Meister dunklen Pfades - Philipp Schmidt - E-Book

Meister dunklen Pfades E-Book

Philipp Schmidt

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Beschreibung

Brandon erwacht in einer sonderbaren und unwirklichen Welt, ohne zu wissen, was ihn dorthin verschlagen hat und wer er ist. Auf der Suche nach Antworten begibt er sich in das Zentrum des mittelalterlich geprägten Reiches Randland. Die Gefahren und Kreaturen, denen er sich entgegenstellen muss, übersteigen seine Vorstellungskraft. Allmählich erkennt er, das er Teil eines Spieles ist, dessen Regeln er erst nach und nach begreift. Ist Randland die buchstäbliche Hölle?

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MEISTER DES DUNKLEN PFADES

Philipp Schmidt

© 2016 Amrûn Verlag

Jürgen Eglseer, Traunstein

Lektorat: Marion Lembke

Umschlaggestaltung: Christian Günther

Alle Rechte vorbehalten

ISBN – 978-3-95869-257-2

Besuchen Sie unsere Webseite:

http://amrun-verlag.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar

1 16

INHALT

ENDSTATION

DER SONNE ENTGEGEN

EIN LANGER WEG

DER GRENZKÖNIG

DER SCHINDER

EIN ALTER BEKANNTER

ZUM GÜLDENEN DREIZACK

VERLOREN

DIE FREMDE

DIE EWIGE STADT

UNTER REBELLEN

DÄMMERSPIELE

DIE REVOLTE

DER KREIS SCHLIEßT SICH

BUCH AUS STEIN: ERZÄHLUNGEN

ARRION

ENDSTATION

Das Erste, was er wahrnahm, war Kälte. Eine unbeschreibliche, durch und durch dringende Kälte. Er öffnete die Augen. Es war dunkel um ihn. Kalt und dunkel.

Er rappelte sich auf. Allmählich gewöhnten sich seine Augen an die Finsternis. Es war eine gänzlich sternlose Nacht, lediglich ein violetter Schimmer haftete dem allzu nah wirkenden Himmelszelt an. Er sah an sich herab, betastete sich mit seinen blass aus den Schatten ragenden Händen. Seine Füße waren nackt, aber seinen Körper umhüllte ein enganliegendes Kleidungsstück. Soweit er sagen konnte, war es von schwarzer Farbe. Es klebte an seinen Muskeln, spannte sich über seinen Bauch und seine Brust wie eine zweite Haut.

Ein Kreischen ließ ihn zusammenzucken. Er duckte sich, begab sich lauschend in die Hocke. Noch einmal erklang der markerschütternde Schrei. Ein Luftzug fuhr durch seine langen Haare, die Blätter der Bäume über ihm raschelten. Ein Flügelschlag war zu vernehmen, dann war es, was immer es gewesen sein mochte, vorüber und der junge Mann richtete sich wieder auf.

Fröstelnd ging er los. Zuerst stieß er sich die Ellbogen an den Stämmen der schlafenden Bäume, stolperte über Wurzeln, verfing sich in Dornenranken, stach sich die bloßen Füße an spitzen Steinen, doch je länger er lief, umso mehr gewöhnte er sich an die Bewegung. Bald huschte er schnell und mit wachsender Sicherheit durch das Unterholz. Es tat gut, den eigenen Körper zu spüren, seine Kraft, seine Eleganz.

Er wusste nicht, wie lange er so gelaufen war, da hörte er unvermittelt etwas: Stimmen, sie waren nah. Er hielt inne, ließ sich auf die Hände fallen, hob den Kopf an und sog die kühle Luft tief durch seine bebenden Nasenflügel ein. Feuer, Schweiß und Branntwein. Langsam und vorsichtig folgte er der Witterung.

Auf einer Lichtung erblickte er drei Männer, die um ein Lagerfeuer saßen. Er verschmolz mit den Schatten, lauschte und beobachtete. Der Mittlere führte eine Feldflasche zum bärtigen Mund, er machte wohl einen Scherz und die beiden anderen lachten heiser. Der Linke war jung, beinahe noch ein Kind; der Rechte selbst im Sitzen groß und schlaksig. Sie trugen Fellwesten, der Junge stocherte mit einem Stock in den Flammen. Der Bärtige in der Mitte grunzte etwas Unverständliches und der lange Dürre riss ihm die Flasche aus der Hand. Schlechte Männer.

