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Hüte dich vor Helen ... Als ihre Mutter wieder heiratet, versuchen Molly und ihr Bruder Michael, sich mit ihrer neuen Stiefschwester Heather anzufreunden. Die macht aber immer nur Ärger. Heather lügt und benimmt sich daneben, und irgendwie bekommen die beiden immer die Schuld. Das Verhalten von Heather wird noch seltsamer, als sie immer öfter auf dem Friedhof hinter dem Haus spielt. Sie sagt, sie könne mit dem Mädchen Helen sprechen, die vor über 100 Jahren bei einem mysteriösen Feuer ums Leben kam. Michael glaubt nicht an Geister. Aber Molly ist sich da nicht so sicher, vor allem als Heather droht, dass Helen kommt und sie holen wird … Mary Downing Hahn (geboren 1937) ist eine amerikanische Autorin, die für ihre gruseligen Geschichten für Jugendliche bekannt ist. Wait Till Helen Comes erschien 1986 und wurde ein Klassiker, der bis heute immer wieder aufgelegt wird. Ihre Werke enthalten selten grafische Gewalt, doch einige ihrer Themen eignen sich eher für Erwachsene, etwa Selbstmord, das Übernatürliche und psychische Erkrankungen. Aus diesem Grund werden ihre Bücher häufig aus Schulbibliotheken verbannt.
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Seitenzahl: 187
Veröffentlichungsjahr: 2024
Aus dem Amerikanischen von Hans Schuld
Impressum
Die amerikanische Originalausgabe Wait Till Helen Comes
erschien 1986 im Verlag Clarion Books.
Copyright © 1986 by Mary Downing Hahn
Copyright © dieser Ausgabe 2024 by Festa Verlag GmbH, Leipzig
Titelbild: Timo Wuerz
Alle Rechte vorbehalten
eISBN 978-3-98676-157-8
www.Festa-Verlag.de
Eine Geistergeschichte für Norm
1
»Ihr habt eine Kirche gekauft?« Michael und ich schauten von unseren Hausaufgaben auf, mit denen wir fast den ganzen Küchentisch belagert hatten. Ich war gerade dabei, ein Gedicht für Mr. Pelowskis Englischunterricht zu schreiben, und Michael arbeitete sich munter durch 20 Matheaufgaben.
Mom füllte den Wasserkessel und stellte ihn auf den Herd. Ihre Wangen waren rosig vom Märzwind, genauso ihre Nasenspitze.
»Du und Molly werdet begeistert sein«, meinte sie. »Genau so etwas haben Dave und ich den ganzen Winter lang gesucht. Es gibt dort einen Wagenschuppen, in dem kann er sich seine Töpferwerkstatt einrichten, und auf der Chorempore ist reichlich Platz für mein Atelier. Es ist einfach perfekt.«
»Aber wie kann man denn in einer Kirche wohnen?«, fragte Michael, der sich von ihrer Begeisterung nicht so leicht anstecken ließ.
»Na ja, es ist eigentlich keine Kirche mehr«, sagte Mom. »Irgendwelche Leute aus Philadelphia haben sie letztes Jahr gekauft und etliche Räume als Wohnbereich angebaut. In der Kirche selbst wollten sie einen Antiquitätenladen einrichten, aber nachdem sie mit der ganzen Arbeit fertig waren, merkten sie, dass ihnen das Leben auf dem Land doch nicht gefiel.«
»Es ist auf dem Land?« Ich musterte stirnrunzelnd die kleine Katze, die ich an den Rand meines Notizbuchs gekritzelt hatte.
Mom blickte lächelnd aus dem Küchenfenster hinüber auf die andere Straßenseite. Es sah aus, als starrte sie in Mrs. Overtons Fenster, aber in Wirklichkeit sah sie sich schon vor einer Staffelei stehen und an einem neuen riesigen Ölgemälde arbeiten, weit weg von dem ›Seelen tötenden Stadtleben‹, wie sie immer sagte. Sie hatte nämlich die ärgerliche Angewohnheit, immer dann in ihre private Traumwelt abzutauchen, wenn man sie am meisten brauchte.
»Wo ist denn diese Kirche?«, fragte ich.
