Memento Mori - Patrick Seiser - E-Book

Memento Mori E-Book

Patrick Seiser

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Beschreibung

Die Zeiten haben sich geändert! Das einst mächtige Römische Reich steht am Rande des Unterganges. Germanenstämme teilen die Provinzen des Reiches unter sich auf, während skrupellose Generäle und Politiker um die Macht im Reich ringen. Der Traum von Rom scheint ausgeträumt, doch einige wenige haben ihn noch nicht begraben. Tapfere Männer wie Majorian, Ricimer oder Marcellinus versuchen, den sterbenden Giganten zu neuer Blüte zu führen. Doch die Aufgabe scheint unmöglich …

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Seitenzahl: 756

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2025 novum publishing gmbh

Rathausgasse 73, A-7311 Neckenmarkt

[email protected]

ISBN Printausgabe: 978-3-7116-0530-6

ISBN e-book: 978-3-7116-0531-3

Lektorat: Dr. Michaela Schirnhofer

Umschlagabbildung: 31moonlight31 | Dreamstime.com

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Widmung

Für Kathi, Verena und Karin

Vorwort

Rom, Italien, 455 n. Chr.

Sechzig Jahre nach der Teilung in das West- und Oströmische Reich steht das Westreich am Rande des Abgrundes. Andauernde Bürgerkriege und der schwelende Konflikt zwischen den Anhängern des Christengottes und jenen, die den alten Göttern und Bräuchen folgen, haben die Macht der Zentralregierung geschwächt. Barbarenstämme sind in das Reich eingebrochen und teilen die Provinzen und Reichtümer unter sich auf. Schwache Kaiser regieren im Schatten mächtiger Heermeister, denen ihr eigener Machterhalt mehr am Herzen liegt als die Geschicke des Reiches. Die große Bedrohung durch Attila und seine Hunnen haben die Grundfesten des römischen Reiches erschüttert und zerstört. Nun, da sich dieser Sturm gelegt hat, blicken die Römer einer ungewissen Zukunft entgegen. Ein starker Mann an der Spitze des Reiches könnte die Barbarenvölker unterwerfen und das Reich zu neuer Blüte führen. Doch ein solcher Mann ist nicht in Sicht.

Einleitung

Rom, Ende März, 455 n. Chr.

Mühsam kämpften sich die ersten Sonnenstrahlen des Tages durch die dicke Nebeldecke, jener Nebel, der die ewige Stadt bereits seit Tagen in seinem festen und eisigen Griff hielt. Das Volk selbst merkte jedoch wenig vom Sonnenaufgang. Gerade einmal jene Bewohner, die das Glück hatten, die höheren Ebenen jener sieben legendären Hügel zu bewohnen, konnten sich an den warmen Sonnenstrahlen erfreuen. In den dichtgedrängten Straßen jedoch würden die grauen Nebelschwaden noch länger verweilen. Hier, wo der Lärm der Stadt am größten und die Menschen am dichtesten nebeneinander lebten, hatte der Tag bereits vor Stunden begonnen. Etliche Waren für die diversen Geschäfte waren bereits im Laufe der vergangenen Nacht angeliefert worden, so dass die Händler bereits vor Sonnenaufgang lautstark ihre Produkte anpreisen konnten. Fische, Gemüse, Wein, Sklaven, aber auch Dienstleistungen wie Glücksspiel oder Sex, alles Mögliche wurde in den engen Straßen der Stadt angeboten. Hunde streunten durch die mit Kopfsteinpflaster bepflasterten Gassen und versuchten, den einen oder anderen Leckerbissen zu erhaschen. Bettler drängten sich um die Tore der Kirchen und baten um Almosen oder ein Stück Brot. Abseits der verschmutzen Gassen und vollen Läden erstreckte sich das andere Rom, das der breiten Plätze, Monumente, öffentlichen Bäder und prächtigen Villen. Auch wenn der Senat längst seine Bedeutung für die Leitung des Reiches verloren hatte und die Kaiser sich nur noch wenig um die Entscheidungen dieses ehrwürdigen Gremiums kümmerten, so bestand diese alte Institution dennoch fort. Regelmäßige Sitzungen und Debatten sorgten dafür, dass das politische Leben in der Stadt nicht vollends erlosch. Die Kaiser residierten zu dieser Zeit nur noch selten in Rom, zumeist befand sich der kaiserliche Hof im fernen Ravenna in Norditalien. Allgemein betraten die Kaiser nur noch selten die Hauptstadt des Reiches. Und noch seltener den Senat.

Jedoch nicht an diesem kühlen Märzmorgen. Denn für jene Senatssitzung, die zur Mittagsstunde beginnen sollte, hatte Kaiser Valentinian III. sein Erscheinen angekündigt.

„Sagt mir, Heraclius, wieso soll ich noch einmal einer unnötigen Sitzung alter Männer beiwohnen?“, fragte Valentinian gelangweilt, während er aus dem warmen Badewasser stieg.

Sofort eilten zwei junge Dienerinnen mit großen weißen Tüchern herbei und begannen, den Herrscher der halben römischen Welt trockenzureiben.

„Der Senat hat vor, heute über das neue Steuergesetz zu beraten, welches Ihr vor wenigen Wochen höchstselbst veranlasst habt, ehrenwerter Kaiser. Und Ihr, sofern Ihr mir gestattet, Euren göttlichen Geist daran zu erinnern, habt dem Senat im einundzwanzigsten Jahr Eurer gesegneten Regentschaft zugesichert, die Rolle, die er bei der Führung des Reiches spielt, zu achten“, antwortete der Eunuch sanft.

„Ja, aber das war doch nur so dahingesagt, damit diese senilen Greise sich noch ein letztes Mal wichtig fühlen dürfen, bevor sie aus dieser Welt scheiden!“, beschwerte sich Valentinian genervt, während seine Augen gebannt den Händen der jungen Dienerin folgten, die gerade dabei war, ihm die Innenseite seiner Oberschenkel trockenzureiben.

„Das mag schon sein, oh erhabener Augustus, dennoch habt Ihr dem Senat Euer Wort gegeben, seine Entscheidungen zu respektieren. Und auch, dass Ihr, zumindest in unregelmäßigen Abständen, einer Senatssitzung beiwohnen werdet“, entgegnete Heraclius demütig.

„Aber ich habe kein Verlangen danach, mich mit den Beschwerden und dem Gejammer dieser verstaubten Narren auseinanderzusetzen“, erwiderte der Kaiser schroff.

Es war eine leidige Diskussion, die Heraclius schon zur Genüge kannte. Seit über dreißig Jahren, seit er ein kleiner Knabe von sechs Jahren war, saß Valentinian auf dem Thron des Weströmischen Reiches. Er war es daher gewohnt, dass ihm jeder seiner Wünsche erfüllt wurde und alles seinem Willen Folge leistete. Vermutlich verhielt er sich deswegen noch manchmal wie einer jener Knaben, denen ihre Mutter ihr geliebtes Spielzeug verwehrte.

„Es gehört zu den Pflichten eines Herrschers, sich auch den unangenehmen Dingen zuzuwenden“, fuhr Heraclius mit sanfter Stimme fort.

Valentinian schwieg, seine Augen weiterhin auf das Mädchen zu seinen Füßen gerichtet.

„Nun gut, hoffentlich dauert es nicht zu lange“, sagte der Kaiser schließlich, während er mit seiner rechten Hand sanft über die Wange der vor ihm knienden Dienerin strich. „Nie hat man auch nur Zeit, das Leben zu genießen. Bringt mir mein Gewand, Heraclius!“

Das Mädchen zuckte zusammen und wandte ihr Gesicht erschrocken ab.

„Wie Ihr wünscht, oh Göttlicher!“, antwortete der Eunuch und klatschte in die Hände.

Sofort sprang die Dienerin auf und verließ gemeinsam mit dem anderen Mädchen den Raum.

„Sie gefällt mir. Sorgt dafür, dass sie heute Abend gebadet in meinem Schlafgemach auf mich wartet“, blickte der Kaiser den beiden nach.

Heraclius nickte, während zwei andere Diener den Raum betraten und damit begannen, den Kaiser in seine Gewänder zu kleiden. Sie hüllten ihn in eine weiße Tunika und begannen ihm einen prächtigen Brustpanzer aus Eisen anzulegen. Dazu kamen festlich verzierte Beinschienen. Der Kaiser sollte wie einer jener Legionäre aussehen, die für ihn in die Schlachten zogen. Außerdem diente die Rüstung einem praktischen Schutz.

„Also wirklich, muss das sein?“, beschwerte sich Valentinian.

„Leider ja, göttlicher Augustus. Bedenkt nur, wie viele Eurer Vorgänger auf grausame Weise den Tod gefunden haben“, belehrte Heraclius. „Ihr wollt doch nicht enden wie so viele augusti vor Euch?“

„Die letzte Gefahr für meinen Thron ist mit Aetius im vergangenen Jahr gestorben! Vergesst nicht, ich habe diesen machthungrigen Verräter eigenhändig erschlagen!“, rief der Kaiser wütend aus.

Wie konnte Heraclius das nur vergessen. Immerhin war er es, der dem Kaiser geholfen hatte, den mächtigen magister militum Flavius Aetius, den obersten Heerführer des Reiches, zu töten. Fast hätte er damals Mitleid mit dem völlig überraschten General gehabt, als der Kaiser, völlig von Wut und Wahn zerfressen, von seinem Thron aufgesprungen war und den Bezwinger der Hunnen eigenhändig mit seinem Schwert erschlug. Wie ein Schwein, das vom Bauern abgestochen und zum Ausbluten liegen gelassen wurde, lag der alte Feldherr damals auf dem mit Marmor verkleideten Palastfußboden. Eine schreckliche Tat, aber eine notwendige, um seinen Rivalen um die Gunst des Kaisers auszuschalten. Nie zuvor in der blutigen Geschichte Roms hatte ein Kaiser seinen obersten Militär eigenhändig ermordet. Auch der Eunuch selbst hatte sich mit seinem Dolch an der Bluttat im Palast beteiligt.

