Meine Suche nach dem Nichts - Lena Schnabl - E-Book
SONDERANGEBOT

Meine Suche nach dem Nichts E-Book

Lena Schnabl

0,0
11,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 11,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Nach einer längeren Krankheit lässt die junge Journalistin Lena Schnabl ihr altes Leben hinter sich und macht sich auf den Weg ins japanische Hinterland, um dort einmal im Kreis zu laufen. Im Gepäck das Versprechen, die Leere und damit das höchste Glück zu finden. Auf Shikoku, dieser entrückten Insel abseits der Megastädte und Shinkansen-Trassen, verläuft der japanische Jakobsweg, der älteste Pilgerpfad der Welt: ein Auf und ab von 1.300 Kilometern und 88 Tempeln. Die Pilgerin wird über Berge klettern und an der Küste entlanglaufen, ihre Lehrmeister in Sachen Nirwana werden Mönche, Einheimische und andere Pilger sein, denen sie auf ihrer Reise begegnet. Wird es Lena gelingen, das glücksbringende Nichts zu finden?

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 597

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

»Ein Fußmarsch direkt ins Nichts war genau das, was ich nach einer längeren Krankheit brauchte. Also lief ich in Japan rund 1 300 Kilometer im Kreis, um die Leere und das höchste Glück zu finden …«

Lena Schnabl über das Glück, dem Nichts auf der Spur zu sein.

Wie ich tausend Kilometer auf dem japanischen Jakobsweg lief und was ich dabei fand

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.
Dieses Buch ist die Geschichte meiner Pilgerreise und beruht auf meinen Erfahrungen und Erlebnissen, Tagebuchaufzeichnungen und Recherchen. Es ist meine persönliche Sicht auf mein Leben und die Menschen, die mich umgeben, und hat selbstverständlich keinen Anspruch auf Richtigkeit oder Vollständigkeit. Die Namen der meisten Personen habe ich aus Respekt vor ihrer Privatsphäre geändert. Keine Person und kein Ereignis sind erfunden.
Copyright © 2019 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenUmschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München, unter Verwendung von Motiven von FinePic®, München, und Autorenfotos von © Alexander DixonKarte: © Peter Palm, BerlinLektorat: Antje AlthansDF · Herstellung: kwSatz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München
ISBN: 978-3-641-23808-7V002
www.goldmann-verlag.de
Besuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

Inhalt

I(hosshin, Erwachen, Präfektur Tokushima)

II(shugyou, Askese, Präfektur Kochi)

III(bodai, Erleuchtung, Präfektur Ehime)

IV(nehan, Nirwana, Präfektur Kagawa)

I (hosshin, Erwachen, Präfektur Tokushima)

1

»Man geht wandern.«

(Freund, Berlin/Neukölln)

Berlin – Ich steige in die U-Bahn ein. Kottbusser Tor. Bitte zurückbleiben. Gelbe Bahn, graue Kacheln. Es riecht nach einer Mischung aus Schweiß, Döner und Parfum. Ich schiebe mir meinen Schal vor die Nase und umklammere die Haltestange. Neben mir steht eine klapperige Omi mit Gehwagen, hinter mir ein paar Halbstarke, die sich gegenseitig YouTube-Clips mit fetten Bässen vorspielen. Auch einer dieser Akkordeon-Bettler ist eingestiegen. In die Bässe der Halbstarken mischt sich nun noch sein Gedudel. Mir ist heiß. Mir ist schlecht. Und auf einmal ist nichts von alledem mehr da. Keine Töne, kein Licht, keine Gerüche.

Plötzlich ist da nichts mehr.

Als ich wieder zu mir komme, liege ich auf dem Boden, Schweiß auf der Stirn. Die Omi, die Halbstarken, der Typ mit Akkordeon, alle über mich gebeugt, sorgenvolle Gesichter, sagen: »Mein Jöttchen!«, »Krass, Alter!« und »Katastroffff!«

Ich sage: »Passt schon« und denke: ›Was für eine Scheiße‹.

Hier, am grindigen Boden der Berliner U-Bahn, Linie acht, zwischen Kottbusser Tor und Schönleinstraße, beginnt meine Pilgerreise nach Japan.

Wobei, eigentlich ging es schon früher los. Der Schlag, dessen Nachwirkungen mich in der Bahn auf den Boden sinken ließen, kam ebenfalls an einem Oktobertag.

Ein Jahr vorher.

Ich war bereits ein paar Tage merkwürdig erschöpft gewesen, immer müde, Watte im Kopf. Aber an diesem grauen Tag, an dem die Sonne nicht aufzugehen schien, lag ich in meinem Bett in Berlin-Neukölln und konnte mich nicht bewegen. Als läge eine Decke aus Blei auf mir oder als würde das Blei direkt in meinen Adern fließen. Ich hob meinen Kopf und ließ ihn wieder sacken. Ich machte die Augen zu. Ich machte die Augen wieder auf und versuchte es nochmal. Und sackte wieder zurück ins Bett. Mein Herz raste, als wäre ich gerade in den zehnten Stock gesprintet. Halsschmerzen hatte ich. Und einen heißen Kopf. Vielleicht eine Grippe. Draußen war Herbst, und der Baum vor meinem Fenster verlor sein Laub. Tagelang dämmerte ich vor mich hin. Aus Tagen wurden zwei Wochen. Es war, als hätte mir etwas ins Gesicht geschlagen. Keine Ohrfeige. Eher ein K.o.-Schlag. Mit der Faust mitten auf die Zwölf.

Ich versuchte, mir einen Film anzusehen, konnte der Handlung aber nicht folgen. Die vielen Bilder rauschten an mir vorbei, überforderten mich. All die Personen, die auftauchten, und das, was die einander sagten, verstand ich nicht. Das war alles viel zu viel. Und ich viel zu wenig. Ein Totalschaden. Nicht nur der Körper, auch der Kopf funktionierte nicht. Ich klappte den Laptop wieder zu. Ich war ein Bleiklumpen und die Welt außerhalb meiner selbst ein schwerer Nebel. Eine Grippe also? Aber die geht doch schneller vorbei? Zwei Wochen lang zu schwach, mir einen Tee zu kochen? Zu fertig, um einen Film zu schauen? Zu erschöpft, um mitzubekommen, was mir die Freunde erzählen, die mir Krankenbesuche abstatteten?

Ich schleppte mich zum Arzt. Ein paar hundert Meter geradeaus, Sitzen auf Stühlen im Wartezimmer. Ich hätte mich gerne hingelegt, lehnte den Kopf an die Wand. Der Arzt, lascher Händedruck, Lockenkopf, guckte mir in den Hals. »Sagen Sie mal Aaaah.« Klassiker. Außer »Ah« sagte ich noch: »Ich bin zu schwach, um zu sitzen.« Und er: »Belegte Mandeln und Erschöpfung? Ich tippe auf Mononukleose.«

»Mono-was? Und wie viele Tage dauert das?«

»Mononukleose.«

Ich schüttelte den Kopf.

»Epstein-Barr.«

Ich schüttelte den Kopf.

»Pfeiffersches Drüsenfieber«, sagte er. »Und um Ihre zweite Frage zu beantworten: Das kann Monate dauern.«

Bitte was?

»Manchmal auch Jahre.«

Pfeiffersches Drüsenfieber. Das hatte ich schon mal gehört. Eine Schulfreundin hatte das in der Oberstufe. Monatelang kam sie nicht in die Schule. Wir haben trotzdem gleichzeitig Abi gemacht. Zwei Jahre später. Aber in der Abi-Zeitschrift stand so etwas wie: »Die ist immer müde. Wenn man sie nachmittags anruft, schläft sie, und ab acht Uhr abends schläft sie auch.«

Heilige Scheiße!

»Brauchen Sie eine Krankschreibung?«

»Nein, ich bin selbstständig.« Und Krankengeld bekomme ich auch keins, dachte ich.

Und er: »Gute Besserung!«

Ich stolperte aus der Praxis, musste losheulen und rief Mama an. Die hilft ja meistens, wenn sonst nichts mehr hilft. Als sie durch das Geschniefe verstanden hatte, was gerade passiert war – »Monate hat der gesagt. Manchmal Jahre!!!!!« –, sagte sie, auf pragmatische Weise optimistisch: »Warte erst mal den Bluttest ab« und »Ist ja nicht gesagt, dass es bei dir auch so lange dauert«. Wir legten auf. Ich heulte weiter. Zuerst auf der Straße, die paar hundert Meter zur Wohnung, dann wieder im Bett. Bis selbst das Geheule zu anstrengend war und ich einschlief.

Ein paar Tage später, Bluttest abgewartet und die Gewissheit: Jupp, ich habe Mononukleose. Immerhin hatte ich jetzt einen Namen für die Bestie, die mich k.o. geschlagen hat. Eigentlich hat sie viele Namen: Mononukleose, Pfeiffersches Drüsenfieber, Morbus Pfeiffer, Kuss-Krankheit, Studentenfieber. Erst mal googeln, was das eigentlich bedeutet. Die Krankheit wird ausgelöst durch einen Herpes-Virus, den Epstein-Barr-Virus. Fast alle erwachsenen Deutschen tragen das in sich, 95 Prozent. Der Arzt sagt: »Die Durchseuchung ist sehr hoch.« Kleinkinder kriegen es von ihren Eltern oder von abgelutschtem Spielzeug in der Kita. Erwachsene vom Küssen, vom Anhusten, vom Gläserteilen. Vor ein paar Wochen habe ich einer Freundin meinen Lippenbalsam geliehen. Ich beiße auch öfter mal vom gleichen Brot ab wie meine Freunde. Vielleicht hat mich aber auch nur jemand in der S-Bahn angehustet.

