Meine verkehrte Welt - Claire French-Wieser - E-Book

Meine verkehrte Welt E-Book

Claire French-Wieser

0,0

Beschreibung

"Dieses Leben in Down Under war wirklich die verkehrte Welt", schreibt Claire French-Wieser, die Tochter des Südtiroler Bildhauers Heinrich Wieser, in ihren Erinnerungen. Zusammen mit ihrer Familie war sie aus wirtschaftlicher Not nach Australien ausgewandert. Nach ihrer Kindheit im bayerischen Selb, wo der Vater für die Porzellanmanufaktur Rosenthal arbeitete, und in Bozen wurde Wieser für den Kriegshilfsdienst verpflichtet und freundete sich danach mit einer frühen und einflussreichen Förderin Hitlers an. Als eine der wenigen Frauen der damaligen Zeit begann sie in Innsbruck ein Studium, das allerdings abrupt endete. Eindrucksvoll schildert sie diese Wirren des Kriegsendes und die Zeit als Dolmetscherin für die alliierten Militärregierungen in Tirol nach 1945. 1951 startete die Familie schließlich einen Neuanfang in Nuriootpa, einer deutschen Enklave im Süden Australiens. Der Kulturschock blieb nicht aus. Doch Klara Wieser setzte hartnäckig ihren eingeschlagenen Weg fort: Neben ihrer Arbeit als Sekretärin an der Universität in Melbourne beendete sie ihr Studium, heiratete schließlich und wurde zur australischen Staatsbürgerin und Buchautorin Claire French-Wieser.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 337

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Zu diesem Buch

„Dieses Leben in Down Under war wirklich die verkehrte Welt“, schreibt Claire French-Wieser, die Tochter des Südtiroler Bildhauers Heinrich Wieser, in ihren Erinnerungen. Zusammen mit ihrer Familie war sie aus wirtschaftlicher Not nach Australien ausgewandert.

Nach ihrer Kindheit im bayerischen Selb, wo der Vater für die Porzellanmanufaktur Rosenthal arbeitete, und in Bozen wurde Wieser für den Kriegshilfsdienst verpflichtet und freundete sich danach mit einer frühen und einflussreichen Förderin Hitlers an. Als eine der wenigen Frauen der damaligen Zeit begann sie in Innsbruck ein Studium, das allerdings abrupt endete. Eindrucksvoll schildert sie diese Wirren des Kriegsendes und die Zeit als Dolmetscherin für die alliierten Militärregierungen in Tirol nach 1945.

1951 startete die Familie schließlich einen Neuanfang in Nuriootpa, einer deutschen Enklave im Süden Australiens. Der Kulturschock blieb nicht aus. Doch Klara Wieser setzte hartnäckig ihren eingeschlagenen Weg fort: Neben ihrer Arbeit als Sekretärin an der Universität in Melbourne beendete sie ihr Studium, heiratete schließlich und wurde zur australischen Staatsbürgerin und Buchautorin Claire French-Wieser.

Inhaltsverzeichnis

Inga Hosp: Wissensdurst und Lernbegierde

Hochzeit mit Hindernissen

Ein Mädchen!

Kindheit

Schulanfang

Daheim in Selb

Schulzeit in Bozen

Gewollte Gehirnwäsche

Lyzeum für höhere Töchter

Das Jahr 1938

Arbeitsdienst

Beim Röberbauern

Reservelazarett Wörgl

Gewitterwolken

Das letzte Kriegsjahr

Kriegsbeute

Meine Franzosenzeit

Hungerjahre

Die Reise nach Australien

Ankunft

Kulturschock

Abschied von Mutter

Melbourne

Bogong

Im Kiewatal

Wieder in Melbourne

Babel

Jack

Hochzeit in Sydney

Das große Glück

Thomas Hanifle: „An Earthling“

Impressum

Wissensdurst und Lernbegierde

Was für ein Leben! In ihrem 90. Lebensjahr legt Claire French-Wieser aus Melbourne in Australien uns „Antipoden“ ihre Autobiografie vor. Ein Leben wie ein Bergwerk! Kein Spaziergang mit leichtfüßigen Wendungen dahin oder dorthin, wo einem der Weg aussichtsreicher, sanfter, zielführender erscheint, sondern Schwerarbeit in finsterer Grube, oftmals in Blindstollen der vergeblichen Mühe, aber immer in der Hoffnung, dass es da irgendwo weitergehen, dass irgendwann ein Ertrag zu finden sein müsste.

Sie hätte am liebsten in Südtirol gelebt, in der Heimat ihres Bozner Vaters. Allerdings konnte sie dort nur in der schwierigen Zeit des Faschismus ein paar Schuljahre verbringen. Im oberfränkischen Hof und in Selb, wo ihre Mutter daheim war und ihr Vater als Feinkeramiker in der Rosenthal’schen Porzellanfabrik arbeitete, besuchte sie das Lyzeum. In Innsbruck hätte sie gerne studiert, aber da war schon Krieg und die Abiturientin eine Arbeitsmaid bei Tiroler Bergbauern und im Reservelazarett Wörgl. Und danach statt Studentin auch wieder nur Apothekenlehrling. Als sie dann endlich doch die Universität besuchen durfte, wurde der Lehrbetrieb abrupt eingestellt. Die Studentin wurde zwangsverpflichtet bei der US-Militärregierung in Innsbruck und dann bei den französischen Besatzern. Der Hunger war damals täglicher Gefährte.

Und als sei das noch nicht genug gewesen: die Auswanderung mit Eltern und jungem Bruder nach Down Under, ins südaustralische Barossatal nahe Adelaide, heute das bekannteste Weinbaugebiet des Kontinents. Erntehelferin. Ostern im Herbst, Weihnachten im heißen Sommer. Ein Leben fristen um Vorurteile herum: No Huns! No Germans! (Keine Hunnen! Keine Deutschen!) Dann doch einmal die Möglichkeit, mit dem „Pfund“ der Mehrsprachigkeit zwar nicht zu wuchern, aber endlich einen angemesseneren Job zu finden – vorerst als Sekretärin beim Kraftwerksbau in den Eukalyptuswäldern im entlegenen Bogong-Gebirge und dann, in Melbourne endlich, sogar an der Universität. Werkstudentin nun unter unterschiedlichen Einwanderern aus dem zerschlagenen Europa. Abschnitte und Abschlüsse: der Bachelor, der Mastergrad. Und schließlich die Hochzeit mit dem australischen Elektroingenieur Jack French. Ein Leben, das zur Ruhe kommt, nun allenfalls gestört durch die Extreme des australischen Klimas.

