Meine fetten Jahre sind vorbei - Reinhard Stummreiter - E-Book

Meine fetten Jahre sind vorbei E-Book

Reinhard Stummreiter

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Beschreibung

»Es ist schön, wenn man den Bauch ausziehen kann.«

Wenn Reinhard Stummreiter heute unter tosendem Beifall die Bühne verlässt, legt er hinter den Kulissen erst die große Trommel ab und dann den dicken Kunstbauch. Der war lange Zeit echt. Knapp 300 Kilo brachte der Kabarettist auf die Waage. Bis er von seinem besorgten »Kommandanten« vor die Wahl gestellt wurde: Abnehmen oder die Altneihauser Feuerwehrkapell’n verlassen. Ein harter Schlag, denn die Auftritte sind Stummreiters Leben, und so rafft er sich auf und halbiert sein Körpergewicht: »Das Leben hat so viel zu bieten, ich möchte gerne wieder daran teilnehmen.« Damit spricht er allen Dicken aus der Seele und zeigt, dass jeder das eigentlich unmöglich Geglaubte schaffen kann.

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Wenn Reinhard Stummreiter heute unter tosendem Beifall die Bühne verlässt, legt er hinter den Kulissen erst die große Trommel ab und dann den dicken Kunstbauch. Der war lange Zeit echt. Knapp 300 Kilo brachte der Kabarettist auf die Waage. Bis er von seinem besorgten »Kommandanten« vor die Wahl gestellt wurde: Abnehmen oder die Altneihauser Feierwehrkapell’n verlassen. Ein harter Schlag, denn die Auftritte sind Stummreiters Leben, und so rafft er sich auf und halbiert sein Körpergewicht: »Das Leben hat so viel zu bieten, ich möchte gerne wieder daran teilnehmen.« Damit spricht er allen Dicken aus der Seele und zeigt, dass jeder das eigentlich unmöglich Geglaubte schaffen kann.

Der Oberpfälzer Kabarettist Reinhard Stummreiter ist bekannt als der »dicke Trommler« der Altneihauser Feierwehrkapell’n, die jedes Jahr bei Fastnacht in Franken gefeiert wird. Er lebt mit seiner Familie in Friedenfels in der Oberpfalz.

Reinhard Stummreiter

Meine fetten Jahre sind vorbei

Wie ich meine Kindheit verdaute, um der dicke Trommler zu bleiben

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Copyright © 2018 Kösel-Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlag: Weiss Werkstatt, München

Umschlagmotive: © Christian Höllerer

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-22723-4 V002

www.koesel.de

Meiner Familie, meiner Kapell’n und allen, die mich in jeglichen Lebenslagen unterstützt und nie aufgegeben haben

Der Paukenschlag

»Eine Leberkassemmel bitte«, sagte ich zu der Metzgereiverkäuferin in Windischeschenbach, zögerte: »na, glei zwoa oder gib ma lieba drei.«

»Sempf, Ketschup?«

»Nix.«

»Glei essen oder eipacken?«

»Eipacken.«

»Dreisechzig.«

Ich legte einen Fünfeuroschein auf die Theke und nahm die drei Alupäckchen in Empfang. Das Wasser lief mir im Munde zusammen. Blöd, dass die in der Metzgerei keine Nussherndln hatten. Nussherndln mit Leberkassemmel, das mochte ich besonders gern. Und dazu einen Kaba oder eine Capri-Sonne, stilecht mit Strohhalm. Sollte ich noch geschwind zum Bäcker? Ich schaute auf die Uhr. Nein, ich war spät dran. Norbert Neugirg, der Kommandant der Altneihauser Feierwehrkapell’n, erwartete mich. Nachdem wir bei der letzten Fastnacht in Franken, die Jahr für Jahr Millionen von Menschen im Fernsehen sehen, einen Riesenerfolg gefeiert hatten, ging es mit der Kapell’n steil bergauf.

Was Norbert wohl mit mir allein besprechen wollte? Normalerweise trafen sich alle neun Mann zusammen. Auf der Straße vor dem Laden packte ich die erste Semmel aus. Das warme, weiche, würzige Leberkasaroma stieg mir in die Nase. Ich biss tief hinein. Wunderbar! Gut, dass ich drei hatte. Eine war ja nichts, zumal ich kaum kaute. Drei Bissen, und schon war die erste weg, und als ich vor dem Auto stand die zweite, und zwischen Tür und Angel die dritte. Ich wischte meine fettigen Hände an der weißblauen Serviette ab und stieg ein, es war nicht so schwierig wie das Hinaufschwingen in meinen Lkw, brachte mich aber doch zum Schwitzen. Den rechten Fuß ins Auto wuchten, mit der linken Hand am Dach festhalten, Schwung holen und den Körper hineinwuchten, das linke Bein dazuholen.