Das Gute ist: Die meisten Immunsysteme unterdrücken den Virus. Und auch wenn er ausbricht, bemerken es die wenigsten, sind eine Woche »erkältet«, und gut ist. Das Schlechte ist: In seltenen Fällen legt die Krankheit die Betroffenen komplett lahm, teilweise für Jahre. Und dann gibt es noch eine Steigerung, noch seltenere Fälle mit Leberversagen, Herzmuskelentzündung, Milzriss, Tod. Je später man es sich einfängt, desto schwerer ist in der Regel der Verlauf. »Karriere-Killer Drüsenfieber« ist ein beliebter Titel für Artikel über das Phänomen. Olaf Bodden, Fußballer bei 1860 München, spielte nach der Infektion nie wieder. Tennisspieler Roger Federer musste Monate pausieren.

In jedem Fall war klar: Ich musste erst mal im Bett bleiben. Aber ich konnte ohnehin nichts anderes machen. Sitzen? War nicht drin. Tee kochen? Ging manchmal. Also ergab ich mich, ließ mich in die Untätigkeit fallen. Ich schrieb meinen Auftraggebern, dass meine Artikel später kommen würden. Zu meinen Freunden sagte ich Sätze wie: »Ich war die letzten Jahre nie krank, also nehme ich das jetzt am Stück.« Und ich meinte das auch so. Freunde kamen mich besuchen, backten mir Pfannkuchen und kochten Kürbissuppe. Appetit hatte ich keinen, aber ich trank ganz gerne Orangensaft, den sie mir eingekauft hatten. Aus Wochen wurden Monate. Und irgendwie war mir das herrlich egal. Vielleicht, weil auch mein Kopf lahmgelegt war. Jedenfalls war ich ganz Passivität, Stillstand und Ruhe.

Nach vier Monaten im Bett waren zunächst die Gedanken wieder da. Ich dachte an die Texte, die ich hätte schreiben können. Sieben Geschichten hatte ich während meines letzten Japanaufenthalts recherchiert. Die Reisekosten zahlt mir niemand, die muss ich erst mal wieder reinkriegen. Also Recherche-Marathon, einen Monat lang jeden Tag Termine, kein einziger freier Tag. Die Interviews waren auf Band, die Fotos auf Speicherkarten, die Notizen im Block. Und ich im Bett. Immerhin kam trotzdem etwas Geld auf mein Konto, weil alte Texte bezahlt wurden. An sich ist es nervtötend, wenn getane Arbeit erst nach der Veröffentlichung bezahlt wird, Monate oder Jahre später teilweise. Doch damals brachten mich diese Zahlungen in Warteschleife über die Runden. Trotzdem: Da war Arbeit, die ich machen könnte. Fertig recherchierte Geschichten, die geschrieben werden wollten. Nur: Ich konnte nicht. War immer noch nicht fähig, mich zu konzentrieren. Weder Filmschauen noch Buchlesen war drin. Wenn selbst sitzen zu anstrengend ist, wie sollte ich da arbeiten?

Vom Bett aus schaute ich mir meine Umgebung genauer an. Ich sah all den Dreck, der sich in der Wohnung angesammelt hatte, weil ich ja geschlafen und nicht geputzt hatte. Überall lagen Haare, Staubflusen sammelten sich in den Zimmerecken. Staub, das ist: Hautschuppen, Milben und Spinnenkacke. Wie ich das hasse. Einmal die Woche hatte ich mich in die Dusche geschleppt, mich in die Duschwanne gesetzt, mich abgebraust. Danach erst mal ausruhen, bevor ich Zähne putzen konnte. Das ging auch nur noch im Sitzen. Die Beine fingen sonst an zu zittern. Ich rief Papa an. Der ist seit der Pensionierung bei meinen Eltern fürs Putzen zuständig. Ich wollte eigentlich von ihm hören, dass Putzen echt anstrengend ist und es kein Wunder ist, dass ich das gerade nicht schaffe. Aber er lachte ziemlich laut und ziemlich lange und sagte: »Ach Mädi, deine Wohnung ist echt klein. Ich glaube, du kannst es schaffen, da mal durchzusaugen.« An sich hatte er recht. Typische Berliner Ein-Raum-Wohnung. Nicht mal vierzig Quadratmeter. Also stellte ich den Staubsauger an. Ich begann mit den kleinsten Flächen. Saugte das Bad. Schweiß lief mir über den Rücken. Zwei Minuten Hausarbeit. Ich legte mich eine Stunde ins Bett. Dann saugte ich den Flur. Eine Minute Hausarbeit. Schweiß, Zittern. Ich legte mich eine Stunde ins Bett. Rief wieder Papa an. Der lachte jetzt nicht mehr, sondern sagte so was wie: »In dem Rhythmus ist die Wohnung morgen staubfrei.« Den Optimismus meiner Eltern bewundere ich sehr.

Ein Problem an meiner Krankheit ist: Es versteht sie eigentlich keiner. Mich selbst eingeschlossen. In unserer Zeit sind ja alle ständig »erschöpft«. Meist heißt das: Man kann sich zusammenreißen, ein bisschen weiterpowern, und dann wird es schon. Im normalen Leben kann man Grenzen überschreiten, neu ausloten, verschieben. Aber mit dieser Bestie in mir geht das nicht. Ich konnte mich nicht zusammenreißen und noch das Wohnzimmer saugen. Egal wie lächerlich die Aufgabe erscheint. Ich konnte auch nicht für mich selbst einkaufen gehen. Ich war ein schlaffer Körper mit eingeschläfertem Geist, und ich konnte nach Monaten des Stillstands noch immer fast gar nichts machen.

Natürlich waren nicht nur negative Gedanken da. Mir fiel einfach vieles auf. Zum Beispiel, dass ich, seit ich freiberufliche Journalistin bin, keinen Urlaub gemacht hatte. Wenn ich weggefahren bin, dann beruflich. Auch feste freie Tage habe ich bisher nicht eingelegt. Man kann immer noch irgendeine E-Mail schreiben, ein neues Thema suchen, irgendeinen Plot entwickeln. Und es kann immer sein, dass eine Zusage kommt und ich gleich loslegen soll. Kann auch sein, dass ich einen Text überarbeiten soll, den ich vor Monaten geschrieben habe und der nun überraschend in die nächste Ausgabe soll, die übermorgen in den Druck geht. Ich liebe meinen Job, aber ich weiß eigentlich nie, was ich in der nächsten Woche mache, ob ich Arbeit haben werde, ob und wann wie viel Geld auf mein Konto kommt. Eine E-Mail kann alles verändern. Immer auf Abruf.

Das muss aufhören. Ich beschloss, ein paar Dinge zu ändern, wenn ich wieder arbeiten könnte: feste freie Tage und wirklich mal in Urlaub fahren. Insgesamt alles ruhiger angehen lassen. Mir auch mal etwas gönnen. Diese ständige Selbstkasteiung ist doch scheiße. Und ich wusste jetzt, dass das geht: Schließlich war die Welt nicht untergegangen, weil ich gerade vier Monate im Bett lag. Ich hätte genauso gut vier Monate durch Patagonien reisen können. Wenn ich wieder fit wäre, wollte ich also: mehr Spaß und weniger Druck.

Meine Eltern schickten mir ein Rückenkissen, mit dem ich im Bett sitzen konnte. Manchmal saß ich jetzt, statt zu liegen. Das war ein Fortschritt. An manchen Tagen hatte ich ein Tablett mit meinem Laptop vor mir und schaffte es, ihn aufzuklappen, ein Interview abzutippen oder ein paar Absätze zu schreiben. Danach kam wieder die große Erschöpfung. Als würde die Bestie wieder ihren schweren Arm auf mich legen, um mich zurechtzuweisen, dass ich es übertrieben hatte. Dann machte ich wieder tagelang nichts. Wie ein kaputter Handyakku, bei dem Gespräche plötzlich abbrechen oder eine einzige SMS das Batteriesymbol zum Blinken bringt. Man muss ihn stundenlang laden, aber das Ding ist hin. Ich war genauso, musste viel zu lange laden, um danach viel zu wenig Leistung zu bringen. Ich fragte mich: Wie tauscht man seine Batterie aus? Und kann man das auch im Liegen machen? Ich lag auf dem Rücken und schaute hoch zur Decke. Ich lag auf der Seite und schaute aus dem Fenster oder machte die Augen gleich zu.

Ich versuchte, selbst einzukaufen. Danach war ich wie benommen. Einen ganzen Tag brauchte ich, um mich von der Anstrengung, mir selbst eine Flasche O-Saft gekauft zu haben, zu erholen. An einem anderen Tag versuchte ich es mit Spazierengehen. Ich fühlte mich energiegeladen, in meiner Vorstellung flog ich in den Park, die Hasenheide, vorbei an Hundescheiße, Dealern und jungen Eltern mit Babys vor dem Bauch. Ich schickte ein Selfie an meine Familie. Ich im Park – fünfhundert Meter entfernt von meiner Wohnung – blasses Gesicht, fettes Grinsen. »Wow, du warst heute draußen! Bist du das alles gelaufen?« Mein Gefühl: Ich schaffe das, jetzt wird alles gut. Aber die Bestie holte zum nächsten Schlag aus. Jede Aktivität, die an ein normales Leben erinnerte, bestrafte sie sofort. Wieder verbrachte ich Tage im Bett, stand nur zum Teekochen auf und legte mich dann derart ermattet wieder hin, als wäre ich einen Marathon und nicht die paar Meter in die Küche gelaufen.

