Memento Monstrum - Jochen Till - E-Book

Memento Monstrum E-Book

Jochen Till

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Beschreibung

Warnung! Dieses Buch enthält Graf Draculas ziemlich wahre Memoiren. Und es kommen jede Menge abscheuliche Kreaturen darin vor. Riesenhafte Yetis, hinterlistige Werwölfe, schleimige Fischmonster … Lies es besser nicht! Du könntest Dinge erfahren, die du bisher nicht über Monster wusstest. Haarsträubende Dinge, die diese Ungeheuer freundlich, ja geradezu menschlich erscheinen lassen. Also, hör auf meinen Rat, du hast nur diese eine Chance: Leg das Buch schnell weg und geh weiter, bevor du in seine Fänge gerätst! Hochachtungsvoll Van Helsing

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Seitenzahl: 149

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eISBN 978-3-649-63765-3

© 2020 Coppenrath Verlag GmbH & Co. KG,

Hafenweg 30, 48155 Münster

Alle Rechte vorbehalten, auch auszugsweise

Text: Jochen Till

Illustrationen: Wiebke Rauers

Lektorat: Jutta Knollmann

Satz: Helene Hillebrand

www.coppenrath.de

Das Buch erscheint unter der ISBN 978-3-649-63010-4.

Jochen Till

Nach einer Idee und mit Illustrationen von Wiebke Rauers

Inhalt

Die Geschichte von Yeti und Vlad

Wie aus einem Fisch ein Freund wurde

Die Geschichte von der Mumie, die keine war

Die Geschichte des beinahe weltberühmten Werwolfs Archibald Ferguson

Abschied nehmen ist so schwer. Und nie war es so schwer wie heute, in all meinen 589 Lebensjahren nicht. Unzählige Kriege habe ich schadlos überstanden, etliche Naturkatastrophen konnten mir nicht den Garaus machen, Feuersbrünste sind einfach an mir abgeprallt, selbst die vielen Mordanschläge des heimtückischen Van Helsing habe ich überlebt. Ob ich die vor mir liegende Zeit heil überstehen werde, ist allerdings äußerst fraglich. Wie soll ich das nur ohne sie schaffen? Vielleicht hilft ja ein letzter flehender Blick aus meinen blutunterlaufenen Augen?

Geh nicht, Selena! Ich brauche dich doch! Ohne dich bin ich verloren!

„Ach, Hasenpups, jetzt guck doch nicht so“, sagt sie. „Man könnte glatt denken, die Welt geht gleich unter. Ich bin ja nur zwei Tage weg.“

Nur zwei Tage. Das sind nicht einfach nur zwei Tage. Normalerweise hätte ich kein Problem damit, zwei Tage ohne sie zu sein. An allen anderen zwei Tagen würde ich die ganze Zeit faulenzen und dabei sehr laut alte Schallplatten hören oder meine Lieblingsfilme gucken und eimerweise Blutorangeneis verputzen, bis mir schlecht wird. Aber all das geht in den nächsten zwei Tagen leider nicht. Weil ich zwar ohne meine geliebte Frau Selena, aber nicht allein sein werde. Weil sie hier sind. Die vollen zwei Tage. Ohne Pause. Ich kann es immer noch nicht fassen. Wieso tut sie mir das an? Warum überlässt sie mich einfach so diesen … diesen Monstern?

„Hihi“, sagt Aima kichernd. „Ich glaube, Opa hat Angst vor euch, Kinder.“

Na toll. Jetzt fällt mir auch noch meine eigene Tochter in den Rücken. Aber das sollte mich eigentlich nicht wundern, schließlich hat sie mir das alles eingebrockt. Sie musste ja ihrer Mutter ausgerechnet ein Wellness-Wochenende in Paris mit Übertagung in den Katakomben zum 400. Geburtstag schenken. Ohne mich zu fragen! Und dann bestimmt sie auch noch, dass ich die volle Zeit auf diese drei Rabauken aufpassen soll. Und ich darf sie nicht einfach in den Keller sperren, das sei keine gute pädagogische Maßnahme, sagt Aima.

