Meine Mutter und die Liebe - Sara Paborn - E-Book
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Meine Mutter und die Liebe E-Book

Sara Paborn

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Beschreibung

Eine Spätsommerliebe in Schweden

Wie jedes Jahr verbringen Filippa und ihr Mann Frederik den Sommer bei ihrer Mutter, die allein in einem alten schwedischen Bauernhaus lebt. Das Reetdach ist undicht und muss dringend ausgebessert werden – zumal Filippa überlegt, das Haus zu verkaufen und die verwitwete Rentnerin in ein Seniorenheim zu verfrachten. Doch als der Handwerker sich an die Arbeit macht, blüht Filippas Mutter plötzlich auf, und auch er scheint an ihr interessiert zu sein. Die ältere Dame sprüht vor Lebensfreude, aber Filippa ist misstrauisch – meint der Mann es tatsächlich ernst mit ihrer Mutter? Und wohin sind die Schmetterlinge in ihrer eigenen Ehe eigentlich verschwunden?

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Seitenzahl: 159

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Sara Paborn, 1972 in Sölvesborg, Schweden, geboren, war früher in der Werbebranche tätig und lebt heute als Autorin in Stockholm. 2009 veröffentlichte sie ihr Debüt. Nach Beim Morden bitte langsam vorgehen ist Meine Mutter und die Liebe ihr zweiter Roman, der auf Deutsch erscheint.

Außerdem von Sara Paborn lieferbar:

Beim Morden bitte langsam vorgehen

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SARA PABORN

Meine Mutterund die Liebe

Roman

Aus dem Schwedischen von Sabine Thiele

Die schwedische Originalausgabe erschien 2018 unter dem TitelÄnkorna på Österlen bei Bonnier Bookery, Stockholm 2018. Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

PENGUIN und das Penguin Logo sind Markenzeichenvon Penguin Books Limited und werdenhier unter Lizenz benutzt.

Copyright © 2018 by Sara Paborn Published by agreement with Ahlander Agency Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2020 by Penguin Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München Umschlag: Favoritbüro Umschlagmotiv: © Stephen Mulcahey / Trevillion Images; ju_see / shutterstock, BigganVi/shutterstock, mubus7 / shutterstock, Joe Gough/shutterstock Redaktion: Nike Müller Satz: GGP Media GmbH, Pößneck E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-26144-3V001www.penguin-verlag.de

1

Ich bekomme eine Liste, die auf der Rückseite einer alten Wahlwerbung der Zentrumspartei notiert ist.

Am Haus erledigen

– Reetdach neu decken lassen (es regnet rein). DRINGEND. Von wem???

– Mäuselöcher im Keller zumauern

– Fenster kitten

– Gästehaus abstützen (rechte Seite)

– Sperrmüll zur Abholung rausstellen, Gefriertruhe etc.

– Zaun streichen

– Rasen mähen

– Eichenlaub in Müllsäcke stopfen

Ich rufe Mama an. Nach dem siebten Klingeln meldet sie sich außer Atem.

»Mehr ist nicht zu tun?«, frage ich spitz.

»Im Moment nicht. Später kommt aber bestimmt noch was dazu. Mir fällt sicher noch etwas ein.«

Die Ironie in meiner Frage entgeht ihr.

»Was machst du? Du klingst so außer Atem«, sage ich.

»Ich habe versucht, die Motorsäge in Gang zu bringen, die ich im Schuppen gefunden habe. Der Ahorn hinter dem Haus muss gefällt werden, er ist innen völlig verfault. Ich habe wirklich Angst, dass er aufs Haus stürzt.«

»Hast du die Säge denn zum Laufen gebracht?«

»Die Kette ist ein bisschen stumpf, aber ihr müsst euch eben Ast für Ast vornehmen. Man darf es nur nicht eilig haben. Und das habt ihr ja nicht, oder?« Mama atmet erschöpft aus. »Habe ich erzählt, dass die Möwen oben auf dem Dachfirst nisten? Sie sind wiedergekommen, obwohl ich sie mit dem Besen verscheucht habe. Und jetzt regnet es auch noch rein, auf den Dachboden. Wir hätten das Reetdach schon längst neu decken lassen sollen, aber du weißt ja, wie schwierig es deswegen immer mit Papa war. Wir konnten uns nie richtig einig werden. Betonplatten wären ihm lieber gewesen.«

Mama seufzt tief, was sofort in einen besorgniserregenden Husten übergeht. Seit Papas Tod ist sie oft krank, mit unklaren Symptomen, die allerdings nie so ernst werden, als dass sie zum Arzt gehen würde. Ihre Stimme klingt brüchig und leicht vorwurfsvoll, auch dann, wenn es gar nichts gibt, worüber sie sich beklagen kann.