Fast wünschte ich mich zurück in die Zeit, als mein Geist ebenso benommen war wie mein Körper, sodass ich in buddhahafter Gleichgültigkeit vor mich hindämmerte. Jetzt ging im Kopf die Post ab, und mein Körper blieb schwer.

Eigentlich müsste ich doch, oder? Warum wurde es nicht besser?

Ich bemühe mich doch! Warum hilfst du mir nicht, Bestie? Warum kriegst du Kleinigkeiten immer noch nicht hin?

Das war das erste Mal, dass ich versuchte, mit der Bestie zu sprechen. Im Endeffekt brüllte ich sie an. Ich war traurig und wütend. Obwohl sie ganz nah war, wusste ich nicht, wie ich sie erreichen sollte. Und sie antwortete: Nichts. Wir hatten offensichtlich ein Kommunikationsproblem.

Außerdem fing ich mir jeden Infekt ein. Es waren Erkältungen, die mich wochenlang lahmlegten. Wieder zu schwach, um zu schreiben, spazieren zu gehen oder einzukaufen. Mein spärlicher Alltag fiel wieder weg. Seit einem halben Jahr hatte ich mich nun nicht mehr gesund gefühlt. Und irgendwie wurde es nicht wesentlich besser. Ich schlug wieder beim Arzt auf, frustrierter noch als vor ein paar Monaten. Ich wollte jetzt Lösungen hören. »Das Schlimmste haben Sie überstanden«, sagte er. So fühlte ich mich aber nicht! Es soll jetzt besser werden! Ich hätte gerne eine Kur! Er winkte ab. Kur heißt Anstrengung, und das sei nichts für mich. Ich solle mich ausruhen und warten. Ich kann doch nicht einfach jahrelang rumliegen! Ich verrotte noch in meiner Wohnung. Gibt es da keine Medikamente dagegen? »Die einzige Pille, die ich Ihnen verschreiben kann, ist die Geduldspille.« Der will mich wohl verarschen. Er sagte, ein halbes Jahr unfit sein, das sei gar nichts. »Durchschnitt sind eineinhalb bis zwei Jahre.« Wie sollte ich das schaffen? Mir ging die Kraft zum Ausruhen aus.

Heute, ein Jahr nach der Infektion, hilft mir die Omi aus der U-Bahn. Ich stütze mich auf ihre zerbrechliche Schulter und sie sich auf ihren Gehwagen. Sie führt mich zu einer Bank.

»Allet paletti jetze?«

»Ja, vielen Dank.«

Kann es sein, dass mein Körper ein volles Jahr nach dieser Virusinfektion immer noch nicht klarkommt? Es sah doch so aus, als würde es langsam besser werden … Ich sitze auf der Bank und warte, bis der Schwindel vorübergeht. Derweil versuche ich wieder, mit der Bestie zu sprechen. Ich verstehe nicht, warum sie das gemacht hat. Was willst du von mir?, frage ich, während ich mir den Schweiß von der Stirn wische. Stille. Ich verstehe dich nicht, sprich mit mir. Was ist dir zu viel? In eine U-Bahn einsteigen? Stille. Warum bist du so launisch?

Sie antwortet nicht. Sie antwortet nie. Jahrelang war ich nie krank, wunderte mich über die anderen, die ständig Taschentücher kauften, weil sie so oft Schnupfen hatten und die Verabredungen absagten mit: »Du, mir geht es heute nicht so gut.« Seit die Bestie da ist, habe ich keine Ahnung, was dieser Körper, den ich lange für unbesiegbar hielt, von mir will. Und weil sie nicht antwortet, weil sie offensichtlich keinen Bock hat, mit mir zu sprechen, werde ich irgendwann ausfallend, auch wenn ich mir vorgenommen habe, möglichst verständnisvoll mit ihr umzugehen. Du Scheißdiva, kannst du mal aufhören auszuticken?

Seit einem Jahr führe ich innere Monologe, die Dialoge sein wollen und scheitern. Aber durch mein inneres Gezeter hindurch höre ich noch eine andere Stimme.

Sie flüstert: Shikoku. Ich kenne diese Stimme schon eine Weile. Immer wieder weist sie mich auf die Existenz dieser japanischen Insel hin. Aber dazu später.

Zu Hause lege ich mich ins Bett, die Beine hochgestreckt an der Wand, um den Kreislauf zu stabilisieren. Was bin ich für eine Versagerin. Ich heule. Nicht die Tränen, die leise runterlaufen, während man traurig guckt, sondern so, dass es einen schüttelt und man ständig ganz doll Luft holen muss und dabei komische Geräusche macht, weil auch noch die Nase läuft.

Irgendwie bin ich trotzdem eingenickt, und als ich nächsten Morgen aufwache, fühle ich mich schwach, aber gehe runter, aus dem Haus. Mein Blick heftet sich auf das Kopfsteinpflaster, damit ich nicht noch in Hundescheiße trete. Gibt jede Menge davon in meinem Viertel, in Neukölln nahe Hermannplatz. Ein Mann steht an einer dieser am Randstein entsorgten Matratzen, auch davon gibt es jede Menge hier, und pinkelt. Wie ich diesen Dreck, den ich normalerweise ausblende, gerade verabscheue. Eine tote Ratte liegt im Matsch, die Glieder steif, das Fell teils feucht, teils schon verkrustet.

Zurück in meiner Wohnung setze ich einen Tee auf und mich an den Schreibtisch.

Ich kam nach Berlin, weil ich das Gefühl hatte, dass hier die Freiheit zu Hause ist. Ist sie vielleicht auch. Jeder kann machen, was er will, und niemanden interessiert es. Ein Mann führt vor meinem Fenster gerade seinen Plüschhund an der Leine spazieren. »Ringo, bell doch nicht so laut, die Leute wollen dir doch nichts Böses«, ruft er. Natürlich bellt das Kuscheltier nicht. Die anderen gehen weiter an ihm vorbei. Was Böses wollen sie wohl wirklich nicht, aber keiner schaut den Mann an, keiner lacht oder wundert sich. Als wäre der Mann genauso wenig da wie das Bellen seines imaginären Hundes. Es ist kein weiter Weg von Toleranz zu Ignoranz. Die Gesichter, die ich aus meinem Fenster sehe, wirken fahl und grau, verlebt und leer. Ist es Berlin, diese Stadt, die das mit den Leuten macht?

Es gibt viele, die herkommen voller Hoffnung. In Berlin geht noch was. In Berlin ist alles möglich. Um wenig später im Prekariat zu versumpfen. Akademiker, die was reißen wollen, die keine klassische Karriere wollen, aber die große Selbstverwirklichung. Das Projekt, das sie aufziehen wollten, hat dann halt doch nicht geklappt, also jobben sie im Café. Wenn es hart auf hart kommt, machen sie bei medizinischen Studien mit, das gibt ein paar tausend Euro und damit ein paar Monate Lebensunterhalt.

So weit bin ich noch nicht. Ich habe Abgabetermine für meine Texte und klappe jetzt den Laptop auf, um zu schreiben. Nach ein paar Stunden kommen die Gedanken zurück. Was bringt mir eigentlich eine Stadt der Freiheit, wenn ich in diesem Körper gefangen bin, der ohnehin nichts auf die Reihe kriegt? Und was wird aus mir, wenn ich meinen Beruf, der zu einem beachtlichen Teil aus Unterwegssein besteht, gar nicht mehr ausüben kann, weil dieser Körper nicht mehr dazu in der Lage ist, unterwegs zu sein? Ich fühle mich gefangen in einer Version meiner selbst, die sich nicht richtig anfühlt. Mir selbst fremd. Muss ich mein Leben ändern?

Vielleicht zurück nach München gehen. Einen festen Job annehmen. Heiraten. Kinder kriegen. In München ist ein Verlorensein wie in Berlin gar nicht möglich. Weil man dort einen »richtigen Job« braucht, weil man sonst nicht überleben kann. Weil man dann seine Tage im Büro verbringt, danach zum Supermarkt, der macht ja um 20 Uhr zu. Auch wenn die New York Times kürzlich zur Debatte stellte, dass München nun vielleicht »cool werde« und dabei auf diverse In-Locations verwies: München ist für mich immer das Dorf meiner Eltern geblieben. Dort bin ich aufgewachsen und habe ich studiert. Wenn ich sie besuche, habe ich immer das Gefühl, dass in München alles langsamer läuft. Die Ampel schaltet derart schleppend auf Rot, dass man unfassbar geruhsam die Straße überqueren kann. Die Stadt ist gesättigt. Dass sonst nichts geht, heißt auch, dass ich dort nicht viel verpassen kann. Ich sehe Gesichter, die frisch sind und gesund. Sie sitzen in Straßencafés, wahlweise mit Aperol Spritz oder Caffè Latte in der Hand. Und die Leute lassen mir auf dem Weg zur Bahn den Vortritt, statt mir wie in Berlin die Ellenbogen reinzurammen. Warum sitze ich nicht mit Caffè Latte im Straßencafé und sehe dabei fantastisch aus? Habe ich wirklich Lust, weiter irgendwelchen Möglichkeiten hinterherzulaufen? Wie bei einer grindigen U-Bahn, deren Türen schon schließen, und ich weiß nicht mal, ob ich da, wo die Bahn hinfährt, überhaupt hinwill?

