Meine Geschichte ohne dich - Gonzalo Torné - E-Book

Meine Geschichte ohne dich E-Book

Gonzalo Torné

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Beschreibung

Ein Mann zwischen Ehe, Rausch und Lebensüberdruss - leidenschaftlich und schockierend offen

Auch Joan-Marcs zweite Ehe liegt in Trümmern. Dabei ist er erst Anfang vierzig. Er zieht von Bar zu Bar durch das nächtliche Barcelona; in Gedanken ist er bei seiner Frau, die ihn wenige Wochen zuvor hat sitzen lassen. Vor ihr legt er eine schonungslos ehrliche Lebensbeichte ab. Er erzählt von Helen, seiner ersten Ehefrau, einer Amerikanerin mit blonder Mähne – von den ersten wilden Jahren voller Begierde und ihren letzten gemeinsamen Tagen, als sie ihm ein Messer in die Schulter rammte. Joan-Marc erzählt aber auch von seinen Eltern, deren Bürgerlichkeit sie nicht vor dem Absturz retten konnte – auch sie irgendwann geschieden –, von seinen Prägungen, sexueller Initiation und Männlichkeit, von Depression und Rausch, Lebensüberdruss und Überlebenswille.

Ein scharfsinniger Roman, der glauben machen möchte, dass man das Leben unmöglich meistern kann – eine Lektion, gegen die wir uns aber, wie Gonzalo Tornés Held, mit jeder Faser unseres Körpers sträuben.

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Auch Joan-Marcs zweite Ehe liegt in Trümmern. Dabei ist er erst Anfang vierzig. Er zieht von Bar zu Bar durch das nächtliche Barcelona; in Gedanken ist er bei seiner Frau, die ihn wenige Wochen zuvor hat sitzen lassen. Vor ihr legt er eine schonungslos ehrliche Lebensbeichte ab. Er erzählt von Helen, seiner ersten Ehefrau, einer drallen Amerikanerin mit blonder Mähne – von den ersten wilden Jahren voller Begierde und ihren letzten gemeinsamen Tagen, als sie ihm ein Messer in die Schulter rammte. Joan-Marc erzählt aber auch von seinen Eltern, deren Bürgerlichkeit sie nicht vor dem Absturz retten konnte – auch sie irgendwann geschieden –, von seinen Prägungen, sexueller Initiation und Männlichkeit, von Depression und Rausch, Lebensüberdruss und Überlebenswille.

Ein scharfsinniger, herrlich selbstironischer Roman, der glauben machen möchte, dass man das Leben unmöglich meistern kann – eine Lektion gegen die wir uns aber, wie Gonzalo Tornés Held, mit jeder Faser unseres Körpers sträuben.

»Der Roman zeigt kunstvoll die Zerbrechlichkeit der menschlichen Existenz auf … Aber vor allem nimmt er die Familie unter die Lupe, die – so Torné – der Herzschlag aller Schriftsteller ist.«

La Vanguardia

GONZALO TORNÉ, 1976 in Barcelona geboren, studierte Philosophie und Ästhetik an der Universität Barcelona und ist, neben seiner schriftstellerischen Arbeit, für einige namhafte literarische Verlage Spaniens tätig. Für seine Essays und Romane erhielt er zahlreiche Preise, u. a. den hochdotierten Premio Jaén de Novela für seinen zweiten Roman, Hilos de sangre (2010). Mit Meine Geschichte ohne dich, das in die meisten europäischen Literatursprachen übersetzt wird, festigt Gonzalo Torné seinen Ruf als herausragender junger Erzähler Spaniens. Dieser Roman ist sein erstes Werk auf Deutsch.

GONZALO TORNÉ

Meine Geschichte ohne dich

Roman

Aus dem Spanischen von Petra Strien

Für JuditWhat could be a finer thing to live with than a high spirit attuned to softness?

Ich weiß wohl Du bist nicht unfehlbar (…)

WIR FUHREN IN EINEN LUFTKURORT, um zu retten, was noch zu retten war von unserer verfluchten Ehe.

Nur deshalb stieg ich in den roten Citroën, einen Mietwagen mit harter Gangschaltung, der bei jedem Schlenker aus der Spur zu fliegen drohte, und nahm es bereitwillig mit den Kurven auf, immer neugierig beäugt von den mittelalterlichen Dörfern, die in Katalonien wie Steinpilze aus dem Boden schießen.

Die Berge gingen in sanfte Hügel über, und die karge Landschaft wich ausgedehnten Getreidefeldern mit Hafer und Weizen. Wir fuhren eine rutschige Landstraße entlang, eine freundliche Hinterlassenschaft des Unwetters, das uns genötigt hatte, stundenlang an einer Tankstelle Schutz zu suchen, wo Helens Eltern zweihundert Euro für Souvenirs losgeworden waren.

Es war ein lauer Nachmittag, so als hätte sich der April für ein paar Stunden in den November eingeschlichen, der, seinem Rhythmus folgend, weiter Laub von den Pappeln in die Fluten des Flüsschens Corb schüttelte. Es war fast mitleiderregend zu sehen, wie die schlammigen Wassermassen einem Tierkörper gleich durch Schluchten, Windungen und Biegungen über holprigen Grund schnellten. Laut Karte lagen noch knapp fünf Kilometer vor uns. In einer überraschend weit ausholenden Rechtskurve sah ich aus dem Augenwinkel, wie Helen auf dem Beifahrersitz an ihrem Zeigefinger knabberte, die blauen Augen starr auf die Zigarette gerichtet, die sie aus dem Fenster hielt, um ihren Vater nicht mit dem Qualm zu belästigen. Der Kaugummi kauende Bengel, der im Fond zwischen Helens Eltern saß, konnte (hinsichtlich der Wangenlinien und der üppig geschwungenen Lippen) kaum verhehlen, dass er – wenn auch auf lebendigere Weise – einige ihrer Gene in sich vereinte. Als sich die Landstraße verengte und wir auf einen unbefestigten, steil zu einem Waldgebiet hin abfallenden Weg kamen, hörte ich das Gepäck hinten im Kofferraum poltern.

Dann tauchte der Fluss wieder auf, wir passierten ihn über eine Brücke und sahen vor uns einen dekorativ von hohen Bäumen gesäumten, sonnenbeschienenen Streifen Erde, der zu einem imposanten Gebäude im katalanischen Landhausstil hinaufführte, ehemals eine Ruine, von der Gemeinde wieder instandgesetzt und zum Kurhotel umfunktioniert.

Ich stellte den Wagen auf einem Schotterplatz in der Nähe eines rechteckigen Swimmingpools ohne Schwimmer und einer Terrasse mit rustikalen Holztischen und Plastikstühlen ab. Während Helens Eltern sich bemühten, ihres Sammelsuriums an Taschen und Tüten, voll mit Mitbringseln aus den USA, habhaft zu werden, nahm ich meinen Handkoffer an mich und ließ den Blick über die wogenden Kornfelder schweifen, die die Berghänge golden färbten: In der Ferne breiteten sich Bewässerungskanäle aus, hier und da von Unterständen gesäumt, die wohl für Tiere und das Heu gedacht waren. Bevor Helen, sichtlich genervt von der ewigen Fragerei des Jungen, nach mir rief, damit ich ihr mit dem Kofferungetüm half, das sie aus Montana mitgeschleppt hatte, erschreckte mich ein vorbeihuschender Lurch, der hüpfend mit seinem kleinen Körper wie ein glitschiges grünes Herz zwischen dem Unkraut auf- und abtauchte. Von den Balkonen hingen buschige Bartnelken herab.

Nachdem wir alles ausgeladen hatten, schickte ich Helen mit ihren Eltern und dem Bengel vor, um mir noch die Beine zu vertreten, ehe ich ihnen zur Rezeption folgte. Hier und da sah ich bleiche Gäste umherschlendern. Mir fiel ein Mann im Bademantel auf, der sich lebhaft Luft zufächelte; er grüßte mich mit einer Handbewegung, als zöge er den Hut, sein kahler Schädel mit ein paar Resten zarten Flaums wirkte wie mit Mokkapulver bestäubt. Da die Terrasse kaum mehr zu bieten hatte als den Blick auf die Baumwipfel, die allmählich das Tageslicht verschluckten, ging ich ins Haus, um mich dort ein wenig umzuschauen. Helen stand mit der Familie in der Warteschlange am anderen Ende der weitläufigen Empfangshalle, die mit schmucken Kronleuchtern an der Decke und Regalen an den Wänden prunkte, in denen Porzellantiegel ausgestellt waren: Minze, Eisenkraut, Sarsaparille und Heilkräuter aller Art. Eine korpulente Madame grüßte mich. Ihre Beine waren von einem dichten Krampfadernetz durchzogen, das die üppigen Fleischmassen nur notdürftig zusammenhielt und jederzeit zu reißen drohte. Als sie mir noch ein androgynes Lächeln hinterherschickte, wandte ich mich hastig ab und ließ den Blick durch den Saal wandern. Da entdeckte ich die Glaswand mit freier Sicht auf die Kurräume, und bei dem, was ich dort sah, rutschte mir das Herz in die Hose: Eine Gruppe von Greisen übte sich im Froschschwimmen, eine andere schwang die Arme in dem von einem Trainer vorgegebenen Takt.

Eine Teilnehmerin fiel mir auf, weil ihre Haut von einer solchen Flut gelber Flecken übersät war, dass sie wie von Rost zerfressen wirkte, und ein Mann, der seine Backen vor lauter Anstrengung aufblies wie einen Luftballon, der jeden Moment zu platzen droht. Schwer zu sagen, warum sie sich diesem sadistischen Training unterzogen, was mochten sie sich davon versprechen: eine Kräftigung des Herzens, die Entschrumpelung ihrer Haut oder eine Entschlackung ihrer Gedärme? Nach siebzig Jahren Verschleiß war es schon ein Wunder, dass sie sich überhaupt noch aufrecht hielten.