»Ich rede mit Fredrik«, sage ich. »Wir bleiben dann eben so lange wie nötig. Die Arbeit muss ja schließlich erledigt werden.«

Den letzten Satz sage ich angemessen gestresst, damit Mama versteht, dass es natürlich ein Opfer ist, das ich aber gern erbringe. Weil ich ein Mensch bin, auf den man sich verlassen kann. Der ordentlich ist.

»Wann kommt ihr?«

»In drei Wochen.«

Schweigen.

»Habt ihr euch gegen Zecken impfen lassen?«

»Nein.«

»Das müsst ihr aber. Holt das nach! Ich zahle euch das auch.«

»Das ist nicht nötig, Mama. Wir können unsere Impfungen schon selbst zahlen.« Ich klinge angespannt.

»Dann lasst ihr es also noch machen? Bevor ihr kommt? Versprich es mir.«

Ich halte den Telefonhörer weit vom Ohr weg und hole zweimal tief Luft. Bis in den Bauch hinein. Trenne Emotion und instinktive Reaktion.

»Ich verspreche es«, antworte ich schließlich.

»Wie gut, dass ich dich habe, mein Liebling. Es wird so gemütlich, wenn ihr hier seid! Nicht wahr?«, sagt Mama mit leicht zitternder Stimme. »Ich habe das Gästehaus vorbereitet, du wirst begeistert sein. Es ist allerdings ziemlich windschief, das habe ich dir ja in meinem Brief geschrieben, oder? Ich habe das Bett im großen Zimmer mit ein paar Holzklötzen aufgebockt. Das sollte erst einmal halten. Ansonsten müsst ihr eine Matratze auf den Boden legen. Ihr braucht wirklich mal Urlaub. Aber der Wacholder, den Papa vor dem Schlafzimmerfenster gepflanzt hat, ist ganz schön gewachsen. Den müsst ihr unbedingt rausreißen. Ich befürchte, dass sich die Wurzeln sonst bis unter das Haus graben. Und dann bräuchte die Veranda noch ein wenig Farbe, wenn sie auch nächstes Jahr noch halten soll.«

Sie holt Luft für ihren finalen Schlag.

»Du kümmerst dich doch um jemanden, der das Dach neu decken kann, ja? Ach, hier könnt ihr euch mal so richtig erholen. Ihr seid wirklich ganz herzlich willkommen!«

Ich lege auf. Mein Bauch und mein Nacken sind völlig verspannt.

Papa ist vor drei Jahren gestorben. Seitdem versucht Mama, sich allein um das große Haus in der südostschwedischen Region Österlen zu kümmern. Es ist ein über hundertfünfzig Jahre altes Anwesen – typisch für die Gegend –, an dem ständig etwas getan werden muss. Mama ist zweiundsiebzig, pensionierte Montessorilehrerin, deren Interesse für Arbeit mit den Händen sich immer nur aufs Nähen, Stricken und den Garten erstreckt hat. Das große Wohnhaus überfordert sie, auch wenn sie es nicht zugeben will. Die charmante Landküche ist völlig unpraktisch. Die Spüle ist zu niedrig, der Abzug zu schwach. Spülmaschine gibt es keine. Der Boden im gesamten Haus ist eiskalt. Überall zieht es. Außer im Schornstein.

Vor einem Jahr ist sie außerdem die steile Treppe hinuntergefallen und hat seither Probleme mit der Hüfte. Nur mühsam kommt sie bis zum Festnetztelefon, auf dem sie nach wie vor besteht. Sie hat sich nie die Mühe gemacht, sich mit Mobiltelefonen auseinanderzusetzen. Die Telefonnummer ist noch dieselbe wie in meiner Kindheit.

11479.

Doch nur im Haus ist die Zeit stehen geblieben.