Oder sollte ich aufs Land ziehen? Vielleicht werde ich dort ein kleines Café aufmachen. Selbst gebackenes Sauerteigbrot und frisch gemahlenen Kaffee, dazu Matcha-Kuchen und Rote-Bohnen-Gebäck, vielleicht auch brasilianische Käsebällchen und Acaí-Smoothie, auf jeden Fall auf japanischer Keramik serviert. Das Beste aus meinen Wahlheimaten. Frühstück gäbe es auch. Und wenn ich aus dem Fenster gucke, würde ich die Ostsee sehen, und dort würde ich dann mit meinem Hund spazieren gehen. Muss ich mein Leben ändern? Ist die Krankheit ein Zeichen, dass jetzt mal Schluss ist mit dem prekären Lotterleben? Dass ich zur Ruhe kommen soll? Oder muss ich nur warten, bis der Körper wieder fit ist?

Oder ist genau das Gegenteil der Fall? War der eigentliche Fehler der, dass ich nach zehn Umzügen in sieben Jahren beschlossen habe, in Berlin ankommen zu wollen? Dass ich vor drei Jahren die Fahrradtaschen vollpackte, von München nach Berlin radelte, um ein Leben im ständigen Provisorium – in Wohnheimen und mit Zwischenmietverträgen – zurückzulassen und es gegen eines in Altbauwohnung – mit unbefristetem Mietvertrag und sogar Internetanschluss, der auf meinen Namen läuft – zu tauschen? Ich bin damals mit dem Fahrrad umgezogen, weil ich wollte, dass mein Kopf mitkommt. Nach dem ständigen Hin und Her, nach dem schnellen Reisen, von Wien nach Tokyo, von Hamburg nach São Paulo, wollte ich auch mal langsam unterwegs sein. Und ich hatte auch nichts, was einen Möbelwagen gerechtfertigt hätte.

Jetzt besitze ich ein Bett (hat die Freundin einer Freundin zu Studienzeiten gebaut) und ein Sofa (stand früher im Wohnzimmer meiner Eltern). Eine Waschmaschine (ein Jahr nach dem Einzug endlich angeschafft, nachdem der Gang zum Waschsalon mir jedes Mal länger vorkam) und einen Kühlschrank (okay, gleich nach Einzug gekauft). Klar gibt es immer noch Dinge, die ich nicht besitze. Einen Schrank zum Beispiel, ein Regal oder einen Regenschirm. Aber für meine Verhältnisse habe ich verdammt viel. Passt das vielleicht gar nicht zu mir? Muss ich vielleicht also nicht mehr, sondern wieder weniger ankommen, um wirklich ich selbst zu sein? Ist es das, was die Buddhisten meinen, wenn sie sagen: Leiden entsteht durch Anhaftung? Habe ich zu viel angehäuft, an dem ich jetzt anhafte? Habe ich das Loslassen verlernt? Hindert mich meine Waschmaschine daran, glücklich zu sein? Und wenn ja: Warum lasse ich das zu?

Insgeheim beneide ich religiöse Menschen. Die gehen davon aus: Gott sorgt dafür, dass alles gut wird. Oder dass ihr Platz in der Gesellschaft auf Karma zurückzuführen ist. Auf jeden Fall ist da ein Grundvertrauen. Meine Eltern sind, zum Schrecken der Großeltern, aus der Kirche ausgetreten und meine Geschwister und ich wurden nicht getauft. An meiner Grundschule war ich im Bayern der Neunzigerjahre das einzige Kind ohne Religionszugehörigkeit. Während die anderen alles über Jesus und Gott lernten, hatte ich frei. Ich musste aber nachmittags extra noch mal hin zum Ethikunterricht, zusammen mit den drei anderen nicht christlichen Schülerinnen der Schule: einer Zeugin Jehovas und zwei Muslimas. Heute ist nichts glauben in meinem Umfeld normal geworden.

Die klaren Regeln der Religionen gelten immer weniger. Aus »Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib« wurde Polyamorie. Oft ist es in unserer Gesellschaft doch irgendwie so: Wir gehen davon aus, dass niemand von oben auf uns runterguckt und dass niemand auf uns aufpasst. Mal euphorisch, mal depressiv nehmen wir unser Schicksal selbst in die Hand und sind dann auch selbst und ausschließlich dafür verantwortlich, wenn es schiefgeht. Und am Ende führen wir Plüschhunde spazieren, und niemanden interessiert es. Oder sitzen mit Kreislaufproblemen heulend im Bett, während das Leben woanders stattfindet. Klar, theoretisch könnte man. Aber praktisch kann man eben nicht. Man braucht nicht nur Talent, Leistung und Fleiß, sondern auch Glück. Mein Blick fällt auf das Fensterbrett. Dort stehen Kakteen, klein, stachelig und grün, neben japanischen Winkekatzen aus Keramik mit rosa Schnäuzchen und zarten Schnurrbarthaaren. Und ein Buch aus Japan mit vielen leeren Seiten und den Kalligrafien von elf Tempeln. Ich blättere durch die schwarzen Tuschezeichnungen, auf die rote Stempel gedrückt sind.

Die Stimme, die vorher noch flüsterte, wird lauter. SHIKOKU!

Das erste Mal, dass dieser Name in meinem Kopf auftauchte wie ein Zauberwort, war sechs Monate nach meiner Infektion.

Ich saß mit einem Kumpel zusammen, jammerte über meinen Körper und sagte, ich brauchte eine Kur. Und er: »Ach, Kur, das macht man heute nicht mehr. Man geht wandern.« Und ich dachte mir: ›Wie cool wäre das denn? Wandern!‹ Ich war weit davon entfernt, wirklich die Stiefel zu schnüren und auf einen Berg zu rennen, aber der Gedanke an die Möglichkeit trat etwas los. Wenn ich nun tatenlos in meinem Bett lag, kamen da jetzt Bilder von Landschaften und Bergen. Ich dachte auch an Japan, das mir seit fünfzehn Jahren eine zweite Heimat geworden ist. Bei meiner ersten Japanreise war ich Anfang zwanzig, studierte Japanologie und wollte so viel wie möglich vom Land sehen. Ein bisschen wie die japanischen Touris, die Europa in einer Woche abhaken, fuhr ich im Shinkansen-Schnellzug durchs Land. Von Tokyo fünfhundert Kilometer auf die Insel Sado an der Westküste Honshus. Von dort in die alte Kaiserstadt Kyoto, Tempel angucken und Geishas, Matcha und Zengärten. Abstecher nach Nara, auch alte Kaiserstadt, außerdem kann man dort Rehe füttern. Einen Tag nach Shikoku, die kleinste der vier japanischen Hauptinseln, etwa so groß wie Sachsen. Dort stieg ich aus dem Zug, besuchte drei Tempel, ging in ein Badehaus und fuhr weiter. Zur Burg Himeji, einem der ältesten Gebäude Japans, und von dort gleich wieder in den Zug zu den Ruinen der Atombombenkuppel in Hiroshima und nach Miyajima, einer Insel mit Shinto-Schrein und noch mehr Rehen. Weiter Richtung Süden bis nach Kagoshima am äußersten Zipfel Kyushus und dann wieder in den Norden zur Bucht von Matsushima, zwanzig Kilometer von Sendai entfernt, eine der drei angeblich schönsten Landschaften Japans. Zwei Wochen durchs Land gereist und die Lonely Planet Must-sees und etliche UNESCO-Welterbe abgehakt.

In meinem entschleunigten Leben im Bett wirkte diese Reise wie ein ferner Traum. Aber der Tagesausflug nach Shikoku ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Shikoku. Die knallgrünen Reisfelder, die ich aus dem Bummelzug gesehen hatte, die dampfenden heißen Quellen mit den nackten japanischen Omis und die Tempel mit ihren Räucherstäbchen und Glocken. Ich sah mich, wie ich damals an einem Tempel stand und meine Hand auf einen Stein legte. Irgendwas war da, irgendwie musste ich da wieder hin. Vielleicht rief mich diese Insel zu sich. Vielleicht war Shikoku auch einfach das Erste gewesen, was mir eingefallen war. Vielleicht suchte ich wahllos nach irgendwas, woran ich mich festhalten konnte. Keine Ahnung.

Aber plötzlich suchte ich im Netz nach den Tempeln, die ich damals besucht hatte, und stellte fest: Da sind noch mehr, die gehören zu dem ältesten Pilgerpfad der Welt. Der führt seit mehr als tausend Jahren tausendzweihundert Kilometer über Berge und an der Küste entlang, vorbei an insgesamt achtundachtzig Tempeln – und ich hatte noch nie von ihm gehört.

Die Vorstellung, dass ich das machen könnte. Ich und mein Körper. Meine Bestie und ich. Wir gehen zusammen und finden auf dieser Reise wieder zueinander. Besser geht es doch eigentlich nicht. In meinem Kopf war die Sache jetzt klar: Sobald ich könnte, würde ich auf diese Insel zurückkehren und es ganz anders machen als beim letzten Mal. Statt einer kurzen Stippvisite würde ich die gesamte Insel umrunden. Zu Fuß. Fünfunddreißig bis sechzig Tage soll das dauern. Der Weg vorgegeben von den durchnummerierten Tempeln, die sich wie auf einer Perlenschnur aufgereiht um die Insel verteilen.