Es entging dem stillen Beobachter nicht, dass sie Waffen bei sich trugen. Ein seltsames Arsenal: Jeder von ihnen hatte Dolche im Gürtel stecken und neben dem Jungen lehnten an einem Baumstumpf eine Schrotflinte und eine doppelflüglige Streitaxt.

Plötzlich erhellte ein gleißendes Licht die Umgebung, eine Sternschnuppe. »Noch einer«, krächzte der Schlaksige.

»Meinen halben Sold«, erwiderte der Mittlere düster, »dass die Nachtschrecken ihn holen, ehe er den Weg zu uns findet.«

»Eh«, spie der Schlaksige aus, »kannst du vergessen. Da mach ich nich mit. Heut Nacht kommen nur Spätgeborene, die haben nix drauf.«

Der Junge kicherte fies. »Käh-hä, nix drauf, sind Futter für die Schrecken. Käh-hä.«

Schlechte Männer allesamt. Die Lippen ihres verborgenen Zuhörers verzogen sich zu einem Lächeln. Er erhob sich und geräuschlos wie ein schleichendes Raubtier ging er auf die Lichtung zu.

Die drei entdeckten ihn spät, doch als sie es taten, sprangen sie auf. »Bleib, wo du bist!«, keifte der Junge; »Keinen Schritt weiter«, bellte der Bärtige, der nun die Streitaxt in den Händen hielt.

Der Fremde blieb stehen, reglos und achtsam.

»Zeig uns deine Füße«, forderte der Bärtige, während er schwerfällig um das Feuer herum stapfte. Seine Stiefel schmatzten auf der feuchten Erde, als er näher kam.

»Meine Füße?«

»Mach schon, Freundchen, deine Hände haben wir schon gesehen.« Der Bärtige war ebenfalls stehengeblieben, nicht mehr als zwei Armeslängen trennten die beiden Männer voneinander.

In sicherem Stand winkelte der Fremde das linke Knie an, dann streckte er das Bein aus. Der Bärtige musterte den Fuß im Flackerschein der Flammen.

»Gut, jetzt der andere.«

Die gleiche Prozedur folgte mit dem rechten Bein, kurz kräuselte sich die Stirn des Bärtigen, aber schließlich grunzte er über die Schulter: »Zehn Zehen, alles in Ordnung. Er ist einer von uns.«

Die beiden am Feuer Zurückgebliebenen entspannten sich sichtlich.

Der Bärtige wandte sich ab, legte seine Axt wieder an ihren angestammten Platz zurück und setzte sich. »Mach‘s dir bequem, wärm dir die Hände. Wie heißt du eigentlich?«

Wie hieß er? Seltsam, er erinnerte sich an nichts, aber seinen Namen kannte er. »Brandon«, stieß er hervor, als er sich den Dreien gegenüber hinhockte. »Meine Mutter nannte mich Brandon.«

»Hübscher Name«, murmelte der Bärtige, »Brann-Dorn … Wirklich hübscher Name, Freundchen.«

Der Schlaksige reichte ihm die Feldflasche und er nahm einen tiefen Schluck. »Das hier sind Reinhold und Simon und ich heiße Högni.«

»Wir sind die besten Hüter von ganz Randland«, gluckste der Junge und der Bärtige grinste.

Randland? Davon hatte Brandon noch nie gehört. Er wusste zwar auch nicht, wo er hergekommen war und was ihn an diesen Ort verschlagen hatte, doch er spürte instinktiv, dass er fern seiner Heimat war. »Wo zur Hölle sind wir hier?«

Die drei blickten ihn einen Moment lang an, dann begann die Augenbraue Högnis zu zucken und schließlich brachen die Männer in schallendes Gelächter aus.

»Was ist so lustig?«, fragte Brandon scharf, als das Lachen allmählich verklang.