Claire French-Wieser hat den nacherzählten Lebensabschnitt zwischen zwei Hochzeiten eingespannt: die Hochzeit ihres künstlerisch begabten Vaters aus der Zwölfmalgreiner Steinmetzfamilie Wieser mit der oberfränkischen Gastwirtstochter Georgina Flügel und ihre eigene Hochzeit mit ihren so ganz andersartigen komplizierten Riten und Mythen. Innerhalb dieser Klammer rundet sich ein Leben, das trotz aller Komplikationen, Abbrüche und Entbehrungen von einem Grundimpuls geprägt ist: vom Wissensdurst und von der Lernbegierde einer Frau, die, hätte sie unter besseren Vorzeichen gelebt, heute vielleicht eine emeritierte Universitätsprofessorin in Tirol wäre. Aber sie sei halt eine „verpatzte Tirolerin“ gewesen, sagt sie selbstironisch von sich, und Tochter eines „treudeutschen Idealisten“ in der schwierigen Lebensrolle des „automatischen“ Optanten: Nach 20 Jahren Arbeit in Deutschland war der Vater per Dekret „heim ins Reich“ gezwungen worden und dennoch immer draußen vor der Tür – und als auswanderungswilliger deutscher Staatenloser wieder mit dem Kainsmal versehen. Erst der mühsam erlangte italienische Pass habe den Sprung auf das Schiff nach Australien ermöglicht.

Aber während die Tochter es sich schließlich im neuen Land eingerichtet hatte, waren die Eltern immer Fremde geblieben: die früh verstorbene Mutter und der schwierige Vater mit dem „unbewussten Todeswunsch“, dessen künstlerische Ideen im damaligen Australien keine Geschäftsgrundlage finden konnten. Seine Tochter Klara freilich und nun Claire French-Wieser hat in dem Land am anderen Ende der Welt ihren Frieden gefunden.

Vor Jahren haben wir uns einmal mit Kalendern beschenkt: Ich schickte ihr Blumen und Landschaften aus den Dolomiten, mit deren Sagen und Mythen sie sich auch in ihrer wissenschaftlichen Arbeit intensiv beschäftigt hatte. Und sie schickte mir Kalenderbilder von den anders bizarren australischen Landschaften und ihrer Flora.

Inga Hosp, Juli 2013

Hochzeit mit Hindernissen

Es ist nicht gleichgültig, wo und wie eine Seele ihren Körper findet, und die wenigsten Menschen wissen darüber Bescheid. Glücklicherweise darf ich sagen, dass ich zu diesen wenigen gehöre.

Es geschah zur Sommersonnenwende im Jahr 1923 im billigsten Zimmer des Hotels zum Steinbock in Steinach am Brenner. Und es kam so: Mein Vater, Heinrich Wieser, damals ein junger Bildhauer aus Bozen, hatte seine Braut aus dem rauen Fichtelgebirge im Nordosten Bayerns in seine Südtiroler Heimat geholt. Georgine Flügel war eine Gastwirtstochter aus Selb in Oberfranken und ihr Vater hatte sich energisch gegen diese Heirat gewehrt. Georgine, daheim Gorchina genannt, hätte nach dem Wunsch des Vaters ein Georg werden sollen, aber das Schicksal hatte es anders bestimmt. Sie war schon mit einem reichen böhmischen Gutsbesitzer verlobt gewesen, und ihr Vater hatte sich einen außerordentlich günstigen Geschäftszuwachs von dieser Verlobung erhofft. Und nun war der junge Südtiroler dazwischengekommen.

Was hatte der Flügel Hans nicht alles getan, um seine Tochter zur Vernunft zu bringen! Mit der Hundepeitsche hatte er sie verprügelt und den dahergelaufenen Handwerker aus Bozen (weiß Gott, wo das lag!), hatte er mit Hunden und Schrotflinte aus dem Haus gejagt. Aber freilich, mit der Gorchina hatte er immer seine liebe Not gehabt.

„Ja, dee Moila!“, die Mädchen, solange man sie zum Putzen brauchen konnte, ging’s ja. Aber sobald sie in ein Mannsbild verschossen waren, konnten sie keine sechs Pferde mehr halten. Da war’s noch ein Glück, dass der Tiroler Haderlump sie heiraten wollte, sogar ohne Mitgift, wie er verlauten ließ.

Der Mensch arbeitete als Modelleur (ein Künstler auch noch!) in der nahen Porzellanfabrik Rosenthal und behauptete sogar, in seiner Heimat ein Haus zu besitzen. Dort in Bozen, wo sein Onkel Joseph Wieser infulierter Dompropst, also so gut wie Bischof gewesen war, wollte er die Gorchina heiraten. Hans Flügel würde seine Tochter enterben.

Die Gorchina war streng evangelisch erzogen worden. Sie hatte ihrem Heinrich die Gretchenfrage gestellt und von ihm so ziemlich die gleiche Antwort erhalten, die auch Goethes Doktor Faust seinem Gretchen in so unvergesslichen Versen gegeben hatte: „Name ist Schall und Rauch … Wenn ihr’s nicht fühlt, ihr werdet’s nie erjagen.“ Und so weiter. Und wie Gretchen hatte es auch die Gorchina hingenommen.

Sie hatte ja keine Ahnung von Kirchengeschichte und wie man im heiligen Land Tirol die Lutherischen hasste. Die Jesuiten vom Trientiner Kolleg hatten da ganze Arbeit geleistet. Aber das hatte der Heinrich ihr nicht gesagt, vor allem deswegen nicht, weil es ihm gleichgültig war. Aber nicht gleichgültig waren ihm die mangelhaften Kochkünste seiner Braut. Nicht, dass Georgine nicht kochen gelernt hatte. Bewahre! Ihre Mutter, die Jette Flügel geborene Vates, war die beste Köchin weit und breit. Die Schlachtfeste und Jagdessen, die sie in ihrem Gasthaus servierte, waren berühmt. Niemand konnte „Knierla“ mit Schweinsbraten und Sauerkraut besser herstellen als sie. Aber das war es gerade: Für Heinrich Wieser waren oberfränkische Kartoffelknödel eine kulinarische Barbarei. Er nannte sie „g’marterte Erdäpfel“, nicht zu vergleichen mit Tiroler Speckknödeln oder gar mit den Hirnbovesen seiner Tante. Der Südtiroler Bildhauer war ein praktischer Mensch und erinnerte sich wohl an das, was er im Örtchen Laas im Vinschgau bei den Steinmetzgesellen gelernt hatte: „Die Liebe vergisst ma, nocher wos frisst ma?“

Also bevor die Georgine die Frau Wieser wurde, musste sie anständig kochen lernen, die Wiener Küche, und zwar bei seiner Mutter und bei der Tant’ Thres, die in ihrer Jugend Pfarrköchin gewesen war und deren Kochkunst den höchsten geistlichen Ansprüchen entsprochen hatte.

Ein weiteres Hindernis für eine baldige Heirat war das italienische Gesetz, das für den ausländischen Partner einen dreimonatigen Aufenthalt in Italien vorschrieb. Doch weil er seinen Jahresurlaub frühzeitig festgelegt hatte, konnte er keinen so langen Urlaub beanspruchen und musste seine Braut allein von Selb nach Bozen reisen lassen.