Zum Bäcker war es nur ein kleiner Umweg. Dort nahm ich eine Capri-Sonne aus dem Regal und verlangte dazu: »Zwoa Nussherndln, bitte!«

»Zweivierzig.«

Ich legte das Wechselgeld vom Metzger in die Geldschale. Bis ich wieder bei meinem direkt vor dem Bäcker geparkten Auto ankam, hatte ich die Nussherndln verdrückt. Ich war kein Genuss-, ich war ein Massenesser. Der Geschmack war mir meistens egal. Natürlich schmeckte es irgendwie. Aber die Hauptsache war, dass es viel war. Richtig satt war ich selten, eigentlich nie. Und drei Leberkassemmeln und zwei Nussherndln waren auch keine Mahlzeit für mich, sondern ein kleiner Snack, den ich gleich wieder vergessen hatte. Ich vergaß auch richtige Mahlzeiten, volle Teller mit Fleisch und Beilagen. Kaum drin im Bauch, schon getilgt im Kopf. So hätte es durchaus passieren können, dass ich bald die nächste Metzgerei ansteuerte, weil ich verdrängte, dass ich eben gegessen hatte. Ich hatte so was wie Ess-Alzheimer; ich hörte halt irgendwann auf, weil ich weiterarbeiten musste oder ins Bett gehen wollte oder einen Termin hatte. So wie jetzt.

Norbert Neugirg wohnte nicht weit von mir entfernt. Wir sahen uns aber in der Regel nur bei Auftritten und Proben. Hätte man mir vor drei Jahren gesagt, dass ich einmal bei der Altneihauser Feierwehrkapell’n mitspielen dürfte, ich hätte es nicht geglaubt. Wie auch, ich beherrschte ja nicht einmal ein Instrument, hatte in meiner Jugend das Akkordeonspielen wieder aufgehört.

Ich kam nur drei Minuten zu spät. Norbert öffnete die Tür. Wie ich trug er ein kariertes Hemd, mit dem Unterschied, dass seines wahrscheinlich zehn Größen schmaler war und rot. Er telefonierte gerade und winkte mich in die Küche. Auf dem Tisch lagen Notizzettel, er feilte an einer neuen Szene oder schrieb wieder einmal ein Buch, Norbert hatte immer viel zu tun. Am kommenden Samstag stand ein großer Auftritt an, und es war Norberts Stärke, unsere Programme individuell auf die jeweilige Veranstaltung zurechtzuschustern. Im Moment arbeiteten wir an unserem ersten Abendprogramm. Bislang hatte die Altneihauser Feierwehrkapell’n vor allem kleinere Einlagen gespielt, allerdings auch vor großem und bedeutendem Publikum: Bei der Fastnacht in Franken sitzt der bayerische Ministerpräsident mit seinem Kabinett in der vordersten Reihe. So etwas schüchtert Norbert kein bisschen ein, je mehr Prominenz, desto schlagfertiger haut er drauf. Und auch ich haute drauf. Ich war der Trommler, der dicke Trommler, um genau sein.

Seit 2006, also seit drei Jahren, gehörte ich zur Feierwehrkapell’n. Sie bedeutete mir viel, ja mehr noch: Sie war mein Lebensinhalt. Ich liebte es, auf der Bühne den Dummen, Tollpatschigen zu spielen, der ich im wahren Leben niemals sein wollte. Das gemeinsame Musizieren, auch bei den Proben, begeisterte mich, wenngleich Norbert ein strenger Kapellmeister war. Aber einer musste den Haufen ja zusammenhalten, und das muss man können, so wie Norbert eben. Ich liebte auch den Applaus, den einer wie ich normalerweise nicht bekommt. Eher wurde mit dem Finger auf mich gezeigt, und nicht nur von Kindern: Schau mal, wie dick der Mann ist! Ich selbst vermied es, meinen knapp 300 Kilo ins Auge zu sehen, indem ich mich einfach nicht wog. Fürs Wiegen hatte ich schließlich gar keine Zeit: Ich stand morgens auf, aß, dann arbeitete und aß ich mich durch den Tag, und am Wochenende haute ich auf die Pauke.

Auf den Trommler wurde nicht mit dem Finger gezeigt, der bekam fetten Applaus. Das gefiel mir, und ich war Norbert dankbar, dass er mich in seine Kapell’n aufgenommen hatte. Ich fühlte mich auch im Kreis der Kameraden sehr wohl und saß gern mit ihnen zusammen. Alle Neune verstanden wir uns prima. So war die Feierwehrkapell’n zu einer Art Familie für mich geworden, wenngleich ich auch eine echte Familie habe, die zusammenhält wie Pech und Schwefel.