Ein konkretes Ziel! Und mittlerweile war es Frühling geworden. Ich zwang mich, jeden Tag rauszugehen. Spazieren, wenn auch nur zehn Minuten, selbst einkaufen, die alltäglichen Dinge wie Duschen und Kochen wieder in den Griff bekommen. Statt Kur verabreichte ich mir ein individuelles Wohlfühl-Aufbauprogramm: einmal die Woche Sauna, einmal die Woche regeneratives Yoga und ab und zu Ausflüge an die Ostsee. Ich schlief immer noch übermäßig viel, sicher zwölf Stunden pro Tag, aber ich hatte das Gefühl, dass alles besser wurde. Ich traf meine Freunde wieder außerhalb meiner Wohnung, wir tranken Kaffee, gingen ins Kino. Danach ruhte ich mich aus. An vielen Tagen machte ich weiter: nichts. Alles auf Sparflamme, aber immerhin ein bisschen normales Leben.

Ich hatte immer ein enges Verhältnis zu meinem Körper gehabt, war vor dem Drüsenfieber sportlich gewesen. Ich machte Kampfsport, ging bouldern und zum Yoga. Das klingt heftig, aber im Endeffekt machte ich nur, worauf ich Lust hatte. Ich hatte jede Menge Kraft, und die nutzte ich. Jetzt versuchte ich es mit Radfahren. Alles blieb anstrengend. Mir wurde schnell schwindelig, und teilweise bekam ich nach Anstrengung Fieber. Wieder ging ich zum Arzt. Warum, verdammt noch mal, dauert das so lange? Warum wurde ich nicht fitter? »Wir wissen nicht, woran das liegt. Aber es ist normal«, sagte der Arzt. Normal fühlte sich das nicht an. »Sie sind nicht die Gleiche wie vor einem Jahr, also können Sie sich auch nicht so verhalten«, sagte der Arzt. »Geduld.« Ich fasste es nicht. Warum gab es da nichts, was ich tun konnte? Warum ist eigentlich »alles o.k.«, und warum ging es mir trotzdem nicht gut? Und von außen sah man nichts. Aber das unsichtbare Ding in mir hielt mich in seinem Griff. Meine Freunde wunderten sich genauso wie ich, dass ich immer noch viele Verabredungen sausen ließ, weil ich »erschöpft« war oder »nicht so fit heute«. Teilweise wollte ich deswegen nichts mehr ausmachen. »Wir gehen übermorgen ins Kino«, solche Sätze setzten mich unter Druck. Ich konnte nicht versprechen, dass ich das übermorgen könnte.

An schlechten Tagen heulte ich und motzte über diesen unfähigen Körper. Im Netz fand ich Selbsthilfegruppen, in denen Leute posteten, dass sie selbst nach zwölf Jahren noch nicht wieder normal lebten, immer noch diese Erschöpfung. Eine Lösung für mein Problem fand ich nicht. An guten Tagen fragte ich meine Freunde, ob sie mich vielleicht besuchen könnten, weil ich es nicht rausschaffte, und wir guckten Filme, quatschten und lachten. Oder ich telefonierte mit Leuten, die guttun, meiner Familie und Freunden, die in der Welt verstreut leben. Irgendwann versuchte ich es mit Akzeptanz. Wenn dieser Körper sich nicht bewegen ließ, musste ich auf ihn zugehen, mich anpassen. Ich schrieb wieder Mails, in denen ich Abgabetermine nach hinten schob. Statt ohnmächtig am Boden einer Trainingshalle lag ich beim regenerativen Yoga, immerhin optimal ausgerichtet auf Kissen. Ich ging spazieren. Ich machte zu Hause Gymnastik. Wirklich fitter wurde ich nicht, aber ich fühlte mich besser. Es war nicht so, dass ich die Herrschaft über die Bestie wiedererlangt hatte. Eher hatte ich mich der Herrschaft der Bestie in meinem Körper gebeugt.

Es wurde Sommer. Die vorab recherchierten Geschichten hatte ich mittlerweile geschrieben. Ein Reisemagazin fragte an, ob ich im Herbst zwei Japanthemen umsetzen könnte. Ich war nicht sicher, dass ich das konnte, aber sagte zu. Ich wollte nicht, dass das Jahr einfach so verging. Ich wollte etwas leisten. Und klar, auch finanziell war das letzte Dreivierteljahr eine Katastrophe gewesen. Ich konnte überleben, weil ich das Vorjahr fleißig gewesen war. Aber jetzt wurde es langsam knapp. Ich brauchte diese Aufträge. Und wenn ich damit durch war, könnte ich nach Shikoku fahren. Die Idee hing mir immer noch im Kopf. Und sie gab mir Kraft. Gehen, flanieren, spazieren, wandern, das mochte ich schon immer. Zwar war es ein weiter Weg um die Insel. Andererseits war es nicht der Pacific Crest Trail, der einmal von Mexiko nach Kanada durch die USA führt, 4 300 Kilometer durch Wüste und über schneebedeckte Pässe. Mit Zelt und ohne Wasser oder Supermarkt. Nö, der Shikoku-Pilgerweg ist nicht der PCT, sondern in meiner Vorstellung so etwas wie die Rentnerversion davon. Tausendzweihundert Kilometer, der höchste Berg etwa tausend Höhenmeter hoch, Getränkeautomaten und Herbergen auf dem Weg. Vor einem Jahr hätte ich das belächelt und als ziemlich uncool abgetan. Aber ich war nicht mehr mein früheres Ich, das beim Kampfsport Bretter zerschlug und untrainiert von München nach Berlin radelte. Ich war mein jetziges Ich, das es teilweise nicht mal schaffte, die Wohnung zu saugen. Daran konnte ich eingehen, dachte ich, oder um Shikoku gehen.

»Ich werde dieses Jahr um Shikoku laufen. Tausendzweihundert Kilometer«, erzählte ich einem Freund.

»Spinnst du?«, sagte er, »Das ist eine typische Lena-Aktion.«

Ich glaube, er meinte damit: »Das ist eine überambitionierte Schnapsidee. Chill mal.« Ich grinste, aber seine Reaktion verunsicherte mich: Hatte ich schon wieder zu viel vor? Wollte ich zu viel? Obwohl ich so runtergebremst lebte? Obwohl die Tour gar nicht so krass sein sollte? Und: Konnte dieser Körper nicht endlich wieder normal sein? Vielleicht hätte ich dieser sanften Warnung mehr Gehör schenken sollen, aber damals dachte ich: Egal, ich brauche Ziele! Ich wollte es zumindest versuchen.

2

»Bitte nicht im Bademantel zur Messe erscheinen.«

(Mönch, Tempel der immerwährenden Freude)

Ein paar Monate später – Herbst. Meine Infektion war knapp ein Jahr her.

Mein Zustand war stabil, vielleicht ging es sogar langsam immer weiter bergauf. Spazierengehen zum Beispiel war unproblematisch geworden. Und die Meinung der Ärzte: Bewegung tut gut, raus aus dem Bett – aber bitte auf die eigenen Grenzen achten. Es sprach also nichts gegen ein bisschen Laufen in Japan.

Deswegen bin ich in ein Flugzeug nach Tokyo gestiegen. Später in Bus, Fähre und Bummelzug. Und noch später auf den Bahnsteig der Station »Bando«, frei übersetzt: »Brett des Ostens«. Shikoku! In der Ferne vereinzelte Palmen, ein paar Holzhäuser mit spitzen Dächern und am Horizont bewaldete Hügel.

Tempel Nummer eins. Von achtundachtzig. Kilometer eins von knapp tausendzweihundert.

Ich stand vor dem zweistöckigen, schweren Holztor. Den Tempeleingang bewachten zwei grimmig dreinblickende Statuen, eine links, eine rechts, mit Waffen in der Hand. Sie sollen die bösen Geister fernhalten. Aber davor stand noch etwas. Eine gruselige Schaufensterpuppe mit leerem Blick, bekleidet mit spitzem Strohhut, weißem Jäckchen, weißer Hose, in der Hand einen Wanderstab aus Holz. Der offizielle Pilgerdress, alles in Weiß, weil es bei der Tour, die ich vorhatte, ums Sterben und Neugeborenwerden geht. Im traditionellen Totenkleid sollte ich eine Transformation durchlaufen. Ein Schild wies mich noch darauf hin, dass ich im Tempel-Shop alles kaufen könnte, was ich zu meiner spirituellen Wiedergeburt brauchte. Zwei Rentner in Funktionskleidung hetzten an mir vorbei. Ich verbeugte mich vor den Tempelwächtern, ging links durch das Tor – die Mitte ist für die Götter reserviert – und trat in die Tempelanlage.

»Arme hoch! Eins, zwei, drei, vier. Zur Seite! Eins, zwei, drei, vier. Nach unten! Eins, zwei, drei, vier«, tönte eine blecherne Stimme vom Band über die heilige Stätte. Außerhalb der Tempelmauern dehnte eine Busreisegruppe auf dem Parkplatz ihre Glieder. Ich erreichte die Haupthalle. Hier mischte sich in die Aerobic-Kommandos noch ein dunkler, monotoner, rhythmischer Singsang. Es war das Ehepaar, das an mir vorbeigehetzt war. Die beiden hatten sich umgezogen und sahen jetzt, ganz in Weiß, aus wie die Schaufensterpuppe vor dem Tempel. Sie nickten mit den Köpfen im Takt und rezitierten aus den aufgeschlagenen Seiten eines Gebetsbuchs, das sie in den Händen hielten. Neben ihnen warf sich eine Nonne mit rasiertem Schädel und ockerfarbener Kleidung auf den Boden. Ich stieg an den dreien vorbei, warf Kleingeld in eine Box, läutete an einer Glocke und verbeugte mich. So, unter anderem, zeigt man den Göttern, dass man da ist und dass sie jetzt zuhören sollen.