Er sagte ihr also, sich bei der Ortspolizei ein Führungszeugnis und beim Bürgermeisteramt einen Reisepass zu besorgen. Damit gingen die beiden zum Bahnhof und ließen sich eine Fahrkarte von Selb nach Bozen ausstellen. Der Stationsvorstand machte große Augen und musste sich die Kilometer nach Bozen erst ausrechnen, bevor er den Fahrpreis handschriftlich auf die Fahrkarte eintrug.

Georgine Flügel besaß zwar einen Grenzpassierschein für die nahe tschechische Grenze. Aber sie war noch nie über den Umkreis von vierzig Kilometern von Selb hinausgekommen. Die siebenhundert Kilometer von Selb nach Bozen, über drei Staatsgrenzen hinweg, war für sie eine Weltreise in eine ungewisse Zukunft. Doch die Liebe überwindet alle Hindernisse. Heinrich Wieser küsste seine Braut zum Abschied, half ihr in die Selber Kleinbahn und versprach ihr fest, in drei Monaten mit ihr Hochzeit zu feiern.

Arme Gorchina! Die Reise von Selb nach Bozen dauerte damals sechsunddreißig Stunden und war für junge Mädchen nicht ohne Gefahren. Der besorgte Bräutigam hatte ihr genaue Instruktionen gegeben: keine Reisebekanntschaften mit fremden Herren und ja nicht einschlafen! Das war die Hauptsache. Das Schlimme war, dass ihr das Geld für Essen und Trinken fehlte. Der Schnellzug Berlin bis Rom, in den sie in Hof umsteigen musste, hatte zwar einen Speisewagen, aber sie traute sich nicht, ihren Koffer unbeaufsichtigt im Abteil zurückzulassen.

In München erschien ein junger Mann mit einem Erfrischungswagen am Bahnsteig, aber Heinrich hatte ihre empfohlen, ihr bisschen Geld zu sparen, und so wagte sie es nicht, sich eine Flasche Limonade zu kaufen. Es war alles so schrecklich teuer.

Am Brennerpass war ihr Durst so groß, dass sie den Händler mit den Erfrischungen heranrief. Aber der nahm wiederum nur Lire und die hatte sie nicht.

Es war schon fast dunkel, als der Zug in Bozen einfuhr und Georgine mit ihrem Pappköfferchen ausstieg. Niemand erwartete sie. Mühsam fragte sie sich zur Adresse Zollstange Nummer 26 durch und erschrak fürchterlich, als sie sah, dass das Haus zur Hälfte eingefallen war. Ihr Verlobter hatte vergessen zu sagen, dass sein Vaterhaus in den letzten Kriegstagen noch eine Fliegerbombe abbekommen hatte. Mit letzter Kraft klopfte sie an die Haustür. Eine taube Alte öffnete und verstand lange nicht, wer das fremde Mädchen war, das mit vertrockneter Stimme um ein Glas Wasser bat. Endlich kam die Tant’ Thres die Stiege herunter und erfasste die Lage. „Durscht hat sie, dem Heindl seine Braut!“, schrie sie der tauben Alten ins Ohr. „Ah so, des isch die Lutherische!“ Endlich begriff die zukünftige Schwiegermutter.

Ich weiß nicht, wie es weiterging. Aber sie müssen die Georgine wohl untergebracht haben, in einem Zimmer im ersten Stock des kleinen Hauses. Meine Mutter erzählte, dass bei ihrer Ankunft ein Zimmerherr ausquartiert werden musste, was einen Verlust der spärlichen Familieneinkünfte bedeutete. Dabei war die Bettwäsche nicht gewechselt worden und sie konnte auf dem Leintuch die roten Punkte zählen, die noch vor Kurzem Flöhe gewesen waren.

Am nächsten Tag lernte sie auch ihre beiden jungen Schwäger Karl und Sepp kennen. Beide waren schneidige Kaiserjäger gewesen und gerade erst mit schwerer Tuberkulose aus russischer Kriegsgefangenschaft heimgekehrt. Sofort verliebten sich die beiden in die hübsche Braut ihres Bruders.

„Heirat’ nit den Heindl“, beschwor sie der Sepp. „Der Heindl, des isch a Lump. Heirat’ mi. I leb’ eh nimmer lang, nachher bisch du die Wieserin und kannsch aufs Haus und auf die Werkstatt schaug’n.“ Der Karl sagte nichts, aber auch er wusste, dass er nicht mehr lange zu leben hatte.

Dann waren da noch die beiden Schwestern Resi, eine Witwe, die sich um die junge Schwägerin bemühte, und Clara, die das Glück gehabt hatte, den Bozner Stadtbaumeister Othmar Leitner zu heiraten. Sie hatte ihrem Bruder schon vorher geschrieben, er möge doch an sein Seelenheil denken und die Lutherische laufen lassen, schon aus Rücksicht auf seine alte Mutter und auf das Ansehen der Familie, die ja seit Jahrzehnten von Kirchenaufträgen gelebt hatte. Der Heindl war so taktlos gewesen, diesen Brief seiner Braut zu zeigen. Eine lebenslange, bittere Feindschaft zwischen beiden Frauen war die Folge.

Dies war nun also ihre neue Familie. Da war dann noch Claras Ehemann, der Herr Baumeister Othmar Leitner aus Bieberwier, ein Außerferner also, der Schwäbisch redete und etwas verächtlich auf die „dummen Tiroler“ heruntersah.

Es war kein liebevoller Empfang bei der neuen Familie und es ist begreiflich, dass die junge Braut todunglücklich war. Als Heinrich Wieser wie vereinbart nach drei Monaten auf Heiratsurlaub in Bozen eintraf, durfte er natürlich nicht mit seiner Braut unter einem Dach schlafen. Das hätte dem guten Ruf der Braut und noch mehr dem der Familie geschadet. So wohnte Georgine vorläufig bei der Clara in der Eisackstraße. Das Ehepaar Leitner war etwas inkommodiert: „Soviel Umständ’ wegen der Lutherischen!“ Aber endlich war es so weit.

Am 24. Juni 1923 wurde das Paar in der Bozner Pfarrkirche, die damals noch lange nicht der Dom war, getraut: ohne Brautmesse und hinter dem Altar, wie es für Mischehen vorgeschrieben war. Selbstverständlich weigerte sich der Propst, das Paar selbst zu trauen, und überließ dies einem jungen Kooperator, der bei ihm in Ungnade gefallen war. Heindls Brüder, die wussten, dass es für sie nie mehr eine Hochzeit geben würde, waren die Trauzeugen.

Vorher musste aber die unglückliche Braut noch das sogenannte Brautexamen über sich ergehen lassen. In ihrer mädchenhaften Unschuld erschienen ihr die prüfenden Fragen des Geistlichen wie eine geistige Vergewaltigung. „Ein alter Lüstling von einem Priester hat sich an mir begeilt“, noch Jahre danach erzählte sie davon mit Abscheu.