»Wo zur Hölle wir sind? Ho-Ho!« Högni schlug sich auf den Schenkel. »Genau da, Freundchen, im Reich der Hel.«

»Zum Teufel gegangen«, quäkte der Jüngste unter ihnen, den Högni als Simon vorgestellt hatte. »Bist jetzt ein Verdammter.«

»So ist es«, sagte Högni und seine Stimme hatte einen feierlichen Tonfall angenommen, »ein Verdammter in den Heerscharen König Etzels.«

Hatte er es mit Wahnsinnigen zu tun? War die Hölle nicht die Strafe für jene, die ein schlechtes Leben geführt hatten? Aber wie hatte er gelebt? Er konnte sich nicht erinnern. War er ein Verbrecher und das sein Lohn?

»Ach Branndorn, ich weiß, was dir jetzt durch den Kopf geht. Vergiss diesen Christen-Mist von Sünde, Vergebung und dem ganzen Unsinn. Simon hier,« er legte seinen schweren Arm um die Schultern des Jungen, »war auf dem Weg, Priester zu werden, aber wie du siehst, ist auch er bei uns gelandet.« Er wollte noch weitersprechen, doch ein Kreischen in der Luft, wie Brandon schon einmal eines vernommen hatte, ließ ihn verstummen.

Gleich den anderen blickte er auf und diesmal sah er es: Eine geflügelte Bestie. Einen Augenblick schwebte sie ein gutes Stück von ihnen entfernt hoch oben im violett schimmernden Himmel, dann, urplötzlich, schoss sie herab und verschwand aus ihrem Sichtfeld.

»Hat mal wieder einen erwischt«, stellte Simon fest, wobei es Brandon so schien, als würde dies dem Jungen eine gewisse Freude bereiten.

»Ja«, murmelte Högni vor sich hin, »eine Schande.«

Eine Weile herrschte Stille. Es war der Schlaksige, Reinhold, der das Schweigen brach, indem er ansetzte, von seiner ersten Wacht zu erzählen. »Damals«, sagte er im Plauderton, »war ich ein Grünschnabel wie der da. Hatte nichts bei mir als einen Knüppel …«

»Du hast unter dem Befehl Edwards begonnen, oder?«, warf Högni ein.

»Ganz recht, wir nannten ihn den Grenz-Hammer. Und bei eben jener Wacht, von der ich euch berichte, haben sie ihn genichtet. Ein ganzes Dutzend Formloser kroch aus den Schatten und fiel über uns her.« Während er redete, hielt er Brandon, ohne darauf zu achten, den Schlauch mit dem Branntwein hin. Dieser schüttelte ablehnend den Kopf.

»Edward streckte zwei mit seinem Langschwert nieder und ich selbst habe einem auf den Schädel geprügelt, bis er sich nicht mehr regte. Doch es waren zu viele …«

»Halt«, sagte Högni. »Wieso trinkst du nicht mit uns, Branndorn?«

»Ich bin nicht durstig.«

»Verflucht, du sitzt an unserem Feuer, du lauschst unseren Geschichten, bei der Hel! Du wirst auch mit uns trinken, Freundchen!« Die Augen in Högnis bärtigem Gesicht waren zu Schlitzen verengt, Simon kicherte gehässig, bloß Reinhold wirkte, als wollte er einfach nur ungestört seine Geschichte zu Ende erzählen.

Brandon verlagerte sein Gewicht leicht nach vorne, seine Muskeln spannten sich an und Zorn lag in seiner Stimme, als er knurrend entgegnete: »Ich bin nicht dein Freund. Ihr seid Mörder, Vergewaltiger, schlechte Menschen.«

»Wir sind was?!«, brauste Högni auf, »Und was meinst du, was du bist, du frecher, eingebildeter -«

»Euer Ende, das ist es, was ich bin.«

Brandon war aufgesprungen, er riss Simon die Feldflasche aus der immer noch ausgestreckten Hand. Hals voran schmiss er sie ins Feuer, eine Stichflamme entstand. Für einen Wimpernschlag waren die drei, die nicht darauf vorbereitet gewesen waren, geblendet. Als Simon wieder deutliche Konturen ausmachen konnte, starrte er in die Mündung der Schrotflinte. Brandon zögerte nicht. Er zog den Abzug durch und die Schrotladung schleuderte den Körper des Jungen in die Büsche. Der zweite Schuss zerfetzte Reinholds Knie und Oberschenkel.