»Wo sie ist?« Mom goss kochendes Wasser in ihre Tasse und gab Honig hinzu. »In Holwell, Maryland. Die Berge sind ganz in der Nähe, und es ist wunderschön dort. Einfach wunderschön. Der perfekte Ort zum Malen und Töpfern.«
»Und was ist mit Molly und mir? Was sollen wir tun, während du und Dave malt und töpfert?«, fragte Michael.
»Du hast versprochen, ich könnte dieses Jahr bei den Sommerkursen der Schule mitmachen«, sagte ich und dachte an den Kurs im kreativen Schreiben, den ich belegen wollte. »Kann ich das trotzdem?«
»Ja, und was ist mit dem Wissenschaftsclub?«, fragte Michael. »Ich bin schon dafür angemeldet. Mr. Phillips will mit uns zum Aquarium und dem Forschungszentrum und sogar zum Smithsonian in Washington.«
Mom seufzte und schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, ihr beiden müsst andere Pläne für den Sommer machen. Wir ziehen im Juni um, und ich kann unmöglich jeden Tag die ganze Strecke bis nach Baltimore und zurück fahren.«
»Aber ich hab mich schon das ganze Jahr lang auf den Wissenschaftsclub gefreut!« Michaels Stimme war anzuhören, dass er kurz davor war zu heulen.
»Du hast dort jede Menge Wald, den du erforschen kannst«, erwiderte Mom gelassen. »Denk nur mal an die ganzen Tiere, die du beobachten kannst, und die Insekten, mit denen du deine Sammlung vergrößern kannst. Als Dave und ich dort waren, haben wir einen Waschbären, ein Opossum, ein Murmeltier und Dutzende von Eichhörnchen gesehen.« Mom beugte sich lächelnd zu ihm und hoffte, dass Michael jetzt begriffen hatte, wie wunderbar es sein würde, irgendwo auf dem Land in einer Kirche zu leben, meilenweit weg von Mr. Phillips und dem Wissenschaftsclub.
Aber Michael war nicht so leicht zu überzeugen. Er sackte in seinem Stuhl zusammen und murmelte: »Ich würde lieber in Baltimore bleiben, auch wenn ich da nie was anderes sehe als Kakerlaken, Tauben und Ratten.«
»Ach, um Himmels willen, Michael!«, rief Mom verärgert. »Du bist zehn Jahre alt. Benimm dich auch so.«
Michael wollte etwas sagen, um sich zu verteidigen, aber da erschien Heather in der Küchentür. Sie hatte einen sechsten Sinn dafür, wenn es irgendwo Streit und Ärger gab. Mit ihren blassgrauen Augen schaute sie von Mom zu Michael, dann zu mir und wieder zurück zu Mom. Ich konnte ihr regelrecht ansehen, dass sie auf ordentlich Zoff hoffte, mit brutaler Gewalt, Geschrei und Blutvergießen.
»Heather, ich habe mich schon gefragt, wo du steckst!« Mom bemühte sich, wieder genauso begeistert zu klingen wie vorhin. »Rate mal, was dein Daddy und ich gefunden haben! Ein Haus für uns auf dem Land. Ist das nicht toll?« Sie strahlte Heather mit dem Lächeln einer netten Tante an und wollte sie umarmen.
Geschickt wie eine Katze wich Heather ihr aus und spähte aus dem Küchenfenster. »Daddy ist da«, verkündete sie.
»O nein, ich hab vergessen, den Auflauf in den Backofen zu tun!« Mom rannte zum Kühlschrank und zog den Auflauf aus Auberginen, Käse, Tomaten und Bulgur heraus und schob die Form in den Backofen, gerade als Dave die Hintertür öffnete und einen Schwall von kaltem Märzwind mit sich ins Zimmer brachte.
Nachdem er Mom umarmt und geküsst hatte, packte er Heather und hob sie hoch. »Wie geht’s meinem Mädchen?«, rief er fröhlich.
Heather schlang ihre Arme um seinen Hals und verzog das Gesicht. »Die haben sich gestritten«, sagte sie mit einem Blick auf Michael und mich.