Heraclius grinste still in sich hinein. Er konnte zu Recht stolz sein. Immerhin hat er die Saat des Misstrauens über Jahre hinweg in die Ohren Valentinians gepflanzt. Und mit dem Tod Aetius war sein letzter großer Rivale ausgeschaltet worden. Seit jenem Septembertag vor einem halben Jahr war er es, der den Kaiser nach seinem Willen beeinflussen konnte und faktisch damit die halbe römische Welt regierte.

„Nein, heute nicht. Heute verzichte ich auch den Brustpanzer!“, entschied Valentinian.

Heraclius musste sich fügen. Ein kleiner, verwöhnter Knabe, der unbedingt einen süßen Apfel möchte und jedes Mal seinen Wunsch erfüllt bekam.

„Wie Ihr wünscht, mein Kaiser“, schmeichelte der Eunuch ihm.

„Immerhin steht noch eine Truppenbesichtigung an, wenn ich mich recht entsinne. Der Schutz meine Garde wird mir genügen!“, sagte Valentinian entschlossen, während die Diener ihm den Harnisch wieder abnahmen und ihn in eine purpurfarbene Toga kleideten.

Heraclius nickte. Er wusste, dass dies das Zeichen war, sich zurückzuziehen. Er verbeugte sich kurz und ließ den Kaiser allein, während er fertig angekleidet wurde.

Ein leichter Wind hatte den dicken Märznebel vertrieben und die warmen Strahlen der Frühlingssonne wärmten Heraclius’ Gesicht, als er der kaiserlichen Sänfte in Richtung Campus Martius, dem berühmten Marsfeld, folgte. Vorneweg ritt ein praefectus, welcher die Prozession kommandierte. Anschließend folgten sechs Reiter der kaiserlichen Garde sowie die Standartenträger, ebenfalls zu Pferd. Auch wenn Heraclius kein Freund des Militärs war, so war er jedoch der Meinung, dass dieses Schauspiel höchst bemerkenswert war – und gut für die Meinung des Pöbels über ihren Herrscher. Solche Prozessionen signalisierten Stärke und Macht des Kaisers und spiegelten somit auch seine, Heraclius’ Macht wider. Die kaiserliche Sänfte wurde von acht Sklaven, vier vorne und vier hinten, getragen. Hätte sich der Kaiser doch nur entschlossen, statt der Sänfte das Pferd zu besteigen. Ein Kaiser, der an der Spitze einer Kavallerieeinheit durch die Stadt ritt, hätte sowohl auf das Volk als auch auf den Senat mehr Eindruck gemacht als ein Kaiser, der sich hinter Vorhängen vor der Außenwelt versteckt. Doch Heraclius wusste, dass Valentinian kein Gespür für solche kleinen Details und die daraus resultierenden großen Wirkungen hatte. Ihm ging es nur um seine Annehmlichkeiten. Heraclius selbst folgte der Sänfte zu Pferd, flankiert von zwei seiner Beamten. Den Schluss bildeten wieder sechs Reiter der Palatinawache. Hinter ihnen, nicht mehr als Teil der Prozession, folgten einige Sklaven, welche Speisen, Wein sowie das kaiserliche Pferd mit sich führten.

Die Sonne wurde mit jedem Tag stärker, der Frühling würde bald Einzug halten, nicht einmal eine Wolke stand am Himmel.

„Es könnte noch ein richtiger Frühlingstag werden“, dachte Heraclius, „Vielleicht werde ich mich heute Abend, nachdem der Kaiser sich mit der jungen Schlampe vergnügt hat, betrinken“

Verdient hätte er es sich, befand er. Aber zuerst hieß es, diesen lästigen Militärbesuch durchzustehen. Wenn doch nur schon Abend wäre.

Als sie sich durch die Straßen der ewigen Stadt ihren Weg zum Truppenübungsplatz bahnten, fiel Heraclius auf, dass das einfache Volk nicht wie sonst üblich den Kaiser mit Jubelrufen grüßte. Wahrscheinlich hatten sie von dem lächerlichen Gerücht gehört, dass der Kaiser die Frau eines Senators vergewaltigt hatte. Zwar hatte Heraclius versucht, das Gerücht sofort aus der Welt zu schaffen, aber das einfache Volk war schon immer hartnäckig, wenn es um solche schwerwiegenden Anschuldigungen ging. Das wusste der Eunuch. Aber sollen sie doch glauben, was sie wollen, der Pöbel ist nicht weiter wichtig für sein Ränkespiel, befand er schließlich. Viele Bürger warfen der kaiserlichen Prozession kalte Blicke zu. Solange kein faules Obst geworfen wurde, konnte Heraclius damit gut leben. Falls dem jedoch so sein sollte, so wusste er, würden die Soldaten ein Blutbad anrichten und den Ruf des Kaisers noch weiter verschlechtern.

Nach etwa dreißig Minuten erreichten sie das Marsfeld. Eine große, ebene Fläche, mindestens eine centura groß, erstreckte sich vor ihnen. Hier, am Stadtrand, sammelten sich in früheren Zeiten die römischen Legionen, bevor sie aufbrachen, um neue Länder zu erobern und fremde Völker zu unterwerfen. Und noch heute wird es als Truppenübungsplatz genutzt, wenn auch nicht mehr im so großen Stil wie einst. Der kommandierende praefectus gab ein Signal und sofort kam die ganze Prozession zum Stillstand. Wenn dieser elende Narr von Kaiser doch nur selbst geritten wäre, dachte Heraclius, dann würde er den Anwesenden jetzt den Anblick ersparen, wo er mühsam und schnaufend auf sein Pferd stieg. Ein unwürdiger Anblick, der die kaiserliche Würde noch mehr schädigen würde.

Auf dem Feld waren zwei Regimenter der kaiserlichen Palatinagarde, etwa eintausend Mann, angetreten, um vom Kaiser inspiziert zu werden und um die Durchschlagskraft einiger erbeuteter Hunnenbögen zu demonstrieren. Es wäre nicht verwunderlich, wenn der Kaiser in seinem kindlichen Leichtsinn selbst einen der Bogen ergreifen und damit einige Pfeile abschießen würde. Heraclius betete zu Gott, dass der Kaiser den Soldaten diese Peinlichkeit ersparen würde. Schon schlimm genug, dass Valentinian aufs Pferd steigen würde.

Ein Sklave trat an die Sänfte heran und öffnete die Vorhänge.

„Ach, sind wir schon da?“, fragte der Kaiser merklich verschlafen.

Zum Glück hat er geschlafen, schoss es Heraclius durch den Kopf, sonst wäre ihm aufgefallen, mit welcher kühlen Verachtung ihn das einfache Volk gestraft hatte.

Langsam stieg Valentinian aus seiner Sänfte und begann sich zu strecken. Heraclius ertappte sich dabei, wie er den Kaiser, nicht ohne eine gehörige Portion Sarkasmus, innerlich für sein qualvolles und anstrengendes Leben bedauerte. Kaum war der Herrscher aus seiner Sänfte gekrochen, hatten die Offiziere, die sich vor der Einheit aufgestellt hatten, die Hand zum römischen Gruß erhoben. Anstatt den Gruß jedoch zu erwidern, machte der Kaiser mit seiner rechten Hand nur eine müde Handbewegung, wie ein Bauer, der eine Fliege verscheuchen möchte. Heraclius wandte den Kopf ab. Valentinian mangelte es wahrlich an jenen Tugenden, die einen guten Kaiser ausmachten, etwa Disziplin und Gespür für den Moment. Vor wenigen Monaten hatte Heraclius die Möglichkeit, den östlichen Kaiserhof in Konstantinopel zu besuchen. Der dort residierende Kaiser, Flavius Markian, verkörperte alles, was Valentinian fehlte: Selbstsicherheit, Mut, Erhabenheit und Weitsicht, Eigenschaften, von denen sein Amtskollege im Westen nur träumen konnte.

„Nun denn, bringen wir es hinter uns!“, schnaufte Valentinian.

Heraclius wandte sich zu den Sklaven am hinteren Ende des Gefolges um und gab ein Handzeichen. Sofort kam ein Sklave mit einem weißen Hengst herangeschritten, des Kaisers Pferd. Doch Valentinian schickte ihn mit einem verächtlichen Schnaufen weg.

„Heute kein Pferd, du Idiot. Bring mir stattdessen einen Becher Wein! Ich habe Durst“, befahl der Kaiser wütend.

Der Sklave zog sich mit einer Verbeugung zurück, während ein anderer Diener dem Herrscher einen Becher falernumbrachte. Der feinste Wein für den Feinsten aller Herrscher. Auch Heraclius war inzwischen von seinem Pferd abgestiegen und an den Kaiser herangetreten. Zwar hatte Valentinian ihm die Peinlichkeit eines Rittes auf einem Pferd, noch dazu ohne soldatische Kleidung, erspart, doch die Tatsache, dass er nun vor der Inspektion zu trinken begann, machte die Situation nicht besser.

„Mein Kaiser“, begann Heraclius, „ist es ratsam, vor dem Manöver mit dem Trinken zu beginnen? Was sollen Eure Soldaten von Euch denken?“

„Meine Soldaten lieben mich, egal, was ich mache!“, fuhr Valentinian ihn an und riss dabei dem Sklaven den Becher Wein aus der Hand. Der Kaiser leerte ihn in einem Zug.

„Richtige Soldaten müssen nicht nur kämpfen, sondern auch trinken können! Oder, Legionäre?“, rief der Kaiser.

