Menschenrechte - Andrew Clapham - E-Book

Menschenrechte E-Book

Andrew Clapham

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Beschreibung

Die Forderung nach einer auf der Achtung der Menschenrechte gegründeten Welt ist leicht erhoben; doch die Bemühungen um einen Konsens hinsichtlich ihrer uneingeschränkten Achtung ist ein nicht endender Prozess, denn zu den Menschenrechten gehört u.a. das Recht auf Leben, Gleichheit, freie Meinungsäußerung, Schutz der Privatsphäre, Gesundheit, Ernährung und angemessenes Wohnen. Diese Einführung befasst sich in erster Linie mit den inhaltlichen Aspekten von Menschenrechten, sie erzählt nicht nur ihre von Revolutionen, Proklamationen und Kämpfen geprägte Geschichte. Ziel des Buches ist es, den Lesern einige Grundüberlegungen für den Einstieg in die Welt des Menschenrechtsgedankens, den damit verbundenen Aktivitäten und den rechtlichen Grundlagen zu vermitteln.

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Seitenzahl: 265

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Andrew Clapham

Menschenrechte

Eine kurze Einführung

Aus dem Englischen übersetzt von Ursula Blank-Sangmeister unter Mitarbeit von Anna Raupach

Mit 16 Abbildungen

Reclam

Titel der englischen Originalausgabe:

Andrew Clapham: Human Rights. A Very Short Introduction

Oxford / New York. Oxford University Press, 2007.

Alle Rechte vorbehalten

© 2013 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

© für die deutschsprachige Ausgabe

2013 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

Die Übersetzung erscheint mit Genehmigung von Oxford University Press, New York. Human Rights. A Very Short Introduction was originally published in English in 2007.

This translation is published by arrangement with Oxford University Press.

Copyright © 2007 by Andrew Clapham

Gesamtherstellung: Reclam, Ditzingen.

Made in Germany 2013

RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN: 978-3-15-960356-8

ISBN der Buchausgabe: 978-3-15-18982-5

www.reclam.de

Inhalt

Vorwort

Dank

1 Rechte

2 Die historische Entwicklung der internationalen Menschenrechte

3 Menschenrechtsaußenpolitik und die Rolle der Vereinten Nationen

4 Das internationale Verbrechen der Folter

5 Legitime Freiheitseinschränkungen

6 Die Abwägung von Rechten – das Problem der Privatsphäre

7 Nahrung, Bildung, Gesundheit, Wohnen und Arbeit

8 Diskriminierung und Gleichheit

9 Die Todesstrafe

Schlussbemerkungen

Materialien

Stellennachweise

Weiterführende Literatur

Abbildungsnachweise

Anhang: Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte

Register

Zum Autor

Hinweise zur E-Book-Ausgabe

Vorwort

Ziel dieses Buches ist es, dem Leser einige Grundüberlegungen für den Einstieg in die Welt des Menschenrechtsgedankens, den damit verbundenen Aktivitäten und den rechtlichen Grundlagen zu vermitteln. Menschenrechte sind nicht dazu angetan, die Spannung zwischen rivalisierenden Interessen und unterschiedlichen Visionen davon, wie die Welt sein sollte, tatsächlich aufzulösen; aber sie stellen das Vokabular für die Diskussion darüber bereit, welchen Interessen der Vorrang gebühren sollte und wie die von uns gewählten Ziele sich am besten verwirklichen lassen.

Diese Einführung befasst sich in erster Linie mit den inhaltlichen Aspekten etlicher Menschenrechte, sie erzählt also nicht einfach nur ihre – von Revolutionen, Proklamationen und Kämpfen geprägte – Geschichte. Die Forderung nach einer auf der Achtung der Menschenrechte gegründeten Welt ist leicht erhoben; doch die Bemühungen um einen Konsens hinsichtlich der uneingeschränkten Achtung der Menschenrechte ist ein niemals endender Prozess, wenn wir uns klarmachen, dass zu den Menschenrechten das Recht auf Leben, Gleichheit, freie Meinungsäußerung, Schutz der Privatsphäre, Gesundheit, Ernährung und angemessenes Wohnen gehört. Bei den Menschenrechten geht es darum, jedem von uns ein Leben in Würde zu ermöglichen, und davon sind wir auf globaler Ebene noch weit entfernt. Wie wir noch sehen werden, will die Menschenrechtsbewegung nicht nur eine Reihe von geschichtlich verankerten Verpflichtungen implementieren; vielmehr möchte sie Menschen dazu bringen, sich gegen Unrecht zur Wehr zu setzen und sich mit den Unterdrückten zu solidarisieren.

Damit sich die Leser von einigen der Texte und Organisationen, auf die in dieser Einführung Bezug genommen wird, einen eigenen Eindruck verschaffen können, haben wir unter http://graduateinstitute.ch/faculty/clapham/vsi eine Website mit Internetlinks zusammengestellt. Die in diesem Buch mit einem Asterisk * gekennzeichneten Quellen sind auf dieser Website zu finden.