„Stimmt das, Opa?“, fragt Globine, die Kleinste, und sieht mich mit großen Augen an. „Hast du Angst vor uns?“

„Hat er nicht“, sagt Vira, ihre Schwester. „Opa hat vor gar nichts Angst. Außer vor Sonnenlicht.“

„Und vor zu viel Verantwortung“, fügt Selena hinzu. „Stimmt’s, Hasenpups? Du machst dir doch nur Sorgen, weil du noch nie mit drei Kindern allein warst.“

Nein. Es ist noch schlimmer. Ich war noch nie auch nur mit einem einzigen Kind allein. Selena hat sich immer um alles gekümmert. Ich habe nicht die geringste Ahnung von Kindern. Ich weiß nicht, wie man sie füttert. Oder womit. Oder wann sie wie lange Zähne putzen müssen. Oder schlafen gehen. Alles, was ich weiß, ist, dass sie tagsüber auf gar keinen Fall nach draußen dürfen. Aber was passiert, wenn ich eins aus den Augen verliere? Oder alle drei? Kinder machen doch immer Blödsinn und hören nicht auf Erwachsene. Was, wenn sie aus reiner Abenteuerlust irgendeine Tür nach draußen öffnen? Dann kann ihre Mutter nur noch ein Häufchen Asche in die Arme schließen, wenn sie zurückkommt. Und ich bin daran schuld. Davor habe ich tatsächlich Angst.

„Na ja“, sage ich, „was ist, wenn ich mal kurz nicht aufpasse und sie sterben?“

„Ach, Mäuseschwänzchen, das hatten wir doch alles schon.“ Selena nimmt ihren Koffer. „Was soll denn passieren? Wir sind Vampire. Uns bringt so schnell nichts um. Du musst sie nur rechtzeitig vor Sonnenaufgang in ihre Särge bringen, ich habe in der Kindergruft alles vorbereitet. Im gesamten Haus sind Wecker verteilt, die dich daran erinnern werden. Und im Kühlschrank steht genug Blutsurrogat für eine Woche, verhungern werdet ihr also auch nicht.“

„Trotzdem“, sage ich seufzend. „Wieso kann denn Cassidy nicht auf sie aufpassen?“

Eine berechtigte Frage, oder? Vaterpflichten kommen vor Opapflichten. Opas haben eigentlich keine Pflichten, das ist ja das Schöne daran, Opa zu sein. Das funktioniert nur leider nicht, wenn die Mutter in Paris ist und der Vater sich was weiß ich wo befindet. Aber Aima musste sich ja auch unbedingt in einen Vampir-Aktivisten verlieben, der sich ständig in der Weltgeschichte herumtreibt, um für den Fortbestand unserer Art zu kämpfen.

„Papa ist bei den Irren“, sagt Globinchen. „Da macht er ein Brimbosium.“

„Das heißt Symposium“, verbessert sie Vira.

„Und er ist auch nicht bei den Irren, sondern bei den Iren, Schätzchen“, fügt Aima hinzu und wendet sich an mich. „In Dublin findet ein Kongress der Vampiristischen Gesellschaft zum Thema Effektiver Sonnenschutz statt. Aber das habe ich dir schon letzte Woche am Telefon erzählt, Papa.“

Hat sie das? Ich erinnere mich nicht daran. Passiert mir öfter in letzter Zeit. Als ich vorgestern Nacht zum ersten Mal seit Wochen wieder meine morschen Flügel auf einem kleinen Rundflug über die Berge in Schwung bringen wollte, habe ich doch glatt meine Hose vergessen. Zum Glück hat mich niemand gesehen!

„Dein Vater ist in letzter Zeit ein bisschen vergesslich“, sagt Selena. „Er geht ja auch langsam auf die 600 zu.“

„Geh ich gar nicht“, widerspreche ich. „Bis dahin sind es noch elf Jahre. Und ich bin noch genauso gut in Form wie mit 200. Mindestens.“

„Na, dann schaffst du es auch spielend leicht, zwei Tage lang auf drei Kinder aufzupassen“, sagt Selena und zwinkert mir zu.