Auch die Feierwehrkapell’n hält zusammen. Deshalb war es ungewöhnlich, dass ich allein bei Norbert in der Küche stand. Endlich hatte er sein Telefonat beendet.

»Mogst wos trinken?«, fragte er mich.

»Gib mir a Schorle.«

Er goss ein Glas Apfelschorle ein, stellte es vor mich auf den Tisch und setzte sich mir gegenüber. Irgendetwas stimmte nicht.

»Stummi, pass mal auf«, begann Norbert, wie immer ohne groß um den heißen Brei herumzureden. »Ich hab die letzten Auftritte Revue passieren lassen und bin auch von einigen Leuten angesprochen worden auf deine Verfassung.«

Verfassung? Was meinte er damit? »Was soll mit meiner Verfassung sein?«

»Das weißt du doch selbst.«

»Ich hab keine Ahnung, wovon du redest.«

»Mittlerweile brauchst du einen Stuhl auf der Bühne. Du kannst nicht mehr lang stehen. Du bist kaputt.«

»Wie, kaputt?«, wiederholte ich begriffsstutzig. Ich kapierte nicht, wovon er sprach. Es war doch alles in Ordnung.

»Beim letzten Auftritt hätten wir dich fast auf die Bühne ziehen müssen, weil du die Treppen allein gar nicht mehr raufgekommen bist.«

»Die war aber auch steil«, rutschte es mir heraus.

Norbert schwieg. Ich merkte, dass ich keine Chance hatte. Der Kommandant war mit meiner Leistung nicht zufrieden. Ich würde mich mehr anstrengen müssen. Das stresste mich, denn ich ging ja bereits bis an meine Grenzen. Schon das Stehen auf der Bühne mit der Trommel vor dem Bauch reichte, dass mir der Schweiß in Strömen übers Gesicht lief. Ich hatte Rückenschmerzen, die Füße schliefen mir ein, wenn ein Aufritt lange dauerte, war das für mich eine Tortur.

Aber auch mein Alltag war eine Qual. Manchmal schaffte ich es kaum, aus meiner Lkw-Fahrerkabine auszusteigen und den Kipper abzuplanen. Ich war den Kollegen an der Kiesgrube dankbar, wenn sie das für mich erledigten. Musste ich in einem Gebäude einen Bevollmächtigten für eine Unterschrift auf dem Lieferschein suchen, kam ich schwer aus der Puste, vor allem wenn ich Treppen, also quasi hochalpines Gelände, bewältigen musste. Meine Fuhren plante ich akribisch so, dass ich mich so wenig wie möglich bewegen musste. Bereits Gehen war Leistungssport für mich, und wenn ich manchmal in eine Baumaschine stieg, musste ich meinen Körper förmlich in den Bagger oder Lader hineinpressen. Darüber machte ich mir aber keine Gedanken. Das war einfach so – wie der Sonntag auf den Samstag folgt.

»So kann es nicht weitergehen«, wurde Norbert deutlich. »Du machst dich kaputt, und irgendwann fällst du um, und dann heißt es, schau dir die Altneihauser an, von wegen Kameradschaft, die beuten ihren dicken Trommler aus.«

»Das stimmt doch gar nicht!«

»Stummi, du musst der Wahrheit ins Gesicht schauen.«

»Ja, okay, ich hab ein bisschen zugenommen.«

»Nicht ein bisschen.«

»Na ja, dann halt ein bisserl mehr.«

»Nein, Stummi. Du stehst kurz vorm Explodieren. Irgendwann platzt du auf der Bühne. Oder woanders. Du musst was unternehmen. Ich hab mir das alles genau überlegt. Ich glaube nämlich, dass du von dir aus nichts machen wirst, sondern alles so weiterlaufen lässt. Deshalb unternehm’ ich jetzt was. Der erste Punkt ist, dass du eine Zeit lang nicht mitspielst, damit du dich regenerieren kannst und das mit dem Abnehmen anpackst.«

»Ich soll nicht mehr mitspielen?«, wiederholte ich geschockt das Einzige, was wirklich zu mir durchgedrungen war.

Norbert nickte. »Eine Zeit lang. Ja.«

In mir brodelte es. Allein die Vorstellung war so schrecklich, dass ich sie als Ganzes gar nicht hinunterschlucken konnte. Was das bedeutete! Für mein Leben, für alles, ja und auch, wie mir siedend heiß einfiel, für meinen Finanzplan. Von meinen Schulden nach meiner Kneipenpleite hatte ich zwar die Hälfte zurückgezahlt, auch weil ich mein Elternhaus verkauft hatte, doch meine Einkünfte aus den Auftritten waren eine tragende Säule in meinem Plan. Mit meinem Gehalt als Lkw-Fahrer als einziger Einkommensquelle würde ich noch bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag abzahlen müssen. Ohne die Feierwehrkapell’n würde mein Leben zusammenbrechen! Mir blieb nur noch mein Job. Und natürlich, immerhin, meine Familie. Und Leberkassemmeln, so viele ich wollte, bis ich platzte.