Auf der zweistündigen Fahrt zum Hotel hatte ich eng eingeklemmt hinter dem Steuer gesessen, mit so wenig Beinfreiheit, dass ich mit dem Fuß kaum das Kupplungspedal erreichte. Meine Knie schmerzten, und ich bekam langsam Hunger, weshalb ich mich nach den Tischen umsah und herauszufinden versuchte, ob etwas zum Knabbern zu den Getränken serviert wurde. Da sah ich, wie ein etwa zwölfjähriger schwarzer Junge mit ausgebreiteten Armen wie ein Torpedo im Zickzack zwischen den Tischen entlangbrauste. Vermutlich hatte er etwas auf dem Zimmer vergessen und sich in ein fliegendes Subjekt verwandelt, um es zu holen. Ich freute mich für ihn, denn Kinder mit blühender Fantasie fühlen sich nie einsam. Was mich an Helens Sprössling am meisten betrübte, war sein sprödes, einfallsloses Hirn. Sobald er mich sah, blieb er wie angewurzelt stehen und glotzte mich wie ein Idiot an. Ich weiß, dass das alles nicht leicht für ihn war, aber sicher hatte sein Vater ihm schon etliche Ersatzmütter präsentiert, und ein aufgewecktes Kerlchen hätte höchstens drei Tage gebraucht, um sich an die neuen Umstände zu gewöhnen, ohne bei meinem Anblick jedes Mal in Schockstarre zu verfallen, zumal ich doch eher als WASP durchgehe als sämtliche Farmer aus dem Mittleren Westen.

Ich schaute mich nach einem Erwachsenen schwarzer Hautfarbe um: unter den Kurgästen, die mit dicken nassen Haarsträhnen dem Wasser entstiegen, als hätten sie sich mit einem Seestern gepaart, unter den vor sich hin dämmernden Mumien, unschlüssig, ob sie sich einen Tee bestellen oder dem zu erwartenden Herzinfarkt Vorschub leisten sollten. Schließlich entdeckte ich auf einem der Tische einen Finger, lang und dunkel wie feuchter Samt. In seinem gelben Hemd wirkte der, zu dem er gehörte, wie ein chinesischer Tintenklecks in Menschengestalt. Der Kerl schüttete so versonnen Milch in seinen Tee, dass sich ein dünner Film bildete, den er schließlich mit zwei Löffelstößen auflöste. Ich mag Schwarze, und wenn ich bisher auch noch mit keinem nähere Bekanntschaft gemacht habe, hatte ich schon immer was für sie übrig. Mich fasziniert ihre Gelenkigkeit, obwohl ich glaube, dass sie mit ihren biegsamen Knochen selten gute Schwimmer abgeben. Der vom Kurhotel war ein wahrhaft beeindruckendes Exemplar mit ellenlangen Gliedmaßen, mit denen er vermeintlich, auch ohne aufzustehen, jeden beliebigen Gegenstand im Raum hätte erreichen können. Ich musste ihn wohl bewundernd angestarrt haben, denn als sich unsere Blicke trafen, stieß ich auf harte Pupillen, die im Saft der Augenmuscheln schwammen.

Ich schaute weg und sah gerade noch, wie Daddy sich anschickte, schlurfenden Schrittes die Koffer den Flur entlangzuschleppen. Nur vereinzelte Gesten ließen noch den einstigen Löwen in ihm erahnen, der diesem gebrechlichen Körper längst abhandengekommen war. Helens Mutter folgte ihm in einem halben Meter Abstand, umschwebt von einer Wolke aus Parfüm und Schminke. Man kann nicht gerade behaupten, wir seien miteinander warm geworden; die zwei Male, die wir allein waren, hatte sie ein paar Worte auf Englisch vor sich hin gebrabbelt, eine Art phonischer Brei, der für mich wie Gälisch geklungen hatte. Am nächsten Tag würden sie wieder nach Hause fliegen und auf Nimmerwiedersehen aus meinem Leben verschwinden.

Als ich mich umdrehte, sah ich Helen allein am Empfang stehen. Ich ging zu ihr, um ihr den Koffer abzunehmen, und schickte sie mit dem Schlüssel vor.

Ich war seit jeher der Ansicht, dass man die herausragende Rolle fremder Zimmer in Hotels, Pensionen oder Gästehäusern zur Festigung von Paarbeziehungen gar nicht hoch genug schätzen kann. Ich jedenfalls schwöre darauf, sowohl zur Einstimmung als auch als Ausgleich zum häuslichen Sex, sozusagen zur flüchtigen Belebung zwischendurch. Doch auf unserer Reise war mir bei der Vorstellung, mit ihr allein im Schlafzimmer zu sein, die Lust vergangen, denn nach den fünf Monaten ihrer Abwesenheit wusste ich nicht mehr, wie meine Libido reagieren würde: Auf geradezu magische Weise neigen Frauen dazu, aufzuquellen und aus dem Leim zu gehen, ganz nach dem Vorbild ihrer Mütter. Den Tag mit einer aufgedunsenen, in teigigen Wülsten ausufernden Version von Helens vitalem, rosigem Körper zu verbringen animierte mich nicht gerade.

Ein dummer Gedanke, der rasch verflog, sobald ich sah, mit welcher Eleganz (und so voller Leben, dass ich sie in Gefahr sah, es zu vergeuden) sie es fertigbrachte, samt Handköfferchen vor mir die Stufen hinaufzuschweben, mit schwungvollen, fließenden Bewegungen, die sich nahtlos vom Rücken auf die Hüften übertrugen. Seit unserer Heirat hatte das noch immer gereicht, um all die zum absurden Durcheinander neigenden Stimmen in meinem Kopf in dem einhelligen Ruf nach dem zu bündeln, was sich in der darauffolgenden halben Stunde zwischen uns abspielen sollte.

Da Helen mit dem Schloss nicht zurechtkam, öffnete ich die Tür und hielt verstohlen nach dem verheißungsvollen Bett Ausschau. Wir stellten die Koffer ab. Ein Witz von einem Schreibtisch, ein Ganzkörperspiegel, ein Fenster, das den Blick auf die Tannen freigab, und ein Bad mit Duschkabine. Helen machte eine Reihe von Dehn- und Streckübungen à la Jovanotti und stellte den durchscheinenden Flaum ihrer Achselhöhlen zur Schau, was mich an den Rand des Sprungbretts brachte. Als ich gerade springen wollte, platzte der Bengel in unser Schlafzimmer, undefinierbare Geräusche von sich gebend. Ich ließ mich auf den Stuhl fallen. Der Junge hatte sich wahrscheinlich im Flur die Zeit vertrieben, als eine wütende Hand sich auf meinen Bauch legte und an mir hochfuhr.

»Du setzt dich? Willst du mir nicht mit dem Koffer behilflich sein?«

Trotz ihres Akzents, der ihren Worten einen groben Ton verlieh, wusste ich, dass sie es nicht böse meinte oder mich drängen wollte. Die zwei Stunden Fahrt auf engstem Raum mit Daddy hatten ihr wohl arg zugesetzt. Sie brachte es sogar fertig, eine Spur Zärtlichkeit in ihre Stimme zu legen, und war bemüht, um unseretwillen alles richtig zu machen.

»Du fängst schon wieder an, Forderungen zu stellen. Das ist kein guter Einstieg.«

Helen wandte sich langsam um und verharrte (eine halbe Sekunde lang) in dieser Drehbewegung, sodass ich gleichzeitig ihre Brust und ihren Hintern sehen konnte. Zu meiner Überraschung schien sie es zu schlucken, doch ich kannte sie zu gut, um nicht dieses Fünkchen Verärgerung in ihren hellen Augen zu bemerken. Sie musste den Brocken erst herunterwürgen, bevor sie wieder den süßesten Ton anschlug, dessen sie fähig war.

»Keine Sorge, John, ich wasche mir nur eben die Hände und räume ihn dann selber aus.«

Sie kehrte mir den Rücken und betrat das Bad.

»Du musst sehr erschöpft sein.«

Der Junge beendete seinen Flug ans andere Ende des Zimmers (er war kein Vogel, sein Mund produzierte Motorengeräusche) und starrte mich sekundenlang an, bevor er sich auf Zehenspitzen am Fenstersims hochzog. In dem Ganzkörperspiegel sah ich meine Beine, während ich das Rauschen der Dusche vernahm. Helen hoffte wohl, sich meine verbale Stichelei abzuwaschen, bevor sie wieder herauskommen würde, es konnte also dauern. Da die Minibar sich in Reichweite befand, nahm ich mir zwei Tüten Trockenfrüchte heraus.

Ich leugne nicht, dass ich schon gehört hatte, wie Helen den Duschhahn zudrehte und die Tür aufschloss, als ich losbrüllte: »Willst du denn nie mehr da herauskommen?«

Ich hatte den Satz noch nicht beendet, da trat Helen, nur mit einem über der Brust zusammengeknoteten Badetuch bekleidet, in unser Zimmer, und ich konnte eine ganze Serie verärgerter Zuckungen über ihr Gesicht huschen sehen, bevor es sich zu einem kindlichen Schmollen verzog. Ich versuchte mich zu beruhigen, denn vermutlich mussten wir uns vor den Küssen und Bissen erst einmal um die Heilung all der Wunden kümmern, die noch vom letzten Jahr unseres Zusammenlebens stammten. Selbst eine Frau wie Helen, die sich bis zur Schamlosigkeit ihrer weiblichen Reize bewusst war, brachte es fertig, für zwei Stunden die erotische Anziehungskraft ihres Körpers zu vergessen und den Kampf gegen ihre seelische Verstimmtheit aufzunehmen.