Dank

Ich möchte all jenen bei Oxford University Press danken, die zur Verwirklichung dieses Projektes beigetragen haben. Mein besonderer Dank gilt Marsha Filion, die mich bei der Entwicklung des Konzepts unterstützt und mir in jeder wichtigen Phase zur Seite gestanden hat. Zu Dank verpflichtet bin ich auch James Thompson, Alyson Silverwood und Zoe Spilberg für die mühevolle Arbeit, die mit der Produktion des Buches verbunden war. Außerdem habe ich die konstruktiven und ermutigenden Kommentare von Susan Marks und all den Kritikern, die hier nicht im einzelnen aufgeführt werden können, sehr geschätzt. Ihre Begeisterung, ihr Engagement und ihre Anregungen haben den Text in seiner Endfassung zweifellos positiv beeinflusst. Louise Petre danke ich für die geschmackvolle Gestaltung der Website, die dieses Buch begleitet.

Hier, am »Graduate Institute of International Studies« in Genf, habe ich das Glück, auf die Unterstützung hervorragender Studenten zurückgreifen zu können: Sie haben sachdienliche Fragen gestellt und mir wertvolle redaktionelle Anregungen gegeben. Insbesondere Michelle Healy und Claire Mahon sei für ihre Hilfe bei diesem Buch herzlich gedankt.

Schließlich möchte ich noch zwei Mitgliedern meiner Familie meinen Dank aussprechen: meiner Mutter, Margaret Clapham, die mein Projekt stets gutgeheißen und das Manuskript kritisch durchgesehen hat, um es allgemein verständlich zu halten, sowie meiner Frau, Mona Rishmawi, die mich nicht nur unermüdlich unterstützt, sondern mir auch bei der Formulierung der Gedanken geholfen hat und gerne bereit war, bei vielen Gelegenheiten zusammen mit mir »laut zu denken«.

A. B. C.

Graduate Institute of International Studies,

Genf

Kapitel 1Rechte

Heutzutage wird ein Problem gewöhnlich sehr schnell zu einem Menschenrechtsproblem deklariert. Dieses Buch befasst sich mit der Herkunft des Begriffs der Menschenrechte und damit, wie die Menschenrechtsbewegung eine Reihe von Verpflichtungen entwickelt hat, die weltweit Geltung haben. Wir werden der Frage nachgehen, welchen Weg die Idee der Menschenrechte genommen hat und welche Rolle diese Rechte in unserer Welt spielen (und eines Tages vielleicht noch spielen werden).

Eines der Themen dieser Einführung handelt davon, dass unterschiedliche Menschen bezüglich der Menschenrechte unterschiedliche Sichtweisen haben. Für manche ist die Anrufung der Menschenrechte eine aufrichtige und moralisch gerechtfertigte Forderung, die alle Arten von Unrecht aus der Welt schaffen soll. Andere sehen darin lediglich ein Schlagwort, dem mit Misstrauen oder sogar Feindseligkeit zu begegnen ist. Rechtsanwälte halten manchmal den Begriff der Menschenrechte für etwas beinahe Künstliches und verweisen auf Details anerkannter nationaler oder internationaler Menschenrechtsgesetze. Dennoch ist die Anwendung dieser Gesetze fast immer umstritten, und die jeweiligen Streitparteien fordern, das Menschenrechtsgesetz zu ihren Gunsten anzuwenden. Die Menschenrechte sind etwas Besonderes, weil sie oftmals den Eindruck erwecken, dass andere Gesetze unangemessen oder ungerecht seien. Man bedient sich der Sprache der Menschenrechte, um alle möglichen Verhaltensformen zu kritisieren, zu verteidigen und zu reformieren. Wenn man die Menschenrechtskarte ins Spiel bringt, kann das bei heutigen Entscheidungen überzeugend, manchmal sogar ausschlaggebend sein; das ist ein Aspekt dessen, was die moralische Kraft der Menschenrechte so attraktiv macht – sie helfen bei der Suche nach Argumenten und können manchmal die Art und Weise, wie Dinge gemacht werden, verändern.

Das Konzept einer »Kultur der Menschenrechte« ist ebenfalls mit unterschiedlichen Vorstellungen verknüpft. Einige verstehen darunter, dass jeder aufgrund seiner angeborenen Würde und kraft seines Menschseins respektvoll behandelt wird. Andere sehen darin die Aufforderung an Richter, Polizisten und Immigrationsbeamte, auf Kosten der allgemeinen Sicherheit die Interessen von Terroristen, Verbrechern und anderen unerwünschten Elementen zu schützen. Im Vereinigten Königreich erreichte diese Spannung kürzlich einen Höhepunkt, als die Boulevardpresse die Anwendung des neuen »Human Rights Act« ins Lächerliche zog (s. Materialteil 1). Die Spannung ist in gewisser Weise den Maßnahmen zum Schutz der Menschenrechte inhärent. Menschenrechte kommen ins Spiel, um Regierungen und andere Akteure daran zu hindern, Strategien zu verfolgen, die auf Kosten des Wohles bestimmter Personen und auf Kosten der ungehinderten Funktionsfähigkeit einer demokratischen rechtsstaatlichen Gesellschaft gehen. Gelegentlich mag es so aussehen, als laufe der Schutz der Menschenrechte dem Willen der Mehrheit zuwider; tatsächlich können Menschenrechte dazu dienen, Menschen vor der »Tyrannei« der Mehrheit zu schützen. Doch, wie wir noch sehen werden, erlaubt die Menschenrechtsgesetzgebung, abgesehen vom absoluten Verbot der Folter, durchaus die Rücksichtnahme auf Sicherheitsbedürfnisse.

Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass ein großer Teil des offenkundigen britischen Widerstands gegen die »Menschenrechtskultur« als Entscheidungskriterium in hohem Maße auf falschen Informationen über die mutmaßlichen Auswirkungen des neuen »Human Rights Act« beruht. Erstens: Die Richter können keine Gesetze aufheben, wenn sie mit den Menschenrechten nicht in Einklang stehen; das Parlament behält die völlige Souveränität darüber, welche Gesetze erlassen oder aufgehoben werden. (Das ist in anderen Ländern mit einer festgeschriebenen Verfassung wie in den Vereinigten Staaten oder Südafrika nicht der Fall, wo konstitutionelle Rechte oberste Priorität haben können.) Zweitens: Die von der Regierung vorgenommene Überprüfung der Umsetzung des »Human Rights Act« hat eine Reihe von »Mythen und falschen Wahrnehmungen« bezüglich des Gesetzes zum Vorschein gebracht. Geschichten wie die eines Gefangenen, nach dessen Behauptung die Tatsache, dass ihm bestimmte Zeitschriften verweigert würden, eine unmenschliche und entwürdigende Behandlung darstelle, werden immer wieder erzählt, bis sie schließlich gleichbedeutend mit der Vorstellung werden, dass es hier um die Achtung der Menschenrechte gehe. Der Anspruch dieses Gefangenen auf sein Menschenrecht auf Zeitschriftenlektüre wurde von Entscheidungsträgern niemals akzeptiert und von den Gerichten schlichtweg zurückgewiesen. Geschichten, die den »Human Rights Act« als »Charta von Spinnern«, »verrückte Gesetzgebung« oder »blödsinnige Gesetze« präsentieren, erweisen sich bei näherer Betrachtung als sensationslüstern. Versuche, den Schutz der Menschenrechte als Irrsinn darzustellen, erinnern uns daran, dass die Menschenrechtsbewegung oftmals die Rechte derer zu sichern bemüht ist, die ausgegrenzt und schutzbedürftig sind. Diejenigen, die vor Jahrhunderten die Menschenrechtsidee entwickelten, hielten sie eher für das Ergebnis rationalen Denkens denn für eine Neurose, aber auch sie standen häufig in dem Ruf, sich über die Existenz solcher Rechte Illusionen zu machen. Wir werden dem »verrückten Tom« Paine weiter unten noch begegnen. Jetzt wollen wir erst einmal die Geschichte der Menschenrechtsidee näher betrachten.

Als erstes müssen wir uns klarmachen, dass die Menschenrechte eine spezielle, eng gefasste Kategorie von Rechten darstellen. In seinem Buch An Introduction to Rights grenzt William Edmundson die Menschenrechte von anderen Rechten ab und erklärt: »Menschenrechte anerkennen außergewöhnlich besondere und grundlegende Interessen, was sie von anderen – auch moralischen – Rechten generell unterscheidet.« Richard Falk bezeichnet die Menschenrechte als einen »neuen Typus von Rechten«, die infolge der Verabschiedung der »Allgemeinen Menschenrechtserklärung« durch die Vereinten Nationen im Jahr 1948 große Bedeutung erlangt haben. Dies sollte man bei der Lektüre des Buches im Gedächtnis behalten: Wir reden nicht über alle Rechte, die Menschen haben mögen, sondern befassen uns mit einer ganz speziellen Kategorie von Rechten.

1. Schlagzeile aus The Sunday Telegraph vom 14. Mai 2006: Der »Human Rights Act« wird als »die Zuflucht von Terroristen und Schurken« gebrandmarkt.

Viele, die das Thema Menschenrechte angehen, beziehen sich auf frühe religiöse und philosophische Schriften. Danach sind die Menschen aufgrund ihres Menschseins mit bestimmten fundamentalen und unveräußerlichen Rechten ausgestattet. Verschiedene Gesellschaften sind zu den gleichen – wenn auch anders formulierten – Aussagen gekommen. Die historische Entwicklung des Konzepts der Menschenrechte wird oft mit der Evolution westlicher philosophischer und politischer Prinzipien in Verbindung gebracht, doch unter einem anderen Blickwinkel könnte man ähnliche Prinzipien hinsichtlich der Förderung der Volksbildung, der Selbstverwirklichung, der Achtung anderer und des Bemühens, zum Wohle seiner Mitmenschen beizutragen, auch in konfuzianischen, hinduistischen oder buddhistischen Traditionen entdecken. Aus religiösen Texten wie der Bibel und dem Koran lässt sich nicht nur die Begründung von Pflichten, sondern auch die von Rechten herauslesen. Die Anerkennung der Notwendigkeit, die Freiheit und Würde des Menschen zu schützen, findet sich in einigen der frühesten Codices, angefangen beim »Codex Hammurabi« im antiken Babylon (um 1780 v. Chr.) bis hin zu den naturrechtlichen Traditionen des Westens, die Begriffe des ius gentium (Völkerrechts) aus der griechischen Stoa und dem römischen Recht ableiteten. Jeder dieser Codices erkennt bestimmte allgemeingültige Prinzipien und Verhaltensstandards an. Von diesen Standards dürfte der Menschenrechtsgedanke inspiriert sein, sie können als Vorläufer oder als unterschiedliche Manifestationen der Menschenrechtsidee gesehen werden – allerdings ist die Abstammung nicht so eindeutig wie bisweilen behauptet. Werfen wir nun einen Blick auf einige frühe historische Ausführungen zum Begriff der »Rechte«, so wie sie jeweils aufgefasst wurden (im Gegensatz zu angemessenem Verhalten), und auf die skeptischen Reaktionen, die dadurch ausgelöst wurden.