Mittlerweile hatte sich Högni die Axt geschnappt. Weit holte er zu einem tödlichen Streich aus – zu weit, der Kolben der Flinte prallte gegen seine Rippen, dass die zertrümmerten Knochen knirschten. Die Axt entglitt Högnis Händen und er krümmte sich zusammen. Brandon zog ihm zwei Dolche aus dem breiten Gürtel. Wie eine Schere hielt er sie. Mit solcher Kraft ließ er sie zuschnappen, dass es Högni glatt den Hals durchschnitt.

Der schlaksige Reinhold winselte und presste verzweifelt beide Hände auf die sprudelnden Arterien, welche die Schrotladung an seinen Schenkeln geöffnet hatten. Brandon ignorierte ihn und ging zu dem Gebüsch, in dem Simon gelandet war. Er zog den leblosen Körper zurück zur Feuerstelle, kniete sich zu ihm nieder und hielt seine nackten Füße an die Stiefel des Toten. Eine Nummer zu groß vielleicht, aber damit ließ sich leben.

»Du mieses Schwein«, kam es mit zittriger Stimme von Reinhold.

Brandon stand wieder auf, er machte zwei Schritte und beugte sich über Reinhold, dessen Gesicht aschfahl geworden war.

»Wo finde ich diesen Etzel?«

»Du … du Wichser! Die Formlosen sollen dich holen!«

Brandon zog ein Holzscheit aus dem Feuer. Er drückte das glühende Ende gegen die offene Wunde. Es zischte und sofort stieg ein Geruch nach verschmortem Fleisch auf. Ein gellender Schrei zerriss die Nachtluft.

»Etzel, wo kann ich ihn finden?«

Mehr brauchte es nicht, Reinhold sang wie ein Vogel, der wusste, dass es sein letztes Lied war. Und als Brandon sich sicher war, dass er nicht mehr von ihm erfahren würde, bereitete er ihm ein schnelles Ende.

So weit, so gut, dachte Brandon und er machte sich daran, die Leichen zu fleddern.

DER SONNE ENTGEGEN

Allerhand Dinge hatte er gefunden und an sich genommen. Die Flinte war ihm zu unhandlich gewesen, ebenso wie die schwere Axt. Die zwei Dolche allerdings, die ihm bereits gute Dienste erwiesen hatten, steckten nun in dem Gürtel, den er Simons Leiche neben den Schnürstiefeln abgenommen hatte. Im schlanken Lederbeutel an seiner Hüfte befanden sich einige haltbare Lebensmittel, vor allem Trockenfrüchte, ein halber Laib Brot und zwei Streifen gepökeltes Fleisch. Ansonsten hatte er noch ein wenig Plunder hinzugepackt, über dessen Wert und Tauglichkeit er sich, von einem Feuerzeug abgesehen, zum größten Teil im Unklaren war.

So streifte er durch den dunklen Forst. Ab und zu hörte er fernes Kreischen und Fauchen, dann hielt er inne, lauschte und ging weiter. Da immer noch keine Sterne aufgetaucht waren, verließ Brandon sich auf seine Intuition und die Angaben Reinholds. Wenn er stets geradeaus durch den Wald liefe, so hatte der Gemarterte beteuert, würde er auf einen Höhenzug gelangen. Diesem sollte er folgen, der Sonne entgegen, bis zum Fuß eines Gebirges, wo König Etzels Festung stünde.

Der Sonne entgegen … Wie lange lief er nun schon? Es war schwer, das hier zu sagen. Nichts schien sich zu verändern, immer noch schimmerte das Firmament in schmutzigem Violett; es waren auch keine Wolken auszumachen, weit und breit nicht, nur gelegentlich zog grauer, feuchter Nebel auf. Der Wald war von den wenigen unheimlichen Geräuschen abgesehen still und wirkte ausgestorben. Nein, hier gab es kein Leben, jedenfalls keines von einer Art, der man begegnen wollte.