Gefeiert wurde nach einer solchen Hochzeit natürlich nicht. Was gab’s da schon zu feiern? Der frischgebackene Ehemann wagte es nicht einmal, seine Braut der weiteren Verwandtschaft in Meran und Andrian vorzustellen. Nur das obligatorische Hochzeitsfoto wurde gemacht und Hochzeitskarten wurden verschickt. Dann endlich stiegen die Neuvermählten in den Schnellzug und fuhren erleichtert nordwärts. Für die übliche Hochzeitsreise nach Venedig war zwar kein Geld vorhanden, aber für eine kleine Fahrtunterbrechung im schönen Wipptal reichte es gerade noch. Der Zug hielt in Steinach am Brenner, wo das junge Paar im Gasthof zum Steinbock abstieg.

Steinach am Brenner wurde also der Ort meiner gegenwärtigen Inkarnation. Die Monade, die zuerst „die Klärle“, dann „Klara Wieser“ und schließlich „Claire A.M.M.French“ werden sollte, hatte gute Eltern und besonders eine wunderbare Mutter gefunden. Aber es war eine schwere, dunkle Zeit, der sie entgegenlebte.

Im Jahre 1923 war der Erste Weltkrieg kaum fünf Jahre vorüber. Es war der größte Krieg, den die Welt je erlebt hatte, und die Deutschen hatten ihn verloren. In ganz Europa herrschte Hunger und die Spanische Grippe wütete wie einst die Pest. Tausende, die nicht im Krieg gefallen waren, fielen dieser Grippe oder der Tuberkulose zum Opfer. Doch nach nur wenigen kurzen Friedensjahren stand der Welt ein noch weit schlimmerer Krieg bevor. Hätte die kleine Monade es geahnt, sie hätte es mit ihrer Menschwerdung vielleicht nicht so eilig gehabt. Doch hier fand sie eine große, leidenschaftliche Liebe zwischen zwei außergewöhnlichen Menschen. So etwas ist rar und die Monade nutzte die Gelegenheit.

Außerdem war dies auch ein ganz besonderer Ort. Steinach am Brenner hatte seit Jahrtausenden müden Wanderern als Rastplatz auf der langen Reise zwischen Nord- und Südeuropa gedient. Eiszeitjäger, Wanderhirten, Räter, Römer, Kelten und Germanen hatten sich hier ausgeruht. Später kamen christliche Missionare, kaiserliche Heere, Kreuzfahrer und Kaufleute. Sie alle mussten sich über den Brennerpass kämpfen, denn dieser Pass war von den wenigen Alpentoren am einfachsten zu überschreiten.

Die Monade konnte zufrieden sein. Die Nähe der Berge und der Brennerpass, die uralte Schwelle zwischen Nord und Süd, sollten sich über ihr ganzes späteres Leben auswirken.

Hier entstand ich als ein Mensch zwischen den Polen. Zwischen den Gegensätzen, in jahrelangem Suchen nach Verbindung, nach Verständigung und nach Kompromissen, floss mein Leben dahin. Doch der Höhenpass mit seinem Sowohl-als-Auch, das Tor zwischen Nord und Süd wie später das Tor zwischen beiden Welten, stand mir immer offen. Auch die Geister der Berge begrüßten meinen Einstand und ich bin ihnen ein Leben lang treu geblieben. Das junge Paar wusste es damals nicht, doch die Erfüllung ihrer Liebe schenkte mir ein überreiches Leben, ein Leben voll Kampf und Arbeit zwar, aber ein Leben glücklichster Synthese.

Ein Mädchen!

Das junge Paar war überglücklich. Ich glaube, es war das einzige Mal in seinem Leben, dass auch mein Vater wirklich glücklich war, denn er hatte zum Glücklichsein kein Talent. Ohne je Schopenhauer gelesen zu haben, deckte sich seine Weltanschauung genau mit jener des pessimistischen Philosophen. Der Sommer 1923 gehörte wohl zu seiner glücklichsten Zeit. Er hatte eine wunderschöne Frau gewonnen und einen eigenen Hausstand gegründet. Er war endlich kein Zimmerherr mehr, der auf die Launen einer Vermieterin angewiesen war, und darüber konnte er wohl für diese kurzen Sommermonate auf sein Heimweh vergessen.

Noch vor der Hochzeit war es Heinrich Wieser gelungen, in Selb eine der Wohnungen zu ergattern, die die Firma Rosenthal für ihre Angestellten nach dem Krieg hatte bauen lassen, eine Zweizimmerwohnung mit Küche im zweiten Stock des Hauses Ascherstraße 9.

Es war das letzte Haus in einer langen Häuserreihe und sehr dem kalten, böhmischen Wind ausgesetzt. Die sechs Wohnungen hatten weder ein Bad noch ein WC, sondern nur ein altmodisches Plumpsklo, dessen Grube regelmäßig von einem Odelwagen geleert wurde. Die Waschküche war in einem eigenen kleinen Gebäude im Hof untergebracht. Sie enthielt einen riesigen Waschkessel mit Holzfeuerung, in dem die Wäsche stundenlang gekocht und mit einem besonderen trichterförmigen Instrument, einem Wäschestampfer, bearbeitet wurde.

Dann wurde sie gefleiht, also durch Wasser gereinigt, und bei gutem Wetter zum Bleichen auf einem Bleichrasen ausgebreitet. Im Winter wurde sie auf dem Dachboden zum Trocknen aufgehängt, wo sie sofort bretterhart gefror. Trotzdem trocknete sie meist nach einigen Tagen.

Brennholz, Kohle und Kartoffeln wurden in einem kleinen Kellerraum gelagert und mussten mühsam in den zweiten Stock hinaufgeschleppt werden.

Herr Zeitner, der Hausverwalter, sah streng auf die Hausordnung und kontrollierte, dass jede Partei ihren Verpflichtungen wie etwa dem Treppensäubern und Fensterputzen genau nachkam. Dagegen war er für anfallende Reparaturen kaum ansprechbar.

Sechs Familien teilten sich dieses kalte Gebäude: ein Prokurist, zwei Buchhalter, ein Lokomotivführer für die firmeneigene Güterversorgung, ein Hochofenspezialist und als einziger Künstler der Tiroler Bildhauer Heinrich Wieser. Alle diese Männer hatten den Krieg überstanden und waren froh, in der kleinen Industriestadt an der tschechischen Grenze Arbeit und Brot für ihre Familien gefunden zu haben.