Konnte Norbert Gedanken lesen? Er fuhr fort: »Damit du siehst, dass wir dich nicht alleine lassen, wollen wir dich unterstützen. Wir haben zwei Lösungswege gefunden, was du machen kannst, damit du wieder in Form kommst. Entweder du beantragst eine Kur und bleibst auch danach noch am Ball. Oder du nimmst an einem Programm der Uniklinik teil. Ich hab mich da mal schlau gemacht. Das Ganze ist nicht billig, denn du musst diese spezielle Art der Ernährung aus eigener Tasche zahlen, aber die Kapelle täte dir unter die Arme greifen.«

Norbert erklärte mir, dass meine Kameraden einstimmig beschlossen hatten, das Geld des Kulturpreises, den wir im letzten Jahr gewonnen hatten, für meine Gesundheit zur Verfügung zu stellen. Die Summe lag auf einem Konto, als eiserne Reserve für besondere Ausgaben – eine neue Musikanlage oder ein Fahrzeug zum Beispiel.

In diesem Moment begriff ich nicht, wie solidarisch die Kapelle zu mir stand. Und dass Norbert es gut mit mir meinte. Ich hörte nur: Zu dick, aus, vorbei.

Norbert schaute mich erwartungsvoll an: »Was sagst du dazu?«

Ich fasste zusammen, was bei mir angekommen war. »Dann muss ich halt daheim bleiben. Wenn das so gewünscht ist.«

Norbert ließ sich nicht darauf ein. Er war in seinem Leben noch nie dick gewesen. Er hatte keine Figur- und auch keine Führungsprobleme als Kommandant. Er erklärte mir nicht alles noch einmal von vorne, sondern lockte mich mit meinem Comeback.

»Es hilft nichts. Du musst in den sauren Apfel beißen. Du musst das durchziehen. Und wenn du auf einem vernünftigen Level belastbar bist, spielst du wieder mit.«

»War’s das?«

»Ja. Wenn ich was Näheres weiß, melde ich mich bei dir. Ich habe noch einen Termin bei der Uniklinik und der AOK. Danach sag ich dir Bescheid.«

Ich hievte mich hoch und versuchte, so locker wie möglich zur Tür zu schlendern. Ich wollte nur eins: raus. Außerdem hatte ich Hunger. Auf meinem inneren Nahrungsbeschaffungs-Navi hatte ich schon den nächsten McDonald’s gescannt. Ich kenne auch alle Metzgereien im Umkreis von zwanzig Kilometern. Bei McDonald’s bestellte ich eine Neunerpackung Chicken McNuggets, einen Royal TS, Pommes, Sprite, zwei Apfeltaschen. Aß schnell, schlang fast. Schlang fast, slim fast ging mir durch den Kopf.

Sonst nichts.

Feierwehrler halten zam

»Was ist denn mit dir los?«, fragte Monika, die zweite Frau meines Vaters. Mein Vater war seit neun Jahren tot. Monika war mir geblieben. Manchmal sagte ich sogar Mutter zu ihr. Meine Mama war gestorben, als ich neun war; drei Jahre später hatte Monika, die den gleichen Vornamen trug wie meine Mutter, wieder Licht und Liebe in unser Leben gebracht Seit ich wegen meiner Schulden vor drei Jahren mein Elternhaus verkauft hatte, wohnte ich wieder bei ihr. Sie hatte nicht nur ein offenes Ohr für mich, sondern auch eine offene Tür. Mein Halbbruder Uli, 14 Jahre jünger als ich, lebte auch bei Monika. Im Hotel Mama war es halt am schönsten, und Uli und ich verstanden uns prima.

»Ezt hod er mi rausghaut«, erklärte ich Monika, die gleich gemerkt hatte, das etwas nicht stimmte.

»Wieso rausghaut?«

»Angeblich vorübergehend«, schwächte ich halbherzig ab. Aber ich hatte den Rauswurf nicht als Beurlaubung verstanden, er hatte mich mitten ins Herz getroffen. »Weil ich zu dick bin und es nicht mehr auf die Bühne schaffe. Und weil die Leut sang, der bricht amal zam und stirbt bei am Auftritt, und dann ist er schuld, der Norbert.« So ein Oarsch, dachte ich insgeheim und wünschte ihm die Pest ans Bein.

Monika griff nach meiner Hand, drückte sie mitfühlend, sagte aber nichts. Auch meine Geschwister schwiegen. Denn natürlich fanden sie, dass ich abnehmen sollte, aber sie wollten Norberts Kritik nicht bestätigen, weil sie merkten, wie verletzt ich war.