Doch anstatt breiter Zustimmung oder gar Jubelrufe erntete Valentinian nur eisiges Schweigen.

„Seht Ihr, Heraclius? Meine Soldaten wissen, wie man sich einem Kaiser gegenüber zu benehmen hat. Wohl an, Tribun“, fuhr Valentinian, das Schweigen der Soldaten wohl als Zustimmung deutend, fort und wandte sich dabei einem der beistehenden Offiziere zu. „Lasst uns beginnen!“

Der Tribun schlug sich sofort mit der rechten Hand auf die Brust und grüßte erneut. Danach zeigte er mit der rechten Hand auf zwei Soldaten, die in der ersten Reihe standen, und schnippte mit den Fingern. Einen Augenblick später traten die Legionäre näher an die Prozession heran. Doch anstatt die Hand zum römischen Gruß zu heben, schlugen sie mit ihren Speeren, die sie in der rechten Hand hielten, auf den Schild in der anderen Hand. Valentinian erwiderte den Gruß mit einem stummen Nicken, dann nahmen die Gardisten ihre Position hinter Valentinian und Heraclius ein.

Langsam schritten die fünf Männer die Reihe der vor ihnen aufgestellten Soldaten ab. Der Tribun blieb immer wieder stehen und stellte dem Kaiser den einen oder anderen verdienten Legionär vor. Obwohl es Heraclius zuwider war, sich mit irgendwelchen Soldaten zu unterhalten oder auch nur Teil dieses Schauspieles zu sein, so konnte er doch seinen Widerwillen hinter seiner interessiert dreinblickenden Miene besser verbergen als sein Kaiser. Sein gelangweilter Blick und die immer wiederkehrende Aufforderung an den Sklaven, ihm einen Becher Wein zu reichen, hatte mehr Aussagekraft als jedes Wort aus seinem Mund.

Schließlich erreichte die kleine Gruppe das Ende der Soldatenreihe. Heraclius seufzte erleichtert auf. Bald würde dieser Akt vorbei sein. Zuvor noch keine kurze Vorführung der hunnischen Bögen, danach ging es für ihn zurück in den Palast, während sich der Kaiser in Richtung Senat aufmachen würde.

„Mein Kaiser, erlaubt Ihr mir, Euch die Legionäre Optila und Thraustila vorzustellen? Beide sind in der Kunst des Bogenschießens bewandert, wie es die Hunnen und andere Barbarenstämme praktizieren!“, berichtete der Tribun.

Während er sprach, grüßten die beiden Soldaten ihren Kaiser so, wie es sich gebührt. Beide Männer standen hinter einem kleinen Holztisch, auf dem ein seltsam geformter Bogen sowie einige Pfeile lagen.

„Nun denn. Und das hier“, begann der Kaiser und ging um den kleinen Tisch, auf dem ein Bogen lag, herum, „ist also der berühmte hunnische Bogen. Jener Bogen, der die Heere meines Amtskollegen in Konstantinopel so sehr in Angst und Schrecken versetzt hat? Und vor dem sich meine Legionäre ebenfalls fürchten wie vor dem jüngsten Tag? Für mich sieht das eher nach einem gewöhnlichen Stück Holz aus.“

„Mein Kaiser, dieser Bogen ist unseren Bögen an Durchschlagskraft und Reichweite enorm überlegen“, begann der Legionär namens Optila mit seinen Erklärungen und fügte hinzu: „Ich selbst habe mehrmals mit ihm geschossen. Auch habe ich etlichen Schlachten beigewohnt, in denen dieser Bogen zum Einsatz kam. Ich habe bisher noch keine Waffe gesehen, die auch nur annähernd der Kraft dieses Bogens gleichkommt.“

„Kein Wunder, immerhin bist du auch nur ein Barbar“, merkte Heraclius kühl an.

Doch anders als von Heraclius erwartet, verzog der Soldat keine Miene angesichts dieser Beleidigung. Er tat gar so, als hätte er sie nicht gehört.

„Erlaubt mir, Euch diese elegante Waffe vorzuführen, göttlicher Augustus“, meldete sich jetzt Thraustila zu Wort.

„Nun denn, fangt an, damit wir das hier beenden können“, antwortete Valentinian genervt.

Thraustila nickte kurz und ergriff den Bogen. Der Tribun kommentierte die Situation:

„Mein Kaiser, seht Ihr das Ziel dort drüben? Es ist genau den achten Teil einer mile passus von uns entfernt. Ich habe die Entfernung selbst abgeschritten. Thraustila, du kennst das Ziel. Zeig dem Kaiser dein Können!“

Der Germane nickte wieder kurz. Dann ging er einige Schritte nach vorne, legte einen Pfeil in die Sehne und spannte den Bogen. Sein Ziel war ein Strohhaufen, auf den ein weißes Tuch mit einem roten Punkt gespannt war, etwa ein stadium von dort entfernt, wo sie gerade standen. Der Soldat zielte genau, atmete leise aus und ließ die Sehne los. Der Pfeil schnellte nach vorne und traf nur den Bruchteil einer Sekunde später genau den aufgemalten roten Punkt. Plötzlich war auch der Kaiser hellwach.

„Ein wahrer Meisterschuss, mein lieber Thraustila! Wahrlich, vortrefflich. Aber wie sieht es bei Rüstungen aus? Hat er wirklich eine so hohe Durchschlagskraft, wie du behauptest?“, wollte der Kaiser aufgeregt wissen.

Der Tribun meldete sich zu Wort:

„Leider ja, mein Kaiser. Erlaubt mir, Euch eine weitere Demonstration zu zeigen. Die beiden Soldaten haben eine Strohpuppe gefertigt und ihr eine lorica harmata übergezogen!“

Optila trat zur Seite und ging zu einem Planwagen, der wenige Schritte entfernt stand. Er kletterte auf die Ladefläche und holte eine kleine Puppe aus Stroh hervor, der man ein Kettenhemd, wie es die römischen Legionäre im Kampf trugen, übergezogen hatte. Er ging in Richtung des Zieles und stellte die Puppe davor ab. Dann kam er wieder zurück. Thraustila nickte wieder kurz, spannte den Bogen erneut und feuerte wieder. Auch diesmal fand der Pfeil sein Ziel.

Der Kaiser kicherte vor Freude. Ihm gefiel die Waffe offenbar. Optila lief nach vorn und holte die Puppe zurück. Der Pfeil hatte das Kettenhemd glatt durchschlagen. Auch Heraclius war tief beeindruckt. Diese Verwundung wäre mit großer Sicherheit tödlich gewesen.

„Wieso rüsten wir nicht unsere Legionen mit dieser Waffe aus?“, fragte er den Tribun.

„Das ist leider nicht so einfach. Es dauert viele Jahre, um diese Waffe perfekt zu beherrschen. Hunnische Kinder üben bereits von klein auf damit. Auch unser Können ist nichts im Vergleich zu dem der hunnischen Reiter“, antwortete Optila anstelle des Tribuns.

„Jetzt möchte ich es versuchen“, lachte der Kaiser wie ein Kind, welches gerade ein neues Spielzeug gesehen hatte, und griff nach dem Bogen.

Doch Thraustila ließ ihn nicht los. Der Kaiser begann stärker am Bogen zu ziehen. Er hatte nicht damit gerechnet, dass ihm sein Wunsch abgeschlagen wurde. Heraclius sah die Wut in ihm aufsteigen.

„Was soll das? Lass los, Barbar!“, sagte er wütend.

Doch noch immer weigerte sich Thraustila, den Bogen loszulassen. Optila trat einen Schritt näher heran. Auch der Tribun wandte seinen Blick Thraustila zu.

„Thraustila?“, fragte er mit scharfem Unterton.

„Gib deinem Kaiser den Bogen, du dreckiger Wilder!“, rief Heraclius.

„Lass endlich los! Oder ich lasse dich vierteilen und verfüttere deine Überreste an die wilden Bestien!“, brüllte der Kaiser ihn an und riss wie wild am Griff des Bogens.

Genau in dem Moment lockerte der Germane seine Umklammerung und der Bogen glitt ihm aus der Hand. Der Kaiser begann zu straucheln. Er schwankte einige Schritte zurück und prallte mit Optila zusammen.

„Elender Barbar, ich werde dich …“, begann er.

Doch weiter kam er nicht. Optila hatte unbemerkt sein Schwert gezogen. Er packte den Kaiser an der rechten Schulter, riss diese zurück, so dass der Kaiser herumwirbelte und Optila direkt ins Gesicht starrte. Dann rammte er ihm sein Schwert direkt in den Magen.

„Nein!“, schrie Heraclius und wollte in Richtung des Attentäters losstürzen, da merkte er, wie eine Hand ihn an der linken Schulter festhielt. Bereits eine Sekunde später bohrte sich kalter Stahl von hinten durch seinen Rücken bis zu seiner Lunge. Ein zweites Mal, ein drittes Mal. Dann sackte er zusammen.

Er sah noch, wie Optila dem in die Knie gegangenen Kaiser mit einem schnellen Schnitt die Kehle durchtrennte. Während seine Lungen sich langsam mit Blut füllten, hörte er noch den Tribun sagen:

„Rache für Aetius. Möget Ihr in der Hölle verrotten!“

Keiner der umstehenden Gardesoldaten hatte eingegriffen. Sie sahen stumm zu, wie der Kaiser und Heraclius langsam verbluteten.

Kapitel I

Rom, Ende Mai, 455 n. Chr.

Schweren Schrittes ging der altgediente Krieger durch den langen, mit Marmorböden ausgelegten Säulengang. Die Abendsonne ließ den weißen Gang in einem hellen Licht erstrahlen. Es war warm, etwas zu warm für seinen Geschmack. Und die heißen Tage des Sommers lagen noch vor ihnen. Rom um diese Jahreszeit war schon immer eine Brutstätte für Moskitos und Gestank gewesen, aber diesen Sommer, so fürchtete er, würde es besonders schlimm werden. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn. Doch jetzt war keine Zeit, um über die kommenden Monate nachzudenken. Womöglich würde er nicht einmal die kommenden Stunden mehr erleben.