Dave schaute zu Mom, die lächelnd den Kopf schüttelte. »Wir haben nur über unseren großen Umzug aufs Land gesprochen, das ist alles. Niemand hat sich gestritten, Heather.« Mom drehte das kalte Wasser auf und begann Salatblätter abzuspülen.
»Ich mag das nicht, wenn sie streiten.« Heather klammerte sich fester an Daves Hals.
»Komm, Michael.« Ich stand auf und raffte meine Bücher und Hefte zusammen. »Wir machen unten unsere Hausaufgaben fertig.«
Sobald wir allein waren und uns niemand mehr hören konnte, fragte ich meinen Bruder: »Was sollen wir machen?«
Er warf sich auf die alte Couch vor dem Fernseher. »Nichts. Es ist zu spät, Molly. Sie haben die Kirche gekauft und wir ziehen dorthin. Punkt.«
Er schnappte sich ein Kissen und schmiss es quer durchs Zimmer, wobei er nur knapp eines von Moms Gemälden verfehlte, das die riesige Blüte einer Sonnenblume darstellte. »Warum hat sie ihn bloß geheiratet? Wir waren total glücklich, ehe er und Heather aufkreuzten.«
Ich setzte mich neben ihn und nickte. »Sie haben alles verdorben.« Mit einem raschen Blick zur Treppe überzeugte ich mich, dass Heather uns nicht hinterhergeschlichen war, um uns nachzuspionieren. »Wenn Heather bloß ein normales Kind wäre. Sie benimmt sich mehr wie eine Zweijährige als wie eine Siebenjährige. Und sie ist gemein. Sie tratscht und lügt und tut alles, was sie kann, damit wir Ärger mit Dave kriegen. Und er ist immer auf ihrer Seite – Mom auch.«
Michael zog ein Gesicht. »Du weißt doch, was Dave immer sagt.« Mit verstellter Stimme äffte er Dave nach: »Heather ist ein ungewöhnlich fantasievolles und sensibles Kind. Und sie hat einen großen Verlust erlitten. Du und Molly müsst Geduld mit ihr haben.«
Ich stöhnte. »Wie lange sollen wir noch Mitleid mit ihr haben und nett zu ihr sein? Ich weiß, es muss furchtbar gewesen sein, dass die eigene Mutter bei einem Brand stirbt und man selbst zu klein ist, um helfen zu können, aber damals war sie drei Jahre alt. Sie sollte inzwischen darüber hinweg sein, Michael.«
Er nickte. »Ich wette, wenn Dave sie zu einem Psychiater bringen würde, ginge es ihr bald besser. Der kleine Bruder von meinem Freund Martin geht zu einem in Towson, und das hat ihm enorm geholfen. Er spielt da mit Puppen und malt Bilder und macht Sachen aus Ton.«
Ich seufzte. »Du weißt doch ganz genau, was Dave von Psychiatern hält, Michael. Ich hab gehört, wie er mal zu Mom gesagt hat, die würden mit ihrem wirren Geschwätz alles bloß noch schlimmer machen.«
Michael stand auf und schaltete im Fernseher Speed Racer ein. Mit einem Auge behielt er den Bildschirm im Blick und machte seine restlichen Matheaufgaben fertig, während ich dasaß und weitere Katzen zeichnete, statt mein Gedicht fertig zu schreiben.
Nach einigen Minuten stupste ich Michael an. »Erinnerst du dich an den Film, den wir mal gesehen haben über das kleine Mädchen, das seinen Feinden schreckliche Sachen antat?«
»Böse Saat?«
»Genau, das war er. Weißt du, manchmal denke ich, Heather ist wie dieses Mädchen Rhoda. Mal angenommen, sie hat ihre Mutter absichtlich verbrennen lassen, genauso wie Rhoda den Hausmeister?«
Michael spähte über den Rand seiner Brille. »Du bist verrückt, Molly. Kein dreijähriges Kind könnte so was machen.« Er klang wie ein Wissenschaftler, der einem Kind etwas erklärte, statt wie ein zehnjähriger Junge, der mit seiner zwölfjährigen Schwester sprach.