Außerhalb meiner Familie fielen die Sätze, die ich nicht hören wollte: »Das tut dir ganz gut.«, »Probier es doch mal, dann lebst du viel gesünder.« Und überall wurde die Hilfsbereitschaft meiner Kameraden hervorgehoben. Feierwehrler halt. Ich fühlte mich trotzdem ungerecht behandelt, und das hielt lange an. Dennoch stellte ich mich den Fakten: Entweder abnehmen und dabeibleiben. Oder dick bleiben und aus.

Nach wie vor konnte ich mir ein Leben ohne die Feierwehrkapell’n nicht vorstellen. Also musste ich abnehmen. Auch wenn es Erpressung war. Ich selbst wollte nicht unbedingt abnehmen, aber ich wollte unbedingt weiter mitspielen, also musste ich unbedingt abnehmen wollen. Irgendwie wusste ich, dass ich zu dick war, aber eigentlich wusste ich es nicht. Es war durch die vielen Fettschichten noch gar nicht so zu mir durchgedrungen. Meine Leibesfülle war wie eine Augenfarbe. Die nimmt man auch hin und denkt nicht ständig darüber nach.

Wie angekündigt rief Norbert mich nach einigen Tagen an und teilte mir mit, dass der Professor ihm zugesichert habe, mich vorbehaltlich einer Eingangsuntersuchung in das Programm aufzunehmen. »Und ich hab noch eine gute Nachricht für dich, Stummi. Der Professor meint, wenn du es wirklich willst, schaffst du es.«

Nun, um das zu erkennen, hätte ich keinen Professor gebraucht. Ich wusste selbst, dass ich den Schalter im Kopf umstellen musste. Und dass die Mission »Abnehmen« nicht in einem Monat erledigt wäre. Ich hatte schon einige Diäten hinter mir, die mir vor allem bewiesen hatten, dass der Jo-Jo-Effekt keine Theorie ist. Alle diese Diäten waren mir mehr oder weniger von anderen eingeredet worden, allen voran von meiner Oma. Sie hatte mir damit so einige Sommerferien vermiest. Dennoch hatte ich brav gegessen, was sie mir hinstellte: morgens drei Eier und eine Grapefruit, mittags ein Ei mit Steak, abends zwei Eier mit Salat ohne Essig und Öl. Aber ich hatte es nicht dabei belassen, sondern die Diät nach meinen eigenen Vorstellungen verfeinert. »Keine Ahnung, was ich mit dir no machn soll«, hatte Oma augenzwinkernd gejammert. »Du isst fast nix und nimmst aba trotzdem nix ab.«

Beruflich konnte ich mir eine Diät kaum vorstellen. Ich war nicht nur auf Baustellen unterwegs, manchmal wurde ich auch im Fernverkehr eingesetzt. Da ist eine Diät unmöglich, so meine Überzeugung. Deshalb sah ich schwarz, was Norberts Vorschlag betraf, denn um am Optifast-Programm teilzunehmen, musste ich einmal in der Woche um siebzehn Uhr in Donaustauf sein. Wie sollte ich das schaffen? Aber was waren die Alternativen? Widerwillig googelte ich Informationen zu diesem Programm, das von der Uniklinik Regensburg angeboten wurde:

Für Menschen mit einem BMI > 30 bieten wir die Möglichkeit, mit dem OPTIFAST52-Programm langanhaltend und mit professioneller Unterstützung abzunehmen. Ziel des 52 Wochen dauernden Kurses ist es, mit nachhaltigem Erfolg abzunehmen und Begleiterkrankungen von Übergewicht wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes oder Gelenkerkrankungen entgegenzuwirken. Die Teilnehmer werden dafür während des ganzen Kurses von einem Team aus Ärzten, Psychologen, Ernährungsfachkräften, Sport- und Bewegungstherapeuten betreut. Die Wirksamkeit des Programms belegen die Ergebnisse der bisherigen Kurse. Im Durchschnitt verloren die weiblichen Teilnehmer jeweils 23 kg und die männlichen 33 kg innerhalb der ersten sechs Monate.*

33 Kilo in einem halben Jahr. Wenn ich das auf ein Jahr hochrechnete … Da wäre Norbert bestimmt zufrieden, und ich könnte wieder mitspielen. Und so lang war ja ein Jahr nicht. Bloß: Was würde ich bei Optifast essen dürfen? Allein die Vorstellung, Diät zu halten, versetzte mich in Panik.

»Was hast du selbst erreicht?«, wollte Norbert am Telefon von mir wissen.

»Mein Hausarzt meint, eine Kur tät durchgehen«, erwiderte ich. Denn ich war auch nicht untätig gewesen und hatte ihn angerufen.