Schließlich machte der Gang eine Abzweigung nach rechts. Direkt dort, in der Ecke, stand eine große, weiße Statue. Die Statue des ehemaligen Kaisers Augustus, des zweiten Gründers dieser herrlichen, stinkenden Stadt, eines Herrschers, der es niemals zugelassen hätte, dass es so weit kommt. Die Farbe, die die Statue einst geziert hatte, war ausgeblichen und musste dringend erneuert werden, doch es schien wohl niemanden hier im Palast zu interessieren. Schweigend betrachtete der Mann die markanten Gesichtszüge dieses lang verstorbenen Helden. Sein Gesichtsausdruck signalisierte Entschlossenheit. In seiner Gegenwart fühlte sich der junge Soldat unbedeutend. Mit dreiunddreißig Jahren hatte sich Augustus bereits zum Herrscher über die bekannte Welt aufgeschwungen. Was hatte er hingegen mit seinen nun dreiunddreißig Jahren erreicht? Nicht viel. Dennoch erkannte der Mann viel von ihm selbst in der mächtigen Statue vor ihm. Aber auch einige Unterschiede. Glatt rasiert war die Statue, keine Anzeichen eines Bartes, im Gegensatz zu seinem braunen Drei-Tage-Bart. Sie hatten etwa die gleiche Größe, etwa sechs Fuß groß. Doch die Statue war kräftiger gebaut als er, muskulöser. Er hingegen, obwohl nicht schwach, fühlte sich eher agil als muskelbepackt. Wenigstens hatte er darauf geachtet, seinen Bauch nicht zu sehr wachsen zu lassen, er war noch immer um einiges schlanker als viele andere Generäle. Sachte wischte er etwas Staub vom Sockel der Staute. Was würde jener großer Kaiser wohl über die heutigen Tage denken? Das Reich, das Augustus geschaffen hatte, bestand bereits seit vielen Jahren nicht mehr. Barbarenstämme hatten den Großteil der Provinzen unter sich aufgeteilt, Römer bekämpften lieber Römer, anstatt sich dem gemeinsamen Feind entgegenzustellen. Wahrscheinlich würde Augustus sich in sein Schwert stürzen, wenn er sehen könnte, was aus seinem Erbe geworden ist. Nachdenklich strich sich der verdiente Soldat durch sein kurzgeschorenes, braunes Haar und kratzte sich am Hinterkopf. Solch ein Kaiser hätte das Reich nicht zugrunde gehen lassen.

Schweigend betrachtete er die Statue, als hinter ihm eine Stimme erklang.

„Flavius Julius Majorianus! Bist du es wirklich? Dass du dich überhaupt noch in den Kaiserpalast hineintraust.“

Langsam wandte Majorian sich um und blickte in das vernarbte Gesicht dieses alten Kriegers, den er schon so lange kannte und schätzen gelernt hatte. Seine ehemals schwarzen Haare waren fast ergraut, dennoch schienen sie ihm besser zu stehen als seine ursprüngliche Frisur. Seine grauen Augen wirkten trotz seines Alters noch immer scharf und wach, auch ein Bauchansatz, wie es bei vielen älteren, aber auch fauleren Römern üblich war, war nicht zu erkennen.

„Ich grüße dich, Ricimer. Wenn der Kaiser einen ruft, dann hat man dem Ruf Folge zu leisten, auch wenn man wahrscheinlich in sein eigenes Grab schreitet.“

„Ach? Denkst du etwa so schlimm, mein alter Freund? Glaub mir, wenn der Kaiser dich tot sehen wollte, dann hätte er dir einen Attentäter geschickt, während du schlafen würdest, und dich nicht in seinen Palast bestellt“, antwortete Ricimer mit einem breiten Grinsen.

Wenn Majorian nur seinen Optimismus teilen könnte.

„Vergiss nicht, selbst der alte Kaiser hat Aetius hier im Palast umgebracht. Und das eigenhändig. Dabei war er nur sein magister militium und nicht wie ich der erklärte Thronfavorit der Kaiserin“, gab Majorian nachdenklich zurück. „Wobei ich mir bis zum heutigen Tage die Frage stelle, wieso die Kaiserwitwe ausgerechnet mich auf dem Thron sehen wollte. Das wäre wahrlich das Letzte, was ich wollen würde.“

„Zum Glück hat sie dir das nur im Vertrauen mitgeteilt und nicht öffentlich gemacht, sonst würde dein Kopf jetzt auf einer Lanze vor der Porta Appia stecken. Dann könntest du auf ewig gen Süden blicken“, lachte Ricimer. Als er jedoch merkte, dass diese Art von Scherz Majorian überhaupt nicht gefiel, fügte er hastig hinzu:

„Mach dir nicht zu viele Gedanken deswegen, Gott ist auf deiner Seite. Außerdem hast du das Angebot ja nicht angenommen!“

Auch wenn ihm manche seiner Scherze missfielen, so mochte Majorian den Barbaren ihm gegenüber. Ricimer hatte schon einige Male Seite an Seite mit ihm in diversen Schlachten gekämpft und sein Vertrauen erworben. Obwohl er der Sohn eines Sueben und einer Westgotin war, so war er doch mehr Römer als viele andere Männer, die Majorian bisher kennengelernt hatte. Und, nach ein paar Bechern Wein, war er auch lustiger als so manche Römer.

„Dann hoffen wir, dass Gott heute Abend nicht gerade wegsieht. Und falls er es doch tut, so verzeih mir bitte, wenn ich dich als Schild verwende“, lachte Majorian. „Aber, und verzeih mir, wenn ich das Thema wechsle, wieso bist du hier? Solltest du nicht im Norden sein?“

„Wie du schon gesagt hast, wenn der Kaiser ruft, dann folgt man!“, grinste der alte Mann.

„Tja, so stehen wir beide hier. Unwissend wie ein Huhn vor der Schlachtbank und warten darauf, was der Kaiser von uns will!“, lachte Majorian.

Ricimer grinste nur und deutete nach einigen Augenblicken des Schweigens in Richtung der schweren Eichentür am Ende des Ganges. Majorian erwiderte den Hinweis mit einem leichten Kopfnicken. Gemeinsam gingen sie das letzte Stück bis zum Audienzsaal. Keiner der beiden sprach ein Wort. Vor der Tür standen zwei Soldaten der Palatinawache. Ihrem Bartwuchs nach waren es offensichtlich ebenfalls Germanen, doch weder Majorian noch Ricimer wunderten sich darüber. Seit vor einhundertundfünfzig Jahren Kaiser Konstantin die alte Prätorianergarde aufgelöst hatte, dienten immer mehr Germanen im römischen Heer, selbst in der Palastgarde. Mit Geschick, Können und der nötigen Skrupellosigkeit konnten sie es weit bringen, wie man an Ricimer erkennen konnte. Oft waren bereits hochrangige Generäle germanischer Herkunft. Und auch wenn es selten Zweifel an ihrer Loyalität gab, und davon konnte sich Majorian bereits zur Genüge überzeugen, waren doch viele Römer skeptisch ob dieser Barbaren in ihrem Dienst.

Als Majorian und Ricimer sich der Tür näherten, tauchte von links plötzlich eine weitere Person auf. Es war ein alter Mann, vielleicht fünfundfünfzig oder sechzig Jahre alt, gekleidet in die edle Paraderüstung der Palastgarde. Majorian kannte ihn nicht, aber der Rüstung nach dürfte es sich um einen Veteranen im Rang eines centurio handeln.

„Halt! Wer begehrt Einlass in die Audienzhalle des göttlichen Kaisers Petronius Maximus!“, fuhr er die beiden Besucher mit gebieterischer Stimme an.

„Ist es nicht schön, wenn man sofort erkannt wird?“, grinste Ricimer. „Lerne erst einmal grüßen, centurio, bevor du Befehle gibst und unnötige Fragen stellst. Und erkundige dich, wen dein Herr wann sehen will, damit du nicht die falschen Gäste aufhältst!“

„Verzeiht, meine Generäle, ich habe jedoch keine Auskunft über eure Ankunft erhalten, daher muss ich so reagieren. Was ist euer Begehr!“, gab der centurio kalt zurück.

Majorian merkte, wie Ricimer neben ihm ungeduldig wurde. Wie konnte dieser unbedeutende Wurm es auch wagen, den großen Flavius Ricimer aufzuhalten. So, oder zumindest so ähnlich, stellte sich Majorian gerade das Wortgefecht in Ricimers Kopf vor. Bevor sein Kopf jedoch explodieren konnte, entschied sich Majorian zu intervenieren:

„Centurio, wir sind hier auf offiziellen Befehl des Kaisers. Erkundige dich beim magister officiorum dem Aufseher der kaiserlichen Ämter, nach unserem Besuch. Er wird dich unterrichten. Wahrscheinlich ist die Information über unsere Ankunft irgendwo verloren gegangen.“

Der alte Soldat war unschlüssig, entschied sich aber dann, den Rat Majorians zu folgen. Er öffnete die Tür zur Audienzhalle und verschwand darin. Einer der Wachsoldaten schloss die Tür hinter ihm und deutete den beiden Gästen zu warten.

Ricimer wandte sich an Majorian und sagte:

„Na, das nenne ich römische Effizienz. Erst wird man hierher bestellt und dann wird man schon an der Tür abgewiesen wie ein einfacher Händler.“

„Na ja, die Mühlen der Bürokratie waren noch nie die Schnellsten, das solltest du eigentlich wissen!“, lachte Majorian.

