Memento Monstrum (Bd. 2) - Jochen Till - E-Book

Memento Monstrum (Bd. 2) E-Book

Jochen Till

0,0
13,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wie bitte? Ruchlose Vampire und grausige Werwölfe allein können dich nicht schrecken? Oh, du unverbesserlicher Büchernarr! Du brauchst unbedingt noch mehr Monster? Gigantisch-groß, abscheulich böse und unsagbar untot? Na gut, wie du willst. Wenn dir wild gewordene Riesenaffen und kopflose Zombies nicht das Blut in den Adern gefrieren lassen, dann schlag es auf, dieses Buch. Aber sag hinterher nicht, ich hätte dich nicht gewarnt! Hochachtungsvoll, Van Helsing

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 159

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Band 1eISBN 978-3-649-63765-3

eISBN 978-3-649-64416-3

© 2022 Coppenrath Verlag GmbH & Co. KG,

Hafenweg 30, 48155 Münster

Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise

Text: Jochen Till

Illustrationen: Wiebke Rauers

Lektorat: Jutta Knollmann

Satz: Helene Hillebrand

www.coppenrath.de

Die Print-Ausgabe erscheint unter der ISBN 978-3-649-63894-0.

Jochen Till

Nach einer Idee und mit Illustrationen vonWiebke Rauers

Inhalt

Von einem sehr großen Affen, der hoch hinauswollte

Von zwei Geschwistern, die gar keine waren

Wieso man Monster auf keinen Fall verwechseln sollte

Oh, wie zauberhaft! Die Luft der lauen Sommernacht streicht sanft durch mein Fell, die Sterne über mir funkeln millionenfach. Es wirkt, als würden sie die Lichter der Stadt unter mir glitzernd ans Firmament spiegeln. Ich hatte ganz vergessen, wie herrlich so ein Flug über das nächtliche Paris sein kann. Wann war ich zum letzten Mal hier? Mit Yeti? Nein, das ist ja über hundert Jahre her. Vor fünfzig Jahren? Vor dreißig Jahren? Ich weiß es nicht mehr. Genauso wenig weiß ich, wie ich hierhergekommen bin. Oder wieso ich plötzlich so leicht und locker fliegen kann. Der Rücken zwickt nicht, meine Flügel verfügen über die Spannkraft eines frisch gehissten Großsegels, und meine Ultraschallortung funktioniert so gut, dass ich sogar diese kleine französische Mücke, die dort unten auf den Champs-Élysées gemütlich ihre Runden dreht, erkennen kann. Wieso ich mich so jung fühle, ist mir ein Rätsel, denn eigentlich bin ich 589 Jahre alt. Aber man soll ja auch nicht immer alles hinterfragen – vor allem dann nicht, wenn es sich um etwas Positives handelt. Ob ich es wohl wagen soll? Klar, warum nicht? Wer weiß, wann ich mich das nächste Mal so fühlen werde? Los geht’s!

Ich falte meine Flügel zusammen und sause im Sturzflug abwärts auf die Champs-Élysées zu. Meine Ohren flattern im Wind, der Rausch der Geschwindigkeit drückt meine Mundwinkel nach oben, was für ein fantastisches Gefühl! Kurz über den Baumwipfeln der Allee breite ich meine Flügel in einem gekonnten Manöver rechtzeitig wieder aus und wechsle in einen sanften Gleitflug. Die Luft hier unten ist noch sommerlicher, eine wohlig warme Brise durchzieht mein Fell, während ich glücklich Schleifen ziehend auf den Arc de Triomphe zusteuere.

Ah, da ist ja die kleine französische Mücke wieder. Zwei Sekunden später verschwindet sie in meinem Mund. Pardon, Mademoiselle! Ich konnte einfach nicht widerstehen!

Es ist viel zu lange her, dass dieses unvergleichlich köstliche französische Blut meinen Gaumen erfreuen durfte. Einen feineren Geschmack findet man nirgends auf der Welt. Es ist fast so, als beherbergten alle Franzosen und Französinnen in ihrem Inneren eine kleine Patisserie, die jedes winzige Blutkörperchen zu einer kulinarischen Geschmacksexplosion werden lässt.