Auf der anderen Seite der Hecke wurde die Wiese in Grundstücke aufgeteilt, der Weg verbreitert. Die Weiden wurden von modernen Wohnsiedlungen verdrängt. Der kleine Kaufladen, zu dem wir früher immer geradelt sind, hat zugemacht. Dazu gibt es nicht viel zu sagen. Alles hat seine Zeit. Ich bin nicht besonders sentimental.

Dinge verändern sich, genau wie Menschen. Was will man da schon machen?

Und ein Gefrierschrank? Der wird nicht einfach vom Sperrmüll abgeholt.

Nein, der muss zum Wertstoffhof.

Ich heiße Filippa und bin Zahntechnikerin. Mein Beruf hat viele Parallelen zum Leben an sich: Vor allen Dingen geht es um Hygiene. Man muss säubern, was schmutzig ist. Betäuben. Löcher stopfen. Fassaden reparieren. Regulieren. Für Ordnung sorgen.

Mein Mann Fredrik arbeitet bei einer Versicherung und verkauft Altersvorsorgemodelle an große Unternehmen. Wir sind erst kürzlich in eine Wohnung in der Stadt gezogen, nachdem wir viele Jahre in einem Haus gewohnt haben. Wir sind seit einundzwanzig Jahren verheiratet (wir haben gerade Opalhochzeit gefeiert) und haben zwei Kinder. Hugo ist sechzehn, Henrik achtzehn. Hugo fährt im Sommer drei Wochen ins Segellager, und Henrik leitet ein Pfadfinderlager. Fredrik und ich sind dann also allein.

Auf meinem Nachttisch liegt eine Beißschiene, daneben steht eine Flasche mit Myrrheöl für die Nagelhaut. Auf Fredriks Seite liegt ein iPad, auf dem er irgendwann eine Dokumentationsreihe über Hitlers Zeit im Bunker weiterschauen wird, außerdem brennen zwei Teelichter. Wir wollten uns einen gemütlichen Abend machen. Früh ins Bett gehen, vielleicht noch lesen oder ein Kreuzworträtsel lösen. Die Stimmung ist jedoch schnell umgeschlagen, nachdem ich ihm von meinem Telefonat mit Mama erzählt habe.

»Ich übernehme keine Verantwortung dafür, wie es dir geht, wenn wir wieder zurückkommen.«

Fredrik blickt zur Decke und spricht weiter.

»Du lädst dir viel zu viel Arbeit auf. Das ist doch das genaue Gegenteil von Urlaub.«

Im schummrigen Kerzenlicht ist sein Kiefer angespannt.

»Aber das habe ich doch auch nie verlangt, dass du die Verantwortung dafür übernimmst, wie es mir geht?«, erwidere ich.

»Doch, sobald es dir zu viel wird oder etwas schiefgeht, muss ich dich wieder aufbauen. Ich habe dich immer unterstützt und dir gut zugeredet, aber das ist sinnlos, denn du machst ja doch immer wieder das Gegenteil. Du musst ihr Haus doch gar nicht renovieren. Vielleicht könntest du dich dieses Jahr stattdessen einfach mal ausruhen?«

»Du hast leicht reden. Sie ist schließlich meine Mutter.«

Ich reibe hektisch das Myrrheöl in die Nagelbetten meiner Finger. Es ist teuer, da darf man keinen Tropfen verschwenden.

»Sie macht dich fertig«, seufzt Fredrik. »Wir können nicht alle unsere Ferien ihrem Haus opfern. Bist du dir überhaupt sicher, dass sie es behalten will? Es ließe sich doch bestimmt eine hübsche, kleine Wohnung finden, die näher an der Innenstadt liegt und in der sie sich wohler fühlt.«

Er dreht sich zu mir.

»Ich denke dabei vor allem an sie. Der Hof macht so viel Arbeit. Wie soll sie das schaffen? Und jetzt wäre eine gute Zeit für einen Verkauf. Es gibt ja nicht mehr viele dieser alten Höfe mit so viel Fläche und so nah am Meer, oder?«

»Ich werde mit ihr darüber reden, wenn wir dort sind«, antworte ich. »Wir könnten vielleicht einen Makler kommen lassen, der alles schätzt?«

Ich strecke die Hand nach der Beißschiene aus und setze sie ein. Das ist die dritte innerhalb eines Jahres. Den Kieferbereich habe ich extra dick anfertigen lassen, denn die ersten zwei habe ich durchgebissen. Ein Mensch kann eine Beißkraft von bis zu siebzig Kilo aufbringen. Frust manifestiert sich gern in den Kiefern.