Die beiden Germanen an der Tür beobachteten Majorian und Ricimer skeptisch. Immerhin war es ein gutes Zeichen, dachte Majorian.

„Vielleicht will mich der Kaiser doch nicht töten lassen, wenn er nicht einmal seine eigene Wache bezüglich unserer Zusammenkunft in Kenntnis gesetzt hat“, sage Majorian, mehr zu sich selbst als zu seinem Gefährten.

Ricimer schien ihn ohnehin nicht zu beachten. Er stand mit verschränkten Armen an einer kleinen Mauer ließ seine Augen über den unter ihnen liegenden Hof schweifen. Es war ein friedlicher Anblick. Wasser plätscherte in einem Brunnen, während einige Vögel darin ein Bad nahmen. Trotz des sich bereits abzeichnenden Sonnenunterganges waren noch immer etliche Sklaven im Garten bei der Arbeit. Hecken wurden geschnitten und die Wege gefegt.

„Der neue Kaiser mag es wohl ordentlich“, dachte Majorian, als er neben Ricimer getreten war.

„Die Stadt sieht so friedlich aus“, sagte Ricimer.

Majorian nickte.

„Ja. Die Frage ist, wie die Stadt in einigen Wochen aussieht, wenn die Vandalen kommen!“

„Falls die Vandalen kommen“, korrigierte ihn Ricimer.

„Du hältst es für ein Gerücht? Also dass die Vandalenflotte Karthago verlassen hat, meine ich“, merkte Majorian an.

„Ich denke nicht, dass Geiserich so verrückt ist und seine gesamte Streitmacht nach Italien führt nur wegen einer persönlichen Kränkung. Einen anderen Grund würde ich nämlich nicht erkennen.“

„Einen anderen Grund?“, lachte Majorian, „Also, wenn seine Ehre als König nicht reicht, um ihn anzuspornen, dann doch sicher Gold, Silber und andere Schätze!“

„Ich bitte dich, was für Schätze!“, erwiderte Ricimer. „Du weißt genauso gut wie ich, dass die Schatzkammern leer sind. Wenn er wirklich …“

Doch er wurde unterbrochen. Die schwere Eichentür zum Thronsaal wurde geöffnet und der alte centurio trat heraus, gefolgt von einem nicht minder jüngeren Mann in der Tunika eines Senators. Seine Anstecknadel an der rechten Schulter jedoch verriet ihn.

„Flavius Majorianus, seid mir gegrüßt!“, strahlte der Weißkittel. „Und auch Ihr, Flavius Ricimer! Es tut mir leid, dass ihr nicht sofort begrüßt wurdet, wie es Männern eures Standes gebührt. Erlaubt mir, mich vorzustellen. Faustus Postumios, der magister officiorum des göttlichen Kaisers. Der Kaiser erwartet euch bereits ungeduldig und ist erpicht darauf, euch sofort zu empfangen!“

Majorian hatte solche Personen wie Faustus Postumios schon zur Genüge gesehen. Er erweckte nämlich sofort den Eindruck eines Stiefelleckers, der sich wie ein Banner im Wind einmal in die eine und dann wieder in die andere Richtung drehte. Solche Männer sind gefährlich. Aber wenn der Kaiser ihn schon als magister officiorum auserwählt hatte, dann könnten ihm weder die alten Götter noch der Christengott helfen. Falls wirklich eine Vandalenflotte auf dem Weg nach Italien war, dann würde dieses Wiesel den Kaiser sofort fallen lassen. Zwar hatten Majorians Sinne ihn auch ab und zu hinters Licht geführt, doch hier war er sich zu einhundert Prozent sicher. Dennoch ließ sich Majorian nichts anmerken.

„Ich danke Euch für diese herzlichen Worte der Begrüßung, werter Magister!“, antwortete er. „Es ist uns eine Ehre, hierher in den Palast eingeladen zu werden. Doch, es drängt sich uns die Frage auf, wieso wir hier sind.“

„Ich halte es für das Beste, wenn der Kaiser selbst euch informiert. Bitte, tretet ein!“, lächelte Postumios breit. Mit diesen Worten drehte sich der Haus- und Hofmeister um und verschwand durch die Eichentür zurück in die große Halle.

Majorian und Ricimer warfen sich einen kurzen Blick zu. Ricimer nickte. Dann folgte er dem Vertreter des Kaisers in die Halle. Majorian zögerte kurz, dann tat er es seinem Waffenbruder gleich.

Sie betraten eine große Halle, etwa zwanzig oder fünfundzwanzig Fuß hoch und etwa dreihundert Fuß lang. Säulen aus weißem Marmor, die bis an die Decke reichten, standen an der linken und an der rechten Seite des Saales. Fenster aus buntem Glas, knapp unter der Decke angebracht, fingen das Abendlicht ein und tauchten den Raum in bunte Farben. Zwischen den Säulen hingen bunte Vorhänge herab. Majorian trat neben Ricimer, der ebenfalls wie angewurzelt in der Tür stehen geblieben war. Am anderen Ende des Raumes stand ein Thron, ebenfalls aus weißem Marmor. Darauf saß ein Mann im purpurnen Gewand des Kaisers. Majorian konnte sein Gesicht nicht erkennen, er war noch zu weit von ihnen entfernt. Hinter dem Thron hingen zwei rote Banner. Eines der Banner trug mit goldener Seide bestickt den römischen Adler und das Emblem SPQR, Senatus Populusque Romanus – Senat und Volk von Rom. Das andere schmückte, ebenfalls in Gold, das Chi-Rho-Zeichen des Christengottes. Majorian fragte sich, ob der Kaiser damit die alten Traditionen und die neuen Werte des Reiches miteinander verbinden wollte. Wenn dem so war, dann verfehlten sie ihren Zweck, zumindest bei ihm. Es erinnerte Majorian eher an vergangenen Prunk als an immerwährenden Ruhm. Hinter dem Thron standen zwei weitere Wachen, mindestens genauso groß wie Majorian selbst. Vermutlich irgendwelche Goten oder Franken. Römer konnten es nicht sein, denn sie trugen langes, blondes Haar. Als sie auf Aufforderung des magister officiorum nähertraten, wurde beiden Generälen bewusst, dass der Thron mit unzähligen Gravuren verziert war. Noch bevor sie jedoch das Podest, auf welchem der Thron stand, erreicht hatten, verkündete Postumios bereits:

„Kniet nieder vor eurem Kaiser. Kniet nieder vor dem göttlichen Augustus Petronius I. Maximus, Bringer des Friedens, Bezwinger der Feinde des Reiches, Gerechtester unter den Gerechten, Beschützer der Unschuldigen, von Gott auserwählt, die Völker zu einen und zu leiten. Erbe des Augustus, Erbe des Trajan …“

Ganz wie es von ihnen erwartet wurde, fielen Ricimer und Majorian bereits vor den ersten Worten des Haushofmeisters auf die Knie und hatten den Kopf vor dem göttlichen Haupt des Kaisers gesenkt. Während Postumios mit der Lobpreisung des Kaisers fortfuhr, fragte sich Majorian, was der neue Augustus denn bereits alles vollbracht hatte? Welche äußeren Feinde hatte er bezwungen? Welche Völker geeint? Sein eigenes? Wenn er an Marcellinus, den Befehlshaber der Provinz Dalmatia jenseits des adriatischen Meeres, dachte, der sich seit dem Tod des Aetius mit der Zentralregierung überworfen hatte und faktisch ein unabhängiges Reich regierte, wartete wohl noch viel Arbeit auf den „Einer der Völker“. Schließlich hatte Postumios seine Begrüßungsrede beendet und wandte sich den beiden noch immer am Boden knienden Männern zu.

„Oh herrlicher Augustus, der du uns von Gott geschickt wurdest, ich präsentiere Euch die Generäle Flavius Julius Majorianus und Flavius Ricimer, wie es von Eurer Herrlichkeit gewünscht wurde!“

Während der ganzen Ansprache war der Kaiser regungslos auf seinem Thorn sitzen geblieben. Auch jetzt zeigte er keine Reaktion. Vorsichtig hob Majorian leicht den Kopf, um den Kaiser besser zu Gesicht zu bekommen. Vor ihm saß ein alter Mann. Majorian schätzte ihn fast doppelt so alt ein, wie er selbst war. Die Haare, die ihm noch geblieben waren, waren bereits weiß. Seine Augen waren eingefallen, an den Händen zeichneten sich bereits Altersflecken ab. Außerdem dürfte er an der einen oder anderen Orgie zu viel teilgenommen haben, sein dicker Bauch zeichnete sich deutlich unter dem purpurnen Kaisermantel ab. Alles in allem war er genau das, was Majorian von einem ehemaligen Senator erwarten würde: keinen Tag im Sattel gesessen, nie das harte Leben eines Feldlagers kennengelernt, nie Seite an Seite mit Comitatenses die Schlachtreihe gegen anstürmende Barbaren gehalten, nur den ganzen Tag reden, Wein trinken und am Abend bei einem Bankett zu viel essen.

Langsam erhob sich der neue Augustus und trat von seinem Podest herab. Als er die vor ihm knienden Majorian und Ricimer erreicht hatte, begann er zu lachen. Dann breitete er die Arme aus, gleich wie es ein altes Familienoberhaupt gegenüber den jüngeren Generationen tut, um Güte zu signalisieren:

„Erhebt euch, meine Freunde. Bitte, erhebt euch! Vor mir braucht ihr nicht zu knien!“

Falsche Freundlichkeit, genau was Majorian erwartet hatte. Wenn wir nicht vor ihm knien würden, wären wir schnell einen Kopf kürzer, schoss es Majorian durch den Kopf. Langsam erhob er sich, so dass er direkt vor dem Kaiser stand. Jetzt, da er nicht mehr auf seinem Thron saß, fiel Majorian auf, dass der Kaiser nicht nur runder war als er selbst, sondern auch noch einen guten Kopf kleiner. Ricimer richtete sich ebenfalls auf. Majorian konnte erkennen, dass er genauso wenig von der Erscheinung des Kaisers beeindruckt war wie er selbst. Jedoch waren beide erfahren genug, sich nichts anmerken zu lassen.