Sie begnügte sich mit einem Lächeln und rieb sich die Hände, bevor sie sich, ein Liedchen summend, daranmachte, all das Zeug, das Frauen so brauchen, aus der Tasche zu räumen, als hätte sie für zwei Kinder zu sorgen. Ich verkniff es mir, ihr vorzuhalten, dass sie den Fußboden nass machte, die Art wohlmeinender Geste, die nichts bringt, solange sie keiner bemerkt. Der Bengel fing an mitzuträllern, ein zu alter Trick, um zu funktionieren, aber nett gemeint, ja, herzlich, was meiner Eitelkeit schmeichelte, sodass ich beschloss, offen und ohne Umschweife mit ihr zu reden: »Meinst du nicht, es ist an der Zeit, dass der Junge zu seinen Großeltern verschwindet? Wir brauchen ein wenig Zeit für uns.«

Die Sonne versank wie eine dicke rote Münze, und wenn man blinzelte, sah der reife Weizen aus wie Tausende sich unter Wasser wiegende Seeanemonenfäden.

»Sie werden uns bald zum Abendessen rufen. Uns bleibt also keine Zeit mehr. Er heißt übrigens Jackson.«

Auch Helen erkannte meine wahren Absichten an meinen leicht verdrehten Augen oder der rasch wechselnden Mimik. Wenigstens dazu taugen die ständigen Wortgefechte: Man lernt, im Gesicht des anderen zu lesen wie in einem offenen Buch.

Ich schickte mich an, meine Kleidung aus dem Koffer zu räumen und überall auszubreiten, um mein Revier zu markieren, doch mir entging nicht der feixende Unterton in Helens Stimme, obwohl sie genau wusste, wie sehr sie mich damit seelisch in Aufruhr versetzte: »Außerdem sind wir hergekommen, um uns als Familie zu fühlen, nicht als ein Liebespaar.«

Ich vermute, sie konnte der Verlockung nicht widerstehen, alles zu vermasseln, um zu sehen, was dann passierte. Ich streckte die Beine aus, mir taten die Füße weh. Das dringende Bedürfnis, im Beisein dieses Andenkens an Helens früheres Leben die Schuhe abzustreifen, war eine Sache, doch glaub mir, sie dachte kaum eine Sekunde darüber nach, dass mir womöglich die Gegenwart des Kindes den Mund verschloss.

»Komm mir nicht mit diesem Mist, du willst doch gar nicht, dass uns noch Zeit bleibt.«

Auf der Terrasse brannten bereits die Lichter, und das Gras erinnerte mich an das gesträubte Fell eines aufgeschreckten Tiers, die roten Farbkleckse der Mohnblumen wogen schwer wie Blut; in der Tat, es wurde dunkel.

Ich kann mich nicht erinnern, dass Helen etwas erwidert hätte. Es war der Bengel, der losquiekte wie eine Ratte, als seine Mutter ihn am Arm aus dem Zimmer zerrte. Sie hatte sich hastig etwas übergeworfen, was, darauf hatte ich nicht geachtet. Als ich allein war, entledigte ich mich der Schuhe und Socken und leerte ein Fläschchen Gin. Die Tische auf der Terrasse waren inzwischen verwaist. Die Greise hatten sich wohl ins Haus geflüchtet, als es draußen zu funkeln begann.

Die blaue Nachtluft war so klar, dass man sehen konnte, wie die Zweige der Bäume Beifall klatschten. Der Gin brannte beim ersten Kontakt mit der Rachenwand, doch dann strömte eine wohltuende Wärme durch meine Adern und zeichnete die Konturen des absurden Plans weich, auf den ich mich eingelassen hatte. Prompt spürte ich ein nervöses Kribbeln, das mir am Rücken und in den Händen aufstieg, was schon mal kein schlechtes Zeichen war.

»Ich habe ihn bei seinen Großeltern gelassen. Jetzt bist du hoffentlich zufrieden.«

Dann, als ich sah, wie ihre nassen Haare nahezu Strähne für Strähne ihren goldenen Schimmer zurückgewannen, wie sie umherwirbelte und ihre Sachen verstreute in ihrer Jogginghose und dem bis zum Erbrechen ordinären Top, das sie sich in aller Eile angezogen hatte, blühte mein Herz auf, verlor seine spröde Enge, die es sich bis zu dieser verfluchten Reise bewahrt hatte. Es wurde nahezu überschwemmt von einem ganzen Schwall wohliger Gefühle, die mit dem Gedanken an Verheiratetsein und Zusammenleben aufkamen, was mich urplötzlich in Euphorie versetzte. Ich wollte sie auf der Stelle umarmen und vom Kopf bis zum saftigen Fleisch ihres Hinterns vernaschen, sie an den Haaren ziehen, sie kitzeln, mehr oder weniger alles auf einmal.

Helen wandte mir ihr Profil zu und hatte noch am restlichen Ärger zu schlucken, bevor sie offensichtlich ein murmelgroßes Gefühl herunterwürgte.

»Manchmal weiß ich selbst nicht, was ich mit Jackson anstellen soll, doch das wird sich alles ändern, wenn wir drei erst einmal zusammenleben.«

»Aber erst, wenn wir unsere Angelegenheit geregelt haben.«

Ich versuchte noch im letzten Moment, die Worte zurückzuhalten, doch da waren sie mir schon entschlüpft. Ein Jammer, dass die Schallwellen keinen Schwanz haben, an dem ich sie hätte packen können, bevor sie durch den Raum schwirrten und sich in Helens Gehörgängen wieder zu Worten fügten.

Wir waren mehrere Monate lang getrennt gewesen, nicht dass wir bei null angefangen hätten, doch eine ordentliche Handvoll eingeschliffener Reflexe waren verblasst. Ich bezweifle nicht, dass es Menschen gibt, deren Laune man mit der passenden Bemerkung beeinflussen kann, nur gehörte Helen nicht dazu. Sie ließ sich von ihren Emotionen mitreißen, weshalb mich ihre kleinlaute Antwort, ohne jeden Anklang von Beleidigung, geradezu verblüffte: »Natürlich regeln wir erst unsere Angelegenheit.«

Der Badezimmerspiegel quittierte unser Schweigen mit einem Aufblitzen, fast so, als applaudierte er. Sie schenkte mir ein Lächeln, bevor sie sich das Haar zum Pferdeschwanz straffte und auswrang, wobei einige Tropfen auf den Boden fielen. Es entbehrt nicht einer gewissen Komik, im Angesicht der Lippen, des Kinns, der Arme, der Hüften zu diskutieren, die man gestreichelt hat und die sich in zahlreichen Betten über dir gewiegt haben; dass du den Körper zum Greifen nahe hast, während du den Schleier der Diskussion aufreißt, gehört zu den angenehmen Aspekten der Ehe. Ich packte sie bei den Schultern, doch sie tat so, als rutschten ihre Strümpfe, und entwand sich mir, um sie hochzuziehen. Als sie sich wieder aufrichtete, lächelte sie mich erneut an, aber es wirkte nicht ganz echt (ich war gerührt, dass ich als einziges Lebewesen in der Lage war, dieses Erkalten ihres Blicks exakt zu deuten). Sie war noch nicht besänftigt, in ihrem Innern lauerte noch ein unheilvoller Rest. Sie trat einen Schritt zurück und musterte mich: »Du isst zu viel, John, du hast zugenommen.«

Helen ließ sich auf die Matratze fallen, wobei sie es mit weiblichem Geschick fertigbrachte, sich noch in der Luft so zu bewegen, dass ein Bein angezogen unter dem anderen Oberschenkel landete. Zu meinen Gunsten muss ich sagen, dass ich sie nie mit einer Katze verwechselt habe, zur Gefangenschaft in einem Käfig geboren. Wir näherten uns unsicherem Terrain, was immer dann einen gefährlichen Reiz hatte, wenn keiner von beiden ahnte, wie es ausgehen würde.

»Was sagst du?«

»Du hast zugenommen und solltest auf dich achten. Bei großen Menschen verteilen sich die Kilos äußerst ungünstig. Außerdem stünde dir ein Sack unterm Kinn schlecht zu Gesicht.«

»Warum würde mir ein Doppelkinn schlecht stehen?«

»Wegen der Augen, du hast keine sprühenden Augen. Ohne ein scharf konturiertes Profil gliche dein Gesicht einem Ballon, irgendwie aufgedunsen, irgendwie alt …«

»Deshalb habe ich dich geheiratet, damit du mich pflegst, wenn ich alt werde.«

Ich fing in aller Ruhe an, mich zu entkleiden, eine rein praktische Maßnahme, da die Luft im Raum überhitzt und stickig war. Ohne weiteren Kommentar streckte ich den Bauch vor und bekam, als ich die Luft anhielt, einen Hustenanfall.

»Du setzt Bauch an. Von mir bekommst du keinen Blankoscheck, das kannst du vergessen, ich werde deinen Dreck bestimmt nicht wegmachen, wenn du fett wirst wie ein Schwein. Die Spanierinnen ertragen alles: feiste, kahlköpfige, dicht behaarte und übel riechende Kerle … Aber ich bin keine Spanierin.«

»Hör auf rumzunerven, Pecas, wem willst du denn sonst deinen Bengel aufs Auge drücken?«

Sie sprang vom Bett auf, Beweis dafür, dass es mir nicht restlos gelungen war, meine letzten Worte mit dem nötigen Anstrich des Scherzhaften zu verbrämen (vermutlich hatte der zweifelnde Unterton die Wirkung nur noch verschlimmert), und obwohl ich nicht glaube, dass sie die Bedeutung von »aufs Auge drücken« restlos verstanden hatte, bin ich mir sicher, dass sie den Satz und seinen abfälligen Ton zumindest sinngemäß begriff. Ihre Augen verfinsterten sich, zwei dunkel klaffende Höhlen im rosigen Fleisch, und begannen sich unruhig im Zimmer zwischen den Möbeln nach einem Versteck oder einer Waffe umzuschauen. Dann stieß sie einen Schwall von Worten aus, wobei es ihr eigentlich darum ging, die Tür anzupeilen.