„Rhesus hilft dir auch dabei“, sagt Aima. „Er ist nämlich schon ein großer Junge. Nicht wahr, Rhesus?“

Mein Enkelsohn antwortet nicht. Weil er gar nicht zugehört hat. Weil er ständig auf sein Handy starrt und darauf herumtippt.

„Rhesus?“, hakt seine Mutter nach. „Hast du mich gehört? Du hilfst Opa dabei, auf deine beiden Schwestern aufzupassen. Haben wir uns verstanden?“

„Haha, der war gut, Mama!“, sagt Vira lachend. „Der Blödian kann höchstens auf uns aufpassen, wenn wir in seinem Spiel auftauchen! Und selbst dann würde er uns wahrscheinlich noch aus Versehen abknallen!“

„Selber Blödian“, erwidert Rhesus, ohne von seinem Handy aufzublicken. „Gibt’s hier eigentlich WLAN? Ich muss mir unbedingt mehr Silberkugeln runterladen, sonst erwische ich diese blöden Werwölfe nie alle.“

„Wieso sind die Werwölfe denn blöd?“, will Globinchen wissen. „Haben die in der Schule nicht aufgepasst?“

„Keine Ahnung“, brummt Rhesus. „Die sind unsere Feinde und Feinde sind blöd. Deswegen knalle ich sie alle ab.“

„Kannst du nicht mal für eine Minute mit deinem dämlichen Spiel aufhören?“, stöhnt Aima genervt. „Wenn du so weitermachst, wirst du selbst noch blöd. Steck das Handy weg. Los, sofort!“

„Aber, Mama, ich bin doch kurz vorm nächsten Level!“, protestiert Rhesus.

„Sofort, habe ich gesagt!“, knurrt Aima. „Du kannst später weiterspielen. Aber nur, wenn Opa es erlaubt. Und Opa ist kein großer Fan von solchen Sachen. Also los, weg mit dem Ding!“

„Okay, okay, ich hör ja schon auf“, murrt Rhesus und steckt das Handy in seine Hosentasche.

„Sehr gut“, sagt Aima. „Und jetzt kommt mal her und drückt mich alle ganz fest zum Abschied, ihr süßen Flattermäuse.“

Die Mädchen fallen ihrer Mutter um den Hals und küssen ihre Wangen, bei Rhesus muss Aima etwas nachhelfen und ihn an sich heranziehen.

„Seid schön brav“, sagt sie. „Nur zweimal schlafen und ich bin wieder da.“

„Genau“, sagt Selena grinsend und drückt mich ebenfalls. „Nur zweimal schlafen und ich bin wieder da, mein Hasenpups.“

„Sehr witzig“, brummle ich.

„Du wirst es überleben“, sagt sie und küsst mich. „Und die Kinder auch.“

Ja, das werden wir wahrscheinlich. Ich weiß nur noch nicht wie.

Die Kinder und ich begleiten Aima und Selena noch nach draußen und winken ihnen in den Nachthimmel hinterher, bis sie außer Sichtweite sind. Dann bin ich mit meinen Enkeln allein.

„Und was machen wir jetzt?“, frage ich. „Habt ihr schon zu Abend gefrühstückt?“

„Ja“, antwortet Vira. „Mama hat uns extra Blutwurstbrote für die Fahrt geschmiert.“

„Ich hab aber Hunger“, sagt Globinchen. „Kann ich einen Lolli?“

„Ein Lolli hilft doch nicht gegen Hunger“, sage ich schmunzelnd. „Ein Lolli ist nur was zum Naschen.“

„Dann will ich was zum Naschen.“ Globinchen sieht mich mit ihren großen Kulleraugen an. „Einen Lolli!“

„Kriegst du“, sage ich. „Welche Blutgruppe magst du denn am liebsten?“

„B!“, antwortet Globinchen. „Die sind am leckersten!“

„Stimmt.“ Ich nicke. „Das sind auch meine Lieblingslollis. Noch jemand einen?“

„Für mich einen A, bitte“, sagt Vira. „B ist mir zu süß.“

„Rhesus?“ Ich sehe den Ältesten an.