Und sie dürften ihre Rolle gut gespielt haben, denn Petronius Maximus schien nichts bemerkt zu haben. Weiterhin lächelnd fragte er die beiden Soldaten:

„Dürfen meine Diener euch einen Kelch Wein anbieten? Ausgezeichneter Falerner, noch aus den Beständen meines unglücklichen Vorgängers.“

„Nein, danke, göttlicher Herrscher, für mich nicht“, antwortete Majorian.

Ricimer tat es ihm gleich. Für die kommenden Minuten mussten sie beide bei klarem Verstand sein, Wein würde ihnen nur die Sinne vernebeln und sie angreifbar machen.

„Nun, ich hoffe doch, ihr verzeiht mir, wenn ich mir einen Becher genehmige, oder? Die Arbeit eines Kaisers ist eine höchst anstrengende. Castillius, einen Becher Wein. Sofort!“, befahl der Kaiser und klatschte in die Hände.

Sofort trat ein junger Mann hinter einer der Säulen hervor und verschwand rechts durch eine Seitentür. Bis zu dem Moment dachte Majorian, dass sie beide mit dem Kaiser, dem magister officiorum und den beiden Wachen allein gewesen wären. Jetzt erst, als der Kaiser nach seinem Wein verlangt hatte, bemerkte Majorian, dass sich etliche Dienerinnen und Diener an den Wänden im Hintergrund aufhielten. Unauffällig und unsichtbar, jedoch immer bereit, den Willen ihres Kaisers auszuführen.

„Nun, meine Freunde, ihr fragt euch sicher, wieso ich euch hierher gerufen habe. Besonders dich, Majorian, wo du doch Anspruch auf meinen Thron erhebst!“, sagte der Kaiser mit plötzlich ernster Stimme.

Sämtliche gespielte Güte war mit einem Schlag verflogen. Die beiden Wachen hinter dem Thron machten einen bedrohlichen Schritt nach vorne, während sie mit ihren rechten Händen ihre Schwerter teils aus der Scheide zogen. Majorian schluckte. Also doch, jemand musste mitbekommen haben, dass die Kaiserwitwe Eudoxia ihn gebeten hatte, nach dem Tod des alten Kaisers Valentinians III. den Thron zu besteigen und das Reich zu retten. Schließlich hatte er sich bereits einen Namen als Heerführer gemacht. Die Soldaten hätten geschlossen hinter ihm gestanden, davon wäre sie überzeugt gewesen. Und niemand hätte seinen Anspruch auf den Thron in Frage gestellt, wenn er nur eine der Töchter des verstorbenen Kaisers geheiratet hätte. Majorian hatte damals, vor einem Monat, gezögert. Nie hat er sich als Kaiser gesehen, er war ein Soldat durch und durch. Das Schlachtfeld war seine Heimat, nicht die Politik. Damals war ihm schnell klar gewesen, dass er dieses Angebot nicht annehmen konnte, auch wenn er damit die Tür für andere, wahrscheinlich schlimmere Kandidaten aufstoßen würde. Er hatte die Kaiserwitwe gebeten, einen anderen Kandidaten zu unterstützen. Er wäre nicht der Richtige.

Kurz darauf hat Petronius Maximus, ein alter Senator aus einer noch älteren Familie, Eudoxia zur Frau genommen und sich somit den Thron der westlichen Reichshälfte des römischen Reiches gesichert. Um diesen Anspruch noch zu unterstreichen, hat er die Tochter der Kaiserin, Eudocia, mit seinem eigenen Sohn verheiratet. Sehr zum Missfallen der römischen Diplomaten, wie Majorian wusste. Eudocia war nämlich von ihrem Vater dem Sohn des Vandalenkönigs versprochen worden. Damit hätte das Reich vor weiteren Überfällen gesichert werden sollen. Maximus’ Schritt hatte diese, wenn auch trügerische Sicherheit zunichtegemacht. Und jetzt wollte der neue Kaiser wohl die Chance nutzen und sich seines Rivalen entledigen.

Nach einigen Sekunden, die sich für Majorian wie Jahre anfühlten, wurde ihm klar, dass er auf die Anschuldigung des Kaisers antworten musste. Doch was sollte er sagen? Wie gegen solche Anschuldigungen verteidigen? Als Soldat hatte er gelernt, dass meist kurze und ehrliche Situationseinschätzungen zum Erfolg führten, daher entschied er sich, die Wahrheit zu sagen.

„Ich leugne nicht, mein Kaiser, dass Augusta Eudoxia an mich herangetreten ist, um das Reich in ihrem Namen und im Namen des göttlichen Kaisers Markian in Konstantinopel vor jeder äußeren und inneren Bedrohung zu beschützen. Ich habe jedoch für mich selbst befunden, dass ich nicht der richtige Mann bin, um den Purpur zu tragen und das Reich zu lenken. Meine Heimat ist das Feldlager, nicht der Thronsaal. Und ich versichere Euch meine unerschütterliche Loyalität, wenn Ihr mich sie Euch beweisen lasst!“, schloss Majorian kurz und prägnant.

In der jetzigen Situation war dies das Beste gewesen, was er sagen konnte, befand er. Ricimer schien der gleichen Ansicht zu sein, denn er nickte leicht. Ob der Kaiser jedoch ebenfalls so dachte, würden die kommenden Sekunden zeigen. Petronius blickte Majorian ernst in die Augen. Dieser starrte mit seinen braunen Augen selbstbewusst zurück. Anschließend wanderte der Blick des Kaisers zu Ricimer, der noch immer wie ein Fels rechts neben Majorian stand. Auch in seinen Augen spiegelte sich Entschlossenheit wider. Schließlich wandte sich der Kaiser an Postumios, welcher die ganze Zeit schweigend etwas abseits der drei Männer stand:

„Nun, mein guter Postumios, was sagst du? Wie soll ich mit diesem Verräter und Thronräuber verfahren? Köpfen? Vierteilen? Ans Kreuz schlagen lassen?“

„Göttlicher Augustus“, begann der Magister nach einiger Bedenkzeit, „eigentlich hat der Feldherr Majorian doch keine verräterischen Handlungen gesetzt. Als ihm der Thron angeboten wurde, hat er, bereits vorausschauend auf Eure Thronbesteigung, abgelehnt. Er wusste, dass mit Euch ein geeigneterer Kandidat den Thron besteigen würde. Man kann einen Mann nicht für etwas bestrafen, was ihm aufgezwungen wurde, er jedoch verweigert hatte.“

Konnte es sein, dass dieser aalglatte Senator ihm gerade die Haut gerettet hatte? Majorian ließ sich nichts anmerken, jedoch machte das Herz in seiner Brust einen gewaltigen Satz. Doch noch war die Sache nicht ausgestanden. Immerhin hing alles vom finalen Wort des Kaisers ab. Und seinem Blick nach hatte er sein finales Urteil noch nicht gefällt.

„Nun, Majorian, so wie es aussieht, kann ich Euch nicht für etwas bestrafen, was nicht passiert ist. Wenn Ihr mir nicht nach Leben und Thron trachtet und Euer treuer Freund hier …“ Bei diesem Satz wies er mit der linken Hand auf Ricimer. „… Eure Treue mit seinem Leben verbürgt, so soll mir das genügen.“

„Das tu ich, mein Kaiser. Flavius Majorian ist ein treuer Diener des Reiches und Eurer Göttlichkeit!“, antwortete Ricimer entschlossen.

Sein Blick wanderte dabei langsam zu Majorian. Falls er diesen Saal tatsächlich lebend verlassen sollte, dann würde er Ricimer mehr als nur eine gute Amphore Falerner schulden! Schließlich erhellte sich die Miene des Kaisers wieder. Er hatte genau das gehört, was er hören wollte, unabhängig davon, ob es die Wahrheit gewesen wäre oder nicht. Die kaiserlichen Palatinawachen ließen ihre Schwerter wieder in die Scheide gleiten.

„Nun, meine Freunde“, begann der Kaiser und wandte sich dabei wieder seinem Thron zu, um sich darauf niederzulassen, „ihr habt sicher das Gerücht gehört, dass der Vandalenkönig Geiserich sich auf den Weg nach Rom gemacht hat, um Rache für einen angeblichen Vertragsbruch zu nehmen. Ein vollkommen haltloses Gerücht, wenn ihr mich fragt, denn ein Vertrag, der ohnehin nichts wert ist, kann doch auch nicht gebrochen werden, oder?“

Majorian wusste, was der neue Augustus darauf als Antwort hören wollte.

„Natürlich seid Ihr als neuer Kaiser nicht an einen Vertrag gebunden, den der alte Kaiser mit einem Vasallenkönig geschlossen hat“, begann Majorian und bemerkte, wie sehr Petronius die Bezeichnung Vasall für den Vandalenkönig genoss. „Dennoch wäre es ratsam, den Vertrag einzuhalten. Die Tochter Eures Vorgängers sollte den Sohn des Königs von Nordafrika heiraten, um die Getreidelieferungen, die für Rom so wichtig sind, zu garantieren. Dadurch, dass Ihr Eudocia mit Eurem Sohn Palladius verheiratet habt, habt Ihr die Ehre des Barbarenkönigs verletzt. Und Ehre geht bei den Germanen über alles!“, schloss Majorian.