Je weiter er kam, umso sumpfiger wurde es. Der Boden wurde schlüpfrig. Wann immer es ging, balancierte Brandon über umgefallene Bäume. Und davon gab es viele. Es sah aus, als hätte ein gewaltiger Sturm in diesem Teil des Waldes gewütet.

Stetig wurde es morastiger, nicht auf Stämmen oder bemoosten Steinen zu gehen, war keine Option mehr; Brandon befand sich in einem ausgewachsenen Moor. Es stank nach Fäulnis und nun war es auch nicht mehr still. Überall gluckste und gurgelte es; Geräusche wie von einem gigantischen Organismus, der Blähungen hatte.

Bald setzte leichter Regen ein. Brandon sah nach oben. Wie war das möglich ohne Wolken? Er fragte sich, ob Reinhold ihn absichtlich in diese ungastliche Ödnis geschickt hatte. War er doch zu gnädig gewesen? Hätte er den Mann weiter foltern sollen? Von der Sonne war noch immer nichts zu sehen und Brandon zweifelte stark daran, dass sie hier jemals aufgehen würde.

An einem Wasserlauf blieb er schließlich stehen. Er begab sich in die Knie und beugte sich über die langsam voran schiebende Brühe. Mit einem Mal merkte er, wie durstig er war. Er schöpfte mit der hohlen Hand, setzte sie an die Lippen und trank. Das Wasser schmeckte erdig, aber es war genießbar. Eine Hand nach der anderen schlürfte er aus und als sein Durst gestillt war, benetzte er sich Stirn, Wangen und Hals.

Er wollte schon weitergehen, da erblickte er sein verschwommenes Spiegelbild auf der Oberfläche und plötzlich überfielen ihn Fragen. Wer war der Mann, der ihm da stumm entgegen starrte? Dunkle Augen unter akzentuierten Brauen, ein markantes Kinn, ein Mund, der zu etwas gemacht schien, das er vergessen hatte. Etwas Träumerisches, Sanftes und Freundliches lag in diesen Zügen, die ihm merkwürdig fremd vorkamen.

Er kannte seinen Namen, aber er wusste nicht, wer seine Mutter gewesen war, die ihn ihm gegeben hatte. Jeder hatte eine Mutter, einen Vater, Menschen, die ihm nahe standen. An die musste er sich doch erinnern!

Niemand, da war nichts, alles hatte er hinter sich gelassen. Er fühlte keine Traurigkeit, nur ein leichtes Ziehen hinter den Schläfen, ein kurzer Anflug von Bedauern.

Er starrte weiter ins Wasser und plötzlich regte sich doch etwas in seiner Erinnerung: eine Frau und ein Mann. Die Frau kauert auf einem Bett, der Mann wirkt erst überrascht, doch dann zückt er eine Pistole. Ein großes, schweres Ding. Er legt damit auf Brandon an. Die Szene ist befremdlich. Brandon spürt keine Furcht, im Gegenteil, er erzählt einen Witz. Es knallt, ein Mal, dann ein zweites und erst beim dritten Mal durchfährt ihn der Schmerz; völlig unvorbereitet bricht er über ihn herein. Die Kraft strömt aus ihm heraus, er geht zu Boden. Sogleich sind überall um ihn herum helfende Arme zur Stelle. Dann Leere, nur noch ferne Stimmen. Als Nächstes: ein Krankenhaus, Schläuche ragen überall aus seinem Körper. Jetzt spürt er die Angst, kalt und unerbittlich. Er ist doch noch so jung, er will leben, doch es wird dunkel und er bemerkt, wie etwas an ihm zieht, erst schwach, dann immer stärker. Es reißt ihn hinfort, entfernt ihn von seinem Körper, saugt ihn hinein in einen finsteren Tunnel …

»Starr besser nicht so lange in dieses Wasser, Esel.«

Die piepsende Stimme ließ Brandon hochfahren. Alarmiert sah er sich um, seine Hände glitten zu den Dolchen.

»Hier oben, du Esel.«

Er hob den Kopf und seine Augen huschten umher.