»Eine Kur reicht nicht«, entgegnete Norbert. »Das Optifast-Programm ist besser. Das sagt auch die AOK, und sie werden das im Rahmen ihrer Möglichkeiten finanzieren. Und davon abgesehen: Die Kapell’n steht zu dir.«

Dass das stimmte, merkte ich, als wir uns trafen. Keiner hatte mich fallen lassen. Sie klopften mir auf die Schulter und drückten mir lang die Hand. Wie bei einer Beerdigung, dachte ich. Aber das war es ja auch irgendwie. Ich sollte möglichst viele Kilos beerdigen. Vom Kopf her wusste ich, dass sie mir nichts Böses wollten, ganz im Gegenteil. Sie spendeten schließlich sogar unseren Kulturpreis für meine Entfettung! Das war Kameradschaft! Doch die Worte von Norbert hatten sich tief in mich eingegraben. Ich war sehr verletzt, wollte mir das aber nicht anmerken lassen, weil ich mir nie etwas anmerken ließ und im Lauf meines zunehmenden Lebens genug Strategien entwickelt hatte, mit Verletzungen umzugehen. Es ist ganz einfach: Man muss nur seine Schutzschicht stärken – und ich hatte das wortwörtlich umgesetzt.

Lucki sagte: »Wir lassen dich nicht fallen.« Sepp sagte: »Das machst du nicht für uns. Das machst du für deine Gesundheit.« Dominik sagte: »So was haut einen Trommler doch nicht um.« Stefan sagte: »Das wär doch gelacht, wenn du das nicht packen würdest.« Thomas sagte: »Das schaffst du schon.« Peter sagte: »Betrachte es als Investition in deine Zukunft. Außerdem gehörst du zu uns und Punkt.« Ruppert sagte: »Wir wollen ja schließlich noch lange miteinander spielen.«

Norbert sagte: »Du hast doch vor drei Jahren mit dem Rauchen aufgehört, also schaffst du das auch.«

»Logisch«, antwortete ich. Aber ich war lange nicht so überzeugt, wie ich klang.

*https://www.ukr.de/kliniken-institute/Psychosomatische_Medizin/Aktuelle_Hinweise/Optifast/index.php

Die Gummibärchen sind schuld

Bis vor drei Jahren hatte ich drei Schachteln Zigaretten am Tag geraucht, manchmal mehr. Ehrlich gesagt wusste ich oft nicht einmal, ob ich gerade eine Fluppe im Mund hatte oder nicht. Manchmal hatte ich drei gleichzeitig am Start: eine zwischen den Fingern, eine im Aschenbecher und eine zwischen den Lippen. Heute wäre so eine Luftverpestung gar nicht mehr möglich, weil Zigaretten mittlerweile eine Selbstlöschfunktion haben und ausgehen, wenn eine Weile nicht geraucht wird. Dadurch vermindert sich das Risiko, mit einer brennenden Zigarette im Bett einzuschlafen.

Viele Leute hatten mir erzählt, dass die Nikotinentwöhnung die reinste Hölle sei. Ich war also auf einiges gefasst und staunte dann, wie leicht es mir fiel. Heute glaube ich, dass ich trotz meines hohen Zigarettenkonsums nicht nikotinabhängig war. Ich rauchte nur deshalb so viel, weil ich nicht wusste, was ich mit meinen Händen tun sollte. Wenn eine Zigarette zwischen den Fingern steckte, waren sie beschäftigt. Das fiel mir auf, als ich in der ersten Zeit ohne Zigaretten Bleistifte »rauchte«: Es kam mir vor allem darauf an, etwas zwischen den Fingern zu haben.

Norbert hatte seinen Vergleich mit dem Rauchen sicher gut gemeint, und es ist ja auch was dran: Nikotinentwöhnung und Diät erfordern hohe Disziplin. Das Blöde ist nur: Nikotin kann man vollständig sein lassen, Essen nicht. Man kann nicht komplett auf Kalorien verzichten, jedenfalls nicht für immer. Wer nicht isst, stirbt. Wer nicht raucht, lebt weiter, und zwar besser als vorher.

Es war Sommer, als ich beschloss, mit dem Rauchen aufzuhören. In einem ungünstigen Licht hatte ich einmal meine gelben Finger gesehen. Der Anblick schockierte mich. Und dass alle meine Klamotten nach kaltem Qualm stanken, passte mir auch nicht. Am schlimmsten fand ich jedoch meine Gier. Ich war zum Kettenraucher geworden, hatte die Kontrolle komplett verloren. Was war bloß los mit mir, dass ich nie genug kriegen konnte? Damals bezog ich dieses Suchtverhalten nur auf die Zigaretten. Die Brücke zum Essen konnte ich noch nicht schlagen. Ich war der Typ, den Konstantin Wecker in einem Lied besingt: Genug ist nie genug, genug kann nie genügen. Ob Rauchen, Essen oder später auch Schwimmen oder Walken: Ich brauchte immer mehr als das übliche Maß, schwamm nicht zwanzig Minuten, sondern zwei Stunden. Allein beim Alkohol verlor ich Gott sei Dank niemals die Kontrolle.