Er ist schon wieder in sein Handy vertieft und reagiert nicht auf meine Frage.

„Rhesus?“, hake ich nach. „Auch einen Lolli?“

„Was? Äh … ja, gern“, murmelt er abwesend. „B, bitte.“

„Das wären also zweimal B und einmal A für euch. Und einmal B für mich“, stelle ich fest. „Jetzt muss ich nur noch herausfinden, wo Oma die Lollis versteckt hat. Sie will nicht, dass ich so viel nasche, damit mein Blutspiegel nicht zu hoch steigt. Und auf mein Fluggewicht soll ich auch achten. Als ob ein Lolli so schwer ist! Aber keine Sorge, mittlerweile kenne ich fast all ihre Verstecke. Wir treffen uns gleich in der Bibliothek. Kennt ihr den Weg?“

„Ja“, antwortet Vira. „Das ist mein Lieblingsort hier im Schloss. Da gibt’s ganz viele tolle Bücher.“

„Ich kann aber noch nicht lesen“, seufzt Globinchen.

„Das macht nichts“, sagt Vira. „Ich kann dir ja was vorlesen.“

„Au ja!“, jubelt Globinchen. „Ich mag vorlesen!“

„Ich weiß.“ Vira lächelt.

„Rhesus, geh bitte mit deinen Schwestern mit“, sage ich. „Ich möchte, dass ihr zusammenbleibt. Das Schloss ist so groß, selbst ich verlaufe mich hier noch manchmal.“

„Okay“, sagt Rhesus und läuft los, ohne von seinem Handy aufzublicken.

Als er am Treppenabsatz angekommen ist, stolpert er über die erste Stufe und kann sich gerade noch am Geländer festhalten, um nicht hinzufallen.

„Mist“, flucht er. „Jetzt ist mir doch glatt dieser blöde Werwolf entwischt!“

Ich mache mich auf den langen Weg nach unten in die Küche. Selena hat schon recht, wenn sie immer sagt, dieses Schloss ist eigentlich viel zu groß für uns. Und zu alt. Und zu teuer. Allein die Heizkosten im Winter sind so hoch, dass Selena letztes Jahr einen Flugjob für Über-Nacht-Pakete bei einem Kurierdienst annehmen musste. Dabei nutzen wir nur noch den Westflügel, nachdem uns im Ostflügel beim Teetrinken das Dach über den Köpfen eingestürzt ist. Zum Glück ist das kurz vor Sonnenaufgang passiert – nur fünf Minuten später und wir wären beide gebrutzelt worden.

Es wäre sicher vernünftig, das Schloss zu verkaufen, aber ich habe es bisher nicht übers Herz gebracht, dafür hänge ich zu sehr an dem alten Kasten.

In der Küche angekommen, suche ich systematisch Selenas übliche Süßigkeiten-Verstecke ab und werde im doppelten Boden der Besteckschublade schließlich fündig. Ah, hier ist ja alles, was das Schlemmerherz begehrt – Kekse, Schokolade, Blutgummibärchen und Lollis. Ich packe von allem etwas auf einen großen Teller, öffne den Kühlschrank und stelle wieder einmal fest, dass ich die beste Frau der Welt habe – Selena hat extra noch eine Karaffe Blutorangen-Eistee für uns vorbereitet. Mit einem voll beladenen Tablett mache ich mich auf den Weg.

Als ich in der Bibliothek ankomme, gleitet mir das Tablett vor Schreck fast aus den Händen. Beinahe die gesamte untere Hälfte meiner Buchregale ist leer. Überall liegen Bücher auf dem Boden und mittendrin sitzen die beiden Mädchen und stapeln sie um sich herum auf.

„Was … Was macht ihr denn da?“, frage ich entsetzt.

