Meine jüngste Erfindung ist eine Maulwurfsfalle - Oliver Rohe - E-Book

Meine jüngste Erfindung ist eine Maulwurfsfalle E-Book

Oliver Rohe

4,7

Beschreibung

Michail Kalaschnikow starb am 23. Dezember 2013 in Ischewsk, Udmurtien. Jeder kennt sie: Die AK47 ist die wohl bekannteste Waffe der Welt. Ihr Erfinder Michail Kalaschnikow wurde 1919 als Sohn von nach Sibirien verbannter Kulaken geboren. Nach einer abenteuerlichen Flucht lebte er in der Illegalität, wurde im Krieg verwundet und arbeitete dann an der Verwirklichung einer effektiven Handfeuerwaffe gegen die Deutschen. Als sie 1947 endlich in Serie ging, war der Krieg längst beendet, doch nahm die Karriere einer Waffe, die den Krieg in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts entscheidend verändert hat und zu einem mächtigen Symbol vieler Freiheitsbewegungen wurde, ihren unaufhaltsamen Lauf. Mit dem Ende des Sowjetreiches änderte die Waffe ihre Bestimmung, sie wurde zur Waffe des Terrors und des Verbrechens. Oliver Rohe gelingt es in dieser literarischen Skizze nicht nur, die Biografie Kalaschnikows und seiner wichtigsten Erfindung zu erzählen, er erzählt auch eine Geschichte des 20. Jahrhunderts und seiner Kriege und führt den Leser bis in die beklemmende Gegenwart einer globalisierten Gewalt. Die Waffe wird zum Gegenstand, dessen Beschreibung uns die Welt besser verstehen lässt.

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Meine jüngste Erfindungist eine Maulwurfsfalle

Oliver Rohe

Meine jüngste Erfindungist eine Maulwurfsfalle.

Michail Kalaschnikow,sein Leben, sein WerkEine Erzählung

Aus dem Französischen von Till Bardoux

»Ließen wir, ähnlicher den Dingen,uns so vom großen Sturm bezwingen,wir würden weit und namenlos.«

R. M. Rilke

Inhalt

Meine jüngste Erfindung ist eine Maulwurfsfalle

Er könnte jedem beliebigen alten Mann aus unserer Nachbarschaft und unserer Vorstellung ähnlich sehen. Ein Greis mit feinen grauen Haaren, zerfurchtem Gesicht und einem wächsernen, fast leichenhaften Teint, schlaff hängender Haut und fleckigen Händen. Er könnte in diesem Moment etwas abseits auf einer Parkbank sitzen, unter einem großen Baum. Er wäre dabei, Tauben zu füttern, Kindern am anderen Ende des Rasens beim Spielen zuzusehen oder seine Lieblingszeitung zu lesen. Er wäre seit mehr als zehn Jahren Witwer. Er hätte nicht mehr viele Freunde, die noch am Leben wären, und seine Nachkommen, seine Kinder und Enkelkinder, hätten alles in allem nur sehr wenig Zeit für ihn übrig. Anfangs würde er Anstoß daran nehmen, so fallengelassen zu werden, dann würde er es hinnehmen und schließlich sogar Verständnis aufbringen. Er würde sich die meiste Zeit ziemlich einsam fühlen, doch immerhin einsam in seinem eigenen Haus. Denn vielleicht hätte er jenes Glück, jenes Privileg von unschätzbarem Wert, noch immer bei sich daheim zu wohnen, in seinem kleinen, zweistöckigen Haus, inmitten seiner alten Möbel und seiner Sammlung von Nippfiguren, seiner Fotoalben und der ihm vertrauten Gerüche. Und bei sich daheim, in seinem eigenen Haus, würde er, nach einem Spaziergang zur kleinen Grünanlage und seinem kargen Abendbrot, mit offenem Mund vor seinem Fernsehbildschirm einschlafen.

Es wäre jemand, der sich zu Tode langweilt, der wartet und sich zu Tode langweilt. Ein Greis wie die anderen, wie all jene, die unsere Nachbarschaft und unsere Vorstellung bevölkern.