Ich schrie los, um sie aufzuhalten, doch sie stürzte mit zugehaltenen Ohren in Richtung Ausgang, eine Geste, die ich an ihr schon immer unerträglich kindisch gefunden hatte. Mit zwei Sätzen verstellte ich ihr den Weg. Sie blieb abrupt stehen, ohne mich anzurempeln, und trat mit gespannten Beinmuskeln zwei Schritte zurück. Dann sah sie mich unverhofft an. In ihrem Innern war etwas entbrannt, das mit Worten nicht mehr zu löschen sein und den ganzen Abend andauern würde, sodass ich mich von dem Gedanken verabschieden konnte, sie in vergnüglicher Absicht zu berühren. Wie durch ein Wunder der Asymmetrie beruhigte sich mein Gemüt wieder, während Helen den Punkt überschritt, an dem es kein Zurück mehr gibt, und sich dermaßen in ihre Wut hineinsteigerte, dass kein Argument der Welt sie mehr zur Vernunft gebracht hätte, auch keine Entschuldigung meinerseits (als Ausdruck des guten Willens, was meinem kaum erloschenen Groll ohnehin widerstrebt hätte).

Helen würde sich erst zufriedengeben, wenn sie mir eine ordentliche Dosis Schmerz zugefügt hätte.

»Weg da.«

»Du kannst jetzt nicht gehen.«

»Weg da.«

»Ich lass dich nicht raus.«

»Warum?«

»Weil du uns dann keine Chance lässt und den ganzen Abend verdirbst. Würdest du mich bitte mal ansehen und mir zuhören?«

»Ich will nichts mehr mit dir zu tun haben. Lass mich durch oder ich schreie. Geh mir aus dem Weg!«

»Und was willst du vier Tage lang machen? Dich im Zimmer deiner Eltern verkriechen?«

»Morgen verschwinde ich. Ich kann das Flugticket mit Daddy tauschen.«

»Das ist ja wohl nicht dein Ernst, du redest nichts als dummes Zeug, denk mal nach, du kannst jetzt nicht einfach hier rausspazieren.«

»Warum hast du eigentlich nichts an?«

Der winzige Funke, der trotz der entgleitenden Diskussion die Vernunft nicht ganz erlöschen ließ, übernahm allmählich wieder die Kontrolle, die Wut begann abzuflauen, und in ihrem Blick deutete sich eine Spur von – sagen wir mal – Zärtlichkeit an. Dann brach es aus ihr hervor, sie krümmte sich vor Lachen, und ich fiel mit ein, wir waren auf gutem Weg, Schritt für Schritt raus aus dem Schlamassel, aus der Sackgasse, Hand in Hand wie frisch Verliebte.

»Du wolltest nackt, wie du bist, raus, wie blöde hinter mir her den Flur entlang, ein nackter Ballon. Du hättest mich nie eingeholt, ich würde mich auf keinen Fall von einem Sack voller nuts kriegen lassen.«

Das sagte sie eher in einem liebevollen Ton. Jetzt musste ich das Gift ihrer Worte verarbeiten, nichts, was mich nicht einen kühlen Kopf bewahren und nach vorne blicken ließ, immer im Vertrauen auf den Humor als Schutzschild. Solange wir uns ein frisches Lachen bewahrten, waren wir auf der sicheren Seite. Ich hätte sie etwa daran erinnern können, dass sie Erdnüsse immer mit nuts verwechselte, sie küssen, ihr eine Brust massieren können, zu gut kannte ich das immer gleiche Lied. Doch es waren die Kombination von Ballon und Sack, ihre unverhohlene, verlogene Dreistigkeit, ihre plumpe Attacke, die meine verbale Wut erneut anfachten: »Du hast es mal wieder geschafft, Helen, jetzt wirst du völlig unlogisch. Ich weiß es, ich spüre die übel riechende Energie, die du verströmst, wenn du ins Vulgäre abgleitest.«

Obwohl ich nichts als Boxershorts trug, traten mir ein paar winzige Schweißtropfen auf die Stirn. Ich spürte die Euphorie, Helen war ein wahres Wunder an menschlicher Stärke, wenige Monate hatten ihr genügt, um ihre Streitsucht wiederzugewinnen und sich mit unserem gemeinsamen Leben zu versöhnen, adieu Pillen, adieu Rücksichtnahme: Sie strotzte nur so vor Begierde und verschlagener Gerissenheit, vor Lust, Spaß zu haben, unerlässliche Komponenten der menschlichen Seele. Ich redete mir ein, den Disput im Griff zu haben, ich wusste, was ich sagen musste, um ihr ein Lächeln abzutrotzen und gemeinsam mit ihr den Absprung zu finden, heraus aus dieser aggressiven Gemütslage. Doch man muss schon ein Heiliger sein, um auf seine beschwichtigende Stimme zu hören, wenn sich bei diesem ganzen Aufruhr heftigster Gefühle der Kopf dreht, außerdem machte es mir Spaß, ihr eine Lektion zu erteilen.

»Es würde mich nicht wundern, wenn dir vor lauter Wut ein Blutgefäß im Gehirn platzt und der Pathologe, wenn er dir den Schädel öffnet, entdeckt, dass deine Gedanken in einem von Blut durchtränkten Hirn gären. Und komm mir jetzt nicht wieder damit, dass ich rumschreie! Ich schreie nicht einfach so rum, das hat alles seinen Grund, ich muss mich deutlich hören können, um meine Gedanken zu ordnen, wenn ich mit dir streite.«

Ich hörte förmlich den Aufprall und sah die Scherben am Boden, brauchte aber eine Weile, um mir zusammenzureimen, was genau da soeben zerbrochen war. Nicht dass sie meinen Händen entglitten wäre, denn es lag in ihrem Interesse, mich weiter zu lieben, früher oder später würden ihr erschreckender Mangel an Antrieb und obendrein Jackson sie zu mir zurücktreiben, doch als ich sah, dass sie sich wand wie ein armes Vieh auf der Schlachtbank, lief es mir eiskalt den Rücken hinunter.

»Du Vollidiot, du Mistkerl.«

»Bist du still.«

»Mistkerl, Mistkerl, Vollidiot. Lass mich durch.«

»Sei wenigstens ein bisschen leiser, man kann uns hören.«

»Na und, was schert mich das?«

Sie stürzte sich auf mich, trommelte mit den Händen auf meine Brust, wobei mir die Spitze eines Fingernagels die Haut durchbohrte. Ich weiß nicht mehr, wie ich sie von mir losbekam, ich muss sie wohl an ihrem Hemdchen gepackt haben, jedenfalls zerriss der Stoff, als sie zurückwich. Sie bedeckte ihre Brüste mit den Händen, während ihr die Röte ins Gesicht schoss, als flösse Stierblut in ihre Kapillaren. Sie stand mit weit offenem Mund da, ein rundes schwarzes Loch, begrenzt von ihren vollen Lippen. Ich versuchte es, aber mir gelang keine zärtliche Geste, im Gegenteil, ich brach in schallendes Gelächter aus; dass ich mit dem Finger auf sie zeigte, ist hoffentlich eine trügerische Erinnerung.

»Ich hasse dich.«

Sie schleuderte ihre Tasche in Richtung Fenster, beinahe wäre sie draußen im Patio gelandet. Sie schlug auf ein Kissen ein, bis es platzte, bevor sie ins Bad rannte und krachend die Tür hinter sich zuknallte. Ich hörte, wie sie den Riegel vorschob und das Wasser in der Dusche und im Waschbecken aufdrehte, und ließ mich mit zitternden Knien auf die Laken fallen.

»Komm da raus! Du führst dich auf wie eine Irre! Du bist doch ein vernunftbegabtes Wesen, versuch einfach mal, deinen Verstand zu benutzen, du wirst dich wundern!«

Ich drehte den Kopf zur Seite und begegnete meinem Gesicht im Spiegel, mit angeklatschten Strähnen und einer weich angeschwollenen Ader, die mir die Stirn entstellte, aber die Konturen meines glatt rasierten Kinns gefielen mir. Ich nutzte die Gelegenheit, um mich zu kämmen.

»Dein Verhalten ist kindisch. Du bist immerhin Mutter!«

Ich schwitzte mit geweiteten Poren und begann mich am Rücken und unter den Achseln zu kratzen. Dann stand ich auf, um mich im Spiegel zu begutachten, konnte aber nichts Schwabbeliges in der Bauchgegend entdecken, das sagte sie nur, um mich zu ärgern. Mir knurrte der Magen, und zum Glück werden Trockenfrüchte nicht kalt. Daddy nebst Gattin machten sich bestimmt bereits fürs Abendessen im Hotel Monster fein, und ich vermisste Jackson, er hätte uns beruhigt, denn Kinder zwingen einen, sich wie vernünftige Erwachsene zu benehmen. Wenn mir in seinem Alter jemand gesagt hätte, dass man sich mit fast dreißig aufführen kann wie Helen und ich in jenem Schlafzimmer, hätte ich geglaubt, er wolle mich für dumm verkaufen. Natürlich war es auch nicht gerade einfach, die richtigen Worte zu wählen, um Helen nach dem ganzen Theater zu bitten, den Jungen zurückzuholen.