»Gut, mach das«, sagt Fredrik. »Klemm dich dahinter und überzeuge sie. Du bist schließlich die Einzige, auf die sie hört.«

Er setzt die Kopfhörer auf und lässt sich ins Kissen sinken.

Bei seiner letzten Bemerkung empfinde ich Zufriedenheit. In gewisser Weise ist das Verhältnis zu Mama einfacher geworden, seit sie allein lebt. Ich würde es niemandem gegenüber zugeben, nicht einmal Fredrik. Aber einem Teil von mir gefällt es, dass sie jetzt abhängig von mir ist. Dass sie mir zuhört. Zumindest manchmal. Mein ganzes Leben lang habe ich mich danach gesehnt, dass sie stolz auf mich ist, wollte ihr Lob. Doch trotz Ausbildung, gutem Job, schönem Haus, tollem Mann und wohlgeratener Kinder hat sie immer etwas zum Kritisieren gefunden. Irgendetwas habe ich immer übersehen. Dass Fredrik zum Beispiel natürlich nett ist, aber sich nicht gern schmutzig macht und keinen Ehrgeiz hat. Dass die Kinder zu viel vor dem Computer sitzen und die Füße beim Gehen nicht ordentlich heben. Dass ich ihnen nicht stundenlang vorgelesen habe, so wie sie, als ich klein war. Dass wir die Lampen unnötig lange brennen lassen und zu wenig Puzzle legen. Sie und Papa hingegen waren natürlich perfekt. Doch seit sie hilfloser ist, ist sie auch weniger kritisch. Ja, wir werden den Sommer damit verbringen, das halbe Haus zu renovieren, aber eine dunkle Seite von mir genießt diese Aussicht.

Ich bin eine Frau von siebenundvierzig Jahren, Zahntechnikerin und Fredriks Frau. Ich bin die Mutter meiner Kinder. Mir sind Sicherheit und Geborgenheit wichtig. Ich gebe mein Bestes. Ich bin auch die Tochter meiner Mutter. Unser Verhältnis ist nicht immer einfach, umso wichtiger ist daher Durchhaltevermögen.

Aale schwimmen an den Ort ihrer Geburt zurück. Wellen schlagen immer wieder gegen dieselben harten Felsen. Die Sonne muss aufgehen, auch über kargen Gegenden. Und ich muss nach Hause und meiner Mutter helfen. Doch die Vorstellung, dass wir das Anwesen ja verkaufen könnten, muntert mich auf. Vielleicht finde ich ein kleineres, modernes Haus für sie, ohne Treppen. Ohne Schwellen. Oder eine Wohnung mit hellem Boden. Darauf stolpert man nicht so leicht. Einen schönen Ort, an dem sie alt werden kann. Vielleicht eine Seniorenanlage mit gemeinsamen Aktivitäten und Abendessen? Ich meine, letztens von einer neuen Einrichtung bei Mama in der Gegend gelesen zu haben. Eine Art Senioren-WG, wie die in den Vierzigerjahren Geborenen sie eigentlich zu Hunderten hätten gründen sollen, in der die Bewohner töpfern können und Wein trinken. Doch wie alle anderen Sterblichen haben sie sich selbst verraten, und jetzt gibt es wenig Alternativen. Ich werde recherchieren, wie das Wohnheim heißt. Außerdem: Sollte das Haus verkauft werden, könnten wir uns vielleicht zinsfrei etwas Geld von Mama leihen. Das können wir gut brauchen, denn in den letzten Jahren hatten wir viele Ausgaben. Wenn wir dann im Sommer die Ritzen im Mauerwerk abdichten, alles streichen und das Reetdach neu eindecken lassen, würden wir bei einem Verkauf einen besseren Preis erzielen. Irgendwann steht er ja sowieso an.