„Das ist super, nicht wahr, Opa?“, sagt Vira. „Ich wollte schon immer mal ein Haus aus Büchern bauen. Und du hast so schön viele.“

„Ja, ein Bücherhaus!“, ruft Globinchen glücklich. „Ich kriege ein eigenes Zimmer!“

Ich gucke Rhesus an, der auf dem Sofa sitzt und mit seinem Handy spielt.

„Ich habe ihnen gesagt, sie sollen dich erst fragen“, sagt er, ohne mich anzugucken. „Aber sie hören ja nie auf mich.“

„Wir räumen auch alles später wieder auf, Opa“, verspricht Vira.

„Ja“, fügt Globinchen hinzu. „Ich hab mir genau gemerkt, wo jedes Buch drin war.“

„Na, da bin ich ja mal gespannt.“ Ich stelle das Tablett zwischen den Mädchen auf den Boden. „Greift zu! Aber passt bitte auf, dass ihr die Bücher nicht verschmiert.“

Ich schnappe mir zwei Lollis vom Teller und setze mich neben Rhesus auf die Couch.

„Hier“, sage ich und strecke ihm einen der Lollis entgegen. „Du wolltest doch B, oder?“

„Ja, danke.“ Rhesus nimmt ihn mit seiner freien Hand entgegen, während er mit der anderen weiter sein Handy bearbeitet.

„Mmmh, die sind lecker, oder?“, sage ich und bekomme ein abwesendes Nicken als Antwort.

„Wie lange dauert so ein Spiel eigentlich?“, frage ich ihn.

„Lange.“

„Und da muss man Werwölfe töten?“

„Ja.“

„Hast du denn schon mal einen Werwolf persönlich getroffen?“

Kopfschütteln.

Ich wende mich den Mädchen zu. Sie sind fast fertig mit ihrem Bücherhaus.

„Da muss aber noch ein Dach drauf“, stelle ich fest. „Sonst ist es kein richtiges Haus.“

„Für das Dach bräuchten wir ein Brett“, sagt Vira. „Oder größere Bücher.“

„Da oben sind ganz viele.“ Globinchen zeigt auf das oberste Fach eines Regals. „Aber da kommen wir nicht dran. Kannst du uns helfen, Opa? Wir können doch noch nicht fliegen.“

Stimmt, Vampirkinder lernen ja erst mit zwölf fliegen. Ich weiß noch, wie ich es Aima beigebracht habe, am großen Fenster im obersten Stock des Westflügels. Es kommt mir vor, als sei es gestern gewesen, dabei ist das jetzt auch schon wieder über fünfzig Jahre her.

„Ich kann hier drinnen leider auch nicht fliegen“, gebe ich zu. „Seit ein paar Jahren brauche ich immer ein bisschen Wind, sonst komme ich nicht vom Boden hoch. Aber das kriegen wir schon irgendwie hin.“

Das hoffe ich zumindest. Hm, die Leiter steht in der Abstellkammer in der Küche, dafür bin ich gerade zu faul. Ich nehme also einen Stuhl und schiebe ihn an das Regal heran.

„Das wird nicht reichen“, bemerkt Vira und sie hat leider recht – sosehr ich mich auch recke und strecke, es fehlt immer noch ein ganzes Stück.

„Du musst den Stuhl auf den Tisch stellen, Opa“, sagt Globinchen.

Die Mädchen helfen mir, den Tisch an das Regal zu rücken und den Stuhl darauf zu platzieren. Ich klettere hinauf. Ganz schön wackelig. Ich balanciere auf einem Bein, um mein Gleichgewicht zu halten, und strecke meinen Arm nach oben aus. Als ich eines der Bücher zwischen Daumen und Zeigefinger zu fassen kriege, ziehe ich kräftig daran. Es bewegt sich leicht. Ich ziehe noch fester. Plötzlich gibt es einen Ruck, der Regalboden senkt sich leicht nach vorn, das Buch schießt mir entgegen und mit ihm alle anderen Bücher der obersten Reihe.

„Achtung da unten!“, rufe ich und halte schützend die Hände über den Kopf. „Buchlawine!“

Die Mädchen springen schnell unter den Tisch, während um sie herum die Bücher auf den Boden prasseln.