»Ja, ja, weiter. Ahhh, jetzt hast du mich.«

Irritiert sah Brandon das kleine Tierchen an, das sich mit seinen kurzen Krallen auf einem Ast ein gutes Stück über ihm festhielt. Misstrauisch drehte er sich um und seine Augen suchten weiter die Umgebung ab.

»Hast schon richtig gesehen, Einfaltspinsel, ich bin es, der zu dir spricht.«

Abrupt wandte er sich wieder dem Tier zu. Tatsächlich, die Schnauze des Marders bewegte sich passend zu den Worten.

»Was bist du? Ein Frettchen?«

»Ein Tigeriltis, du Blödmann.« Stolz zeigte der Marder ihm die Musterung auf seinem Bauch und Hinterteil. Das kleine Gesichtlein war schwarz-weiß gefleckt, die Ohren standen ab und der buschige Schwanz wackelte hinterher, als der Tigeriltis wieder zu seinem Ausgangspunkt auf dem Ast zurück stolzierte.

Brandon war sich nicht restlos, aber doch ziemlich sicher, dass Tiere üblicherweise nicht sprechen konnten. Hatte er seinen Verstand ebenso wie den Großteil seiner Erinnerung verloren? Nein, man musste die Dinge hier so nehmen, wie sie waren.

»Sagst du mir jetzt endlich deinen Namen, oder soll ich dich weiter mit Esel, Hohlkopf und Idiot anreden?«

»Davon würde ich tunlichst abraten«, erwiderte Brandon trocken, innerlich entspannte er sich jedoch ein wenig. »Ich heiße Brandon. Und wer bist du?«

»Branndorn! Das klingt stark! Ich heiße Heinrich.«

»Nicht Brann… Was soll‘s. Weißt du, wo ich König Etzel finde?«

»Der Nibelunge? Gutes Blut, aber schlechte Kinderstube, das sage ich dir. Was willst du denn von dem?«, fiepte es zurück.

Ja, was wollte er dort eigentlich? Seit er in dieser trostlosen Welt angekommen war, hegte er an sich bloß einen Wunsch: wieder herauszukommen. War es klug, das offen auszusprechen? Andererseits, was konnte so ein Frettchen schon ausrichten …

»Ich suche einen Weg nach draußen. Und wie es scheint, ist dieser König ein mächtiger Mann. Ich dachte, ich wende mich an ihn.«

Sofern ein Marder höchst irritiert gucken konnte, so tat dies nun das Wesen namens Heinrich. Auf einmal plapperte es los: »Nach draußen?! Es gibt kein Draußen! Hast du gar keine Ahnung, weißt du nicht, wo wir sind? Und Etzel ist vieles, aber mitnichten eine Person, die gerne hilfreich ist. Erst recht nicht umsonst und erst recht nicht jemandem gegenüber, der Männer von ihm genichtet hat. Ja, da schaust du, ich habe dich beobachtet, schon eine ganze Weile. Ich sehe alles, ich bin der Schatten, der -«

»Schnauze halten!«

Dieses Gequassel war nicht zu ertragen und Brandon spürte, wie er wütend wurde. Ohne ein weiteres Wort ging er weiter. Allerdings wachsam und mit gespitzten Ohren. Er hatte keine Lust, plötzlich ein bissiges Wollknäuel im Nacken sitzen zu haben.

»Jetzt mal langsam, nichts überstürzen«, flink sprang das gesprächige Tierchen von Ast zu Ast neben ihm her. »Du brauchst mich! Gut, gut, ich helfe dir, zu König Etzel zu kommen.«

Mit kaum verlangsamtem Schritt fragte Brandon über die Schulter: »Was willst du dafür?«

»Wollen, wollen … meine Güte, nicht so misstrauisch! Das Wort eines Reinstämmigen ist an Wert nicht zu übertreffen!«

Brandon zog eine Augenbraue hoch.

»Gut, sagen wir, ich hatte Pech mit der Wahl meiner bisherigen Freunde hier. Und jeder braucht doch Freunde, nicht wahr?«

Brandon zuckte mit den Achseln.