Fredrik ist eingeschlafen, das Kinn ist auf die Brust gesunken. In dieser Position sehe ich ihn zurzeit am häufigsten. Sein Profil ist mir mittlerweile vertrauter als sein Gesicht. Das Ohr, aus dem ein paar Haare zu wachsen beginnen, der Nasenflügel, der leicht flattert, wenn Fredrik sich auf dem iPad etwas Spannendes ansieht, der Haaransatz, der etwas zurückgewichen ist. Die Kopfhörer stören seinen Schlaf nicht.

Ich stehe auf und suche im Internet nach Informationen über Reetdächer.

Ein Reet- oder Strohdach ist umweltfreundlich, hübsch und traditionell. Um die Reetbündel aufs Dach zu bringen, benötigt man Erfahrung und Material von hoher Qualität. Es muss zunächst ein Jahr lang trocknen, frei von Unkraut und ein bis zwei Meter lang sein. Auch einige andere Faktoren können entscheidend für die Lebensdauer Ihres Daches sein. Hier sind einige Ratschläge: Steht ein Baum neben dem Haus, achten Sie darauf, dass die Zweige nicht bis aufs Dach hinunterreichen, da diese sonst das Reet beschädigen können. Im Schatten altert das Material schneller. Entfernen Sie Pflanzen, die auf dem Dach wachsen. Moos ist an sich ungefährlich, kann allerdings Vögel auf der Suche nach Nahrung anlocken, die dann im schlimmsten Fall auch dort nisten, was eine große Gefahr für das Reet darstellt. Besonders Möwen sind gefährlich, deren Kot ätzende Wirkung hat und das Dach schnell verfaulen lässt.

Mein Puls beschleunigt. Die Lage ist ernst. Wenn das Dach nicht einstürzen soll, müssen wir früher fahren.

Die Lebensdauer eines Reetdachs beträgt etwa fünfzig Jahre. Das Reet auf dem Dachfirst sollte alle fünf bis zehn Jahre neu gedeckt werden. Wenn Sie Ihr Dach sorgfältig pflegen, altert es würdevoll, und Sie haben während seiner gesamten langen Lebenszeit Freude daran.

Unter der anschaulichen Beschreibung steht in Rot und fett formatiert: Neue Aufträge nehmen wir erst wieder für 2020 an. Bitte tragen Sie sich hier auf die Warteliste ein.

In Schweden gibt es nicht viele Betriebe, die Reetdächer reparieren oder neu decken. Ich klicke eine ganze Weile durch die Suchergebnisse. Die wenigen Firmen scheinen bis in den Herbst hinein ausgebucht zu sein. Ich gehe in die Küche, hole eine halb volle Flasche Wein, schenke mir ein Glas ein und starte die Google-Bildsuche. Dachgauben im Sonnenschein vor blauem Himmel. Goldenes, kräftiges Reet auf dem Dach. Ein Hof, ganz ähnlich wie Mamas, mit ockerfarbenen Fensterrahmen. Ich klicke auf das Bild und werde zu einer altmodischen, hässlichen Website weitergeleitet, die dem Verein zur behutsamen Renovierung alter Häuser gehört. Nach den Bildern zu urteilen, befindet sich der Verein in Skåne. In der kleinen Bildergalerie, die ich ganz oben im Menü finde, glänzen neu verlegte Reetdächer auf hübsch restaurierten Häusern, die inmitten von Gärten stehen, die vor Kulturpflanzen und Obstbäumen nur so strotzen. Man findet Vorher- und Nachher-Bilder von eingestürzten Dächern, die jetzt wieder mit charmanten Details erstrahlen, wie zum Beispiel kleinen Ausbuchtungen über den Dachfenstern. Auf jedem Bild ist eine Frau zu sehen, die offensichtlich überglücklich über die ausgeführten Arbeiten an ihrem Haus ist. Nicht nur Dächer werden sorgsam restauriert, sondern auch andere Bereiche des Hauses. Auf einem Bild posiert eine lächelnde Frau in lilafarbenen Hosen vor einem runden Kachelofen. Auf einem anderen legt eine gepflegte Dame den Arm um einen Handwerker, der einen Spachtel in der Hand hält. Auf einem dritten sitzt eine Frau mit mittellangem grauem Haar vor einem offenen Fenster, dessen Scheiben laut Bildunterschrift mundgeblasen sind. Auf den Fotos sind alle möglichen Frauen abgebildet. Dicke, dünne, dunkelhaarige, blonde, rothaarige.