»Komm endlich da raus, noch können wir den Abend retten. Darf ich dich daran erinnern, dass wir hergekommen sind, um uns zu versöhnen?«

Jetzt ging es darum, meine Ungeduld zu bezähmen, sie konnte nicht ewig eingesperrt bleiben, bald würde sie hungrig werden. Doch ich traute ihr zu, dass sie dort bis zum Beginn des Abendessens ausharren, es darauf ankommen lassen würde, dass der Bengel oder seine Großmutter heraufkamen, um uns zu holen. Ich verdrängte den natürlichen Impuls, mich anzukleiden, ich lag ja bequem dort auf dem Bett. Mein Groll war schon wieder halb verflogen, ich hatte keine Lust, ewig so weiter zu diskutieren, zu argumentieren, auszuweichen, und kam deshalb lieber auf ein anderes Thema zu sprechen: »Wir sind doch hergekommen, weil du dich versöhnen wolltest, mich auf Knien angefleht hast, es war deine Idee, also kannst du dich jetzt nicht einfach da drinnen verkriechen.«

Die Närrin drehte den Hahn noch weiter auf, als sie mich reden hörte, aber wenigstens war sie noch zu Späßen aufgelegt.

»Es hat keinen Sinn, weiter eingesperrt zu bleiben!«

»Es sei denn, du wolltest einen dieser seltsamen Rekorde brechen.«

»Glaub mir, das ist nicht gerade der beste Tag für derlei Spielchen.«

Sie öffnete die Tür. Irgendwie war es ihr gelungen, ein grünes Kleid hervorzuzaubern, zu hauteng, um sie als harmlose mütterliche Erscheinung durchgehen zu lassen. Ihre Augen hatten immer noch den finsteren Blick, doch jetzt funkelten sie eher wie diese Sterne in der Tiefe des Alls, von denen niemand zu sagen wüsste, ob sie schon verglüht sind oder noch leuchten. Der gleiche Blick, der mich fast ein Jahr lang jeden Morgen empfangen hatte, wenn ich ihr nach dem Erwachen die dichten blonden Haarsträhnen aus dem Gesicht strich, die gleichen zarten Augäpfel, in denen sich wie auf einem Bildschirm das Spiel ihrer schwankenden Emotionen zeigte, die nur darauf warteten, sich zu einem konkreten, unverhohlen garstigen Gefühl zu verdichten, meistens nicht zu meinen Gunsten. Helen war verwirrt. Als wir zusammenzogen, noch bevor die Kombination aus unserer gemeinsam verbrachten Gegenwart und den Erinnerungen an ihre Jugend mit Daddy sie innerlich krank zu machen begann, musste man immer damit rechnen, dass sie gleich anfing zu weinen, und obwohl ich nicht gerne mit ansah, wie sie innerlich zerbrach, hatten die Tränen auch ihr Gutes als Prozess der inneren Reinigung, wie eine Wand, die wir immer neu beschriften konnten.

»Du bist unerträglich, ich gebe mein Bestes, meine positivsten Energien.«

Dann setzte sie diesen Blick auf, der, scharf wie ein Seziermesser, mühelos unter die Haut ging und über die Reife des darunterliegenden Fleischs befand; und bislang habe ich noch kein Mittel gegen diesen ihren Drang gefunden, von Mal zu Mal negativere Aspekte an mir zu entdecken. Ich bekam einen Anfall von Scham und riss das an den Seiten festgesteckte Laken los, um mich vor ihren forschenden Blicken zu schützen, ohne zu bedenken, dass ich eine Regel des Zusammenlebens verletzte und womöglich die häusliche Ordnung durcheinanderbrachte, egal, wo wir uns gerade aufhielten.

»Du hast das Bett zerwühlt!«

»Wen interessiert denn jetzt das Bett?«

»Du bist die reinste Katastrophe, der Plan war hirnrissig, ich habe mich geirrt … Ich habe nur meine Zeit mit dir verschwendet, ich könnte nie mehr ohne Widerwillen mit dir zusammenleben.«

In Anbetracht der Tatsache, dass ich von dem Moment an, als ich den Motor startete, am liebsten davongerannt wäre, hätten wir jetzt in Frieden auseinandergehen können, aber durch die Diskussion hatte sich meine Meinung geändert, ich wollte einen Eklat vermeiden, wollte sie küssen, wollte, dass sie mich um Verzeihung bat, ich war nicht bereit, nachzugeben, um keinen Preis, ich wollte rundum gewinnen.

»Sei still! Ich werde dir sagen, was du tust, du wirst dich hinsetzen und warten, bis du dich beruhigt hast, und wenn du fertig angezogen bist, wirst du wieder normal sein. Dann können wir reden.«

»Du bist immer noch nackt.«

Diesmal war es keine Stichelei. Sie hatte eine Sekunde eher als ich erkannt, dass ich sie nicht würde aufhalten können und ihr unmöglich auf den Gang folgen konnte, wenn sie aus dem Zimmer stürmte.

»Das wagst du nicht!«

Jedenfalls ließ ich mich von der Tatsache überrumpeln, dass ein Gehirn, sonst unfähig, auch nur einen Gedanken zu fassen, ohne ihn fünfzehn Minuten lang durchzukauen, in wenigen Sekunden zu einem derart komplexen gedanklichen Kalkül fähig war. Inzwischen weiß ich, dass das Gehirn ohne lange Überlegungen seine Anweisungen über die Nervenbahnen direkt an die Muskeln übermittelt und das Bewusstsein erst im Nachhinein nach Erklärungen sucht, wenn der Körper und seine kostbaren Funktionen gesichert sind. Nach dieser kleinen Reise in die Provinz war es nicht die schlechteste Option, allein zu sein, aber ich war besessen von der fixen Idee, sie zurückzuholen. Die restlichen Sätze lösten sich in meinem glühenden Zorn auf; wichtig war nur, eine Hose und ein Hemd überzuziehen.

Dann lief ich hinaus, ohne die Tür zu schließen, ohne den Schlüssel mitzunehmen, ohne auf die Uhr zu schauen. Die Nacht hatte sich über das Kurhotel gesenkt, und von den Fenstern im Flur aus waren nur noch die Lichter der Promenade und das bläuliche Rechteck des Swimmingpools erkennbar.

Ich tastete mich mit zitternden Knien vorwärts und die Stufen hinab. Helen konnte überall sein. Vom Flur aus sah ich die Kellner, die sich für das Abendessen abmühten, und bemerkte voller Entsetzen die Bühne mit drei Mikrofonen, bereit für ein Stündchen Folter für die Ohren. Ich wollte mir lieber nicht die passende Kost für diese bis zum Limit strapazierten Körper vorstellen, ohne Prostata und mit spröden Lungen: Salzkartoffeln, gedünsteter Fisch … Ich meinte, das ausladende Hinterteil meiner Schwiegermutter zu erkennen, doch ich hielt mich nicht lange genug auf, um mich davon zu überzeugen: Es war undenkbar, dass Helen einen häuslichen Skandal heraufbeschwor, statt mich mit ihrem spektakulären Verschwinden zu quälen. Ich hätte drei Jahre Zusammenleben darauf gesetzt, dass sie das Hotel verlassen hatte, ich musste nur noch erraten, in welche Richtung. Ich griff mit der Hand in die Tasche meiner Shorts, um sicherzugehen, dass ich Proviant dabeihatte: die andere Tüte mit Erdnüssen und diesen größeren, die Cashewnüsse heißen, glaube ich.

Ich trat auf die Terrasse hinaus und zögerte, ob ich mich in Richtung Wald oder rechter Hand zu den Feldern aufmachen sollte, während meine Pupillen sich an die Dunkelheit gewöhnten und meine Nase den Geruch nach jungem Weizen abschüttelte, bis ich wenigstens meine Hände sehen konnte.

»Sie ist zum Wald gelaufen.«

Die Stimme kam von den Tischchen, und ich erkannte sofort das androgyne Gesicht meiner Dickmadame wieder und das Lächeln, das sie mir mit einem Hauch Koketterie schenkte. In der zivilisierten Welt sollten derartige Fettwülste als Waffe gegen die Begierde dienen. Die Jahrzehnte (die Zwanziger, Dreißiger und Vierziger), in denen dicke Frauen kein wirkliches Sozialleben haben, müssen ihr lang vorgekommen sein, sie tat mir leid, obwohl es sie zu freuen schien, dass die fortschreitenden Jahre ihre Altersgenossen im gleichen Sack ertränkten.

»Sie wirkte äußerst erregt.«

Weniger noch als die Tatsache, dass sie Helen bemerkt hatte, gefiel mir, dass sie sie mit mir in Verbindung brachte, was man ihr natürlich nicht anlasten konnte, ein von lauter Mumien bevölkertes Kurhotel ist nicht unbedingt der ideale Ort, wenn man seine Intimität genießen will. Helen und ich wirkten hier geradezu wie aus der Zeit gefallen.

»Gehen Sie bis zu dem Pub und folgen dann den Lichtern, sofern sie nicht über den Fluss gelaufen ist, kann sie nicht weit sein.«

Ich legte einen Schritt zu, und obwohl ich nicht übel Lust gehabt hätte, ihr den Hals umzudrehen, sobald ich sie erwischte, hatte ich nicht bedacht, wie gefährlich diese schlammigen Wassermassen für eine derart kopflose Frau sein konnten.