Mit einem seligen Grinsen im Gesicht durchquere ich den Arc de Triomphe und fliege auf den Eiffelturm zu. Ich umkreise dieses imposante Bauwerk ein paarmal, bevor ich mich kopfüber ganz oben an die Spitze hänge und sanft im Wind schaukelnd in den Sternenhimmel schaue.

Wie herrlich! Das müsste man viel öfter machen, sich einfach mal an die Spitze des Eiffelturms hängen und das eigene Dasein genießen. Und die Ruhe, diese wohltuende, viel zu selten herrschende Ruhe. Das einzige Geräusch, das meine feinen Ohren kitzelt, ist das Rauschen des Windes, das hier oben …

„Es ist der hier, oder?“

„Nein, das ist der von Oma, der ist nämlich viel hübscher.“

„Wieso stehen die Namen eigentlich nicht auf den Deckeln? Dann wüsste man immer sofort, wer drin ist.“

Seltsam. Ich dachte, der Eiffelturm sei ab kurz vor Mitternacht für Besucher gesperrt. Was haben diese Störenfriede hier verloren? Das ist wahrscheinlich eine Mutprobe oder eine dieser dummen Wetten unter Jugendlichen, wo es darum geht, heimlich eine Nacht auf dem Eiffelturm zu verbringen. Bestimmt haben sie sich hier oben versteckt, als der letzte Aufzug nach unten gefahren ist.

Ich denke kurz darüber nach, ob ich sie erschrecken soll, das würde sie ganz sicher vertreiben. Aber das ist mir zu viel Aufwand, ich hänge hier gerade so schön. Und wenn man jung ist, darf man auch ruhig ein paar Dummheiten machen. Ich war in dem Alter nicht anders. Am besten, ich versuche, sie zu ignorieren. Vielleicht kann ich ja sogar ein bisschen schlafen? So ein unerwarteter nächtlicher Ausflug macht doch ganz schön müde, muss ich feststellen. Ich sollte nur aufpassen, dass ich rechtzeitig wieder aufwache – in dieser Höhe geht die Sonne ein paar Minuten früher auf. Aber das dürfte eigentlich kein Problem sein, meine innere Vampiruhr hat zum Glück einen eingebauten Sonnenwecker.

Ich schließe meine Augen.

„Was machen wir jetzt?“

„Ich weiß nicht. Einfach klopfen?“

„Vielleicht erst mal reingucken, ob er auch wirklich drin ist? Oma hat mal erzählt, dass er sich zum Schlafen manchmal in den Kleiderschrank hängt, weil das besser für seinen Rücken ist.“

Hm, das mit dem Ignorieren ist doch schwieriger, als ich dachte.

Ruhe da unten, ihr Quasselstrippen! Ich will schlafen!

„Okay, dann klapp den Deckel auf.“

„Ich? Wieso ich?“

„Weil du der Älteste bist.“

„Dafür kann ich nichts. Außerdem wolltet ihr ihn unbedingt wecken.“

„Also, meine Idee war das nicht. Das war unsere kleine Miss Ungeduld hier.“

„Gar nicht! Ich bin keine Miss Ungeduld! Ich bin eine Miss Vollgeduld! Aber der Opa ist ein Mister Vollschlafmütze! Er soll jetzt endlich aufstehen! Wir haben doch schon alles so schön vorbereitet! Los, mach den Deckel auf!“

Hihi, lustig. Die drei hören sich fast genauso an wie meine Enkelkinder, Globine, Vira und Rhesus. Denen würde es hier oben ganz sicher auch gefallen. Mal sehen, sobald sie alle drei fliegen können, nehme ich sie vielleicht einmal mit hierher.

„Okay, okay, ich mach ja schon. Aber wenn er sauer wird, sage ich sofort, dass das deine Idee war.“

Ein quietschendes Knarren dringt an mein Ohr. Was treiben diese Racker denn bloß da unten? Wenn das so weitergeht, muss ich wohl doch mal nach dem Rechten sehen. Nicht, dass die meinen schönen Eiffelturm auseinandernehmen.