Die Rechte des Menschen und das mit ihnen verbundene Unbehagen

Die gängige westliche Darstellung der Tradition der Menschenrechte ist etwas problematisch. Frühe gesetzliche Entwicklungen im Bereich der Menschenrechte sollen auf die »Magna Charta« des Jahres 1215 zurückgehen, einen Vertrag zwischen dem englischen König Johann und den Baronen, die über die vom Monarchen erhobenen Steuern murrten. Doch obwohl diese Übereinkunft einem »freien Mann« Rechte garantierte – »Kein freier Mann soll verhaftet, gefangen gesetzt, seiner Güter beraubt, geächtet, verbannt oder sonst angegriffen werden […] als durch das gesetzliche Urtheil von Seinesgleichen, oder durch das Landesgesetz« –, wurde damit ausschließlich Grundbesitzern das Recht auf ein Gerichtsverfahren garantiert. Die in der »Magna Charta« aufgeführten Rechte waren keine Menschenrechte, sondern vielmehr politische Vereinbarungen. Die Menschenrechte gelten ja für jedermann und können daher nicht auf eine ausgewählte Gruppe Privilegierter beschränkt werden. Aus heutiger Perspektive erweist sich die »Magna Charta« als ein ziemlich missglücktes Beispiel einer Menschenrechtserklärung. Es genügt, einen einzigen Satz zu zitieren; so heißt es in Paragraph 54: »Kein Mann soll auf die Anklage einer Frau wegen des Todes eines anderen als ihres Mannes verhaftet oder gefangen gesetzt werden können.«

In ähnlicher Weise gilt die »English Bill of Rights« (»Gesetz der Rechte«) aus dem Jahr 1689 als Wegbereiter heutiger Texte. Das Parlament erklärte, dass »keine übermäßigen Geldstrafen auferlegt noch ungesetzliche und grausame Strafen verhängt werden dürfen«. Es stellte jedoch ebenfalls fest, dass »die Untertanen protestantischen Glaubens ihrer Stellung gemäß, und soweit es das Gesetz erlaubt, Waffen zu ihrer Verteidigung besitzen dürfen«. De facto war die »Magna Charta« wie die »Bill of Rights« eine politische Vereinbarung; diesmal zwischen einem Parlament und dem König (der die Rechte von Protestanten verletzt hatte) mit dem Ziel, »alte Rechte und Freiheiten« zu verteidigen.

Zur selben Zeit hatte die Arbeit einer Reihe von Philosophen einen sehr konkreten Einfluss auf Forderungen, die als »Naturrechte« oder »Rechte des Menschen« formuliert wurden. In seinem Second Treatise of Government (dt.: Über die Regierung), 1690 veröffentlicht, legte John Locke dar, dass Menschen im »Naturzustand« sich in einem »Zustand der Freiheit« befinden, der allerdings kein »Zustand der Zügellosigkeit« sei. Daraus folgerte er, dass jedermann »verpflichtet« sei, »sich selbst zu erhalten«; und wenn es seine Selbsterhaltung nicht gefährde, solle er »nach Möglichkeit auch die übrige Menschheit erhalten«. Und: »Er sollte niemanden seines Lebens oder dessen, was zur Erhaltung des Lebens dient, seiner Freiheit, seiner Gesundheit, seiner Glieder oder seiner Güter berauben oder sie beeinträchtigen.« Auf diese Weise können »die Menschen davon abgehalten werden, sich gegenseitig in ihren Rechten zu beeinträchtigen und einander Schaden zuzufügen«. Für Locke hat daher »ein jeder das Recht, den Übeltäter zu bestrafen und somit das Naturgesetz zu vollstrecken«. Er wusste, dass diese »seltsame Lehre« nicht praktikabel war, erklärte aber, dass die Menschen im Naturzustand verbleiben, bis sie zustimmen, Mitglieder »einer politischen Gesellschaft« zu werden. Locke sah die staatliche Regierung als Korrektiv an, das die Menschen daran hinderte, sich zu Richtern aufzuspielen, um dem Naturgesetz Geltung zu verschaffen. Seiner Meinung nach ermächtigte dieser freiwillig eingegangene Gesellschaftsvertrag die Regierung, Gesetze zu erlassen und zu vollstrecken, solange sie das in sie gesetzte Vertrauen rechtfertigte. Sollte die Regierung die willkürliche oder absolute Gewalt über »Leben, Freiheit und Besitz« des Volkes an sich reißen, dann würde, so Locke, die Macht der Regierung hinfällig und an das Volk zurückfallen.

In seinem Contrat social (dt.: Gesellschaftsvertrag) entwickelte Jean-Jacques Rousseau den Gedanken, dass jeder einen eigenen Willen (volonté particulière) habe und dass sein eigenes Interesse (intérêt particulier) »ganz anderes sagen [könne] als das Gemeininteresse«. Er meinte weiterhin, »dass, wer immer sich weigert, dem Gemeinwillen zu folgen, von der gesamten Körperschaft dazu gezwungen wird, was nichts anderes heißt, als dass man ihn zwingt, frei zu sein«. Rousseau: »Was der Mensch durch den Gesellschaftsvertrag verliert, ist seine natürliche Freiheit und ein unbegrenztes Recht auf alles, wonach ihn gelüstet und was er erreichen kann; was er erhält, ist die bürgerliche Freiheit und das Eigentum an allem, was er besitzt.« (Hervorhebungen A. Clapham) Der 1762 veröffentlichte Contrat social war ein Vorbote der Französischen Revolution von 1789, und die in ihm vertretenen Gedanken übten überall auf der Welt einen großen Einfluss auf diejenigen aus, die sich um eine Definition der Rechte der Regierenden und der Regierten bemühten.

