auf all diese Fragen erhielt ich weder von meiner Mutter noch von anderen Verwandten. Es war in der Familie tabu, über meinen leiblichen Vater zu sprechen. So war sein Leben für mich wie ein Buch mit sieben Siegeln.

Als ich seine Stimme dann erstmals am Telefon hörte, war ich entsprechend befangen. Jedes Wort meines Vaters verriet eine große Willensanstrengung. Ständig räusperte er sich wie ein Schuljunge. Und in jedem Satz schien eine mühsam kanalisierte Energie zu vibrieren. Auch ich suchte ungelenk nach Worten, während mein Vater wie jemand sprach, der nichts Falsches sagen wollte. Ich erfuhr, dass er mich am Nachmittag in einer Radiosendung gehört hatte, in der ich von einer Reise durch den Norden Kanadas berichtete: In den North-West-Territories, am Ufer des Großen Sklavensees, hatte ich mit zwei Freunden ein Floß von 28 Quadratmetern gebaut und den 1900 Kilometer langen Mackenzie River bis zum Nordpolarmeer befahren. Jörgpeter Ahlers, Moderator und Freund, legte zwischen den Interviewpassagen stimmungsvolle Musikstücke auf: Johnny Cash, ›Big River‹; Neil Young, ›Walk on‹; J. J. Cale, ›Cajun Moon‹.

Diese Radiosendung hatte mein Vater gehört, sich beim NDR meine Telefonnummer besorgt und mich noch am selben Abend angerufen.

»Ich habe mich die ganzen Jahre nicht getraut, mich bei dir zu melden«, sagte er. »Deine Mutter wollte nicht, dass ich Kontakt zu dir aufnehme. Doch als ich heute deine Stimme im Radio gehört habe, habe ich Mut gefasst. Ich hoffe, du hast Verständnis dafür. Ich wollte dich fragen, ob wir uns mal treffen können?«

Innerlich aufgewühlt, brauchte ich nach dem Telefonat eine gewisse Zeit, um die Worte meines Vaters zu verdauen. Ich musste Ordnung in meinem Kopf schaffen. Einerseits waren da Skepsis und Wut, weil er sich fast drei Jahrzehnte lang nicht gemeldet hatte; andererseits machte ich mir selbst Vorwürfe, denn auch ich hatte in den zurückliegenden Jahren etwas unterlassen, ja möglicherweise falsch gemacht: Vielleicht hätte ich längst den Kontakt zu ihm suchen sollen. Warum hatte ich mich von dem negativen Meinungsbild meiner Mutter, die mich mit ihrer Liebe und Fürsorge umgab, so sehr beeinflussen lassen? Vielleicht trafen ja all die Vorwürfe, die sie einst gegenüber meinem Vater unterschwellig angedeutet hatte, gar nicht mehr zu. Menschen können sich im Laufe der Jahre durch Begegnungen, Erlebnisse und Erfahrungen verändern. Nicht immer sind unserem Charakter und unseren Eigentümlichkeiten unverrückbare Grenzen gesetzt.

Aus diesem Blickwinkel betrachtet, spürte ich ein großes Verlangen, meinen Vater endlich kennenzulernen. Ich wollte wissen, wie es ihm ging, wie er dachte. Ich wollte auch die Geschichte meiner Mutter und meines Vaters, die über Jahre zu einem undurchdringlichen Verhau geworden war, ein wenig öffnen und verstehen – ohne ihr Scheitern aufzuarbeiten, das, so war mir von vornherein klar, ging mich nichts an. Zudem wollte ich jenen Menschen kennenlernen, der mir meinen Vornamen gegeben hatte. Denn auch in unserer Zeit sind Namen immer noch mehr als bloße Erkennungszeichen. Manchmal scheinen sie sogar das Leben eines Menschen zu beeinflussen. So war es jedenfalls bei mir.

Der Name Achill ist griechischen Ursprungs, angelehnt an eine Hauptfigur aus Homers ›Illias‹. In den 1950er-Jahren schlugen alle Verwandten die Hände über dem Kopf zusammen, als sie hörten, dass mein Vater mir den Namen Achill geben wollte. Einhellig war man der Meinung: »Der Junge wird dich dafür verfluchen, wenn er größer ist!« Dennoch setzte sich mein Vater gegen alle Unkenrufe durch und zahlte auf dem Standesamt für die Neueintragung des Namens 50 D-Mark. Dafür bin ich ihm noch heute dankbar. Ich hätte mir nämlich keinen interessanteren Vornamen wünschen können. Denn mit dem Namen Achill wurden mir gewissermaßen auch die Sagen des klassischen Altertums in die Wiege gelegt, die Wurzeln aller abendländischen Kultur. Und so war es auch kein Wunder, dass ich als Kind alle möglichen Bilderbücher geschenkt bekam, die mir die griechischen Götter- und Heldenepen nahebrachten.