Als ich mir nach zwei Schritten ein paar Erdnüsse in den Mund steckte, während mir der Duft der von den Balkonen herabhängenden Bartnelken entgegenschlug, hatte ich sekundenlang das Gefühl, aus dem Teufelskreis verhasster Lappalien, in dem ich gefangen war, auszubrechen. Was wollte ich mir beweisen? Unsere Ehe war zugegebenermaßen eine Katastrophe, und selbst wenn es uns gelänge, eine gewisse Balance in unser exzentrisches Verhalten zu bringen: Welche Zukunft erwartete mich denn an der Seite einer Helen, die verzweifelt versuchte, ihre Figur gegen die verheerenden Gesetze der Schwerkraft zu verteidigen? Wenn die gesamte silikonversessene Menschheit (von wem bezahlt?) aus Helens hysterischer, paranoider Stimme sprach und meine Welt mit Tabletten, alten Socken, Siestas, Schals und zitternden Rasuren bestimmen würde? Wenn ich jetzt schon, wo ich sie noch eigenhändig richtig erschrecken konnte, zitternd vor Kälte, Nervosität und Angst nach ihr suchte, wie würde ich mich ihrer tyrannischen Art denn erwehren können, wenn ich mit den Kräften am Ende wäre? Wenn ich, soweit es die orthopädischen Krücken zuließen, mich den lieben langen Tag mit Hörgeräten, ständigen Arztbesuchen, Haferbrei und gefäßchirurgischen Problemen herumschlagen müsste?

Zwei Fledermäuse flatterten auf, während mir durch den Kopf schoss, ich hätte eine Frau mit besserem Charakter verdient, was ich sogleich verwarf, denn letztlich ist das Alter der Ort, dem wir alle in Zeitgeschwindigkeit entgegengehen, und Helen war die Frau, die mir gefiel, ja, wozu es leugnen, ein Großteil meiner Moleküle genoss sogar die unerwarteten Adrenalinschübe, die der Abend mir beschert hatte.

Durch die gläserne Wand sah ich in der Hotelbar den Schwarzen, in der Hand ein Glas mit Gin Tonic, wie ich vermutete. Die Scheibe war so dunkel, dass sich seine Haut dahinter kaum abhob und sein gelbes Hemd sowie das Glas im Raum zu schweben schienen. Ich kann nicht sagen, warum es mir Mut einflößte, dass der Schwarze mich aus seinem gläsernen Käfig heraus ansah, als würde mich ein unsichtbarer Faden mit der Welt der realen Maßstäbe verbinden und mich in Sicherheit bringen vor dem vergifteten Umfeld, in dem Helen und ich uns wie zwei Wahnsinnige anschrien. Mit der rechten Hand schien er mir den Weg zu weisen, wofür ich ihm mit einer vielsagenden Geste dankte, bevor ich lostrabte in Richtung Wald, wie ein Soldat zum Einsatz bereit, wobei mir die Erdnüsse übel im Magen aufstießen.

Ich musste einen engen Kanal auf freiem Gelände zwischen Schwimmbad und Wäldchen überqueren, am Himmel schimmerten nur ein grober Metallsplitter und ein amethystfarbener Stern. Ich spürte eine Windböe, auf dem Land weht doch immer wieder eine frische Brise. Ich stapfte weiter voran und stieß hier und da zwischen dem Unkraut auf Büchsen und Flaschen oder schmutziges Papier, was waren die Tattergreise doch für Dreckfinken. Es dauerte nicht lange, bis ich ans Ufer des Corb gelangte, über dem eine nach modriger Vegetation riechende Dunstwolke hing. Das künstliche Licht erleuchtete nur schwach das andere Ufer, und die Strömung bewegte sich schillernd vor einer massiven Schattenwand, und dort, wo der Wald sich dem menschlichen Zugriff entzog, erahnte man eine üppig sprießende Vegetation. Bald würde ich sie finden, es war nicht Helens Art, sich bei Dunkelheit barfuß auf einer derartigen Müllhalde herumzutreiben. Als ich mir gerade schwor, dass ich ihr lieber den Kopf einschlagen würde, ehe ich sie den Fluss überqueren ließe, überfiel mich wieder eine dieser Scheißfledermäuse. Ich brauchte eine halbe Minute, um mich von dieser Ratte zu befreien, aber der Schreck saß mir noch in den Knochen, als ich an eine Stelle gelangte, wo der Fluss hell aufschimmerte, angestrahlt von den Scheinwerfern, die die Hoteldirektion in den Bäumen aufgehängt hatte, um zu verhindern, dass ein unternehmungslustiger Mummelgreis sich auf einem nächtlichen Spaziergang verlief und in den Fluten ertrank. Es sah fast so aus, als gäbe es an der Stelle eine winzige versunkene Stadt, deren Lichter unter Wasser weiter strahlten. Ich erkannte Helens Gestalt, die angespannt, mit gesenktem Kopf, dicht am Ufer auf Büschel von Unkraut trat, ein leibhaftiges Gespenst. Ich machte zwei lange Sätze, um sie zu erwischen, bevor sie abrutschte (sie schien zu taumeln). Ich weiß, dass ich ihr verziehen hatte, denn wenn ich jetzt finde, ich hätte sie stoßen sollen, dann nur eingedenk des letzten Trumpfs, den sie noch im Ärmel hatte.

Ich weiß genau, was ich sage, glaub mir, ich sinniere nicht über die Zukunft, ich bin ja kein Wahrsager. Vor einigen Wochen bin ich um drei Uhr morgens völlig verwirrt aufgewacht, zutiefst verstört von einer dieser unkontrollierten Emotionen, die uns nachts überrumpeln, wenn unsere Psyche nahezu wehrlos ist. Ich konnte die Augen noch nicht aufschlagen, aber ich fuchtelte heftig mit dem Arm. Ich muss wohl im Schlaf meine übliche Position verlassen haben, denn der Platz zu meiner Linken, wo Helen anders als du immer schlief, fühlte sich kalt an. Es war dieses Gefühl der Orientierungslosigkeit, das mich mehr als zehn Jahre zurückversetzte, die fünfzehn oder zwanzig Jahre, die ich Helen nicht mehr gesehen habe. Somit ist das hier also keine Chronik der Gegenwart, sondern nur eine Geschichte: meine Geschichte mit Helen, meine Geschichte ohne dich.

Erst vor wenigen Wochen, als mir klar wurde, dass deine Flucht ernst gemeint war, dass du nicht zurückkehrst, vielleicht nicht einmal mehr meine Mails liest und meine Nachrichten sich auf dem Anrufbeantworter verlieren, stellte ich zu meinem Verdruss fest, dass die Freundschaften, die wir in den letzten fünf Jahren auf meine Initiative hin geschlossen haben, auf ein halbes Blatt Papier passen. Unsere Kontakte auf Facebook beliefen sich auf nicht einmal zweihundert, und bei der Hälfte der Personen war ich mir nicht einmal sicher, ob sie überhaupt im Land lebten. Du weißt ja, dass die Leute gerne jede erhaltene Anfrage akzeptieren und sich manchmal die wundersamsten Namen geben (Subal Quinina, Souza Sozinho, Ibrahb), ich habe ein schlechtes Gedächtnis und will niemanden vor den Kopf stoßen, und man weiß ja nie, wann man mal positiv überrascht wird, viele engere Kontakte gehen so unmerklich verloren, wie einem die Haare ausfallen. Hätte ich mehr Zeit, würde ich nach einem besseren Vergleich suchen, denn die Haare kann man zusammenfegen, doch diese Leute führen irgendwo ihr Leben weiter mit guten oder schlechten Erinnerungen an dich, ein paar Telefonnummern, unter denen du nicht mehr zu erreichen bist, einem vagen Eindruck von deinem Gesicht und einer positiven Restbilanz, eine Akte, die man nie wieder aufzuschlagen gedenkt.

Ich registrierte mich unter meinem Namen im sozialen Netzwerk in der Hoffnung, das würde meinem Dasein als Single eine neue Wendung geben (ich konnte niemanden sehen, der mit »uns« belastet war), doch das Einzige, was ich (außer Angeboten für Autos, Getränke oder Versicherungen) erhielt, waren einige sporadische Vergangenheitsschübe. Leute aus der Studienzeit von der La Salle oder der ESADE, Freunde meiner Schwester. Ein Rückschritt, der mir eher unangenehm war, wir hatten damals miteinander ein gutes Jahr, eine Phase, in der einem alles in den Schoß fiel, eine unvergessliche Freundin, Abendessen zum Einrahmen, Partys, deren sich andeutendes Ende einen schmerzte, aber das Leben spielt in der Gegenwart, einer Provinz, zu groß und intensiv, um sich ablenken zu lassen. Was haben wir, erwachsene, gesunde und produktive Kerle von knapp über vierzig, in unserer (noch so nahen!) Vergangenheit herumzustochern auf der Suche nach alten Freundschaften, von denen wir uns, denke ich, wohl nicht umsonst losgesagt haben?

Es ging kaum über die Begrüßung der wiedergefundenen Freunde hinaus, ich kommentierte ihre Fotos nicht, gab meinen Familienstand nicht an, und mein einziges öffentliches Bild war diese Nahaufnahme von dir auf einer Straße in Neapel, lächelnd, mit deinen dunklen Haaren und diesem Ausdruck wie von einem anderen Stern, diese Aufnahme, die du mich (beschämt ob deiner Anmut) nie zeigen lassen wolltest. Und wenn ich drei oder vier Nachrichten mit Pedro-María austauschte, dann nicht aus Rührung oder weil er, nachdem ich seine Freundschaftsanfrage angenommen hatte, auf seiner Pinnwand postete, dass er endlich seinen besten Freund wiedergefunden habe (eine Behauptung, die mir eher peinlich war), sondern es war ein erster wohlüberlegter Schritt, um meinen Gefühlen eine Dosis von dir gänzlich unbelasteter Erfahrungen zu verabreichen. Meine Wahl fiel auf Pedro-María, weil er mich trotz seiner Euphorie nicht allzu sehr belastete. Meine Begeisterung, ihn wiederzusehen, tendierte gegen null.