Thomas Paine war ein radikaler englischer Autor, der an den revolutionären Veränderungen Amerikas mitwirkte. Er wanderte 1774 nach Amerika aus und veröffentlichte 1776 ein vielgelesenes Pamphlet mit dem Titel Common Sense (dt.: Gesunder Menschenverstand), in dem er sich gegen die Monarchie aussprach und eine republikanische Regierung sowie gleiche Rechte für alle Bürger forderte. Er arbeitete auch an der Verfassung von Pennsylvania aus dem Jahr 1776 mit und setzte sich für die spätere Abschaffung der Sklaverei in diesem Staat ein. Paines Schrift Rights of Man (dt.: Die Rechte des Menschen), 1791 veröffentlicht, war eine Verteidigung der Französischen Revolution – als Reaktion auf Edmund Burkes Reflections on the Revolution in France (dt.: Über die Französische Revolution. Betrachtungen und Abhandlungen). Paine war beim Volk beliebt (einer Schätzung zufolge wurden in zwei Jahren verschiedene Ausgaben von Rights of Man 250 000mal verkauft). Bei der Regierung war er unbeliebt, und so wurde er in der Londoner Guildhall in Abwesenheit wegen verleumderischen Hochverrats verurteilt. Die Massen strömten herbei, um seinen Verteidiger zu unterstützen, und protestierten gegen den Angriff auf die »Pressefreiheit«. Damals war Paine bereits nach Frankreich geflohen, wo er für seine Verteidigung der Französischen Revolution mit der Wahl in die Nationalversammlung belohnt wurde. Dennoch warf man ihn später ins Gefängnis: Er hatte die Jakobiner verärgert, weil er gegen die Hinrichtung des Königs opponiert hatte. Er selbst entkam der Todesstrafe (Berichten nach wurde das Kreidezeichen auf der falschen Seite der Tür angebracht) und begab sich später nach Amerika, wo er, einsam und verbittert, im Jahr 1809 starb. Seine Schriften finden noch immer großen Anklang, und man muss nicht lange suchen, um Stoßstangenaufkleber und Buttons mit einem Aphorismus Paines aus seinen Rights of Man zu entdecken: »Die Welt ist mein Land, und Gutes zu tun meine Religion.«

2. Thomas Paine, geehrt auf einer US-amerikanischen Briefmarke. Diese Marke wurde 1968 herausgegeben und gehörte zur »Prominent Americans Series«.

Aus Paines Schriften geht nicht klar hervor, was die Rechte des Menschen konkret sind. Seine Theorie der Rechte stützt sich auf Locke und Rousseau und kommt zu dem Schluss, dass ein Mensch sein natürliches Recht, als sein eigener Richter zu handeln, »in die gemeinschaftliche Masse der Gesellschaft« einbringt, um dem Gesetz der Natur Geltung zu verschaffen. Er erklärt, dass die »Macht, welche aus der Summe der natürlichen Rechte besteht […], nie in die natürlichen Rechte greifen darf«, die dem Individuum zu eigen sind. Bei der Lektüre von Paines Schriften wird klar, wieso das Konzept der Menschenrechte eine so nachhaltige Wirkung entfalten konnte. Paine ist voller Mitgefühl für das Leiden anderer:

Wenn ich die natürliche Würde des Menschen betrachte, wenn das Gefühl der für ihn bestimmten Hoheit und Glückseligkeit mich durchdringt – denn die Natur ist nicht gütig genug gewesen, meine Gefühle abzustumpfen –, so erbittert es mich, daß man sich erfrechen konnte, die Menschen durch Betrug und Gewalt zu regieren, als wären sie alle Spitzbuben und Thoren, und kaum kann ich einer Verachtung gegen diejenigen mich erwehren, die sich auf diese Art täuschen lassen.

Paine warf Burke vor, keinerlei Mitleid mit denen zu haben, die unter ihrer Kerkerhaft in der Bastille gelitten hatten, und sich von der »Wirklichkeit der Not« nicht berühren zu lassen. Meines Erachtens wird hier der Boden für die Menschenrechtsbewegung bereitet: Anteilnahme an der Not anderer, verbunden mit einem Empfinden für das von Regierungen begangene Unrecht, wenn sie Maßnahmen ergreifen, die in die natürlichen Rechte des einzelnen eingreifen.

Andere Philosophen haben sicherlich dazu beigetragen, dass wir heute der Achtung der menschlichen Würde große Bedeutung beimessen. In der Nachfolge des deutschen Philosophen Immanuel Kant haben sie versucht, die Logik der Menschenrechte aus absoluten moralischen Prinzipien abzuleiten, die sich aus den folgenden Imperativen entwickeln lassen: Erstens muss jeder von uns gemäß den Maximen handeln, von denen er wünscht, dass auch andere rationale Wesen sich nach ihnen richten. Zweitens darf ein Mensch niemals als Mittel zum Zweck, sondern muss als Zweck an sich betrachtet werden. Mit den Worten des neuzeitlichen Philosophen Alan Gerwith: »Es ist Akteuren und Institutionen absolut verboten, Menschen zu erniedrigen und sie so zu behandeln, als hätten sie keine Rechte oder keine Würde.« Dies ist häufig der Ausgangspunkt für Rechtstheorien, die die Bedeutung von individueller Autonomie und individuellem Handeln hervorheben und darin urmenschliche Werte sehen, die es zu schützen gilt.