Mir hat der entspannte Umgang mit Religion in Japan immer gefallen. Man wird shintoistisch geboren, heiratet christlich und stirbt buddhistisch. Alles ist möglich, und die meisten Japaner halten sich nicht für religiös. Sie kaufen Talismane, um Haus oder Auto zu schützen oder um eine wichtige Prüfung zu bestehen. Und wenn sie nicht gerade an der Glocke im Tempel ziehen oder ein Räucherstäbchen am Hausaltar anzünden, lassen sie die Götter Götter sein. Und die Götter sind mit ihrem eigenen Sein ohnehin zu beschäftigt, um ständig ein Auge auf die Menschen zu werfen. So viel zur Religion in Japan, wie ich sie bisher kannte. Was mich allerdings auf Shikoku erwartete, war eine komplett andere Nummer.

Auf dem Weg zum Tempelausgang kam mir die Busreisegruppe, die sich eben noch auf dem Parkplatz gedehnt hatte, wie eine Horde wilder Kühe entgegen. Ich sprang zur Seite. Kurz fühlte es sich so an, als sei ich gar nicht in der japanischen Provinz gelandet, sondern mitten in Tokyo auf dem Shibuya Crossing, der angeblich fußgängerreichsten Kreuzung der Welt. Aber nö, statt Teenies in Miniröcken marschierten hier ja weiß gekleidete Rentner im Gleichschritt. Und sie strebten auch nicht an Neonreklamen vorbei zum neuesten Popcorn-Laden, sondern zur Haupthalle eines Tempels. Und eine Reiseführerin hatten sie auch dabei. Die stellte sich nun vor sie, nannte die aufzuschlagende Seite in den natürlich allseits mitgebrachten Gebetsbüchern und gab mit einem Stöckchen schlagend den Takt des Gebets vor. Ich schaute noch kurz der Reisegruppe zu, die nicht nur im Gleichschritt lief, sondern auch im Gleichklang betete.

Das Ehepaar hatte sich von der Gruppe ein wenig zur Seite drängen lassen, versuchte derweil aber, seinen eigenen Flow beizubehalten. Und ich musste noch einmal ausweichen. Dieses Mal, um nicht über einen Mann zu stolpern, der auf den Knien voranrobbte und dabei immer wieder den Kopf zum Asphalt senkte. Ich fragte mich, ob er schwere Sünden begangen hatte. Oder ein buddhistischer Extremist war. Und dachte mir: ›Was für eine Freakshow.‹ Ich hatte laufen und in der Natur sein wollen. Nun fühlte ich mich fremd zwischen den Betenden. Wie ein Betrüger, der sich um den eigentlichen Weg, der offenbar ein religiöser war, drücken wollte, und wie ein Narr, der keine Ahnung hatte, worauf er sich hier eigentlich eingelassen hatte.

Eigentlich dachte ich, ich kenne Japan. Vor fünfzehn Jahren schrieb ich mich durch Zufall für Japanologie ein, ich machte dort das Kreuzchen, weil der Name des Fachs einen schönen Klang hatte, und vor allem, weil ich krankenversichert bleiben wollte. Viele Entscheidungen in meinem Leben treffe ich so. »Fühlt sich richtig an.« »Einfach so.« »Klingt doch gut.« Das sind für mich oft die einzigen Begründungen. Meist mache ich einfach, statt einen Plan zu haben, warum oder was ich damit in fünf oder zehn Jahren anfangen soll. Ich machte also ein Kreuzchen bei Japanologie und ging dann tatsächlich in den Unterricht. Ziemlich schnell kam dann noch Neugier dazu. Was ist das für eine krasse Sprache mit ihren zwei Silbenalphabeten und den chinesischen Schriftzeichen, die aussehen wie Kunstwerke? Kann ich das wirklich lernen? Und was ist das für ein Land, von dem man so viele Klischees im Kopf hat? Sushi, Samurai, Anime? Oder ist da noch mehr?

In den ersten Semesterferien reiste ich quer durchs Land. Ich quatschte mit kleinen Omis an Provinzbahnhöfen, die waren echt nett und schenkten mir Essen. Ich beobachtete Polizisten im Rotlichtviertel, weniger nett, aber eine neue und verborgene Welt. Ich sang Karaoke, was mehr Spaß machte, als ich erwartet hatte. Sechs Jahre, zehn Japanreisen und ein Austauschjahr später hatte ich meinen Magister in der Tasche. Ich befasste mich in meiner Magisterarbeit mit der konservativen Politik und ihren Bestrebungen, Nationalismus im Erziehungsgrundgesetz zu verankern. Dafür verwendete ich ausschließlich japanische Quellen. Auch sonst schnappte ich natürlich einiges auf. Ich begriff schnell, dass man Visitenkarten mit zwei Händen annimmt und nicht mit Toilettenschuhen durchs Haus rennt, um mal ein paar Basics zu nennen. Ich lernte die verschiedenen Stufen der Höflichkeitssprache und konnte Termine absagen, ohne Leute vor den Kopf zu stoßen. Nach dem Magister lebte ich lange in Tokyo, wurde Journalistin und kam zur Recherche immer wieder. Ich begleitete eine Frau, die sich selbst heiratete, Lastwagenfahrer, die gegen Atomkraft demonstrierten, und Senioren, die Tango tanzend ihr Glück suchten. Ja, nach fünfzehn Jahren dachte ich, ich kenne das Land. Aber nun stand ich hier, bei Tempel Nummer eins, umringt von weiß gekleideten, pensionierten, buddhistischen Fanatikern, die Räucherstäbchen anzündeten und beteten, als gäbe es kein Morgen. Und ich verstand gar nichts.

Ich war reingestolpert ins Pilgern und denkbar schlecht vorbereitet. Bei den Tempeln, die ich bislang besucht hatte, reichte es immer, mit ein bisschen Kleingeld zu werfen, an einer Glocke zu läuten und sich zu verbeugen. Eigentlich wollte ich ja vor allem wandern, aber auf dem Tempelweg galten offenbar andere Gesetze. Von den weiß uniformierten Rentnern unterschied mich doch einiges.

Für mich wird es meistens in genau solchen Momenten spannend. Fast alle meine Recherchen begannen ursprünglich mit der Frage: »Was soll das?« Warum verdreschen sich Wrestler in einer Schulturnhalle in Neukölln? Warum stellt sich ein Mann im hautengen Power Rangers-Kostüm an eine U-Bahn-Station, um Kinderwagen zu tragen? Und auch auf Shikoku fragte ich mich ziemlich schnell: Was ist los auf dieser Insel am Ende der Welt?

Vielleicht, dachte ich, verstand ich ja ein bisschen mehr nach meiner Übernachtung in Tempel Nummer sechs, Anrakuji, dem »Tempel der immerwährenden Freude«. Dort hatte ich eine Nacht reserviert.

Ein paar Kilometer weiter, bei Tempel zwei, erstand ich im Shop das Buch, durch das ich ein paar Wochen später an meinem Schreibtisch in Berlin blättern sollte. »Ist das wirklich alles?«, fragte die Verkäuferin und sah mich an, als hätte ich in einer Metzgerei eine Scheibe Wurst bestellt. Normalerweise sind Japaner diskret. Niemals würden sie einem etwas aufdrängen. Aber zwischen uns lag nur das Buch. Und es hatte auch nur achtundachtzig Seiten. Leere Seiten. Auf die sollten Kalligrafien der jeweiligen Gotteshäuser kommen. Denn dort sitzen Angestellte täglich von sieben Uhr morgens bis fünf Uhr nachmittags und pinseln und stempeln die leeren Seiten voll. Die gibt es zwar bei jedem Tempel in Japan, aber auf dem Pilgerweg schien mir die Anschaffung so eines Buches erstmals sinnvoll. Der Gedanke dahinter: Am Ende der Reise hätte ich ein einmaliges Andenken und den Nachweis, alle Tempel abgelaufen zu sein. Ein bisschen wie der Pilgerpass auf dem Jakobsweg, aber viel aparter: Tusche auf japanischem Reispapier. Und auch teurer: Für jede Zeichnung legt man 300 Yen auf die Theke. Etwa 2,50 Euro mal achtundachtzig, sind, nun ja, 220 Euro. Plus die zehn Euro, die das leere Buch erst mal kostet. Es geht nicht nur darum, ein Andenken zu haben, sondern das Gebet, den persönlichen Wunsch, den man am jeweiligen Tempel äußert, durch die Kalligrafie verinnerlichen zu lassen. 230 Euro und alle Wünsche des Weges von den Dienern Gottes abgesegnet, das ist alles in allem keine mickrige Anschaffung. Aber immer noch guckte mich die Verkäuferin eindringlich an. »Ist das wirklich alles?«, fragte sie wieder. Ich sah mich noch einmal genauer um.

Der kleine Laden war vollgestopft mit Zeug. Neben den Stapeln mit den leeren Büchern in verschiedensten Größen und Farben lagen Glücksbringer und Wanderstöcke, Kerzen, Räucherstäbchen, weiße Zettel, Kleider, Hüte. Immer noch irritiert von ihrer Entschiedenheit, stand ich bald vor einer Auslage mit Armbändern und Gebetsketten. »So eine Kette brauchen Sie auf jeden Fall«, sagte die Verkäuferin. »Das wäre besser. Wirklich.« Und wie benutze ich die? Sie bedeutete mir, die Kette zu beiden Seiten um meine Hände zu legen und sie beim Beten aneinanderzureiben. Mit dem Beten kannte ich mich nicht aus, aber sie machte ein schönes Geräusch, und ich griff zu. Dann fragte sie: »Und was ist mit Räucherstäbchen? Und mit Namenskarten? Und Kerzen? Und überhaupt mit weißer Kleidung?« »Hm!«, sagte ich. Und sie: »Na gut, vielleicht später!«

Bis Tempel sechs lief ich fünfzehn Kilometer durch die Vorstadt. Mal auf der Hauptstraße, im Schotter, den die Autos an den Rand fegten. Mal auf schmalen Pfaden, an Friedhöfen und an verlassenen Wohnhäusern vorbei, die verrammelt waren und verwildert. Mal an Rändern von Kosmeen- und Reisfeldern und in ein Bambuswäldchen hinein.