„Und? Ist es Opa?“

„Na klar, wer soll es denn sonst sein? Der Weihnachtsmann?“ „Weihnachten ist doch noch gar nicht, du Blödmann. Es ist so dunkel hier unten und ich bin zu klein. Ich kann ihn nicht richtig sehen.“

„Warte, ich heb dich hoch.“

„Und ich mache Licht, Moment.“

Na, das wird wohl nichts mit meinem kleinen Schläfchen. Ich wechsle besser den Standort und versuche es mal in Notre Dame, vielleicht ist da ja weniger los. Ich öffne meine Augen und …

„AAAAAAAAAAAHHHHHHH!“ Plötzlich werde ich von einem sehr grellen Licht geblendet. „DIE SONNE!“

Verflucht! Wo kommt die denn so plötzlich her? Ist das vielleicht eine dieser verrückten, neumodischen Zeitumstellungen? Falls ja, hat meine innere Uhr offensichtlich nichts davon mitbekommen. Aber egal wieso, ich muss schleunigst hier weg, falls es noch nicht zu spät ist!

Ich löse meine Krallen von der Spitze des Eiffelturms und breite meine Flügel aus. Das heißt, ich versuche, meine Flügel auszubreiten, aber es gelingt mir nicht, weil ich auf einmal unerklärlicherweise zwischen irgendetwas feststecke. Panisch zappele ich mit all meinen Gliedmaßen, bis ich meine Flügel wieder ausbreiten kann. Komisch, ich fühle mich gar nicht mehr so jung und unbeschwert wie vorhin. Meine Flügel lassen sich nur sehr mühsam bewegen, als wären sie zwei lahme Ackergäule. Ich versuche, an Höhe zu gewinnen, bleibe aber irgendwo hängen. Ein lautes Poltern ertönt und ich lande hart rücklings auf dem Boden. Seltsam, ich hätte gedacht, ein Sturz von der Spitze des Eiffelturms dauert viel länger. Und noch seltsamer: Das Sonnenlicht bewegt sich hin und her, mal ist es da, im nächsten Moment ist es verschwunden.

Ich kneife meine Augen zu und höre ein Kichern.

„Alles okay da unten?“, fragt jemand.

„Jetzt mach doch mal das Licht aus, du blendest ihn ja“, sagt eine andere Stimme.

„Hast du dir wehgetan?“, fragt eine dritte Stimme besorgt. „Wir wollten dich nicht erschrecken.“

Die Sonne geht aus. Ich blinzle und kann ein paar Konturen ausmachen. Über mir stehen drei Gestalten und blicken auf mich herab. Ich sehe mich verwirrt um und erkenne, dass ich mich offenbar in einem Gewölbe befinde. Links neben mir liegt ein umgekippter Sarg auf dem Boden, rechts von mir steht ein weiterer Sarg auf einem steinernen Sockel. So langsam dämmert es mir – ich bin ganz eindeutig nicht in Paris.

„Haben wir ihn kaputt gemacht?“, fragt die kleinste der Konturen besorgt.

„Quatsch“, erwidert die größte. „Das ist Opa, der geht nicht so schnell kaputt.“

„Na ja, er ist nicht mehr der Jüngste“, sagt die mittelgroße Kontur. „Hoffentlich ist er nicht auf den Kopf gefallen. Er sieht so aus, als würde er uns nicht erkennen.“

Oh doch, jetzt erkenne ich die drei Gestalten vor mir – die Ähnlichkeit ihrer Stimmen zu meinen drei Enkelkindern war kein Zufall, das sind nämlich unverkennbar Globinchen, Vira und Rhesus. Und im selben Moment fällt mir auch wieder ein, wieso sie mich hier in aller Abendfrühe gnadenlos aus meinem wundervollen Paris-Traum reißen konnten, anstatt bei ihrer Mutter zu sein, wo sie eigentlich hingehören. Die ist nämlich tatsächlich gerade in Paris, mit ihrer Mutter, für ein ausgiebiges Wellness-Wochenende in den Katakomben. Jawohl, meine Tochter und meine liebste Gattin haben mich, ohne mit der Wimper zu zucken, mit diesen drei Traumzerstörern allein gelassen. Und zwar zum allerersten Mal. Ich musste noch nie zuvor auch nur auf ein einziges Enkelkind aufpassen. Dementsprechend groß war meine Sorge, dieser Aufgabe nicht gerecht zu werden. Schließlich weiß man bei Kindern nie, was sie alles anstellen. Da passt man vielleicht einmal kurz nicht auf, und schon hat man ein bis drei Enkel weniger, weil man sie nicht richtig gefüttert oder zur falschen Tageszeit vor die Tür gelassen hat. Dass ich beim Babysitten aber eher Sorge um mich haben muss, war mir nicht klar. Und dass der zweite Tag damit beginnt, sehr unsanft vom Eiffelturm geschubst zu werden, habe ich auch nicht kommen sehen.