Jahrzehnte später erzählte mir mein Vater, dass er sich als junger Mensch nicht nur für die griechische Mythologie interessierte, sondern auch gern Altertumswissenschaften studiert hätte. (Das war ihm kurz nach dem Zweiten Weltkrieg aus finanziellen Gründen aber nicht möglich.) Vor allem die Geschichte des griechischen Helden Achill hatte es ihm angetan. Nachdem Paris Helena aus Sparta entführt hatte, schloss sich Achill den Männern Griechenlands an und zog in den Kampf gegen Troja. Diese Geschichte war es auch, die mich später zu einer abenteuerlichen Entdeckungsreise durchs Mittelmeer motivierte. Per Segelyacht, Faltboot und mit einem selbst gebauten Floß bereiste ich in einem Zeitraum von mehreren Jahren die Türkei, Griechenland, Italien, Malta und Tunesien auf den Spuren der antiken Helden Achill und Odysseus.

Als Kind war ich, wie viele andere Kinder auch, auf eine andere Weise nachdenklich als später als Erwachsener. Als Kind war für mich alles Gegenwart und zugleich Ewigkeit; ich war weder kopfgesteuert noch analysierte ich. Stattdessen bestimmten Fantasie und Magie mein Leben. Zudem war ich viel empfindlicher und verstand nicht, wieso sich mein Vater nicht um mich kümmerte. Wo war er? Warum besuchte er mich nicht? Vor allem diese beiden Fragen gingen mir immer wieder im Kopf herum, begleiteten mich manchmal in den Schlaf.

Es hatte mich damals nicht nur gestört, sondern tief getroffen, wenn andere Jungs aus der Schulklasse von ihren Vätern erzählten, wie sie mit ihnen gebastelt und Ausflüge gemacht hatten oder welche Berufe, Hobbys und Autos sie hatten. Ich hörte von Dingen, die ich nie selbst erlebt hatte. Das waren Situationen, in denen ich das Gefühl hatte, dass mir im Leben etwas fehlte. Ich spürte eine Art Verlust, und es schien so, als wäre mir in meinem Leben etwas abhandengekommen, etwas ganz Natürliches, das jeder um mich herum hatte, etwas, das unerreichbar und weit weg war.

Am peinlichsten war es mir, wenn herauskam, dass mein Stiefvater nicht mein richtiger Vater war. Es waren halt die 1950er- und 1960er-Jahre, in denen die spießbürgerliche Engstirnigkeit bis in die Schulklassen hineinschwappte. Und der Begriff Patchwork-Familie war noch längst nicht populär.

*

All das ging mir nach dem ersten Telefongespräch mit meinem Vater im Kopf herum. Hin- und hergerissen zwischen dem Gefühl, alte Wunden aus der Vergangenheit wieder aufzureißen, und jenem, meinen Vater womöglich niemals kennenzulernen, wenn ich seinem Vorschlag zu einem Treffen nicht nachkam. So verschob ich meinen Rückruf Woche um Woche, bis mir irgendwann klar wurde, dass ich die unter Verschluss gehaltene Vergangenheit unmöglich abwehren konnte; sie brach sich Bahn und ich sah mich der Notwendigkeit ausgeliefert, mich mit ihr auseinanderzusetzen. Also griff ich eines Tages zum Telefon und wählte die Nummer meines Vaters. Meine Neugier war größer als alle Bedenken.

Wie ich meinen Vater kennenlernte

Das erste Treffen. Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen: Mein Vater hatte mich zu sich nach Hause eingeladen. Er erwartete mich vor einem schmucken Reihenhaus in Hamburg-Glinde. Ein hölzerner Zaun umgab einen kleinen Garten mit frisch gemähter Rasenfläche, bunten Blumen und hohen Tannen. Mit beherztem Schritt trat ich auf ihn zu. Wir schauten uns an und lächelten.

»Hallo, Achill, schön dich zu sehen«, sagte er und streckte mir die Hand entgegen. Ich ergriff die dargebotene Hand.

»Ja, das ist schön. Endlich treffen wir uns.« Mehr fiel mir nicht ein.

Auf dem Weg ins Haus dachte ich: Was fühlt man, wenn man nichts fühlt?

Als ich das geräumige Wohnzimmer mit Kamin betrat, freute mich die allererste Wahrnehmung: Mein Vater war offensichtlich eine Leseratte. Eine meterlange Bücherwand reichte bis zur Decke. Die Bücher waren alphabetisch nach Autorennamen geordnet. Gebundene Klassiker standen neben zerlesenen Taschenbuchausgaben. Goethe, Schiller, Heine. Aber auch Hemingway, Simmel, Joseph Conrad – und viele, viele Kriminalromane.