Als ich einmal bei meiner Schwester Silvia und ihrem damaligen Freund und heutigen Mann Reinhard zu Besuch war, regte ich mich über meine Qualmerei auf. »Ich hab mir schon überlegt, ob ich mich akupunktieren lasse«, erzählte ich den beiden.

»Das kannst du billiger haben«, meinte mein Schwager und drückte mir das bekannte Buch von Allen Carr zur Raucherentwöhnung in die Hand. Die Lektüre faszinierte mich. Alles, was der Mann schrieb, war mir vertraut, und er hatte mit allem Recht. Der Autor rät, dass man während des Lesens weiterrauchen soll. Erst wenn man das Buch zu Ende gelesen hat, soll man sich die letzte Zigarette nicht nur des Tages, sondern des Lebens anzünden. Genauso wollte ich es machen. Es war mir jedoch klar, dass ich das während der Arbeit nicht schaffen würde, weil ich im Lkw am meisten rauchte. Ich brauchte Urlaub, um mit dem Rauchen aufzuhören. In der Firma fragte ich nach unseren Betriebsferien zwischen den Jahren. Ich erfuhr, dass für den 21. Dezember die Weihnachtsfeier geplant war, am 9. Januar würden wir weiterarbeiten. Also würde ich bis zum 21. Dezember das Buch zu Ende lesen und an diesem Tag meine letzte Zigarette rauchen. Laut Allen Carr kommt es auf die ersten beiden Wochen an; hält man die ohne Rückfall durch, ist das Schlimmste überstanden.

»Hast du was Größeres vor?«, fragte mich die Seniorchefin, als ich bei der Weihnachtsfeier drei Päckchen Zigaretten auf den Tisch legte.

»Ich höre heute mit dem Rauchen auf.«

Sie lachte gutmütig. In ihren Ohren klang das vermutlich so, als hätte ich angekündigt, einen Spitzentanz aufführen zu wollen.

Obwohl ich mir Mühe gab, schaffte ich die drei Schachteln während der Weihnachtsfeier nicht. Ich hatte tagsüber ja schon fleißig geraucht. Zu Hause legte ich die übrig gebliebenen Zigaretten in eine Schublade, dazu mein Feuerzeug, wusch alle Aschenbecher in der Wohnung gründlich aus und sah meinem Leben als Nichtraucher gespannt entgegen. Leicht war es nicht. Erstens rauchten in meiner Familie damals fast alle. Zweitens trafen sich an Weihnachten viele Verwandte bei Monika, es war ständig was los, essen, trinken, rauchen. Drittens galt es außer den Weihnachtstagen auch noch drei Geburtstage innerhalb dieser Zeit zu feiern. Aus Gewohnheit wurden mir unzählige Zigaretten angeboten, und ich musste mich selbst oft daran erinnern, dass ich jetzt Nichtraucher war. Ich wurde gefragt, warum ich aufhörte. Wegen der Gesundheit? Ich nickte. Gesundheit war immer gut.

Auf die Idee, dass ich auch wegen des Geldes aufhören könnte, kam niemand, wir wohnen nah an der Grenze und in Tschechien waren die Zigaretten billig, obwohl die Raucherei bei meinem Konsum natürlich trotzdem ins Geld ging. Aber im Lkw war ich allein, keiner sah, wie viel ich im Lauf eines Tages wegpaffte.

Als ich die ersten beiden Wochen geschafft hatte, fühlte ich mich großartig. Ich hatte die Bestie, wie Allen Carr es nannte, besiegt!

Doch ich hatte nicht mit der Macht der Gewohnheit gerechnet. Kaum saß ich am 9. Januar in meinem Lkw, juckte es zwischen den Fingern. Da fehlte was. Es fehlte so brüllend, dass ich nichts anderes wahrnehmen konnte. Ich hielt den ganzen Tag stand. Abends, es war schon dunkel, fuhr ein Kollege vor mir auf der Autobahn. Wir waren auf dem Weg nach Singen. Dreimal in einer halben Stunde sah ich die Glutexplosionen seiner aus dem Fenster geschnippten Zigaretten auf dem Asphalt. Ich wurde immer nervöser. So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Die Gier nach einer Zigarette stieg ins Unermessliche. Nein, du rauchst jetzt keine, beschwor ich mich. Mach dir doch nicht kaputt, was du in den letzten Wochen erreicht hast!