„Opa?“, fragt Globinchen und kommt zaghaft ein Stück näher. „Opa, weißt du, wer ich bin?“

„Natürlich weiß ich das“, antworte ich. „Ihr seid die hochwohlgeborene Königin von England! Wie schön, Sie zu treffen, Eure Majestät! Sie sehen bezaubernd aus, wie immer!“

„Auweia“, flüstert Globinchen den anderen erschrocken zu. „Ich glaube, wir haben ihn doch kaputt gemacht.“

„Mitnichten, Eure Majestät!“, sage ich. „Ich habe mich noch nie so unkaputt gefühlt wie jetzt! Das schreit nach einem Freudentänzchen! Tanzen Sie mit mir, Eure Hoheit!“

Ich stehe auf, schnappe mir Globinchen, hebe sie nach oben vor meine Brust und wirbele mit ihr durch die Gruft.

„Hut ab, Majestät!“, sage ich und fange an, irgendetwas zu summen. „Eure Musikauswahl ist exzellent! Das war schon immer mein Lieblingslied!“

„Hilfe!“, ruft Globinchen den anderen zu. „Opa ist verrückt geworden!“

„Ist er nicht“, sagt Vira grinsend. „Er veräppelt dich doch nur.“

„Eure Kammerzofe ist sehr vorlaut, Majestät!“, sage ich. „Das muss bestraft werden!“

Ich setze Globinchen auf meine Schultern und schnappe mir stattdessen Vira vor die Brust.

„Gut festhalten da oben, Majestät! Jetzt geht es rund!“

Ich drehe ein paar Pirouetten mit den beiden, Globinchen krallt sich in mein Fell.

„Nicht so schnell, Opa!“, quiekt sie jauchzend. „Mir wird schwindelig!“

„Opa?“, erwidere ich. „Wo ist denn hier ein Opa? Ich sehe keinen Opa!“

„Du!“, ruft Globinchen. „Du bist der Opa!“

„Ich?“, erwidere ich. „Das kann nicht sein! Ich bin der Graf von und zu Rundherum-Fitzefatz! Niemand dreht sich so schnell wie ich!“

Immer schneller und schneller vollziehe ich meine Pirouetten. Globinchen quiekt laut, während Vira albern vor sich hin kichert. Huch! Da ist ja dieses grelle Licht wieder, das ich für die Sonne gehalten habe. Aha, nun weiß ich auch, wer es verursacht hat – es war Rhesus mit seinem Handy. Er leuchtet uns damit an und lacht.

„Das ist super!“, sagt er. „Ich mache ein Video. Das stelle ich nachher gleich auf BlutTube, das wird ein Hit!“

„Machst du nicht“, entgegnet Vira. „Dafür brauchst du nämlich unsere Erlaubnis. Und ich erlaube es schon mal nicht.“

„Ich auch nicht“, sage ich. „Ich bin zu alt, um mich im Internet lächerlich zu machen.“

„Mama sagt, kleine Kinder sollen nicht ins Internet“, erklärt Globinchen. „Und Mama hat immer recht, also erlaube ich das auch nicht.“

„Och, menno“, motzt Rhesus und lässt sein Handy sinken. „Ihr seid echt voll die Spielverderber.“

„Sind wir gar nicht!“, erwidert Globinchen. „Wir spielen nämlich voll gern und voll viel!“

„Das stimmt“, schnaufe ich und höre auf, mich zu drehen, weil mir selbst langsam schwindelig wird. „Vor allem spielt ihr offenbar gern Opa-Quälen.“

„Aber wir wollten dich gar nicht quälen, Opa!“, widerspricht Globinchen. „Wir wollten dich nur wecken!“

„Aha. Und warum?“

„Na, weil wir doch alles so schön vorbereitet haben!“, antwortet Globinchen. „Und weil alle oben auf dich warten!“