Ja.

Nur, dass er kein Greis wie die anderen ist. Nicht ganz. Nicht ganz und gar.

Wenn er auch durchaus dieser alte Herr mit feinen grauen Haaren, wächserner Haut und fleckigen Händen ist, wenn er auch mit jedem beliebigen Greis ein bestimmtes körperliches Schicksal teilen mag, Mundgeruch, Flatulenzen, einen gewissen inneren Verfall, vielleicht auch Begriffsstutzigkeit, ärgerliche Gedächtnislücken und wirres Gefasel, so würde unser Greis im Gegensatz zu all den anderen, die unsere Nachbarschaft und unsere Vorstellung bevölkern, fürs Erste schon einmal keinesfalls Tauben füttern. Er sagte es selbst: Nichts Menschliches ist mir fremd. Ich liebe das Angeln, die Jagd und die Frauen. Genau so, in dieser Reihenfolge.

Unser Greis hatte gesagt, er liebe das Angeln, die Jagd und die Frauen, und er wurde 1919 im Dorf Kurja in der Region Altai im Süden Russlands geboren. Er wuchs in bescheidenen Verhältnissen auf, in einer Bauernfamilie, die aber immerhin ihr eigenes Land besaß, eine vielköpfige und wahrscheinlich einträchtig zusammenlebende Familie, die nicht weniger als neunzehn Geschwister zählte, von denen ein knappes Dutzend an Krankheiten, Unfällen und anderem zufälligen Unheil sterben wird, denn so war das damals: Man gebar zahlreicher, um sicherzugehen, dass aus dem Haufen zumindest ein paar überleben würden.

Damals waren wir hin- und hergerissen, hatten wir keinen Ausweg, damals waren wir einem schrecklichen Dilemma unterworfen.

In jenen Zeiten gab es für uns hinter dem technischen Fortschritt Zurückgebliebene einerseits wirksame und treffsichere Gewehre, die weit entfernte Ziele erreichen konnten, und andererseits Maschinenpistolen, die imstande waren, auf verhältnismäßig kurze Distanzen alles mit Kugeln zu übersäen. Mit einem soliden Gewehr bewaffnet, war der Soldat mit der Schwerfälligkeit und der fehlenden Automatik beim Schießen konfrontiert, während er mit einer Maschinenpistole zumeist mit Verriegelungsproblemen und einer verringerten Zuverlässigkeit rechnen musste.

Der Soldat und vor allem die ranghöheren Vorgesetzten, die für ihn die Entscheidungen trafen, mussten unweigerlich zwischen der Genauigkeit und dem Streufeuer, zwischen Materialengpässen und Sicherheitsproblemen wählen. Was den Soldaten anging, so konnte er ebenso gut an dem einen wie an dem anderen sterben.

Für die Infanterie war das damals vor allem eine Frage von Munitionen, von Patronen, von Durchmessern. Die große Gewehrpatrone, die kleine Pistolenmunition.

Jetzt musste das gute Kaliber erfunden werden, das Kaliber, das zu den neuen Zeiten passte.

Wir waren jetzt reif für ein neues Kaliber.

Und dann hatte es die Oktoberrevolution gegeben.

Den Bürgerkrieg, die Rote Armee, den Kriegskommunismus, Stalins Nachfolge auf Lenin, die ersten Anzeichen von Entgleisung, eine ganze Kette historischer Ereignisse, die uns bekannt sind und von denen wir heute wissen, in welch raschem Rhythmus sie aufeinanderfolgten.