Doch die Gier hörte nicht auf mich. Ich musste sie mit irgendetwas besänftigen. Am besten mit etwas Kleinem für die Finger. An der Autobahnraststätte Schwabach kaufte ich mir eine Tüte Gummibärchen. Die reichte bis zur nächsten Raststätte. Auf der Frankenhöhe kaufte ich mir fünf Packungen. Bis Singen »rauchte« ich sie auf, knüllte die leeren Tüten zusammen und drückte sie in den Aschenbecher. Das war der Anfang meiner Gummibärchensucht, mit der ich am Ende über 50 Kilogramm zulegte. Kleinvieh macht auch Mist.

Wenn ich es recht bedachte, waren an meiner Beurlaubung bei der Altneihauser Feierwehrkapell’n also die Gummibärchen schuld. Fluppe weg, Bärchen rein. In Zukunft wären Gummibärchen gestrichen. Und auch Leberkassemmeln und Sahnetorten und Bratwürste und Kuchen und Currywurst und Milchschnitten und Pommes und Nussherndl und Joghurt und Chicken McNuggets und Krapfen und Cheeseburger und Donuts und Hamburger und Pizza und Kekse und Schokoriegel, um den Magen zu schließen. Ich wollte unbedingt wieder mitspielen, Ehre und Stolz hin oder her. Um das zu schaffen, was Nobert verlangt hatte, brauchte ich einen Plan, so wie damals bei der Nikotinentwöhnung. Den Plan hatte mir Norbert als umsichtiger Kommandant gleich mitgeliefert. So väterlich war er zu uns allen. Aber konnte dieser Plan, der auf seinem, nicht auf meinem Mist gewachsen war, genügend Kraft entwickeln? Die Zigarettenentwöhnung über Weihnachten war voll und ganz meine Idee gewesen; das Optifast-Programm hatte Norbert ausfindig gemacht. Konnte das klappen? Oder kam es vor allem auf meinen eigenen Willen an? Das würde ich herausfinden. Nein, ich musste es herausfinden, denn eigentlich hatte ich keine Wahl. Ein Leben ohne die Kapell’n konnte ich mir nicht vorstellen. Und was Verluste betrifft, bin ich ein gebranntes Kind.

Das Schweigen

Ich war sieben Jahre alt, als meine Mama eines Morgens vor der Schule, während sie mir ein Pausenbrot schmierte, sagte: »Ich bin krank. Ich muss ins Krankenhaus.«

»Wie lang?«, fragte ich, in Gedanken schon bei meinen Kameraden.

»Das weiß ich noch nicht. Die Oma versorgt euch dann.«

»Ich kann auch mithelfen.«

»Bestimmt kannst du das, aber die Oma schaut trotzdem auf dich und die Sabine, die ist ja kleiner als du. Und abends ist der Papa wieder da.«

Ich erinnere mich nicht, wie sie es sagte. Ich weiß nicht mehr, wie ihre Stimme klang oder wie ihr Lächeln aussah. Und ich erinnere mich auch nicht daran, wie lange meine Mutter im Krankenhaus blieb. Vielleicht drei Wochen? Man sprach nicht darüber, meine Schwester Sabine und ich erfuhren nichts. Komisch war bloß, dass Papa anfing zu rauchen. Oma schimpfte ein bisschen mit ihm, weil er es sich doch abgewöhnt hatte. Ich erlauschte, dass er vor meiner Geburt geraucht und aufgehört hatte, als Mama mit mir schwanger war.

Heute weiß ich, dass Mama einen Tumor zwischen Dünn- und Dickdarm hatte, den die Ärzte nicht vollständig operieren konnten. Sie gaben ihr ein halbes Jahr.

Mama kam nach Hause und alles war wie immer. Nur Papa rauchte weiter. Nach einer Weile hatte Mama offensichtlich eine neue Leibspeise – Zucker. Sie aß ihn mit dem Suppenlöffel direkt aus der Tüte, kaufte Kilopackungen, nicht mehr wie früher Pfundpackungen. Sie setzte sich auch nicht an den Tisch zum Essen. Der Zucker stand oben auf dem Küchenregal, sie stellte sich auf die Zehenspitzen, den Löffel schon in der Hand, holte sich die Tüte und schaufelte, über die Spüle gebeugt, damit nichts bröselte, Zucker in sich hinein. Ich lehnte an der Tür und beobachtete sie. Aber ich fragte nichts. Man fragte nicht bei uns.

Dann war sie wieder im Krankenhaus und kam zurück und war wieder weg und kam zurück, so ging es vier, fünf Mal. Immer sagte sie bloß: »Ich muss ins Krankenhaus.«

»Ja, Mama.«