Ich lachte. Ja, was ich gesagt hatte, war wirklich albern. »Hab doch bloß Spaß gemacht.« Aber eigentlich nur halb. Heather hatte irgendwas an sich, sodass ich mich immer unwohl fühlte in ihrer Nähe. Ganz egal wie sehr ich mich darum bemühte, ich mochte sie einfach nicht und konnte sie erst recht nicht lieb haben, was Mom immer wieder von uns verlangte. Es war schwer, auch nur Mitleid für sie zu empfinden.
Dabei hatte ich es wirklich versucht. Als Heather bei uns eingezogen war, hatte ich alles getan, was mir nur einfiel, um eine gute große Schwester zu sein, aber sie hatte mir deutlich gezeigt, dass sie nichts mit mir zu tun haben wollte. Wenn ich versuchte, ihr das Haar zu kämmen, riss sie sich los und heulte Mom vor, ich täte ihr weh. Wenn ich anbot, ihr vorzulesen, fing sie nach dem ersten oder zweiten Satz an zu gähnen und sagte, die Geschichte sei langweilig und blöd. Einmal machte ich den Fehler, sie mit meinen alten Barbiepuppen spielen zu lassen. Sie spielte Friseur, schnitt ihnen die Haare ab und zerfetzte ihre besten Outfits. Und eine Familie von Papierpuppen, die ich für sie gemacht hatte, zerriss sie vor meinen Augen, was ihr riesigen Spaß machte, warf die Reste in den Mülleimer und marschierte aus dem Zimmer.
Aber noch schlimmer war, dass sie dauernd Lügen über Michael und mich erzählte und behauptete, wir quälten sie, wann immer wir mit ihr allein seien. Dave glaubte ihr meistens und Mom manchmal auch. Mom und Dave hatten vor sechs Monaten geheiratet, und seitdem war die Stimmung bei uns immer schlechter geworden, wofür hauptsächlich Heather verantwortlich war. Und jetzt würden wir in eine kleine Kirche auf dem Land ziehen, wo wir den ganzen Sommer lang nirgendwohin flüchten konnten. Kein Wunder, dass ich deprimiert war.
Ich schaute zu Michael, der immer noch eifrig an seinen Matheaufgaben saß. Mein Gedicht war inzwischen fast verschwunden hinter den vielen Katzen, die ich gezeichnet hatte. Aber ich war sowieso nicht mehr in der Stimmung, weiter über Einhörner, Regenbogen und schwebende Schlösser zu schreiben. Ich riss das Blatt heraus, zerknüllte es zu einem Ball und warf es weg. Dann begann ich, ein Gedicht über das echte Leben zu schreiben. Ein trauriges, in dem es um Einsamkeit und Verzweiflung ging und darum, wie elend es war, von niemandem verstanden und geliebt zu werden.
2
Am ersten Tag der Sommerferien luden Dave und einige seiner Freunde alles, was wir besaßen, in einen Umzugswagen und fuhren los zu unserem neuen Zuhause in Holwell, Maryland. Dave steuerte den Laster, Heather saß neben ihm und sah sehr zufrieden aus, Mom, Michael und ich folgten ihnen in unserem alten Van. Daves Freunde fuhren hinter uns her in einem zweiten Van, der noch klappriger war als unserer.
Nachdem wir von der Autobahn abgebogen waren, wurden die Straßen schmaler und schlängelten sich Anhöhen rauf und runter. Wir rumpelten über Schlaglöcher und Bodenwellen, fuhren durch dichte Wälder und an Farmen vorbei. Mom entdeckte immer wieder neue malerische Sehenswürdigkeiten. »Seht ihr die alte Scheune dort drüben?«, rief sie und deutete auf ein Gebäude, das kurz vor dem Einsturz zu sein schien. »Ist das nicht ein perfektes Motiv für ein Bild?«
Als Michael und ich bloß meinten, Andrew Wyeth habe bereits Hunderte solcher Scheunen gemalt, entdeckte sie etwas anderes – einen krumm verwachsenen alten Baum; eine Wäscheleine, auf der Kleidung flatterte; eine Gänseschar, die quer über einen Hof stolzierte – und wurde total aufgeregt. »Ihr beiden werdet sehen, es wird einfach wunderbar sein, hier zu leben«, sagte sie mehr als einmal und verlor nie die Hoffnung, dass wir ihr schließlich zustimmen würden.