Eines haben sie allerdings gemeinsam: Sie sehen ungewöhnlich zufrieden aus.

Offensichtlich ist das hier einer dieser kleinen Vereine, in dem sich Frauen auf dem Land organisieren, um Wintergärten und Gewächshäuser zu bauen und mit Eitempera zu malen. Ich klicke auf »Kontakt« und finde einen Namen und eine Telefonnummer: Brigitte Bagger, Simrishamn. Ich notiere mir die Nummer auf einem Zettel. Morgen werde ich sie anrufen und sie bitten, mir jemanden für das Dach zu empfehlen.

Auf der Startseite steht nur ein Satz vor grau flimmerndem Hintergrund: Alte Häuser wollen einfühlsam, kompetent und mit Bedacht behandelt werden.

Ein paar Tage später rufe ich an. Die Stimme am anderen Ende der Leitung ist warm und melodisch und hat einen leichten dänischen Akzent.

»Brigitte Bagger.«

»Hallo«, sage ich. »Bin ich richtig beim Verein zur behutsamen Renovierung alter Häuser?«

»Entschuldigung, aber mit wem spreche ich, bitte?«

Die Frau klingt plötzlich wachsam.

»Ich heiße Filippa Lövgren. Ich rufe an, weil ich jemanden suche, der ein Reetdach neu eindecken kann. Alle Firmen, die ich bisher gefunden habe, sind über den Sommer ausgebucht. Dann bin ich zufällig auf Ihre Website gestoßen, und ich wollte fragen, wer für die schönen Dächer auf den Bildern verantwortlich ist.«

»Einen Augenblick.« Die Frau legt den Hörer aus der Hand und schließt eine Tür. Dann spricht sie gedämpft weiter.

»Wie war gleich noch mal der Name?«

»Filippa Lövgren. Es geht aber nicht um mein Haus, sondern um das meiner Mutter.«

»Ich verstehe.« Die Frau holt tief Luft und räuspert sich leise. »Die Handwerker, die wir beschäftigen, arbeiten nur an ganz bestimmten Gebäuden. Wir geben die Namen im Normalfall nicht weiter, da die Nachfrage sowieso schon sehr groß ist. Es tut mir leid, aber ich kann Ihnen nicht helfen.«

Die Frau hält den Hörer dicht an den Mund. Ich sehe ihn vor mir, die rosafarbenen Lippen, die kleinen schmalen Zähne. Leicht gelblich vielleicht, wie die Halme auf ihrem Dach.

»Wie schade«, erwidere ich. »Meine Mutter ist seit Kurzem Witwe, und das Haus wird ihr einfach zu viel. Und jetzt ist auch noch das Dach undicht, es tropft auf den Dachboden. Ich weiß beim besten Willen nicht, an wen ich mich wenden soll.«

Ich senke die Stimme auf eine sanfte, aber feste Tonlage. Die Stimme ist ein wichtiges Werkzeug, um Vertrauen aufzubauen. Auch wenn ich einem Patienten erklären muss, dass die Zahnbehandlung, der er sich unterziehen muss, nicht gerade angenehm werden wird, spreche ich immer mit dieser sanften, festen Stimme.

»Sie hat ein hübsches altes Haus hier in der Region, in Österlen«, fahre ich fort. »Mein Mann und ich wohnen in Stockholm. Ich bin ihr einziges Kind, sonst kann ihr niemand helfen, weshalb ich so schnell wie möglich jemanden finden muss. Andernfalls befürchte ich Schlimmes für das Haus.«

»Sie ist Witwe, sagten Sie?« Brigitte Bagger klingt plötzlich neugierig.

»Genau«, bestätige ich. »Seit fast drei Jahren. Bis jetzt lief es ganz gut, aber … Nun müssen wir uns um vieles auf einmal kümmern. Sie braucht dringend Hilfe.«

»Es ist immer schwierig, wenn man plötzlich allein ist«, sagt Brigitte zögernd. »Ich bin selbst seit vielen Jahren Witwe, ich weiß, wovon ich rede. Man schafft die ganzen praktischen Dinge oft nicht mehr.«

Sie hustet.