Wie? Was soll das heißen, alle warten auf mich? Wer sollte denn … Oh! Natürlich! Jetzt fällt es mir wieder ein! Mein Gehirn braucht abends in letzter Zeit etwas länger, um in Schwung zu kommen. Außerdem verspüre ich leichte Kopfschmerzen, die ich mir nun allerdings sehr plausibel erklären kann – das waren dann wohl doch ein oder zwei Gläschen Blutlikör zu viel gestern, ich bin das nicht mehr gewohnt. Aber es gab schließlich einen sehr, sehr guten Grund zum Feiern: Ich durfte nach etlichen Jahren, größtenteils sogar nach Jahrzehnten, einige meiner liebsten Freundinnen und Freunde wiedersehen! Yeti, Archie, Bobo und Tallulah, Jack, alle standen plötzlich vor der Tür. Dieses unverhoffte Treffen habe ich den drei Rackern hier zu verdanken, vor allem Rhesus. Nachdem Globinchen und Vira beim Spielen mein altes Fotoalbum entdeckt hatten und ich ihnen die Geschichten zu den Bildern erzählen sollte, hat Rhesus mit seinem Handy heimlich Archie und Bobo kontaktiert, und Archie hat sofort alle mit einem seiner Privatjets eingesammelt und hierhergebracht. Und dann haben wir zusammen bis kurz vor Sonnenaufgang die größte Monsterparty aller Zeiten gefeiert – es ist also kein Wunder, dass ich mich noch nicht allzu frisch fühle um diese frühabendliche Uhrzeit.

„Na, dann sollten wir sie besser nicht länger warten lassen, oder?“, sage ich und setze Vira und Globinchen auf dem Boden ab.

Die zwei Mädchen stürmen voran, Rhesus und ich folgen ihnen. Wir verlassen die Gruft und durchqueren die Eingangshalle im Erdgeschoss, bis wir vor der hohen Schwingtür zum großen Festsaal stehen bleiben.

„Du musst die Augen zumachen, Opa!“, befiehlt mir Globinchen. „Damit du noch mehr überrascht bist, wie schön wir alles gemacht haben!“

„Na gut“, sage ich und schließe die Augen. „Da bin ich ja mal gespannt.“

Ich höre, wie die Tür sich öffnet. Globinchen greift nach meiner Hand und zieht mich hinter sich her in den Saal. Leises Gemurmel, das schließlich verstummt. Globinchen zieht mich noch ein Stück weiter, dann bleiben wir stehen.

„Darf ich jetzt?“, frage ich.

„Warte, ich zähle bis drei!“, sagt Globinchen. „Eins … zwei … drei!“

Ich öffne die Augen und sehe … die wahrscheinlich abenteuerlichste Abendstücktafel aller Zeiten. Und damit meine ich nicht die illustre Runde von Gästen, die um den großen Tisch herumsitzt. Ich meine den Tisch an sich, oder besser gesagt: das, was sich alles kreuz und quer verteilt darauf befindet. Vor jedem Platz stehen mindestens drei unterschiedlich große Teller in unterschiedlichsten Farben. Weiß, blau, grün, braun, Teller mit Blumenmuster, gestreifte Teller, karierte Teller, halbe Teller, von denen aber nicht zwei Hälften zusammenpassen, flache Teller, tiefe Teller, umgedrehte Teller … Es herrscht ein einziges, heilloses Tellerchaos auf diesem Tisch. Das Gleiche gilt für die Trinkbehälter. Gläser, Tassen, Karaffen, Blumenvasen, leere Konservendosen, jeder hat mindestens zwei verschiedene Gefäße vor sich stehen. Eingerahmt, um nicht zu sagen, umzingelt sind die unzähligen Teller und Trinkgefäße von einer Armee an gefallenen Bestecksoldaten. Messer, Gabeln, Löffel, Spieße, Kellen in allen möglichen Größen und Materialien, für jeden mindestens neun an der Zahl, belagern die Tafel in keiner Ordnung folgenden Formation – es sieht aus wie nach einer Schlacht, die alle verloren haben. Ebenfalls wild über die Tischplatte verteilt befinden sich vermutlich sämtliche Lebensmittel, die dieses Schloss vorrätig hat. In Schüsseln, in Suppenkaraffen, auf Tellern, auf Holzbrettern, unter Glasglocken, auf selbst gebastelten, wackligen Etageren aus Pappe, überall türmen sich die unterschiedlichsten Speisen auf, von denen ich größtenteils nicht einmal wusste, dass es sie überhaupt gibt. Sind das etwa rote Bananen? Wo kommen die denn her? Und die roten Waffeln, die sogar noch dampfen? Die roten Eier kenne ich, die sind aus dem Kühlschrank, dafür hält Selena extra die Marans-Hühner hinten im Schlossgarten. Und rote Paprikaschoten haben wir immer im Haus. Aber roten Käse? Und rote Brötchen?