Nach ein paar Stunden Fahrt verkündete Mom endlich: »Da wären wir!« Sie bog hinter dem Möbelwagen von der Straße ab und deutete auf eine kleine weiße Kirche. »Ist das nicht wunderschön hier?«
Auch wenn mir unser Reihenhaus lieber gewesen wäre, musste ich zugeben, dass es hier tatsächlich sehr schön war. Ruhig und friedlich stand das kleine Gebäude am Straßenrand im Schatten von zwei Ahornbäumen. Obwohl es keinen Kirchturm hatte, ließen die großen Spitzbogenfenster und die roten Flügeltüren keinen Zweifel daran, dass es tatsächlich eine Kirche war. An einer Seite war ein Anbau, ganz im Stil des originalen Bauwerks gehalten, und auf der anderen Seite war der ehemalige Wagenschuppen, wo Dave seine Töpferwerkstatt einrichten wollte.
Dahinter lag im Licht der Morgensonne ein dunkelgrüner Wald und zu beiden Seiten gab es Maisfelder. Auf der anderen Straßenseite standen Kühe, die uns aus großen braunen Augen neugierig anstarrten.
»Schau mal, das Empfangskomitee.« Michael gab mir einen Rippenstoß und deutete auf die Kühe.
»Wo sind denn die anderen Häuser?« Ich schaute mich um und hoffte, ich hatte sie bloß nicht gesehen.
»Etwa eine Meile die Straße runter gibt es ein Bauernhaus«, sagte Mom.
»Aber ich dachte, wir ziehen nach Holwell.« Ich schaute Mom stirnrunzelnd an.
»Das ist unsere Postadresse.« Sie musterte sich im Rückspiegel und strich sich das Haar glatt. Ich merkte, es war ihr ein bisschen unangenehm, dass sie mich absichtlich oder unbewusst hatte glauben lassen, wir würden wenigstens Nachbarn haben und damit die Aussicht darauf, neue Freunde zu finden. »Die Stadt ist bloß ein paar Meilen weit weg«, fügte sie hinzu.
»Du hast gesagt, es gibt eine Bücherei«, sagte Michael vorwurfsvoll und lehnte sich an mir vorbei. »Ich dachte, du hättest gemeint, sie sei nur ein paar Blocks weiter weg.«
»Mit dem Fahrrad bist du im Nu in Holwell. Es ist nicht weit.« Mom öffnete ihre Tür, um auszusteigen. »Jedenfalls hab ich euch gesagt, dass wir aufs Land ziehen.«
Ehe wir noch etwas erwidern konnten, bogen Daves Freunde hinter uns in die Zufahrt ein und bremsten mit quietschenden Reifen, sodass eine ganze Staubwolke aufwirbelte. Zur gleichen Zeit stiegen Dave und Heather aus dem Umzugswagen und kamen auf uns zu. Ich merkte, dass Dave ein bisschen angespannt aussah, weil Heather an seiner Hand zerrte und ihn davon abhalten wollte, zu Mom zu gehen. Unser erster Tag in Holwell begann nicht gerade sehr gut.
»Komm, Jean«, sagte er zu Mom. »Lass uns loslegen mit dem Einzug.«
»Ich trag meine Sachen selbst rein«, erklärte Michael und sprang aus dem Van. Ich wusste, dass er Angst hatte, jemand würde seine Insektensammlung fallen lassen oder seine Bücher verlegen.
»Wie wäre es, wenn du dich ein bisschen um Heather kümmerst?« Dave zog sie zu mir, obwohl Heather sich heftig dagegen wehrte. Die wirren Haare fielen ihr ins Gesicht, und wie immer schaute sie mich böse an.
»Was soll ich denn machen?«, fragte ich Mom und hoffte, sie bräuchte vielleicht meine Hilfe, aber sie schlug sich wie üblich auf Daves Seite.
»Du könntest mit ihr etwas spazieren gehen.« Mom tätschelte mir aufmunternd die Schulter. »Da drüben ist ein hübscher kleiner Pfad durch den Wald.« Sie deutete auf eine Stelle rechts von der Kirche. »Er führt zu einem Bach. Ihr könntet im Wasser waten oder so was.«
»Geht aber nicht zu weit«, mahnte Dave und löste seine Finger aus Heathers Umklammerung.