Unsere Freundschaft war eher zufälligen Umständen geschuldet. Es war mein erstes Jahr in Barcelona, und als wir Schüler in der Schlange standen, um je nach Klassenzugehörigkeit auf die verschiedenen Räume verteilt zu werden, sagte meine Mutter zu seiner, wir würden gute Freunde werden. Mama wollte mir helfen, mir auf billige Weise eine erste Freundschaft verschaffen, doch ich setzte mich nur mit ihm an ein Pult, weil der Lehrer, den wir bekamen, es vorzog, uns der Größe nach statt alphabetisch aufzuteilen. Er war ein rechtes Ekel, dieser Pater Manteca, ihm entging nichts, selbst wenn du nur innerlich lachtest, als könnte er mit den Blicken deine Schädelwand durchbohren und die Wortbewegungen in deinem Gehirn beobachten. Mir sagte er immer, ich würde es nie zu was bringen, und es gab eine Zeit in meiner Jugend, da hätte ich ihm am liebsten aufgelauert, um ihm einen Bericht über meine Erfolge als Frauenheld ins Gesicht zu schleudern, doch der gute Mann besieht sich die Radieschen sicher längst von unten, und womit sollte ich ihm jetzt noch kommen? Auch für die Basketballmannschaft wurden wir der Größe nach rekrutiert, und dreimal die Woche kehrten wir nach dem Training und anschließender Dusche gemeinsam heim, während unsere Mütter sich über allen möglichen Weiberkram austauschten und uns, wenn wir Glück hatten, Cremeröllchen mit einer kandierten Kirsche obendrauf spendierten. Und da ich ihm bei den Matheaufgaben half und er ganz passabel im technischen Zeichnen war, hielten die Klassenkameraden und Lehrer uns für enger befreundet, als wir waren. In Wirklichkeit sagte ich mich bei der erstbesten Gelegenheit von ihm los. Ich war ein kräftiger, umtriebiger Bursche, einer dieser vom Glück begünstigten Jugendlichen, die immer auf die Füße fallen. Er hingegen war, na ja, zu mager und spröde, ich weiß nicht, ob überhaupt mit eigenem Antrieb, denn er schien von der überschüssigen Energie der anderen zu zehren in einer Welt, die vor Vitalität nur so strotzte. Es schien verrückt, dass die himmlischen Mächte solch einem Kleingeist ein komplettes Leben zugeteilt hatten. Genauer betrachtet, stand unsere Freundschaft auf tönernen Füßen und war der Dickköpfigkeit meiner Mutter, Mantecas visuellen Vorurteilen und einem Sport geschuldet, bei dem die Zentimeter zählten: äußerst fragile Bausteine. Wen wundert es da noch, dass sie dem Ansturm der Jahre nicht standhielt.

Und der zweite Grund: Als ich ihm meine Handynummer gab, war ich dermaßen am Boden, dass ich mich ins nächstbeste Grab gestürzt hätte, wenn die Totengräber mir eine schriftliche Garantie für ein wenig menschlichen Austausch gegeben hätten. Aber freu dich nicht zu früh, deine schäbige Flucht war nicht mein einziger Kummer, auch meine ausgezeichnete Gesundheit bekam Risse.

An einem Tag, als Barcelona von nahezu sibirischer Kälte heimgesucht wurde, lief ich die Calle Muntaner entlang, zu erregt, um mich in ein Taxi zu zwängen. Ich kam von einem Besuch bei meiner Mutter, und wenn es mit vierzig schon erniedrigender ist als mit zwanzig, um Geld zu bitten (da schwerer zu garantieren, dass es sich nur um einen vorübergehenden Engpass handelt), so kann ich dir versichern, dass es noch schlimmer ist, wenn man dir dann auch noch einen Korb gibt. Ich fand meine Mutter aufgekratzter als üblich vor. Ihre Erklärung für diese plötzliche Euphorie (jenes Grüppchen von Freunden in den Siebzigern), eigentlich ein Grund zur Freude, überraschte mich, aber ich ging nicht eine Sekunde lang darauf ein, zu sehr damit beschäftigt zu verdauen, dass sie sich weigerte, mir die Summe vorzustrecken, die ich brauchte, um meine finanziellen Ansprüche nicht (noch) eine Stufe weiter herunterzuschrauben.

»Lass uns in zwei Wochen darüber reden, dann kann ich dir bestimmt etwas anderes sagen.«

Ich rief meine Schwester an, bei der die Mailbox ansprang, ohne die Möglichkeit, eine Nachricht zu hinterlassen. Sechs Mal probierte ich es, jedes Mal gebührenpflichtig. Da ich weder Handschuhe noch einen Schal trug, betrat ich einen dieser von Pakistanern oder Brahmanen betriebenen Ramschläden, die keine Steuern zahlen und sich als Einzige halten werden, wenn die prophezeite Krise die Briefmarkenläden, Buchhandlungen, Schneidereien und guten Spirituosenhändler schluckt. Du verschwindest dann vielleicht mit einem Syrer, aber ich werde mit ansehen müssen, wie die bunte Geschäftslandschaft des Eixample einer Reihe von Yuccadiscountern, Hotels, Outlets, chinesischen Großhändlern und nach Fußschweiß riechenden Internetspelunken weicht. Ich kaufte mir eine große Tüte Chips für zwei Euro fünfunddreißig unter dem Vorwand, ich brauchte zum Abreagieren eine ordentliche Dosis Energie. Ich kramte in den Taschen, um den Fünfzig-Euro-Schein nicht anzubrechen.

Die wunderbar imprägnierende Wirkung des Fetts ermunterte mich heimzukehren, was, wie du dir wohl denken kannst, nicht mehr die Wohnung auf der Diagonal Mar ist, die ich mir ohne dich nicht länger leisten kann, sondern eine Art Streichholzschachtel mit niedriger Decke, eingepfercht in ein Haus ohne Aufzug und ohne Heizung, in das ich umgezogen bin, weil der Hausbesitzer (ein Freund, den Bicente in der Reha kennengelernt hat) mir eine nächste Woche endende Frist von drei Monaten gewährt hat, um die Kaution (tausendzweihundert Euro) zu zahlen, weil ich wie ein Idiot auf den verführerischen Klang des Begriffs »Atrium« reingefallen bin, obwohl es nach innen liegt, die Wohnzimmerfenster auf eine Gasse hinausgehen, die sich vor allem durch zwei Container hervortut und die Neonbeleuchtung einer Sauna namens Adam, deren Sinn und Zweck zu erraten ich deiner Fantasie überlasse.

Die Rocafort ist eine halbe Stunde vom Herzen des quirligen Gayxample entfernt, der vorherrschende Typ ist hier die Alte mit ihrem ekligen Köter, der dir, wenn du nicht die Straßenseite wechselst, die Hosenbeine und Schuhe abschleckt. Aber das Adam ist jeden Freitag rappelvoll, es kann zwar nicht auf die schrillen Schwulen hoffen, die aus Nordeuropa einfallen auf der Suche nach Promiskuität oder nach Straßen, auf denen sie unverhohlen mit ihren Liebsten Händchen halten können, lockt mit seiner Abgelegenheit aber die verhinderten Schwuchteln aus Sants oder der Bordeta, der sensationsreichen Creu Coberta sowie aus diesem merkwürdigen Viertel, das sich dort erstreckt, wo die Gran Vía und die Paral•lel – eine Straße, die in jeder anderen Stadt Nord-Süd hieße – immer weiter auseinanderdriften. Am Wochenende kann die Geschäftsführung also garantiert ein volles Haus vorweisen.

Während ich mich mit der Mehrwertsteuer, der Grundsteuer, der Wasserumlage, den Gebühren für das Parken, die Müllabfuhr, das Unkrautjäten in den für Spaziergänge viel zu deprimierenden Parks des Viertels herumschlage; mit den indirekten Abgaben auf Tabak, Alkohol und Benzin; mit dieser verkehrten städtischen Dialyse, die das frische Blut vom Girokonto abzapft, um es durch eine Flut von Schulden, unbezahlten Rechnungen und Mahnungen zu ersetzen; während ich mich also abstrample, damit man mir nicht das Licht oder das (von Blei und anderen krebserregenden Metallen verseuchte) Wasser abstellt, blechen die vom Adam garantiert nicht einmal die Hälfte. Diese Schwuchteln funktionieren als einander unterstützende Bruderschaft, man mag über das Kapillarnetz des Herzens lachen, aber hier versorgen sie sich gegenseitig. Wohlgemerkt, ich habe ja nichts gegen Lesben oder gar gegen Schwule, aber wenn man inzwischen schon das Adoptionsrecht für Männerpaare fordert und ihnen Steuererleichterungen zubilligt, frage ich mich doch, welche Vorteile bleiben dann noch für uns Normale? Ich meine, etwas Gutes muss es auch noch haben, normal zu sein.