Der Kaiser schwieg und runzelte die Stirn. Nach einigen Sekunden wandte er sich an Ricimer:

„Und Ihr, Ricimer? Was sagt Ihr dazu?“

„Meine klaren Worte haben dem Kaiser wohl nicht gefallen“, dachte Majorian. Die Atmosphäre hatte sich schnell von gespielter Herzlichkeit zu frostiger Kühle verändert.

„Rein vom militärischen Standpunkt aus gesehen, mein Herr, war Euer Schritt höchst unklug. Die Staatskassa ist so gut wie leer, wir haben nicht genügend Truppen, um Rom wirkungsvoll zu verteidigen, sollten die Vandalen wirklich angreifen. Was sie zweifellos tun werden. Wie Majorianus schon angemerkt hat, die Ehre von Geiserich wurde verletzt, zumindest denkt er das. Und das könnte einen offenen Krieg bedeuten. Mein Rat an Euch wäre nun, eine diplomatische Mission nach Karthago zu schicken, um mit Geiserich einen neuen Vertrag auszuhandeln“, sagte Ricimer frei heraus.

„Außerdem empfiehlt es sich, sofort eine Mission nach Konstantinopel zu schicken, um Kaiser Markian um militärischen Beistand zu ersuchen!“, pflichtete Majorian Ricimer bei.

Der Kaiser saß schweigend auf seinem Thron. Nach fast einer Minute des Schweigens wandte er sich schließlich an seinen magister officiorum:

„Du bist so still, Postumios. Wie siehst du die Lage?“

„Nun, göttlicher Herrscher“, begann Postumios, „ich bin nicht der Ansicht, dass die Vandalen wirklich einen Angriff auf Italien oder das Reich planen. Sie wissen, dass sie gegen Eure göttliche Macht nur verlieren können.“

Majorian fiel es nur schwer, seinen Ekel zu verbergen – schleimig wie eine Kröte, der Mann.

„Dennoch muss ich den beiden Heerführern in einigen Punkten recht geben. Das Schatzamt meldet wirklich, dass unsere Kassen leer sind“, fuhr Postumios fort. „Eine diplomatische Mission an den Hof der östlichen Reichshälfte kann nicht schaden. Vielleicht kann uns der Kaiser in Konstantinopel Truppen oder Gelder schicken, um Italien gegebenenfalls zu verteidigen. Und, wir sollten die Steuern dringend erhöhen und weitere Bürger in den Dienst einberufen!“

„Nun, in einem Standpunkt muss ich euch beiden recht geben“, begann der Kaiser, „es wäre tatsächlich ratsam, diplomatisch aktiv zu werden. Aber ich sehe die aussichtsreichsten Chancen nicht im Osten, sondern eher im Westen.“

Majorian verstand nicht ganz, worauf der Kaiser hinauswollte. Bisher hatte Konstantinopel dem Westen selten seine Hilfe verweigert. Erst vor wenigen Jahren, als der Hunnenkönig Atilla in Gallien und Italien einfiel, waren es östliche Armeen, die sein Kernland jenseits der Ister angegriffen oder Italien selbst verteidigt hatten.

„Aber mein Kaiser, im Westen …“, begann Ricimer, „… im Westen gibt es nichts außer den Goten und Franken in Gallien und den Sueben in Hispanien.“

„Ganz genau, mein lieber Ricimer. Ich habe Senator Avitus nach Tolosa, an den Hof des Gotenkönigs Theoderichs II. gesandt, um das alte Bündnis zwischen unseren beiden Völkern zu erneuern.“

Diesmal waren es die beiden Generäle, denen es die Sprache verschlagen hatte. Über Jahrzehnte hinweg hatten Männer wie sie, Männer wie Aetius, dafür gekämpft, die Goten und andere Fremdvölker aus der Reichspolitik herauszuhalten. Schon die geplante Heirat mit einem Vandalen war ein Skandal gewesen. Und nun plante der Kaiser, die Goten nicht mehr, wie bisher, als Juniorpartner anzusehen, sondern als ebenbürtige Verbündete.

„Mein Kaiser, bitte bedenkt, dass wir in dutzenden Schlachten gegen die Goten gekämpft haben. Theoderich ist wie sein Vater, er verfolgt seine eigenen Ziele. Ihm liegt nichts am Reich!“, warf Majorian ein.

Doch der Kaiser schwieg nur. Er war sich seiner Sache zu sicher. Dennoch konnte man merken, dass ihm der Zweifel seiner Generäle, die ihr Glück lieber im Osten als im Westen suchen wollten, missfiel. Mit der rechten Hand begann er sich das Kinn zu reiben, während die Finger der linken ungeduldig auf die Lehne des Throns hämmerten. Schweigend ruhten alle Augen auf ihm. In der Zwischenzeit war der Diener, den er zuvor ausgeschickt hatte, mit einem goldenen Becher Wein zurückgekehrt. Schweigend, den Kopf gen Boden gesenkt, stand er vor der Seitentür, durch die er vorhin hinausgeeilt war.

„Castillius! Was stehst du da herum wie eine Statue. Hab ich dir vorhin nicht einen Befehl erteilt?“, bellte Maximus ihn plötzlich an.

„Ja, Herr, natürlich Herr. Hier, Herr!“, stammelte der Diener und reichte dem Kaiser den Becher.

Der Kaiser nahm den Becher, machte einen großen Schluck und wies den Diener mit der linken Hand weg. Als er den Becher wieder absetzte, war dieser vollständig geleert. Maximus betrachtete den Bodensatz nachdenklich und schweigend. Schließlich erhob er sich wieder.

„Dieser angebliche Vandalenangriff ist nichts weiter als eine Täuschung. Wenn die Vandalenflotte wirklich Karthago verlassen hätte, dann hätten uns unsere Spione davon berichtet!“, sagte er entschlossen.

„Mein Kaiser, wir haben aktuell keine Spione in Karthago. Sämtliche Männer, die wir dorthin entsandt haben, wurden von den Vandalen gefasst und getötet!“, erwiderte Ricimer entschieden. „Ich weiß es, ich habe selbst zwei Männer nach Nordafrika geschickt. Beide sind in der Wüste verschwunden!“

„Unsinn! Die Vandalen segeln nicht nach Norden, dafür gibt es absolut keine Beweise oder auch nur Hinweise! Und wenn, dann werden unsere Truppen und hoffentlich auch bald unsere gotischen Verbündeten sie vernichten“, entgegnete der Kaiser und beendete somit die Diskussion.

Majorian seufzte leicht. Welchen Sinn hatte es noch, mit jemanden zu reden, der sich so in seiner eigenen Fantasie verloren hatte. Geiserich würde diesen Verrat der Römer sicher nicht ungestraft lassen, davon war er überzeugt. Doch leider ließ sich der Kaiser davon nicht überzeugen.

„Gut, da dies nun besprochen ist“, grinste der Kaiser und setzte sich wieder, „zu etwas Erfreulicherem. Aber zuerst: Castillius, noch mehr Wein! Für die Feldherren auch, ich möchte mit ihnen trinken!“

Widerspruch war sinnlos. Wenn der Kaiser zum Trinken aufforderte, so musste man. Doch die Frage blieb, was der Anlass dafür war. Immerhin verdächtigte der Kaiser Majorian, nach seinem Thron zu trachten. Außerdem ignorierte er die Gefahr der Vandalenflotte vollständig. Kein freudiger Anlass also.

Als der Bursche drei Becher Wein gebracht und dem Kaiser und den beiden Heerführern gereicht hatte, stieg Petronius Maximus wieder vom Podest herunter.

„Ich habe beschlossen, dass ich euch beiden vertrauen kann. Daher will ich euch etwas schenken!“, sinnierte der Augustus vor sich hin. „Dich Ricimer, ernenne ich hiermit offiziell zum comes Italiae. Du sollst als oberster Feldherr der italischen Armee auch weiterhin für die Sicherheit des Reiches zuständig sein. Dich hingegen, Majorian, ernenne ich zum comes domesticorum, dem Oberbefehlshaber der kaiserlichen Garde. Beides wichtige Aufgaben, die zum Schutz meiner Person und dem Schutz des Reiches unerlässlich sind. Und auf diese beiden Ernennungen trinke ich!“

Mit diesen Worten hob er den Becher, prostete den beiden Feldherren zu und leerte ihn in einem Zug. Majorian und Ricimer erwiderten den Salut und taten es dem Kaiser gleich. Der Wein schmeckte süßlich, offensichtlich hatte der Kaiser wahrlich keine Kosten gescheut, um die ohnehin prallgefüllten Weinkeller noch weiter auffüllen zu lassen. Eigentlich kein Wein, den man in aller Eile austrinken sollte. Majorian hatte kaum seinen Becher geleert, da nahm ihm der Diener den Becher schon wieder ab. Auch Ricimers Becher wurde ihm förmlich aus der Hand gerissen.

Beide schwiegen. Grundsätzlich hätte Majorian zufrieden sein können. Immerhin war er ab sofort Befehlshaber der Palatinawache des weströmischen Kaisers. Ricimer hingegen war sogar zum militärischen Oberbefehlshaber für Italien ernannt worden. Dennoch wirkte er nicht weniger nachdenklich.

„Nun, da dieser freudige Anlass begossen wurde, wird Postumios euch eure Abzeichen und meine ersten Befehle an euch aushändigen!“, beendete Augustus Maximus mit einem Wink seiner rechten Hand die Audienz.

Majorian und Ricimer hoben die Hände zum militärischen Gruß und machten kehrt, um dem Haushofmeister zu folgen, der inzwischen in Richtung der großen Eichentüren gegangen war. Als er dagegen klopfte, öffneten die Wachen von außen die Tür. Ricimer schritt hindurch, Majorian folgte ihm und warf dabei noch einen kurzen Blick über die rechte Schulter. Der Kaiser hatte sich wieder auf seinen Thron gesetzt. Majorian sah noch, wie eine junge Dienerin gerade durch eine andere Tür den Saal betrat, eine Schale Weintrauben vor sich tragend.