Da ich wusste, dass mir nichts anderes übrig blieb, wollte ich nach Heathers Hand greifen, aber sie riss sie weg und funkelte mich an, als hätte ich versucht, sie zu kratzen.
»Geh jetzt mit Molly.« Dave war es gelungen, sich zu befreien. »Daddy hat eine Menge zu tun, Schatz. Du und Molly könnt euch ein paar schöne Stunden machen.«
»Ich will nicht mit ihr gehen«, jammerte Heather lautstark. »Ich will bei dir bleiben, Daddy. Mir gefällt es hier nicht.«
»Du hast mich gehört, Heather. Mach Daddy nicht ärgerlich.«
»Komm, Heather.« Ich begann in Richtung des Pfads zu gehen, während sie weiter Dave anbettelte, aber schließlich folgte sie mir schweigend. Im Schatten der Bäume war es kühl. Über uns raschelten leise die Blätter, und hier und da schimmerte Sonnenlicht durch das Geäst, wenn der Wind die Blätter bewegte. Ein Schmetterling, so groß wie meine Hand, flatterte über den Weg, und ich war froh, dass Michael nicht hier war. Er hätte sofort sein Netz geholt und ihn für seine Sammlung gefangen.
»Sieh mal, Heather.« Ich deutete auf den Schmetterling, als er sich für einen Moment auf einem Blatt ausruhte. »Ist der nicht schön?«
Sie musterte ihn gleichgültig. »Das ist nichts weiter als eine Raupe mit Flügeln.«
Danach versuchte ich nicht mehr, mit ihr zu reden, bis wir den Bach fanden. Das Wasser war nicht tief, vielleicht fünf oder sechs Zentimeter, im Bachbett lagen Steine und die Ufer waren flach. Er war perfekt, um sich abzukühlen. Ich setzte mich und zog Turnschuhe und Socken aus.
»Kommst du mit?«, fragte ich, als ich in das klare Wasser stieg.
Sie schüttelte den Kopf und ging weiter auf dem Pfad am Bach entlang. Ich zuckte die Schultern, lief neben ihr her und genoss die Kälte des Wassers. Langsam wurde das Wasser tiefer und reichte mir bis an die Knie, als der Bach schmaler und die Ufer steiler wurden.
Nach etwa fünf Minuten machte der Bach eine Biegung, und ich stand vor einem rostigen Stacheldrahtzaun, an dem ein Schild mit BETRETEN VERBOTEN hing. Auf der anderen Seite schaute eine Herde Rinder vom Wasser auf und muhte. Im ersten Moment dachte ich, sie würden auf mich losgehen, Zaun hin oder her, und ich krabbelte hastig das Ufer hoch.
»Das sind doch bloß Kühe«, sagte Heather, als wüsste sie, dass ich geglaubt hatte, es wären Stiere. »Die tun dir nichts.«
»Ich weiß«, sagte ich so ruhig und gelassen wie möglich. »Willst du zurück zur Kirche?«
Sie warf mir einen ihrer verächtlichen Blicke zu. »Na, weiter kommen wir ja wohl nicht, oder?« Sie deutete auf den Zaun, hinter dem die Kühe standen und uns beobachteten.
Ich trug meine Schuhe in der Hand und folgte Heather den Pfad zurück. Statt in den Wald abzubiegen und den Weg zu nehmen, den wir gekommen waren, gingen wir weiter am Bach entlang. Es war angenehm kühl und schattig, ich beobachtete ein paar Libellen, die über das Wasser hin und her schossen, und achtete nicht weiter auf Heather. Als sie plötzlich stehen blieb, lief ich in sie hinein.
»Was ist?«, fragte ich.
»Sieh mal.« Sie warf mir über die Schulter einen Blick zu und deutete auf einen schiefen alten Zaun, der fast von Gräsern und Sträuchern überwuchert war. »Was ist das?«
Trotz der Wärme des Nachmittags spürte ich plötzlich überall Gänsehaut. »Das ist ein Friedhof«, flüsterte ich.