Meine Mutter hatte das Glück, ganz in der Nähe ihres elterlichen Hauses zu wohnen, denn die Gastwirtschaft ihres Vaters lag am Anfang der Ascherstraße. Das zweistöckige Eckhaus mit Gaststätte und Tankstelle steht noch heute zwischen den grauen Porzellanfabriken von Rosenthal und Hutschenreuther. Eine Reihe von Arbeiterhäusern befanden sich in nächster Nachbarschaft. Das Einzige, was meinen Vater an der Nachbarschaft störte, waren die vielen Kinder, denn jede Familie hatte deren mindestens zwei. Herr Heinrich, der Hochofenspezialist, der eigentlich der Arbeiterschaft angehörte, hatte sogar fünf. Vater war kein Kinderfreund. Er hatte sich vorgenommen, der Letzte seines Stammes zu sein und seine Familie mit sich aussterben zu lassen. Seiner Meinung nach lohnte es sich nicht: weder zu leben noch Kinder in die Welt zu setzen. Allerdings hatte er nicht mit dem Wunsch seiner jungen Frau gerechnet, denn Gina, so nannte er meine Mutter, hatte eine mütterliche Seele und wünschte sich viele Kinder. Deshalb war er unangenehm berührt, als sie ihm freudestrahlend mitteilte, dass sie sich Mutter fühlte. Die Schwangerschaft würde bald ihre zierliche Figur ruinieren und als bildender Künstler glaubte er, dass körperliche Schönheit der einzige Lebenszweck jeder Frau sei. Ja, es muss leider gesagt werden, mein Vater hatte altmodische Ansichten. Doch in seiner Lage war das vielleicht verzeihlich.

Dagegen war die Freude über die gute Nachricht im Hause Flügel groß und die Vorbereitungen für den Familienzuwachs mannigfaltig. Obwohl meine Mutter Kindheit und Jugend in einer rauen Umgebung verbracht hatte, wusste sie doch so gut wie nichts über die Wirklichkeit von Schwangerschaft und Geburt. Über solche Dinge wurde vor jungen Mädchen nie gesprochen. Nur in einem waren sich ihre Mutter und ihre Großmutter einig: „Wenn ein Mädchen geboren wurde, dann sollte man es gleich im nächsten Teich ertränken, denn das würde ihr viel Schmerz und Leid ersparen.“ Natürlich freute sie sich auf ihr Kind, doch nun sah sie dem Ereignis mit Angst und Bangen entgegen. Kinderkriegen war damals noch mit sehr viel Ignoranz und Aberglauben verbunden. Es gab keine Gebärklinik und viele Frauen starben im Kindbett.

Die ersten Wehen stellten sich in der Nacht vom 30. April auf den 1. Mai 1924 ein, in der Walpurgisnacht, die in jener Gegend heute noch mit dem Besenbrennen, einem uralten heidnischen Brauch, begangen wird. Es war ein unheilvolles Datum. Heinrich Wieser war wie damals so oft mit Freunden ausgegangen und Georgina war allein daheim. Sie war ratlos und betete inständig, ihr Kind möge nicht in dieser bösen Nacht zur Welt kommen. Es dauerte dann auch noch zwei volle Wochen, bis ich in den Morgenstunden des 14. Mai das Licht der Welt erblickte.

Es war eine sehr schwere Geburt, denn ich war viel zu groß für meine zierliche Mutter. Sie litt entsetzliche Qualen, bis mich die Hebamme, die alte Frau Höfer, gebadet und gewickelt der erschöpften Mutter in die Arme legte. Ihre Stimme klang leicht enttäuscht, als sie verkündete: „Eine Windelwäscherin, Frau Wieser!“ In der Familie Flügel waren alle enttäuscht. Man hatte Mädchen genug und wünschte sich einen Buben.

Auch meine Mutter hatte natürlich mit einem Sohn gerechnet. Sie würde endlich einmal von ihrem Vater dafür gelobt werden. Ihr Bub würde ein großer Sportler werden und Jus studieren. Es würde gut sein, einen Juristen in der Familie zu haben. Später, als der Krieg kam, und die Söhne ihrer Freunde alle im Feld blieben, dankte sie Gott, dass ich „nur“ ein Mädchen war.

Aber mein Vater war nicht enttäuscht. Ja, er freute sich, dass ich da war, dass seine tapfere kleine Frau noch lebte und dass seine Tochter „ein schönes kleines Mädele“ war, gesund und gerade an allen Gliedern. Er war ein vorbildlicher Vater. Als sich herausstellte, dass mich meine Mutter nicht stillen konnte, fuhr er täglich nach Arbeitsschluss mehrere Stunden mit dem Fahrrad nach Hohenberg an der Eger, um Ziegenmilch für mich zu besorgen, denn diese ist für Neugeborene, die nicht gestillt werden können, bekömmlicher als Kuhmilch. So wurde ich, ohne es zu wissen, schon von Geburt an eine Vatertochter und bin es zeitlebens geblieben. Mutti erzählte mir später von einem unerklärlichen alten Brauch: Meine Großmutter besorgte für mich, ich weiß nicht woher, den getrockneten Kopf einer Kreuzotter und hängte ihn mir um den Hals. Ein ganzes Jahr trug ich dieses „Otternköpfl“, bis es meine Mutter schließlich zusammen mit der Nabelschnur irgendwo vergrub. Kaum war das geschehen, bekam ich einen hässlichen Ausschlag, der meinen ganzen Kopf und mein Gesicht bedeckte. Ich kann mich heute noch ganz dunkel daran erinnern. Vielleicht kam es auch daher, dass ich nun mit Kuhmilch ernährt wurde. Erst als meine Mutter meinem Brei Zitronensaft zufügte, ging es mir langsam besser. Aber mein Leben lang litt ich unter schlechten Zähnen und rissigen Fingernägeln. Muttermilch ist eben durch nichts zu ersetzen.

Mein Vater, der im letzten Krieg seine Südtiroler Heimat verloren hatte, erzählte mir immer wieder, dass die Bayern 1809 Tirol besetzt hatten. Doch nun waren gar die Italiener in seiner Heimat und spielten sich als die Herren auf. Und das war schlimmer.

Er erzählte mir die Tragödie seiner Heimat immer wieder, bis ich ganz davon erfüllt war. Schon in meinem ersten Lebensjahr nahm er mich während seines Urlaubs nach Bozen mit und zeigte mich stolz den Verwandten und Bekannten. Wenn ich auch per Zufall in dem elenden Selb geboren war, so sollte ich doch eine echte Südtirolerin werden. Einer meiner allerersten Kindheitseindrücke war der Anblick des Kaisergebirges, wie man es in Kufstein vom Zugfenster aus erblickt, und später das klassische Panorama des Rosengartens. Seither habe ich meine Liebe zu den Bergen nie verloren. Das Leben in der Ebene machte mich immer unglücklich.