Der Gang vor dem Thronsaal war bereits von Fackeln erhellt, die Sonne war gen Westen nur noch durch einen roten Schein am Horizont zu erkennen.

„Nun, erlaubt mir, der Erste zu sein, der euch zu euren Ernennungen gratuliert“, grinste Postumios und streckte den rechten Arm aus.

Widerwillig ergriffen sowohl Majorian als auch Ricimer seine Hand und akzeptierten die Glückwünsche. Kaum hatte Ricimer die Hand des alten Mannes wieder ausgelassen, da hastete er schon zu einem kleinen Tischchen, das inzwischen neben den Eichentüren aufgestellt worden war. Darauf befanden sich neben zwei mit Wachs versiegelten Papyrusrollen auch zwei Bronzesiegel, je eines für Ricimer und Majorian. Der magister officiorum ergriff das erste Siegel und heftete es mittels einer Nadel an Ricimers rotem Umgang an, knapp unter der rechten Schulter. Anschließend, ohne ein Wort zu sagen, ergriff er das nächste Siegel und brachte es an Majorians rechter Schulter an. Beide nahmen diese Beförderung stillschweigend entgegen. Zu guter Letzt nahm er die beiden Papyrusrollen und überreichte je eine an Majorian und Ricimer.

„Die ersten Befehle des göttlichen Augustus Petronius Maximus!“, sagte er feierlich. „Der Kaiser erwartet von euch, dass ihr sie alsbald erfüllen werdet!“

Mit dem letzten Satz machte er ohne weitere Worte kehrt und verschwand wieder durch die schweren Eichentüren. Die beiden Generäle blieben wie angewurzelt stehen und überlegten kurz, was sie nun tun sollten. Majorian entschied sich als Erster etwas zu sagen. Er streckte seine rechte Hand aus und reichte sie Ricimer:

„Nun denn, Glückwunsch zum neuen Posten!“, grinste er.

Ricimer zögerte kurz, dann grinste er ebenfalls und ergriff Majorians Hand.

„Danke dir, mein alter Freund. Ich gratuliere dir ebenfalls.“

Anschließend warf er noch einen kurzen Blick auf die schweren Eichentüren und ging dann ohne ein weiteres Wort den Gang hinunter. Majorian tat es ihm gleich. Während sie schweigend dahingingen, spielte er mit der Schriftrolle in seiner Hand. Er hatte beschlossen, sie nicht sofort im Palast zu öffnen, sondern etwas zu warten. Er brauchte erst einen Becher Wein, um das gerade Geschehene zu verarbeiten. Offenbar ging es Ricimer nicht anders, denn auch seine Befehlsrolle war noch ungeöffnet. Stillschweigend verließen sie den Kaiserpalast. Draußen waren inzwischen die letzten Strahlen der Frühlingssonne verschwunden und Finsternis umfasste die Hauptstadt des Reiches.

„Ein höchst … interessanter Abend, wenn du mich fragst“, begann Ricimer.

„Dem kann ich nur beipflichten. Ich glaube, ich brauche jetzt einige Becher Wein, um diese Entwicklung zu verarbeiten!“, antwortete Majorian.

„Du nimmst mir die Worte aus dem Mund. Ich habe mir eine kleine Villa auf dem Esquilin gegönnt. Etwas Schlichtes, bis ich selbst ein … angemesseneres Domizil für mich in der Nähe der Stadt gefunden habe. Möchtest du mir Gesellschaft leisten? Dann können wir auch über unsere Befehle streiten, wer den selbstmörderischeren hat!“, lachte Ricimer.

Majorian hatte nichts dagegen einzuwenden.

Nicht nur der Wein bewirkte, dass es in Ricimers tablinum gemütlicher zuging als im kalten Audienzsaal des Kaiserpalastes. Zwar war die Villa noch nicht fertig eingerichtet, viele Möbel waren noch mit Tüchern verhüllt, man hatte jedoch bereits zwei Liegen und einen kleinen Tisch aufgestellt, auf dem ein Kerzenständer stand. Kaum hatte Majorian seinen Brustpanzer abgelegt und auf einen dafür bereitgestellten Ständer gehängt, merkte er, wie sich das beengende Gefühl, das ihm in den letzten Stunden in der Brust gesessen war, löste. Erschöpft ließ er sich auf die Liege fallen, die Hände auf die Knie gelegt. Er war erst am späten Nachmittag aus Norden kommend in Rom eingetroffen und davor die ganze Nacht durchgeritten. Er war erschöpft. Und da er direkt zum kaiserlichen Palast aufgebrochen war, hatte er auch keine Zeit gehabt, sich nach einer Herberge umzusehen. Die Liege war ein Geschenk Gottes. Ein Sklave brachte eine Schüssel Wasser. Er stellte sie auf den Boden, zog ein Tuch von einem kleinen, neben der Tür stehenden Tischchen und platzierte die Wasserschüssel darauf. Anschließend verließ er schweigend wieder den Raum. Mühsam stand Majorian wieder auf und ging zur Schüssel, um sich Wasser ins Gesicht zu spritzen und die Hände zu waschen. Das kalte Wasser ließ seine Lebensgeister wieder erwachen. Er fühlte sich zwar noch immer erschöpft von den Strapazen der letzten Stunden, jedoch etwas besser. Er war wacher, frischer. Ricimer betrat den Raum. Auch er hatte seine Rüstung abgelegt und stand nun in leichten Leinenhosen und Tunika im Raum.

„Gleich viel besser, oder?“, lachte er.

„Definitiv. Gegen Schluss hin hatte ich schon das Gefühl, der Brustpanzer würde mir den Atem rauben“, schnaufte Majorian.

„Kein Wunder, so wie der Kaiser dich angesehen hat, hätte man meinen können, dass der Panzer gleich zeigen muss, was er wert ist“, kommentierte Ricimer. „Wein?“, fügte er hinzu.

Majorian nickte und ließ sich wieder auf die Liege fallen. Ricimer nahm in gewohnt römischer Manier liegend ihm gegenüber Platz. Doch Majorian war nicht nach einem bequemen Abend unter Freunden zumute. Seine Hände ruhten auf seinen Knien, gedankenverloren starrte er in den Raum. Ricimer klatschte kurz in die Hände. Wenige Augenblicke später brachte der Sklave, der vorhin das Wasser gebracht hatte, ein Tablett mit zwei Bechern Wein darauf. Ricimer ergriff den einen, Majorian den anderen Becher. Der Wein schmeckte süßlich und erfrischend, Honig und Nelken verliehen ihm eine besondere Würze. Am liebsten hätte er den Becher in einem Zug geleert, jedoch mahnte er zur Beherrschung und setzte den Becher wieder ab. Als er ihn auf den Tisch gestellt hatte, bemerkte Ricimer verwundert:

„Na? Schmeckt der Wein dem feinen Soldaten nicht?“

„Doch, sehr sogar. Aber ich habe seit gestern Abend nichts mehr gegessen, da sollte ich mich nicht gleich betrinken“, gab Majorian zurück.

„Genau, richtig, Abendessen. Wonach steht dir der Sinn? Mein neuer Koch ist fantastisch. Sein Aal, ein Gedicht. Oder Wild? Wie wäre es mit Kaninchen? Egal was du möchtest, Strabo wird dir jeden Wunsch erfüllen, sofern es sich um etwas zum Essen handelt“, grinste Ricimer.

Majorian merkte, dass Ricimer, obwohl er behauptet, die Villa noch nicht lange zu bewohnen, bereits einiges eingekauft hatte. Majorian hatte ihn nie als Mann gesehen, der viel Wert auf übertriebeben Luxus legte. Offensichtlich wollte er die römische Oberschicht beeindrucken, sofern er die Stadtelite überhaupt in seinem Haus willkommen heißen würde.

„Danke, alter Freund, aber mir reichen Brot, etwas Käse und ein paar Oliven“, lachte er schließlich. „Einfache Gerichte für einfache Soldaten!“

Ricimer nickte und deutete dem Sklaven, der in der Zwischenzeit stumm in einer Ecke gestanden hatte, Majorians Essenswunsch zu erfüllen. Dieser nickte nur und verließ sofort den Raum in Richtung Küche. Nun herrschte Stille, nur unterbrochen vom leisen Knistern der Kerzen. Schließlich unterbrach Ricimer die schwere Stille:

„Also, was hältst du von unserem neuen Kaiser?“

„Ganz ehrlich, nicht viel. Jemand, der sich nur mit Schmeichlern umgibt, der keine Ahnung hat von der Welt außerhalb der heiligen Mauern Roms, abgesehen von seinen Landgütern, und der hin und wieder einen Ausflug nach Capua ans Meer macht“, sprach Majorian frei heraus. „Falls wirklich die Vandalenflotte in See gestochen sein sollte, und davon gehe ich aus, wird er nicht lange an der Macht sein. Er genießt jetzt das süße Leben, aber er ist nicht der Richtige, um das Reich wirkungsvoll zu verteidigen. Und du? Was ist deine Meinung?“

„Nun, zumindest hat er Geschmack. Der Wein war vorzüglich. Und die Dienerin, die ihm, als wir gingen, die Weintrauben gebracht hat, war es auch“, scherzte Ricimer.

Majorian musste ebenfalls grinsen. Diesem gerissenen Fuchs entging aber auch gar nichts, dachte er.

„Abgesehen davon teile ich deine Ansichten. Wieder ein schwacher Kaiser, wie alle anderen davor. Es würde mich auch nicht wundern, wenn die Gerüchte, die man in den Straßen Roms hört, der Wahrheit entsprechen“, sagte Ricimer und nahm einen Schluck Wein.

„Gerüchte? Von welchen Gerüchten sprichst du?“, fragte Majorian ernst.