Tempel sechs. Der Mönch stürzte aus dem Gebäude, als er mich kommen sah. Mit geschocktem Gesichtsausdruck deutete er auf meinen Wanderstab und rief auf Englisch und ziemlich herrisch für einen Mann, der in meiner Vorstellung den ganzen Tag nur meditierte: »Clean!« Als ich auf Japanisch antwortete: »Klar, wo denn?«, entspannte sich sein Gesicht. »Also, hier ist das Wasserbecken«, sagte er nun sanft. »Einfach als würden Sie Ihre Füße waschen.« Ich benetzte den Stecken und trocknete ihn mit einem Waschlappen ab, der neben dem Becken lag. Er erklärte mir, dass der Stab den Heiligen repräsentiere, der mich auf meinem Weg begleite, und ich ihn deswegen gut behandeln sollte. Aufs Klo dürfe ich ihn nicht mitnehmen. Da sei es unrein. Heilige, die sich in Wanderstöcken aufhalten, müssen nicht auf Toilette, aber den Fuß muss man ihnen allabendlich waschen. Gut zu wissen. Jetzt durfte ich – nachdem ich meine Schuhe noch in einem Schließfach verstaut hatte und in bereitliegende Plastikpuschen geschlüpft war – das Gebäude betreten. An der Rezeption hielt mir der Mönch neben der Rechnung noch das Programm hin: 18 Uhr Abendessen, 19 Uhr Messe, 6:30 Uhr Frühstück, bis spätestens 8 Uhr Check-out. »Und bitte nicht im Bademantel zur Messe erscheinen.«

Ich bekam noch ein Tütchen, dessen Inhalt ich vorbereiten sollte, um an der Messe teilnehmen zu dürfen. Ich öffnete es, als ich bald darauf in meinem Zimmer auf Tatami-Strohmatten saß, und fand allerhand Zettel, die ich ausfüllen sollte. Auf einen einfach meinen Namen, easy. Auf einen anderen den Namen und Todestag eines Vorfahren, den sollte ich noch an einen kleinen Ast binden. Wenn ich die Daten nicht genau wisse, könnte ich aber auch einfach »Vorfahre von Lena« schreiben. Ganz charmant, dachte ich, diese Mischung aus supergenau und superlarifari. Schließlich kamen auf eine kleine Holztafel nochmals mein Name und dazu ein Wunsch. Ich wünschte mir Gesundheit.

Nachdem ich das Abendessen – Reis, Misosuppe und Fisch – verputzt hatte, ging ich zum Eingang des Gebetsraums. Schummriges Licht, durch das die Schwaden des Weihrauchs waberten, zwei Mönche knieten vorne, dahinter Sitzreihen, in denen noch niemand saß. Ich liebäugelte mit der letzten Reihe, als ein älterer Pilger kam, mich unterhakte und in die erste Reihe neben sich führte. Ein bisschen fühlte ich mich jetzt wie der Klassenclown, der neben den Streber gesetzt wurde, damit er sich ordentlich benahm. Oder war ich nur die Neue in der Klasse, zu der alle besonders nett sein sollten, weil die Lehrerin das am Anfang der Stunde so gesagt hatte? Ohne meinen Sitznachbarn hätte ich zweifelsohne nicht gewusst, welche Seite im Gebetsbuch ich aufzuschlagen hatte. Und auch nicht, welche Schrift ich da gerade in den Händen hielt. Ich konnte ja nicht mal das Vaterunser fehlerfrei aufsagen. »Das ist das Herz-Sutra«, sagte der Pilger neben mir, »darum geht es auf dem Pilgerweg.« Das war es also, was das alte Ehepaar und die Busreisegruppe und offenbar jeder hier ständig rezitierten. Es sei die Essenz des Buddhismus. Praktisch. Wenige Zeilen und alles drin, was es zu wissen gäbe. Könnte ich bald verinnerlichen, dachte ich. Die anderen Reihen hatten sich mittlerweile gefüllt. Und alle außer mir – allesamt Japaner über sechzig, die mich neugierig betrachteten – begannen, das Sutra gemeinsam mit den zwei Mönchen in dem tiefen, rhythmischen Singsang aufzusagen. Ich konzentrierte mich derweil auf den Text.

Es schien vor allem darum zu gehen, was alles nicht ist:

»Alle Dinge sind in Wahrheit leer«, wiederholten sie.

»Nicht sehen, hören, riechen, schmecken, fühlen oder denken«, hieß es später.

»Kein Altern, kein Tod.«

»Kein Leid und keine Ursache des Leidens.«

Wieder fingen wir von vorne an.

»Nichts entsteht und nichts vergeht.«

»Nichts ist unrein, nichts ist rein.«

»Nichts vermehrt sich und nichts verringert sich.«

Ein drittes Mal. Mal um Mal fielen mir mehr Details auf.

»Kein Auslöschen und kein Weg der Erlösung.«

»Keine Erkenntnis und auch kein Erreichen.«

»Weil der Bodhisattva nichts begehrt und sich in Prajnaparamita versenkt, ist sein Bewusstsein ohne Hindernisse. Ohne Furcht, fern von allen Illusionen und Träumen meistert er das Nirwana.«

Nirwana … Das kenne ich bisher nur vom Grunge der Neunziger. Strähnige, lange Haare, die nach Teen Spirit riechen. Oder duftet das Räucherstäbchen?

Ich verstand immer noch gar nichts. Aber vielleicht, dachte ich, ist das nebensächlich, wenn es ja laut dem Sutra ohnehin keine Erkenntnis gibt.

Wir standen auf und warfen die vorab vorbereiteten Zettel mit unseren Namen in einen Baumstamm neben einer Buddha-Statue. Der ältere Pilger bedeutete mir, ich solle die Statue anfassen. »Touch!«, sagte er auf Englisch und dann auf Japanisch: »Das bringt Glück.« Ich rieb am Buddhaknie, berührte die Hände. In der Hand trug der Buddha eine Schatulle. »Medizin«, sagte derPilger. »Er heilt jede Krankheit.« Ich rieb noch ein bisschen doller.

Wir gingen in den Keller des Tempels. Dort floss ein künstlicher Strom, knallblau beleuchtet wie ein Airbrush-Gemälde, auf ihm verteilten sich kleine Inseln. Die Äste mit den Namen unserer Vorfahren sollten wir in eine der Inseln stecken. Dann eine Kerze in einem Plastikbötchen anzünden und warten, bis sie an unserem Zweig vorbeitrieb. Wir hielten noch das Hölzchen mit Wunsch und Namen in der Hand und sollten nun dreimal um eine goldene Statue des Amida Butsu, des Buddhas des Lichts, laufen und dabei ein Mantra wiederholen. Der ältere Pilger schubste mich in den Kreis und lief vor, und schon ging ich mit meinem Holzblättchen in den Händen – Wunsch: Gesundheit – um die Statue. Dabei murmelte ich vor mich hin, als würde ich, wie die anderen, ebenfalls das Mantra wiederholen. Nach der dritten Umrundung zog mich der Pilger wieder aus dem Kreis. Wir warfen unsere Hölzchen in eine Feuerstelle, falteten die Hände und baten darum, dass unsere Wünsche in Erfüllung gehen mögen. Ich möchte bitte wieder gesund werden. Ich möchte meinem Körper wieder vertrauen können. Ich möchte meine eigene Stärke wieder spüren. Dann war der Zauber vorbei, und wir gingen zurück in unsere Zimmer. Ich legte mich auf meinen Futon und schlief sofort ein.

Am nächsten Tag war ich nicht plötzlich wundergeheilt. Stattdessen war die Schwere zurück, das Blei in den Adern. Ich lief weiter. Bei Tempel acht traf ich einen älteren Pilger, dem ich von meinem Problem erzählte, und er sagte: »Aber hier gibt es doch kein Erreichen und daher keine Angst.« Es sei sehr üblich, die Strecke aufzuteilen und sie nicht auf einmal zu laufen. Die meisten Japaner machten das so. Jedes Jahr nur ein paar Tempel und irgendwann doch die Insel umrundet. Es gehe nicht darum, was man tue, sondern wie man es bewerte. An Tag drei wäre eine Gebirgskette zu überqueren gewesen. Drei Gipfel hintereinander, immer hoch auf achthundert Höhenmeter, wieder runter und wieder hoch. Alternativ könnte ich mit einem Bus fahren, aber das wollte ich nicht. Ich wollte aber auch nicht zusammenbrechen. Ich wollte nicht, dass die Bestie mich wieder k.o. schlug. Wahrscheinlich, musste ich mir eingestehen, war diese Strecke für mich noch nicht zu schaffen. Dunkelblau zeichneten sich die Berge sanft gegen den Himmel ab, eine Drohung und eine Verheißung gleichermaßen. Nach vielen Pausen erreichte ich am späten Nachmittag vollkommen abgekämpft Tempel Nummer elf, den Blauregen-Tempel. Der umliegende Wald verströmte Holzduft und Kühle, Mückenschwärme gaben ein bedrohliches Surren von sich. Ich beschloss, dass mein Weg dort endete. Dass ich zurückfliegen und in Berlin warten würde, bis es mir besser ginge. Dann würde ich wiederkommen, um den Rest des Weges zu laufen. Siebenundsiebzig Tempel und mehr als tausendeinhundert Kilometer lagen noch vor mir.