Üblicherweise wird somit das moderne Konzept der Menschenrechte ohne weiteres auf die Ideen und Texte zurückgeführt, die am Ende des 18. Jahrhunderts allgemein akzeptiert wurden. Der Wortlaut der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung aus dem Jahr 1776 ist bestens bekannt: »Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, daß alle Menschen gleich erschaffen worden, daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freyheit und das Bestreben nach Glückseligkeit.« Die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte folgte im Jahr 1789, und ihre berühmten ersten beiden Artikel anerkannten und erklärten: »Die Menschen sind und bleiben von Geburt frei und gleich an Rechten.« Und: »Das Ziel jeder politischen Vereinigung ist die Erhaltung der natürlichen und unveräußerlichen Menschenrechte. Diese Rechte sind Freiheit, Eigentum, Sicherheit und Widerstand gegen Unterdrückung.« Diese revolutionären Proklamationen stellen Versuche dar, die Menschenrechte als Leitprinzipien in den Verfassungen neuer Staaten oder politischer Systeme zu verankern. Doch die Rechte, auf die sie verwiesen, waren meist nur für solche Staaten in Bezug auf ihre eigenen Bürger relevant, und lediglich ganz spezielle Gruppen konnten vom Schutz dieser Rechte profitieren. Die Menschenrechtserklärungen waren von einer liberalen Gesellschaftsidee inspiriert und vom Glauben an das Naturrecht, an die menschliche Vernunft und an eine universelle Ordnung. Die Rechte galten (aus menschlicher Sicht) als das exklusive Eigentum derjenigen, die in der Lage waren, rationale Entscheidungen zu treffen (Frauen waren aus dieser Gruppe ausgeschlossen). Versuche der Olympe de Gouges (an Königin Marie Antoinette appellierend), eine »Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin« und einen »Gesellschaftsvertrag zwischen Mann und Frau«, der Eigentums- und Erbrechte regelte, in Kraft zu setzen, stießen auf taube Ohren. In England setzte sich Mary Wollstonecraft in ihrer Schrift A Vindication of the Rights of Woman (dt.: Zur Verteidigung der Frauenrechte) für eine Revision der französischen Verfassung zugunsten der Frauenrechte ein und begründete dies damit, dass Männer nicht eigenmächtig entscheiden könnten, was für die Frauen das Beste sei. Die Verweigerung der Frauenrechte würde Frauen auf den Bereich ihrer Familien beschränken und sie »im Dunkeln unsicher herumtappen« lassen (s. Materialteil 2).

Im 19. Jahrhundert spielten die natürlichen Rechte oder die »Rechte des Menschen« beim politischen Wandel eine untergeordnete Rolle, und Denker wie Jeremy Bentham machten sich über die Vorstellung »Alle Menschen sind frei geboren« lustig und bezeichneten sie als »absurden und jämmerlichen Unsinn«. Bentham lehnte bekanntlich natürliche und unveräußerliche Rechte als »Unsinn auf Stelzen« ab und legte dar, dass der Wunsch, etwas zu besitzen, nicht heiße, dass man es auch tatsächlich besitzt. Mit seinen Worten: »Hunger ist kein Brot.« Er erkannte nur die gesetzlichen Rechte an und hielt es für die Aufgabe von Gesetzgebern, nicht aber von Verfechtern der Naturrechte, Rechte zu generieren und ihre Grenzen zu definieren. Bentham war der Meinung, dass man nur Ärger heraufbeschwöre und sogar Anarchie auslöse, wenn man behaupte, die Regierung sei durch natürliche Rechte in ihrem Handlungsspielraum eingeschränkt.

Der heutige Wissenschaftler Amartya Sen erinnert an Benthams Einfluss und hebt vor allem eine »Legitimitätskritik« hervor, aufgrund derer manche die Menschenrechte als »vorgesetzliche moralische Forderungen« auffassen, »von denen man kaum annehmen kann, dass sie zu justiziablen Rechten in Gerichten und anderen Strafverfolgungsinstitutionen verhelfen können.« Er warnt vor der Verwechslung von Menschenrechten und »gesetzlich erlassenen legalen Rechten«. Zudem macht er auf eine weitere Reaktion auf den Menschenrechtsdiskurs aufmerksam: So würde gelegentlich behauptet, dass die Menschenrechte einigen Kulturen, die anderen Prinzipien wie der Achtung der Autorität den Vorrang einräumten, fremd seien. Sen bezeichnet dies als »kulturelle Kritik«. Wann immer das Thema Menschenrechte zur Sprache kommt, konzentrieren sich Kommentatoren gerne auf den zuletzt genannten Kritikpunkt. So heißt es in The Very Short Introduction to Empire, dass für manche Beobachter der Internationale Strafgerichtshof für das frühere Jugoslawien (bestens bekannt für den abgebrochenen Prozess gegen Slobodan Milošević) ein Werk des Imperialismus sei; für »solche Kritiker stellt die gesamte Idee der ›universalen‹ Menschenrechte de facto einen gigantischen Betrug dar; westliche Imperialisten oder frühere Kolonialmächte versuchen hier, ihre eigene, sehr spezifische und lokal begrenzte Idee, was ›Rechte‹ sein sollten, als universell auszugeben, wobei sie die Überzeugungen und Traditionen von jedermann sonst rücksichtslos mit Füßen treten.«