Er war nicht sehr groß, und das Gras war fast so hoch wie die Grabsteine, aber hier und da reckte ein steinerner Engel seine Marmorflügel gen Himmel und einige schiefe Kreuze ragten aus dem Gras. Es war ohne Zweifel der gruseligste Ort, den ich je gesehen hatte, und ich wäre am liebsten zurück zur Kirche gelaufen, aber Heather schien ganz fasziniert davon zu sein.
»Hast du Angst?«, fragte sie und kaute an ihrem Daumen.
»Natürlich nicht«, log ich, da ich ihr gegenüber keine Schwäche zeigen wollte. Ich ging zurück zu dem Pfad, der zur Kirche führte. »Lass uns mal sehen, was Mom und Dave so machen. Sie wundern sich bestimmt schon, dass wir so lange wegbleiben.«
»Wir könnten über den Friedhof gehen, das wäre eine Abkürzung«, sagte Heather und musterte mich mit ihren blassen Augen.
»Das ist vermutlich Privatbesitz. Da könnten wir Ärger kriegen wegen unbefugten Betretens.«
Aber Heather lächelte nur und schlüpfte durch eine Lücke im Zaun. »Komm schon, Molly«, sagte sie herausfordernd.
Sie rannte durch das hohe Gras und achtete gar nicht auf die Grabsteine. »Es bringt Unglück, auf ein Grab zu treten«, rief ich ihr hinterher.
Sie blieb bei einem steinernen Engelchen stehen, streichelte seine Wange und tanzte dann plötzlich wie eine Verrückte zwischen den Grabsteinen herum. »Molly ist ein Angsthase«, sang sie dabei, »Molly ist ein Angsthase.«
»Du bist verrückt!«, rief ich. Dann drehte ich mich um und rannte durch den Wald, duckte mich vor Ästen, die nach mir griffen, und stolperte über Wurzeln. Als ich die Kirche erreichte, war ich außer Atem, und mein Herz hämmerte so stark, dass ich dachte, es würde meine Rippen sprengen. Ich sah Mom, die gerade durch eine Seitentür verschwand, und folgte ihr. Im Flur holte ich sie ein. Ich packte ihren Arm, dass sie fast den Karton, den sie schleppte, hätte fallen lassen.
»Molly, was ist los?« Sie stellte den Karton ab und schaute mich besorgt an. »Wo ist Heather? Ist was passiert?«
Ich schüttelte den Kopf. »Da ist ein Friedhof hinter der Kirche«, keuchte ich. »Ein Friedhof!«
»Natürlich ist da einer. Der gehört zu diesem Grundstück.«
»Das ist unserer? Uns gehört ein Friedhof?«
»Nein, nicht direkt.« Mom schaute mich stirnrunzelnd an. »Um Himmels willen, Molly, du hast mich fast zu Tode erschreckt, als du hier reingerannt kamst, und das nur wegen eines Friedhofs?«
»Du hast nie ein Wort davon gesagt. Du hast nie gesagt, dass wir einen Haufen Tote in unserem Hinterhof liegen haben.« Ich fing an zu weinen, und Mom legte ihren Arm um mich.
»Tote in unserem Hof?« Michael kam aus seinem Zimmer in den Flur gerannt. »Wovon redet sie, Mom?«
»Du hast den Friedhof gefunden.« Dave tauchte hinter Michael auf und grinste, als hätte ich eine ganz besondere Leistung erbracht.
»Warum habt ihr uns davon nichts gesagt?« Ich riss mich von Mom los und wischte mir mit einem Zipfel meines T-Shirts über die Augen. Ich wollte nicht, dass Dave merkte, was für ein Baby ich war.
»Ich hielt das nicht für so wichtig.« Dave zwinkerte Mom zu. »Überleg nur mal, was für ruhige Nachbarn wir da haben. Keine wilden Partys, keine laute Musik, keiner, der sich eine Tasse Zucker oder den Rasenmäher borgen will. Ich wette sogar, sie werden nicht mal mit uns reden.« Er zog Mom an sich, gab ihr einen Kuss, und die beiden lachten, während ich dastand und mich wie eine Idiotin fühlte.
»Sind die Gräber alt?« Michael wollte sich an mir und Mom vorbeidrängen, um sie sich anzusehen.