Mit seiner Bauernfamilie aus dem Altai, seinem strengen Vater und seiner liebevollen Mutter, mit dem, was ihm an Geschwistern geblieben war, allesamt sympathisch und zu kleinen Streichen aufgelegt, war er zur Deportation verurteilt worden. Denn es gab sie wirklich, die Enteignungen und die Kollektivierung, den Hunger und die physischen Liquidationen, es gab sie, die Umsiedlungen von Volksgruppen, die verordnete Vermischung der Minderheiten und die Zwangsbesiedlung Sibiriens. Und natürlich musste seine Kulakenfamilie, Bauern aus bescheidenen Verhältnissen, doch trotzdem Grundbesitzer, kleine Privilegierte, musste seine vielköpfige Familie in einer ihnen stets einhellig entgegenschlagenden Feindseligkeit von heute auf morgen verbannt werden, und zwar nirgendwo anders hin als nach Sibirien. Er mochte seine Familie wirklich sehr. Er sagte es selbst: Ich liebte meine Familie. Ich bin meinen Eltern dankbar, mich auf die Welt gebracht zu haben, und ich bin dankbar, auf dieser Erde leben zu können. Und Deportation bedeutet Zugreise, man stelle ihn sich vor in überfüllten und stickigen Viehwaggons, zu heiß, zu feucht, Schwitzkammern ohne Latrinen und ohne Fenster, die meiste Zeit stehend, die Beine nach und nach wie ein bohrender Zahnschmerz, eng an eng mit schmutzigen und immer schlimmer stinkenden Menschen, viele von ihnen sogar krank, eine kompakte Masse Reisender, an Leib und Nerven geschunden, die man sich vorstellen muss, wie sie oft vor Schmerz, vor Hass und vor Müdigkeit weinen und stöhnen, und all das über mehrere Tage, während unerträglicher acht Tage und acht Nächte, so lange, wie es dauerte, um endlich am Bahnhof der Stadt Taiga anzukommen. Er und seine Familie, erst einmal aus dem Viehwaggon gestoßen und von Milizionären auf den Bahnsteigen aus der Menge herausgesiebt, werden sich von dort so, wie sie waren, unter den scharfen Blicken ihrer Bewacher in die eisigen Tiefen Sibiriens begeben, auf Schlitten, auf Pferden und ab und zu auch nur auf ihren malträtierten Beinen, noch einmal für mehrere Tage und Nächte, durch unbekannte Landschaften, die man sich, da man ja im Großen Russland ist, zugleich prächtig und furchterregend vorstellen muss, um schließlich, tot vor Erschöpfung, an ihrem Zielort anzulangen: einem tristen und eisig kalten Dorf etwa einhundertachtzig Kilometer hinter Tomsk.

Wie so oft, wenn es um industrielles Ingenieurwesen geht, werden es zuerst die Deutschen sein, die es konzipieren, das gute Kaliber, das Kaliber, das sich für die neuen Zeiten ziemt. 7,92 × 33 mm Kurz. Eine Mittellösung also, ein dritter Weg, ein mögliches Amalgam zwischen der großen Gewehrmunition und der kleinen Munition für die Maschinenpistole. Eine einfache, doch geniale Erfindung, die in den Erprobungsphasen hervorragende Resultate erzielt hatte und die daraufhin an höchster Stelle vom Kanzler des Dritten Reichs persönlich gutgeheißen und bestätigt worden war.

7,92 × 33 mm Kurz: Die unter dieser strengen, doch magischen Bezeichnung zusammengefassten revolutionären Ziffern und Dimensionen waren es, die von da an als Standard für alle Munitionen gedient hatten, die von der deutschen Rüstungsindustrie für Handfeuerwaffen hergestellt und der Infanterie der Wehrmacht für ihre totale und selbstmörderische Offensive gegen die Sowjetarmeen zur Verfügung gestellt wurden. Und besagte Sowjetarmeen werden natürlich Exemplare dieser revolutionären Kaliber in die Hände bekommen und dann ihrerseits nicht ohne Schwierigkeiten versuchen, sich an die neuen Zeiten anzupassen, die aus Gründen der räumlichen und zeitlichen Konstellation der Kämpfe, der Angriffs- und Verteidigungsstrategien danach verlangten, dass ein für allemal das schreckliche Dilemma der Munitionen geregelt würde und folglich eine vorher nicht dagewesene Handfeuerwaffe eingeführt würde.

Jetzt hatten wir endlich das neue Kaliber.