Karl Marx reagierte auf die Proklamation der Menschenrechte in den Verfassungen von Pennsylvania und New Hampshire sowie in der französischen Menschenrechtserklärung, indem er sich über die Vorstellung lustig machte, dass Rechte bei der Schaffung eines neuen politischen Gemeinwesens von Nutzen sein könnten. Seiner Meinung nach stärkten diese Rechte eher die egoistischen Ziele des Individuums, als dass sie die Emanzipation des Menschen von Religion, Eigentum und Gesetz gewährleisteten. In Marx’ Vision einer künftigen Gesellschaft würden alle Bedürfnisse befriedigt, es gäbe keine Interessenkonflikte, weshalb Rechte oder deren Durchsetzung überflüssig seien. Marx machte auch auf folgende Schwierigkeit aufmerksam: Wenn Rechte zugunsten des allgemeinen Wohls eingeschränkt werden können, dann bietet die Proklamation, dass es im politischen Leben um den Schutz von Rechten gehe, Anlass zu Komplikationen (s. Materialteil 3). Wir kommen auf das Problem, wie individuelle Interessen mit dem Wohl der Allgemeinheit in Einklang gebracht werden können, zurück, wenn wir in Kapitel 5 der Frage nachgehen, inwiefern die modernen Menschenrechte einige Beschränkungen zulassen, die »in einer demokratischen Gesellschaft notwendig« sind.

Ist die Geschichte der Menschenrechte also nur eine Debatte zwischen denen, die glauben, und denen, die zweifeln? Empfinden unterschiedliche Menschen, abhängig von ihrer Situation, Rechte entweder als Hilfe in ihrem Kampf oder aber als bourgeoise Hindernisse auf dem Weg zur revolutionären Veränderung? Befinden sich die Verfechter der Menschenrechte und ihre Kritiker in einem ständigen Antagonismus? Moderne Rechtstheoretiker sind bestrebt, die Existenz und Bedeutung von Rechten durch den Verweis auf irgendeinen übergeordneten Wert wie etwa Freiheit, Autonomie oder Gleichheit zu rechtfertigen. Philosophische Exkursionen dieser Art sind hilfreich, weil sie uns sagen, warum wir die Menschenrechte schützen sollten. Wir können einsehen, dass Rechte dazu dienen, eine Gesellschaft aufzubauen, die den Menschen die Freiheit einräumt, sich als autonome Individuen zu entwickeln, und ihnen zugleich die auf Gleichheit basierende Teilhabe am Entscheidungsprozess des Gemeinwesens ermöglicht. Mit anderen Worten: Wir können jetzt anerkennen, dass politische Regelungen für den Schutz der Menschenrechte von Nutzen sind, nicht weil jede Gemeinschaft von Gott gegebene Rechte schützen muss, sondern vielmehr deshalb, weil sich die Menschenrechte als ein zweckdienliches Mittel zu erweisen scheinen, um andere Werte wie Würde und partizipative Demokratie zu schützen.

Manche Philosophen schlagen vor, nicht mehr nach einer überzeugenden Theorie dafür zu suchen, warum wir über Menschenrechte verfügen. Richard Rorty hält es für erwiesen, dass »sich die Menschenrechtskultur nicht aus einem gesteigerten moralischen Wissen entwickelt zu haben scheint, sondern dass sie allein auf das Hören von traurigen und sentimentalen Geschichten zurückzuführen ist.« Seines Erachtens sollten wir fundamentalistische Moraltheorien über die Menschenrechte hinter uns lassen, um »unsere Energien [umso mehr] auf die Manipulation von Gefühlen, auf die Erziehung zum Mitgefühl konzentrieren« zu können.

Über den Nutzen der Menschenrechte für einen progressiven Wandel wird weiterhin lebhaft diskutiert. Viele fragen sich, ob eine Strategie der Menschenrechte nicht vielleicht zu einer Festschreibung der bestehenden Eigentumsinteressen führt. Feministinnen betonen weiterhin das Versagen der Menschenrechte, wenn es um die strukturelle Ungleichheit zwischen den Geschlechtern geht, um Probleme von privater Gewalt gegen Frauen und um die Notwendigkeit, Frauen stärker in Entscheidungsprozesse einzubinden. Selbst wenn man die Menschenrechte neu orientieren würde, um diese Probleme anzugehen, könnte dies einfach als eine Maßnahme angesehen werden, die das Stereotyp von Frauen als schutzbedürftigen Opfern von Gewalt bestätigen soll. Auf einer anderen Ebene fürchten manche – da Hinweise auf die Menschenrechte im Diskurs westlicher Führungspersönlichkeiten immer häufiger auftauchen –, dass die Menschenrechte instrumentalisiert und als Entschuldigung vorgebracht werden für das Eingreifen mächtiger Länder in das politische, wirtschaftliche und kulturelle Leben schwächerer Länder des Südens. Auf dieser Ebene der Kritik versucht man nicht, die Existenz von Menschenrechten zu bestreiten. Nicht weil an ihrer Existenz gezweifelt wird, stehen die Menschenrechte heute unter Beschuss, sondern wegen ihrer Omnipräsenz. Lassen wir die Moralphilosophie jetzt erst einmal hinter uns, um herauszufinden, welche Einsichten wir aus der Darstellung der Menschenrechte in der Literatur des 20. Jahrhunderts gewinnen können.