Ich nahm allen Mut zusammen, um die Treppe hinaufzusteigen, und wenn es mir nicht peinlich gewesen wäre, vor den Gucklöchern zu essen, hätte ich mir für die Treppenabsätze ein paar Chips zur Stärkung aufgehoben. Zum Glück war ich erst im zweiten Stock, als mich der Schmerz befiel, wie Finger, die sich um die Nervenenden schlingen und sie zu der Seite hinzerren, wo du dein Herz schlagen fühlst. Ich verharrte reglos wie ein Nagetier, das nachts plötzlich vom Licht überrascht wird, und sagte mir immer wieder, »schon vorbei«, »schon vorbei«. Manchmal bin ich nachmittags ins städtische Bad schwimmen gegangen. Aber wenn ich mich bloß ein bisschen anstrenge, wird mir, sobald ich bei einer Boje ausruhe, schlecht. Zunächst habe ich nichts darauf gegeben, man kann es dem Organismus nicht verübeln, wenn er das mentale Chaos irgendwann auch auf den Körper überträgt. Ich merkte sofort, dass der Anfall auf der Treppe schlimmer war, denn diesmal strahlte der krampfartige Schmerz nicht nur bis in den Arm, unter den Rippenbogen und zum Hals aus, gefolgt von einem stechenden Brennen: Was mich wirklich erschreckte, war das sichere Gefühl, ich müsste ersticken, so als raunte es mir mein eigener Herzmuskel zu.

Ich hielt das nächstbeste Taxi an, und obwohl der Schmerz drei Straßen weiter, kurz vor der Quirón, allmählich nachließ, verzichtete ich darauf, wieder heimzukehren. Ich weiß, dass ich dir versprochen hatte, meine Hypochondrie in den Griff zu bekommen, und niemand wird mir mehr vorwerfen können, dass ich hinter jedem Kopfschmerz einen Tumor vermutete und jede rötliche Schattierung als Anzeichen für ein Bronchialkarzinom deutete, doch diesmal hatte etwas Schwerwiegendes die Blutgefäße bedroht. Meine Gesundheit stand auf dem Spiel, der Schweiß roch nach einem ausgewachsenen Problem.

Ginge es im Universum gerecht zu, könnte unsere Trennung für mich auch ihr Gutes haben, es gab schon genug Abscheuliches, was mich bedrückte, ein Tiefschlag reichte, wenigstens meine Gesundheit hätten sie in Ruhe lassen können, ein gewisses Kontingent an Leid spräche nur für die Rationalität des Lebens. Nun gut, dann wäre Bicente nicht von einer Sekunde auf die andere auf dem rechten Ohr taub geworden. Auf einem Spaziergang hatte er plötzlich das Gefühl, als saugte das Innenohr alle Geräusche auf und ersetzte sie durch ein Pfeifen, das auch nachts nicht verschwand. Der Hals-Nasen-Ohren-Arzt machte ihm Mut: Sein Gehör könne sich jederzeit zu großen Teilen wieder normalisieren, vorerst musste er sich allerdings daran gewöhnen, mit einem Hörgerät zu leben, das ihm alle drei Nächte Schlaflosigkeit bescherte. Man sagte ihm, die Unterbrechung des Gehörflusses könne durch eine Allergie, ein Virus, durch Stress, den sie für alles verantwortlich machen, oder irgendein Antibiotikum ausgelöst worden sein. So lebte Bicente also auf einem Ohr taub weiter, bis ihn eines Tages ein heftiger Kopfschmerz befiel, der ihn mitten auf der Straße fast umgeworfen hätte. In der Notaufnahme verabreichten sie ihm Schmerzmittel und brachten ihn in die Abteilung eines Spezialisten, der das Gehirn mit Röntgenstrahlen und Platten traktierte und schließlich einen gutartigen Tumor diagnostizierte, der sich zwischen Innenohr und Gehirn ausbreitete. Selbstverständlich wurde die Geschwulst entfernt, denn trotz aller Gutartigkeit gefährdete sie den Schläfenlappen. Während der Operation bei halb geöffnetem Schädel und mit blutigen Watte- und Mulltamponaden fixiertem Gehirn streifte der Chirurg durch eine Unachtsamkeit den für den Muskel der linken Gesichtshälfte zuständigen Nerv. Bicente erlangte siebzig Prozent seiner Hörfähigkeit wieder, vielleicht geht es ihm inzwischen besser, aber wir sehen uns kaum noch. Es steht immer noch das im Raum, was er mir mit Helen angetan hat, und, glaub mir, es ist nicht eben angenehm, mit einem Kerl zu reden, der seine linke Gesichtshälfte nicht bewegen kann. Die Ärzte sprechen gerne vollmundig von Prozentzahlen, aber sag das mal denen, die an einer seltenen Krankheit leiden. Wenn es dich trifft, krempelt es dein ganzes Leben um, praktisch so, als hättest du auf einen Schlag alles verloren.

Der Arzt rief meinen Namen auf, dimmte das Licht mit einer Fernbedienung, die aussah wie ein Spielzeug, und fing an, Dias mit Grafiken und Zeichnungen vom Herzen durchlaufen zu lassen. Ich wusste den Sinn seiner Vorstellung durchaus zu schätzen, es sprach für eine Gesundheitsversorgung auf Augenhöhe, doch ich war noch zu geschockt, um die Einzelheiten zu begreifen, die Worte schwirrten durcheinander, verbrämt von Fachausdrücken, ohne sich für mich zu einem Sinn zusammenzufügen, bis ich den eigentlichen Zweck seines Vortrags begriff: Der Kerl hielt mir eine Standpauke. Er erklärte mir, das Herz sei als Organ unfähig, Sauerstoff zu speichern, was nicht nur eine Schande für denjenigen sei, der es entworfen habe, sondern auch bedeute, dass es pausenlos damit versorgt werden müsse, um das Blut durch das verworrene Adergeflecht in Richtung der danach gierenden Organe zu pumpen. Die Komplexität des Kapillarnetzes versöhnte mich mit der genetischen Veranlagung, vor der Leistung der DNA kann man nur den Hut ziehen.

Die Durchblutung war für eine halbe Minute unterbrochen gewesen, lange genug, um den Kreislauf meines gesamten Organismus zu erschüttern; wenige Minuten mehr, und das Gewebe der kontrahierten Herzmuskelwand wäre in Teilen abgestorben, aber zum Glück kam die Durchblutung wieder in Gang. Es fiel mir schwer, zu akzeptieren, was ich im Innern meiner Arterie sah, zu begreifen, was es hieß, dass sie nur noch zu dreißig Prozent durchlässig war, da der Rest durch fetthaltige Ablagerungen an den Gefäßwänden verstopft war, zellulärer oder molekularer Müll, ich weiß nicht mehr genau, von welcher Größenordnung die Rede war, was in meinem Körper, unter der Haut, die meine Hände, meine Oberschenkel oder meine Rippen bedeckte, vor sich ging.

»Das ist mit diesem verklumpten Pfropfen aus Haaren, Seife und Hautresten vergleichbar, der den Abfluss in der Dusche verstopft.«

Genau das Beispiel nannte mir dieser widerliche Kerl, und ich lächelte, als wäre mir eine solche Schweinerei nur allzu vertraut. Hätte die Arterienwand dem Druck des Blutschwalls nicht standgehalten, hätte einer wie er mir die Haut und das Fettgewebe der Brust aufgetrennt, mir das Brustbein mit einer chirurgischen Säge zerteilt, um mich auf Leben und Tod an meinem in die Jahre gekommenen Herzen zu operieren.

»Man kann nur sagen, da haben Sie noch einmal Glück gehabt.«

Du kennst mich ja: Auf meinen Appetit ist grundsätzlich und immer Verlass. Ich bat um etwas zu essen.

»Das ist genau ein Teil des Problems.«

Ich führte mich auf wie ein Kind, das bei »Mensch ärgere dich nicht« verliert und ein paar Sekunden abwartet, um den Tatsachen Gelegenheit zu geben, sich selbst Lügen zu strafen. Irgendwann kapierte ich es. Was er mir da erklärte, war ungeheuerlich: Vom Herzmuskel über die Lungenarterien bis hin zu den Sehnerven war das gesamte Nervensystem durch giftigen Restmüll von über vierzig Jahren üppiger Verdauung verseucht worden und irgendwann aus dem Lot geraten.

»Wir sind, was wir essen. Sie müssen auf sich achtgeben und sollten sich einer Diät unterziehen.«

Ehrlich gesagt, flößte mir der Arzt Vertrauen ein, so ein Typ meines Alters, der nicht mehr viel auf sein Äußeres zu geben schien. Kahlschlag auf dem Schädel und die Gesichtshaut nicht mehr straff genug, um der Schwerkraft der Wangen zu trotzen. Seine ganze Attraktivität konzentrierte sich auf die sprühende Intelligenz, die in seinem Ausdruck lag. Das gab ihm aber noch lange nicht das Recht, mich als »Diabetiker« zu titulieren. Dass er der Arzt war und ich verdammt noch mal nicht die leiseste Ahnung hatte, war kein Argument, wir leben mittlerweile in einer demokratischen Gesellschaft, da kann man nicht einfach so daherkommen und den anderen seine Ansichten aufdrücken. Ich beschloss, mich über Wikipedia und Discovery Channel schlauzumachen. Die Diagnose hatte weder Hand noch Fuß, in unserer Klasse gab es immer einen oder zwei Diabetiker: weiß wie die Wand, die sich ihren Insulinschuss setzten wie echte Junkies, sportuntauglich und zu einer Kost aus Erbsen und Blumenkohl verdammt. Zu denen gehörte ich nie, das war kaum zu übersehen, niemand konnte mir meine eigene Geschichte in Abrede stellen.

»Es ist eine Erkrankung, die nur Erwachsene befällt, Ihre Bauchspeicheldrüse ist angegriffen.«

»Es kann sein, dass Sie über Gebühr unter Erschöpfung, Übelkeit, Erbrechen, Heißhunger, ständigem Durst, übertriebenem Harndrang und Juckreiz leiden.«

»Und wenn Sie sich schneiden, heilt die Wunde schlecht.«

»Sie werden sich schonen müssen, Señor Miró-Puig.«