Ein paar Wochen später sitze ich also an meinem Schreibtisch in Berlin. Ich habe meine Pilgerreise abgebrochen, weil ich meine körperlichen Grenzen respektieren wollte, und nun bin ich in der U-Bahn umgekippt. Ich fühle mich wie eine Versagerin. Und ich denke darüber nach, was ich mit meinem Leben anfangen soll. Ich blättere durch das Tempelbuch mit den vielen leeren Seiten und den elf Stempeln. Und die Stimme flüstert naheliegenderweise wieder: Shikoku.

Alle. Dinge. Sind. In. Wahrheit. Leer.

Es. Gibt. Kein. Erreichen.

Im Kopf wiederhole ich die Fetzen des Herz-Sutras, die mir in Erinnerung geblieben sind. Bei meiner Abreise aus Japan vergangene Woche dachte ich, ich hätte das bereits verstanden. Aber ganz ehrlich, dieser Kollaps in der Bahn und die darauffolgende Frustration machen deutlich: Verinnerlicht habe ich das nicht. Wie fern Shikoku gerade wirkt. Die grünen Reisfelder, der Geruch der Räucherstäbchen. Wie war das noch mal? Die Suche nach dem Nichts und damit das Versprechen des höchsten Glücks? Ich muss zurück! Auf buddhistische Walz gehen. Mich diesmal wirklich einlassen und sehen, was ich dann finde. Festanstellung oder Lotterleben? Single bleiben oder heiraten? Erst mal weiterlaufen.

Weil ich mit diesem bizarr launischen Körper weit davon entfernt bin, gleich in den nächsten Flieger zu steigen, und die nächste Wandersaison glücklicherweise ohnehin erst im Frühling beginnt, lese ich. Zum Beispiel einen Outdoor-Pilgerführer. Den hat mir meine Freundin Steffi geliehen, die mal den Jakobsweg gelaufen ist. Was mich beruhigt: Jeder könne täglich zwanzig bis dreißig Kilometer gehen. Steht dort. Es brauche kein spezielles Training. Man solle wenig einpacken, als Frau nicht mehr als fünf Kilo, es am Anfang mit dem Laufen nicht übertreiben (und auch später nicht übermütig werden), vor allem solle man auf seine Füße achten. Orthopädische Einlagen seien zu empfehlen. Hochwertige Wandersocken oder Zehensocken. Ansonsten: Auf den eigenen Körper hören, ausreichend Pausen machen, ja, Ruhetage einlegen und die Zeit nicht zu knapp bemessen. Es könne schließlich passieren, dass man eine Woche irgendwo festhinge wegen entzündeter Sehnen, entzündeter Blasen, entzündeter Mandeln oder sonst was. Mit so etwas solle man rechnen.

Vielleicht war ich zu ungeduldig, als ich vor ein paar Wochen auf Shikoku rumlief. Vielleicht hätte ich einfach einen Ruhetag einlegen müssen, bevor ich hätte weitermachen können. Ich war schnell enttäuscht gewesen von meiner mangelnden Fitness und hatte das Rückflugdatum im Kopf, das mir nicht erlaubt hätte zu trödeln. Ich beschließe, mir mehr Zeit zu geben, wenn ich wieder hinfliege. Fünfunddreißig bis sechzig Tage sind normal. Ich rechne also mit mindestens zwei Monaten. Ich darf verweilen, ausruhen, langsam sein. Ich möchte schließlich auch etwas mitbekommen von der Umgebung, ihren Bewohnern und den anderen Pilgern. Und ich möchte lernen, was es mit diesem Buddhismus auf der Insel am Ende der Welt auf sich hat. Meine Lehrmeister in Sachen Nirwana, Leere und Loslassen werden Mönche, Einheimische und andere Pilger sein, denen ich auf meinem Weg begegne. Und die Schlangen und Wildschweine des japanischen Hinterlands. Wenn ich mich darauf einlasse, führt mich die Reise vielleicht tatsächlich in die spirituelle Glückseligkeit. Erleuchtung kann ich jedenfalls gebrauchen.

Knapp ein halbes Jahr später – mittlerweile ist es Mitte März, draußen schneit es, aber an den Knospen der Bäume ahnt man schon den Frühling – sitze ich inmitten eines Haufens Klamotten auf meinem Dielenboden. Ich verfluche, dass langfristige Planung noch nie mein Ding war. Gerade habe ich einen Flug nach Japan gebucht, und in zwei Wochen geht es auch schon los. Jetzt versuche ich, mich zu orientieren, was ich noch alles brauche. Wichtig: eine neue Kreditkarte, »dauert bis zu zehn Werktage«, und orthopädische Einlagen, »in zwei Wochen sollten sie da sein, aber einlaufen müssen Sie die eigentlich auch«. Wird also knapp. Immerhin ist mein Reisepass noch ein paar Jahre gültig.

In Sachen Packen habe ich an und für sich Übung. Mein erster Backpacking-Trip – und meine zweite Flugreise überhaupt – ging direkt nach dem Abi mit neunzehn Jahren nach Neuseeland. Damals hatte ich einen Siebzig-Liter-Rucksack komplett vollgepackt, Isomatte und Schlafsack außen drangeschnallt. Wog gut fünfundzwanzig Kilo. Ich konnte den Rucksack alleine nicht aufsetzen, und wenn er mal oben war, bin ich rückwärts so lange gestrauchelt, bis eine Wand oder ein Mensch im Weg stand und mir Halt gab oder bis ich wieder auf dem Boden saß. Wenn ich mal stand, ging es einigermaßen, aber an Schultern und Hüften bekam ich blaue Flecken. In Neuseeland hatte ich ein halbes Jahr lang immer nur ein Outfit an – Jeans, T-Shirt, Fleecejacke – und tappte in Flipflops durch Farndschungel. Alles andere, inklusive Wanderschuhe, hätte ich mir also sparen können. Zu allem Überfluss kaufte ich mir relativ bald nach der Landung noch Rollschuhe. Die baumelten während der kompletten Reise an dem ohnehin viel zu schweren Rucksack und klackerten aneinander. Jahre später habe ich sie quasi ungetragen auf dem Flohmarkt verscherbelt. Seitdem packe ich leicht, und mein Rucksack fasst nur noch fünfundvierzig Liter.

Ich beschließe, dass ich kein Zelt mitnehme, weil ich nicht in der Wildnis abhängen werde, sondern im hochtechnologisierten Japan. Es gibt auf dem Weg Supermärkte, Getränkeautomaten und Badehäuser. Und zum Übernachten Schutzräume, leerstehende Garagen, Tempelherbergen, traditionell japanische Gasthäuser und Hotels. Einen Schlafsack brauche ich vielleicht, aber sicher nicht den fetten Daunenschlafsack, den ich bereits besitze und dessen Etikett verspricht, bis minus zwanzig Grad warm zu halten. Um mich herum liegen alle Sportklamotten, die sich prinzipiell eignen würden, mit auf Wanderschaft zu gehen. Aber hey: Fleece oder Softshell? Wanderstiefel oder Laufschuhe? Yoga-Leggings oder Wanderhose? Thermo-Oberteil oder atmungsaktives Longsleeve? Brauche ich noch eine Regenjacke oder reicht der überdimensionale Poncho? Dazu noch eine Daunenjacke? Oder nichts davon? Oder brauche ich alles, was ich da um mich verteilt habe?

Ich chatte meine Freundin Steffi an, die Jakobsweg-Expertin. Für 2020 plant sie den Pacific Crest Trail.

»Du solltest von jedem nur eins mitnehmen.«

Das heißt: eine Hose, einen Pulli, ein Oberteil und so weiter. Dann habe ich ja eigentlich gar nichts mehr im Rucksack?

»Einfach immer waschen.«

Und wie viele Paar Socken?

»Socken wäscht man nicht jeden Tag. Die trocknen sonst nicht, und außerdem stinkste die eh in drei Minuten voll.«

Ich antworte: »Ahahhahaa« und meine eigentlich: »Uff.«

Und sie: »Lieber stinken als zu viel schleppen. Gewöhn dich dran.«

Ich solle mir eine Kofferwaage zulegen und alles abwiegen. »Als Frau ist es fast unmöglich, nur zehn Prozent des Körpergewichts zu tragen. Aber das muss dein Ziel sein.« Außerdem möchte sie mir nächstes Mal, wenn wir uns sehen, noch einen »guten Trick« zeigen, wie ich Blasen austrocknen kann mit Nadel und Faden. Ich kann es kaum erwarten. Nehme den Haufen Klamotten und stopfe ihn erst mal in den Rucksack. So knapp, dass ich mich gleich entscheiden müsste, bin ich ja nun auch nicht dran.

Stattdessen schreibe ich meinen Freunden in Tokyo, dass ich bald wieder da sein werde und dass ich an meinem ersten Tag gleich mit allen in den Park will, zum Hanami, dem traditionellen Kirschblütenschauen. Seit Wochen checke ich online das »Kirschblüten-Radar«, das täglich aktualisiert wird. Es zeigt an, wo und wann die Blüten anfangen und wann sie in voller Blüte stehen werden. Nach der aktuellen Berechnung werde ich am absoluten »Kirschblüten-Höhepunkt«-Tag ankommen.