Kundera über die Menschenrechte

Die Sprache der internationalen Menschenrechte ist mit allen möglichen Forderungen und Auseinandersetzungen verbunden. Heutzutage unterstreicht fast jeder seinen Standpunkt, indem er sich entweder auf Rechte beruft oder aber sie in Abrede stellt. Für manche im Westen scheinen wir tatsächlich bereits in eine Ära eingetreten zu sein, wo das Reden über Rechte banal wird. Wir wollen dies anhand eines Ausschnitts aus Milan Kunderas Geschichte »Die Protestgeste gegen die Verletzung der Menschenrechte« illustrieren. Der Text handelt von Brigitte, die nach einem Streit mit ihrem Deutschlehrer (über die fehlende Logik in der deutschen Grammatik) durch Paris fährt, um bei Fauchon eine Flasche Wein zu kaufen.

Sie wollte parken, doch es war unmöglich: die Autos standen eins am anderen im Umkreis von einem Kilometer lückenlos an den Trottoirs, und nachdem sie eine Viertelstunde im Kreis herumgefahren war, wunderte sie sich empört darüber, daß es nirgendwo Platz gab: sie fuhr aufs Trottoir, ließ den Wagen stehen und ging auf das Geschäft zu.

Als sie sich dem Laden näherte, bemerkte sie etwas Seltsames. Fauchon ist ein sehr teures Geschäft, aber jetzt drängten sich dort etwa 100 Arbeitslose, die alle »ärmlich gekleidet« waren. Mit Kunderas Worten:

[…] es war eine sonderbare Demonstration: die Demonstranten waren nicht gekommen, um Scheiben einzuschlagen, jemanden zu bedrohen oder irgendwelche Parolen zu rufen; sie wollten die Reichen nur in Verlegenheit bringen und ihnen durch ihre pure Anwesenheit den Appetit auf Wein und Kaviar verderben.

Brigitte gelang es, sich ihre Flasche Wein zu besorgen. Als sie zu ihrem Auto zurückkam, wurde sie von zwei Polizisten aufgefordert, eine Geldstrafe wegen Falschparkens zu zahlen. Sie beschimpfte die Polizisten, und als diese ihr daraufhin zu verstehen gaben, dass ihr Wagen falsch geparkt sei und den Bürgersteig versperre, verwies Brigitte auf all die Fahrzeuge, die in langen Reihen hintereinander parkten: »Können Sie mir sagen, wo ich hätte parken sollen? Wenn es den Leuten erlaubt ist, Autos zu kaufen, muß man ihnen auch garantieren, daß es genug Platz gibt, um zu parken, oder? Wo bleibt denn da Ihre Logik!« schrie sie die Polizisten an. In seiner Geschichte konzentriert sich Kundera dann auf das folgende Detail:

[…] in dem Moment, als Brigitte die Polizisten anschrie, erinnerte sie sich an die arbeitslosen Demonstranten vor dem Fauchon und verspürte eine plötzliche Sympathie für sie: sie fühlte sich mit ihnen vereint in einem gemeinsamen Kampf. Das machte ihr Mut, und ihre Stimme wurde schriller; die Polizisten wiederholten (von Brigittes Schimpfen ebenso verunsichert wie die Damen in den Pelzmänteln von den Blicken der Arbeitslosen) wenig überzeugend und ziemlich einfältig die Wörter »verboten«, »nicht erlaubt«, »Disziplin« und »Ordnung« und ließen sie schließlich ohne Strafgebühr wegfahren.

Kundera erzählt uns, dass Brigitte während der Auseinandersetzung ihren Kopf ständig hin und her bewegte und gleichzeitig ihre Schultern und Augenbrauen hochzog. Dann bewegte sie wieder den Kopf hin und her, als sie ihrem Vater von dem Vorfall berichtet. Kundera schreibt: »Wir sind dieser Geste bereits begegnet: sie bringt die empörte Verwunderung darüber zum Ausdruck, daß jemand uns unsere elementarsten Rechte absprechen will. Nennen wir diese Geste also eine Protestgeste gegen die Verletzung der Menschenrechte.«

Für Kundera ist es der Widerspruch zwischen den Menschenrechtserklärungen der Französischen Revolution und der Existenz von Konzentrationslagern in Russland, der den relativ neuen Enthusiasmus des Westens für die Menschenrechte auslöste:

Der Begriff der Menschenrechte ist zweihundert Jahre alt, erlangte den größten Ruhm aber erst seit der zweiten Hälfte der siebziger Jahre unseres Jahrhunderts. Alexander Solschenizyn wurde damals aus seiner Heimat ausgewiesen, und seine ungewöhnliche Gestalt, die ein Vollbart und Handschellen zierten, hypnotisierte die westlichen Intellektuellen, die an der Sehnsucht nach einem großen Schicksal krankten, das ihnen nicht beschieden war. Erst dank Solschenizyn und mit fünfzigjähriger Verspätung glaubten sie, daß es im kommunistischen Rußland Konzentrationslager gab; auch progressive Leute waren plötzlich bereit zuzugeben, daß es ungerecht war, jemanden für das einzusperren, was er dachte. Und sie fanden für ihre neue Einstellung ein hervorragendes Argument: die rußischen Kommunisten verletzten die Menschenrechte, obwohl diese doch schon von der Französischen Revolution ausgerufen worden waren!