„Alles in Ordnung bei euch?“, frage ich, als das Gepolter aufgehört hat.

„Ja“, antwortet Vira. „Bei dir auch?“

„Ich glaube schon“, sage ich und klettere vorsichtig hinunter.

Ich atme tief durch. Jetzt sind die Kinder kaum eine halbe Stunde mit mir allein und ich hätte zwei davon bereits fast unter einem Bücherberg begraben.

Vira krabbelt unter dem Tisch hervor.

„Das war lustig“, sagt sie. „Können wir das nachher noch mal machen?“

„Äh, lieber nicht“, sage ich. „Wo ist denn Globinchen?“

„Mir ist fast ein Buch auf den Kopf gefallen“, klingt es unter dem Tisch hervor. „Da sind ganz viele Bilder drin.“

Vira und ich ziehen den Tisch über ihr weg.

Globinchen sitzt im Schneidersitz auf dem Boden und blättert in … meinem alten Fotoalbum! Das habe ich schon seit Jahrzehnten gesucht! Kein Wunder, dass ich es nicht gefunden habe, dort oben hätte ich es nie vermutet.

„Opa, wer ist das da neben dir?“, fragt Globinchen und zeigt auf eines der Fotos.

„Sieht aus wie der Yeti“, stellt Vira fest.

„Blödsinn“, brummelt Rhesus vom Sofa herüber. „Den gibt’s gar nicht, den Yeti. Der ist nur erfunden.“

„Ach ja?“, sage ich. „Und wieso habe ich dann ein Foto, auf dem wir beide zusammen drauf sind?“

„Photoshop“, erwidert Rhesus trocken.

„Oh Mann, ist der doof“, stöhnt Vira und verdreht die Augen. „Das Foto ist uralt. Da gab es noch gar kein Photoshop. Da gab es noch nicht mal Computer, du Blödian.“

„Selber Blödian“, gibt ihr Bruder zurück. „Man kann ja Fotos auch so bearbeiten, dass sie alt aussehen.“

„Das hier riecht aber auch alt“, sagt Globinchen. „Wie Opa.“

„Das Foto ist alt“, sagt Vira. „Und ganz bestimmt nicht gephotoshopt. Das sehe ich doch von hier.“

„Zeig mal her“, sagt Rhesus.

Globinchen steht auf und gibt ihm das Album. Ich setze mich neben ihn und Globine klettert auf meinen Schoß.

„Rutsch mal, Blödian“, sagt Vira. Sie schiebt ihren Bruder vehement ein Stück zur Seite.

„Das ist wirklich der Yeti?“ Rhesus betrachtet skeptisch das Foto.

„Nein“, antworte ich, „das ist die Yeti.“

„Der Yeti ist ein Mädchen?“, fragt Vira ungläubig.

„So ist es“, antworte ich. „Aber das weiß kaum jemand.“

„Sie sieht nett aus“, sagt Globinchen.

„Ja, das fand ich damals auch“, sage ich. „Sehr sogar.“

„Hihi“, kichert Rhesus. „Opa war in den Yeti verknallt.“

„In die Yeti“, verbessert ihn Vira. „Stimmt das, Opa?“

„Nein, war ich nicht“, antworte ich. „Das ist … kompliziert.“

„Erzähl es uns!“, fordert Globinchen.

„Ja, raus mit der Sprache“, hakt Vira nach. „Was war mit dir und Yeti?“

„Wollt ihr das wirklich wissen?“, frage ich. „Ich will euch nicht mit irgendwelchen alten Geschichten langweilen.“

„Ich mag alte Geschichten“, sagt Globinchen. „Ich mag ja auch meinen alten Opa. Nur alte Kekse mag ich nicht, die sind immer so hart.“

„Jetzt lass dich nicht so feiern, Opa“, sagt Rhesus und legt sein Handy beiseite. „Wir wollen alles wissen.“

Oh, ich bin ausnahmsweise einmal spannender als tote Werwölfe. Dann kann ich ja gar nicht anders.

„Na gut“, beginne ich. „Dann erzähle ich euch jetzt …“