Bei den alljährlichen Urlaubsreisen nach Südtirol wurde mir das Prestige der Familie Wieser früh eingeprägt. Die Witwe Maria Wieser, eine kleine, zierliche Frau, die elf Kinder geboren hatte, war die anerkannte Matriarchin der Familie. Sie wurde auch von ihren Söhnen und Töchtern mit Sie angesprochen. Nur ich als einzige Enkelin hatte das Privileg, Großmutter und Du zu ihr sagen zu dürfen. Ihre beiden älteren Söhne waren bereits ihren Kriegsleiden erlegen, aber die Tant’ Thres, die Halbschwester der Großmutter, lebte noch und die beiden Schwestern meines Vaters, Resi und Clara, die kinderlos waren, verwöhnten mich, soviel sie konnten.

Wie ein Schwamm saugte ich die Schönheit und den Reichtum des Landes in mich auf. So erhaben mir die Wälder des Fichtelgebirges erschienen, mit Südtirol waren sie nicht zu vergleichen. Meine arme Mutter, die ihre Heimat genauso liebte wie mein Vater die seine, litt unter meiner Bevorzugung Südtirols. Dagegen beschloss sie, mir eine Erziehung zu verschaffen, wie ich sie in Bozen nie genossen hätte. Ja, es muss leider gesagt werden: Es entwickelte sich ein regelrechtes Tauziehen zwischen Nord und Süd um meine kleine Person und das gab mir schon früh ein Gefühl der Auserwähltheit.

In verschiedenen Kulturkreisen aufgewachsen, beschlossen meine Eltern sich stets der hochdeutschen Sprache zu bedienen. Ich lernte sowohl Tirolerisch als auch die Sechsämter Mundart zu verstehen, aber sprechen konnte ich keinen der beiden Dialekte. Auch verwehrten mir meine Eltern, sie Papa und Mama zu nennen, wie es in der Oberschicht damals üblich war. „Das ist viel zu französisch“, behauptete Mutti. „Ja, und welsch natürlich auch“, fügte Vati hinzu. Sobald es anging, musste ich lernen, sie Mutti und Vati zu nennen. Auch das viele Küssen und Liebkosen seiner kleinen Tochter sah Vati gar nicht gern, denn auch das war als welsche Gepflogenheit verpönt.

Zwar durfte ich mit den Kindern der benachbarten Arbeiterfamilien spielen, doch brachten mir meine Eltern die bestehenden Klassenunterschiede schon früh bei.

„Wir gehören nicht zu diesen Leuten“, pflegte Mutti zu sagen und Vati fügte hinzu: „Das sind Proleten, Herdenmenschen, ganz andere Leute wie wir.“ So wurde mir schon früh das Wort Prolet und ein hochnäsiger Snobismus eingeprägt. Auch mein Großvater lebte ständig in seiner blaublütigen Abstammung als Sohn des Grafen von Zedtwitz, Nebenlinie Liebenstein. „Ja, unsereiner!“ war sein Lieblingswort, wobei er nie bedachte, dass auch seine Mutter keine Gräfin gewesen war.

Meine Eltern hatten nichts dagegen, wenn ich „diese Leute“ uneingeladen in ihren Wohnungen besuchte und manchmal auch ihre einfachen Mahlzeiten teilte. Ich war dem Flügel Hans seine Enkelin und sie behandelten mich wie eine kleine Prinzessin.

Ein Jahr nachdem meine Selber Großmutter einem Herzschlag erlegen war, hatte Großvater wieder geheiratet. Elise Kronester war die Schulfreundin seiner Tochter Frieda gewesen, eine hübsche, junge Frau, die ich aufgrund ihrer Jugend nicht Großmutter, sondern Tante Lies nannte. Sie war die Tochter eines Fabrikbesitzers der Umgebung und hatte eine vorzügliche Erziehung genossen. Sie besaß den Führerschein, was damals selten war, spielte Tennis, verstand sich auf Hundedressur und konnte mit einem Jagdgewehr umgehen. Ich begleitete sie täglich, wenn sie Großvaters Vorstehhunde Senta und Flora ausführte, und sie war immer sehr nett zu mir. Als erster Selber Bürger legte sich Großvater ein Auto zu, einen dunkelblauen Opel Sedan, mit dem er mich trotz meiner ständigen Übelkeit, die mich beim Fahren ergriff, durch ganz Oberfranken und halb Sachsen chauffierte.

Vati und Mutti sahen das nicht gern. Lieber fuhren sie mit mir per Omnibus in die Tschechoslowakei, nach Asch, nach Eger oder nach Franzensbad. Dort konnte man noch österreichische Gastkultur genießen und außerdem billig einkaufen, denn die Tschechenkrone war damals nur dreizehn deutsche Pfennige wert.

Da meine Eltern die Natur liebten, wanderten wir oft durch die Grenzwälder, sammelten Pilze und Beeren und kehrten in gemütlichen Waldschenken ein. Ein schreckliches Erlebnis ist mir dabei im Gedächtnis geblieben: Vati wurde einmal von einem tschechischen Grenzpolizisten verhaftet. Ich sah ihn schon in einem finsteren Kerker schmachten und weinte bitterlich. Sein Vergehen: Er hatte nicht auf die Grenzlinie geachtet und auf tschechischem Boden fotografiert. Vati kam zwar letztlich mit einer Verwarnung davon, musste aber mit dem Grenzer aufs tschechische Zollamt, wo seine kleine Boxkamera konfisziert wurde. Überhaupt war damals ganz Europa voller Grenzsteine. Mitten im Wald fanden sich graue Granitquader mit der Aufschrift „Böhmisch-bayerische Landesgrenze“ und darunter war eine Krone eingemeißelt. Es waren die ersten Worte, die ich lesen lernte. Trotz solcher Grenzzwischenfälle zählen diese Waldausflüge mit meinen Eltern zu den glücklichsten Erinnerungen meiner Kindheit.

Obwohl ich mich innerlich mehr zu Vati hingezogen fühlte, war mir früh bewusst, welch eine wunderbare Frau meine Mutter war. Wenn ich an sie denke, kommen mir die Tränen. Sie war die edelste, liebenswürdigste und warmherzigste Frau, die ich je kennenlernen durfte, und ich danke Gott, dass ich so eine Mutter hatte.

Auf Fotos sieht sie wie eine Puppe aus. Klein und zierlich von Gestalt, hatte sie ein hübsches Gesicht und rotbraune Locken. Doch das Schönste an ihr waren ihre großen, blauen Augen, die immer lächelten und stets Liebe und Wohlwollen ausstrahlten.

Nach den standesamtlichen Eintragungen zu schließen, war Georgina Katharina Flügel ein paar Monate zu früh zur Welt gekommen. Von ihren Eltern gab es daher kein Hochzeitsbild, denn die unglückliche Braut durfte ja kein weißes Kleid und keinen Brautschleier tragen. Hans Flügel, jung und ehrgeizig, wie er war, hatte seine Braut nur widerwillig geheiratet, denn er hatte sich eine einträglichere Ehe erhofft. Das Fräulein Jette, geborene Vates, war die Tochter eines Schneiders aus Marktleuthen. Sie war zwar zu einer tüchtigen Hausfrau erzogen worden, aber viel zu naiv und kleinbürgerlich für ihren ehrgeizigen Gemahl.