„Was … Wie … Wo kommt denn das alles her?“, frage ich überwältigt.

„Das war Onkel Archie!“, sagt Globinchen und zeigt auf meinen allerbesten Werwolf-Freund, der am Ende der Tafel sitzt.

„Ich bekenne mich schuldig“, sagt Archie breit grinsend. „Wofür hat man denn schließlich einen Privatjet mit einem französischen Koch an Bord? Ich habe ihn losgeschickt, bevor wir schlafen gegangen sind. Sein Auftrag lautete, uns das röteste Mahl aller Zeiten zusammenzustellen. All diese Sachen beinhalten zwar kein Blut, aber ich hatte gehofft, dass die Farbe vielleicht dabei hilft, nicht von diesen drei kleinen Monstren angeknabbert zu werden.“

Globinchen schaut ihn empört an. „Was denkst du denn von uns, Onkel Archie? Ich würde dich nie anknabbern! Dann hab ich nämlich lauter Haare im Mund und das ist eklig!“

Sie kichert und streckt Archie kurz die Zunge raus.

„Na, da habe ich aber Glück gehabt, dass ich ein ganz und gar pelziger Werwolf bin!“ Er grinst wieder.

„Du hast extra dieses ganze Essen für uns einfliegen lassen?“, frage ich erstaunt. „Das ist ja fantastisch.“

„Den Tisch haben wir aber gedeckt“, sagt Globinchen. „Ganz allein!“

„Ich habe damit nichts zu tun.“ Rhesus hebt abwehrend die Hände. „Das waren Globinchen und Vira.“

„Also, eigentlich hauptsächlich Globinchen“, fügt Vira hinzu. „Sie war nicht zu stoppen.“

„Ja das … sieht man …“ Ich blicke mich um und seufze. „Ich bin gespannt, was eure Oma dazu sagen wird.“

„Sie wird sagen, dass das der wunderschönste Abendstückstisch aller Zeiten und für immer ist!“, ruft Globinchen. „Mach mal bitte schnell ein Foto, Rhesus, bevor alles wieder unordentlich ist.“

„Das dürfte schwierig werden“, sagt er und zückt sein Handy. „Wahrscheinlich ist es nach dem Essen wesentlich ordentlicher.“

„Gar nicht!“, erwidert Globinchen. „Das ist alles voll ordentlich jetzt! Ich habe nämlich … Hahaha! Guckt mal, da! Schnell, davon musst du auch ein Foto machen, Rhesus! Da drüben, neben Opa! Da läuft ein Popo durch die Luft! Hahaha!“

Ich blicke nach rechts. Tatsache, neben mir schwebt ein nackter Hintern. Im nächsten Moment spüre ich, wie sich ein Arm um mich legt.

„Guten Abend, Vlad“, höre ich die Stimme meines alten Freunds Jack. „Hast du die Party gut überstanden? Bist ja auch nicht mehr der Jüngste, nicht wahr?“

Obwohl ich sein Gesicht nicht sehen kann, bin ich mir sehr sicher, dass er gerade breit grinst und mir zuzwinkert.

„Na, das sagt ja der Richtige“, erwidere ich und zwinkere zurück. „Was ist denn da los? Allzu frisch sieht das auch nicht mehr aus.“

Ich zeige grinsend auf seinen Hintern.

„Oh, das“, sagt er amüsiert. „Ja, das passiert manchmal, meine Unsichtbarkeit lässt in letzter Zeit stellenweise immer wieder mal nach.“

„Na, gut, dass du mittlerweile in Rente bist“, sage ich. „Als unsichtbarer Geheimagent wäre es sicher sehr unpraktisch, wenn deine Gegner plötzlich so eine Zielscheibe vor sich aufleuchten sehen.“

„Das stimmt allerdings“, sagt Jack lachend. „Zum Glück ist mir das nie im Einsatz passiert.“