Kurz vor dem Ersten Weltkrieg, als Rosenthal und Hutschenreuther ihre Porzellanfabriken im Norden von Selb bauten, hatte mein Großvater das Gasthaus zum Nordbahnhof an der Gabelung von Ascher- und Schönwalderstraße gekauft. Er hatte dazu eine hohe Hypothek von der Brauerei Rauh und Ploss aufgenommen, und die Gaststätte im Arbeiterviertel erwies sich als ein glänzendes Geschäft. Seine Frau und später seine Töchter arbeiteten unentgeltlich, während er auch anderen Geschäften nachging.

Einer meiner ersten Kindheitseindrücke war, dass Großvater auf seinem Motorrad zur Arbeit fuhr. Mutti sagte, er arbeitete damals bei Hutschenreuther als Porzellandreher, um die Fabrikationsgeheimnisse zu erlernen. Außerdem scheint er das Geld gebraucht zu haben, um seine Schulden zu bezahlen. Unter anderem hatte er nämlich in Selb das erste Kino, das Lichtspielhaus Olympia eröffnet, das allabendlich und am Wochenende die sensationellsten Stummfilme zeigte.

Einmal geschah es, dass Jette Flügels Mutter, die alte Frau Susanne Vates, ihre beiden Enkelinnen Georgine und Frieda zu einer Vorführung mitnahm. Das Filmgeschehen machte zuerst großen Eindruck auf sie. Doch als die Liebesszenen mit heißen Küssen auf der Flimmerwand erschienen, war sie schockiert. Mit beiden Händen bedeckte sie die Augen der Kinder und äußerte empört: „Leut’, des is ja a Schweinerei! Des sollt’ verboten sein.“ Klar, dass sie dieses Unternehmen ihres Schwiegersohnes nicht schätzte. Nach einigen Jahren stellte sich in der Familie Flügel noch eine kleine Tochter, das Marierl, ein. Es war ein eigenwilliges Kind, das noch im Alter von drei Jahren verlangte, gestillt zu werden. Was den Vater betraf, so glaubte dieser nicht, dass Marie sein Kind sei. Wie konnte ein gestandenes Mannsbild wie er nacheinander drei Mädeln zeugen? Er, dessen Mutter zwanzig Söhne geboren hatte! Es war offensichtlich, dass seine Frau ihn mit einem anderen betrogen hatte. Die arme Jette! Wie hätte sie als Wirtin, Geschäftsfrau und Mutter zweier Kinder noch Zeit für Liebesaffären gehabt?

Aber Hans Flügel blieb bei seinen Beschuldigungen, denn sie berechtigten ihn zu eigenen Abenteuern. Als Grafensohn dünkte er sich ein Mann von Welt und konnte sich eine Reihe von teuren Mätressen erlauben. In Deutschland kennt man in Herrenkreisen das Sprichwort: „Eine anständige Frau stirbt mit vierzig.“ Und Jette Flügel war eine anständige Frau. An einem Sonntagnachmittag, während sie mich, ihr erstes Enkelkind, auf dem Schoß hielt, wurde ihr plötzlich übel. Sie reichte mich meiner Mutter, legte sich aufs Sofa und war in wenigen Minuten tot. Herzschlag!

Die Töchter Georgine und Frieda waren außer sich vor Schmerz. Auch Hans Flügel zeigte sich als tieftrauernder Witwer. Es war Dezember und die Erde auf dem Friedhof war metertief gefroren. Egal! Hans Flügel bestellte ein halbes Dutzend Totengräber, die innerhalb weniger Tage ein Familiengrab ausschaufeln mussten. Bei der Beerdigung hielt er eine rührselige Trauerrede, wobei er betonte, „seinen besten Kameraden“ verloren zu haben.

Mutti hat mir noch mehr von Großvater erzählt, doch es ist besser, darüber zu schweigen. Er war schließlich mein Großvater, aber wie in der Bibel steht: „Was der Mensch sät, das wird er ernten.“

Kindheit

Ich hatte immer gedacht, der merkwürdige Name Selb komme von selbst und selbstständig. Aber das stimmt nicht. Selb kommt von silva und bedeutet Wald. Das Gebiet gehörte einst zu den endlosen Wäldern Böhmens. Der Legende nach soll sogar die Kaiserin Maria Theresia dort einmal in einem Jagdschloss der längst erloschenen Familie Forster Zuflucht gefunden haben, als ihre Jagdgesellschaft von einem Unwetter überrascht worden war. Zum Andenken an ihre waidmännische Vergangenheit trägt die Stadt heute noch zwei stolze Hirschgeweihe im Wappen, aber Hirsche gibt es dort schon lange nicht mehr.

Es hieß, dass das Sechsämterland, das sind die sechs Waldgemeinden zwischen dem sächsischen Vogtland und der Oberpfalz, ursprünglich zu Böhmen gehört hatten. Aber Joseph II. hatte es am Spieltisch an den Markgrafen von Ansbach-Bayreuth verloren. Der Kaiser hatte es wegen seiner Wertlosigkeit nie wieder eingelöst, denn es war ja wirklich eines seiner ärmsten Besitztümer. Die Leute lebten von Gerste, Hafer und später von Kartoffeln.

Beim Wiener Kongress, der nach der Niederlage Napoleons Anfang des 19. Jahrhunderts die Grenzen Europas neu definierte, war das Gebiet dem neu gegründeten Königreich Bayern zugeschlagen worden.

In seinem Reisebuch über das Frankenland entdeckte Prinz Franz zu Sayn-Wittgenstein viele romantische Schönheiten dieser Gegend, besonders des Fichtelgebirges. Aber Vati sah sie nicht. So sehr ihn Mutti immer wieder darauf hinwies, für ihn war und blieb es „das bayerische Sibirien“, das Land seiner lebenslänglichen Verbannung aus Südtirol.

Damals zählte Selb ungefähr 14.000 Einwohner, die auf unterschiedliche Gesellschaftsklassen verteilt waren: Die landbesitzenden „Ackerbürger“ wohnten rund um das Rathaus und um die evangelische Kirche im Süden, in der Nähe des Selbbachs und des Brunnenhauses. Die Fabrikarbeiter lebten dagegen in den betriebseigenen Miethäusern im Norden. Sie waren meistens aus Böhmen zugewandert und gute Katholiken, sofern sie nicht fanatische Kommunisten waren. Die Fabrikbesitzer wussten, was sie an ihren Stammarbeitern hatten, und bemühten sich, sie mit allen Mitteln an sich zu binden.

Von morgens um 7 Uhr bis abends um 19 Uhr leisteten diese Männer und Frauen schwere Arbeit, die nur von einer einstündigen Mittagspause unterbrochen war. Diese Arbeiterinnen hatten schon in den 1920er-Jahren eigene Kinderkrippen in den Fabriken, wo sie ihre Kinder gut aufgehoben wussten und die Kleinsten alle drei Stunden stillen durften. Wo gab es sonst noch etwas Ähnliches in der Welt? Und das war nicht alles. Die Arbeiter verfügten über eigene Kleingärten, über eine Lungenheilanstalt und ein Erholungsheim bei Berchtesgaden, wo sie ihre Staublungen ausheilen konnten.

Die Fabrikgebäude standen im Schatten Dutzender riesiger Hochöfen, die schwarzen Rauch qualmten und die Luft verpesteten. Aber die Leute waren froh, wenn die Schlote rauchten, denn das bedeutete Arbeit und Brot für ihre Familien.

Die „Porzliner“ waren eine eigene Menschenart. Sie blickten auf die alteingesessenen Bürger herab und waren stolz auf ihr Können und auf ihr Erzeugnis, Porzellan, das weiße Gold.

Die Bürger fürchteten die Arbeiter wegen ihrer kommunistischen Ideen. Hatten sie nicht am 1. Mai, dem Tag der Arbeit, den hochwürdigen Herrn Stadtpfarrer Simbürger aus dem Pfarrhaus geholt und ihn gezwungen, mit der roten Fahne ihrem Festmarsch voranzugehen?

Es war schlimm, dass sich die Zeiten in den 1920er-Jahren zusehends verschlechterten. Viele Fabriken mussten schließen und ihre Stammarbeiter entlassen. Die leeren Gebäude hatten eingeschlagene Fensterscheiben und machten einen trostlosen Eindruck.

Unser Nachbar, der an Tuberkulose leidende Herr Schmidt, war in ständigem Kontakt zu den Genossen in der Tschechoslowakei. Die Arbeiter planten den Aufstand und die Bürger hatten Angst. Einmal, als ich wie gewöhnlich mit anderen Kindern auf dem Abfallhaufen der Fabriken spielte, fand ich eine Kiste voller Gewehrpatronen. Trotz meiner Jugend begriff ich sofort, was diese länglichen Metallbolzen waren. Es war dasselbe Zeug, das Großvater in seine Jagdgewehre steckte. Ich verständigte ihn und Großvater brachte die Kiste zur Polizei. Dort zeigte man ihm eine kürzlich entdeckte schwarze Liste. Sie enthielt die Namen jener Personen, die beim Aufstand liquidiert werden sollten. Der Name Hans Flügel stand darauf an erster Stelle.

Ich war vielleicht vier Jahre alt, als ich mit Mutti zum Friedhof ging. Am Grab ihrer Mutter kam sie mit einer Bekannten ins Gespräch. Während ich mich an den grünen Gießkannen zu schaffen machte, die auf allen Friedhöfen zu finden sind, lauschte ich dem Wortwechsel. Ein schreckliches Wort kehrte darin immer wieder: Bürgerkrieg! Ich dachte an Begriffe, die ich von meinen Eltern gehört hatte: Straßenkämpfe, brennende Häuser, Standgericht und Hinrichtungen im Morgengrauen.

Mutti hatte Angst! Und nicht nur vor einem Bürgerkrieg. Ihre Angst übertrug sich auf mich und ich bin sie mein Leben lang nicht mehr losgeworden.

Aber Mutti hatte auch noch andere Sorgen. Sie, die schönste und sonnigste ihrer Schwestern, litt unter dem Neid anderer Frauen, weil ihr Heindl inzwischen der Traum ihrer Schwestern und Nachbarinnen geworden war. Gut aussehend und österreichischen Charme ausstrahlend, ließ er sich die weibliche Anbetung gern gefallen. Er dachte nicht daran, dass seine junge Frau vielleicht darunter leiden könnte. Dagegen war Gina sehr vom guten Willen und der Sympathie anderer abhängig. Jedes abfällige Wort über ihre Ehe oder über sie selbst traf sie schwer. So zum Beispiel, als eine Nachbarin leichthin bemerkte: „Natürlich war’s leicht für dich, mit dem vielen Geld von deinem Vater zu wirtschaften. Aber mit dem Gehalt eines kleinen Angestellten wird’s wohl schwieriger sein.“

Von Stund an wurde Mutti eine sparsame Hausfrau, die sich und den Ihren kaum die kleinste Freude gönnte. Sparen, sparen, sparen war ihr Motto und sie war entschlossen, es eines Tages zu einem eigenen Häuschen zu bringen. Für ihr Leben gerne hätte sie ein eigenes Geschäft gehabt und Babysachen verkauft. Aber mein Vater verbot das als seiner Gattin unwürdig: „Eine Frau Wieser steht nicht hinter einem Ladentisch!“

In den Jahren meiner Kindheit machte ich meine Eltern sehr glücklich. Ja, ich war wohl ihr einziges Glück. Vielleicht hätte ich auch meinen Großvater glücklich gemacht, wenn ich nur ein Bub gewesen wäre. Außerdem war ich auch nicht hübsch, jedenfalls nicht so hübsch wie seine eigenen Töchter. Damals hatten kleine Mädchen hübsch zu sein und ständig zu lächeln. Vati fand diese Forderung kitschig und verlogen. Das Leben war für ihn eine traurige Angelegenheit und so modellierte er mich als weinendes Baby. Aus dem gleichen Grund wurden bei uns nie Geburtstage gefeiert. „Was gibt’s da schon zu feiern, wenn man auf diese traurige Welt kommt?“, sagte er. Durch alle ihre Ehejahre versuchte Mutti meinem Vater die Freude an Familienfeiern beizubringen. Es war vergebens.

Dagegen hing in unserer Wohnküche lange eine Fotografie, die ich nie vergessen habe. Sie zeigt ein Baby im Wickelkissen, das von drei Frauen umgeben ist. Das Baby bin ich im Alter von wenigen Wochen, umgeben von meiner strahlenden Mutter, meiner ernst dreinblickenden Selber Großmutter und von Tante Frieda, die schon damals eine gewisse Abenteuerlust im Blick hatte. Ich habe das Bild oft betrachtet und die drei Frauen erschienen mir immer wie drei gute Feen, die meinen Lebensgang segnend begleiteten. Jahrzehnte später, als alle drei schon lange gestorben waren, verbrachte ich einmal eine Nacht in dem Zimmer, das Tante Frieda bewohnt hatte. In dieser Nacht hatte ich einen seltsamen Traum: Auf einer nebligen Straße begegneten mir drei alte Frauen. Sie kamen auf mich zu und sagten: „Du brauchst keine Angst zu haben. Wir werden schon auf dich aufpassen.“ Als ich erwachte, fühlte ich mich von einer besonderen Energie erfüllt, furchtlos und stark – tagelang begleitete mich ein Gefühl der Sicherheit. Und sie haben wirklich ein Leben lang auf mich aufgepasst.