Messerwetzen im Team Shakespeare - Ulrich Land - E-Book

Messerwetzen im Team Shakespeare E-Book

Ulrich Land

0,0

Beschreibung

1593, Deptford bei London. In einer Kneipe wird Christopher Marlowe angeblich wegen Zechprellerei erstochen, jung an Jahren und einer der erfolgreichsten Dramatiker im elisabethanischen England. Im gleichen Jahr wie Shakespeare geboren (also vor 450 Jahren) und mit ihm in regem Kontakt. So viel ist sicher. Doch da kommt die Überlieferung schon ins Stocken. Der Mord wurde nie wirklich aufgeklärt. Waren Marlowes Mörder - wie er selbst - in geheimdienstliche Händel verstrickt? Oder steckte die Clique der jungen Dichter um Shakespeare dahinter? War es die knallharte Konkurrenz mit dem Dichterfürsten Englands, die ihn das Leben kostete? Und: Wer war eigentlich dieser Shakespeare? Historisch verbrieft ist nur, dass er ein gewiefter Geschäftsmann war - und auf Marlowe womöglich nicht besonders gut zu sprechen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 293

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Land

Messerwetzen im Team Shakespeare

Ulrich Land

Messerwetzen im Team Shakespeare

Historischer England-Krimi mit Rezepten

Haftungsausschluss: Die Rezepte dieses Buchs wurden von Verlag und Herausgeber sorgfältig erwogen und geprüft. Dennoch kann eine Garantie nicht übernommen werden. Die Haftung des Verlags bzw. des Herausgebers für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist ausgeschlossen.

© 2014 Oktober Verlag, Münster

Der Oktober Verlag ist eine Unternehmung des

Verlagshauses Monsenstein und Vannerdat OHG, Münster

www.oktoberverlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Satz: Henrike Knopp

Umschlag: Thorsten Hartmann

unter Verwendung von Fotos von zee2000/istockphoto.com und

dark wood3/lughertexture.com

Rezepte: Ulrich Land

Herstellung: Monsenstein und Vannerdat

ISBN: 978-3-944369-19-8

eBook-Herstellung und Auslieferung: readbox publishing, Dortmundwww.readbox.net

»Life’s but a walking shadow«

(William Shakespeare, Macbeth)

1

Ich war’s nicht. Und wenn Sie tausendmal fragen. Und tausendmal nachbohren. Ich war es nicht. So wahr ich Shakespeare heiße. Ich war und war es nicht. Wie oft soll ich das noch sagen!

Die ganze Chose? Die ganze Chose soll jetzt schonungslos … alles auf den Tisch? En détail referiert? Ja, von wem denn bitte? – Och nee, ich? Die ganze ellenlange Arie noch mal durchkauen? Bloß nicht. Alles aus den Tiefen und Untiefen hervorkramen? – Nein, nicht nur, weil’s lästig ist. Wer will sich schon an so ’ne Geschichte erinnern! Außerdem, das ist locker 400 Jahre her. Und, ich meine, okay, es gibt da natürlich ein Problem: Ich war bei etlichen Schlüsselszenen nicht zugegen. Gleich bei der ersten schon nicht. Man kann schließlich nicht überall sein. Auch ich nicht. Aber wenn Sie sagen, das soll alles ausgepackt werden, alles, dann müssen eben auch die Szenen erzählt werden, wo ich nicht mit von der Partie war. – Wie, was soll das heißen: ›widerspenstig‹? ›Unwillig, stinkend faul‹? Ich, also, ich wollte hier bloß gleich zu Anfang meine Bedenken … Damit haben Sie schon gerechnet? Vorgesorgt, einen Ersatz, das nenn ich umsichtig. Kompliment, die Herren! – Steht mir nicht zu. So. Ja, dann nicht. – Aber weiß die denn, ich meine, amtlich bestallt, gut und schön, aber weiß Ihre Berichterstatterin denn … woher will die denn die ganzen Details wissen? – Okay, okay: Ich lasse Ihre Sorge sein, was Ihre Sorge ist. Also bitte sehr. Ich hoffe allerdings, Sie haben ein wenig Zeit mitgebracht. – Und was wär dann mein Job? – Meinetwegen. Wenn’s denn sein muss. Aber wie gesagt: Nicht wenige Szenen, wo ich nicht vor Ort war, die kann ich quasi nur aus der Vogelperspektive, aus der Gesamtschau der Ereignisse kommentieren. – Ja, gut, nein, wenn Sie mir die handelsübliche dichterische Freiheit einräumen. Okay, dann …

Der Wahrheit verpflichtet, natürlich der Wahrheit verpflichtet. Und nichts als der lupenreinen Wahrheit.

2

»So wart er hier!«, war eine wispernde, aber deshalb nicht minder schneidende Stimme zu vernehmen. »Keinesfalls ausspannen! Und …« – die Stimme wurde noch leiser und noch schneidender – »… und sieh er zu, dass die Klepper leise sind. Keinen Mucks! Haben wir uns verstanden?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, entfernte sich Walsingham. Die Beine stocksteif von der endlosen Kutschfahrt, knirschte er ein paar erste Schritte über den Schotter zur anderen Seite des Hofes. Was die vier Rappen, die aus der dritten Garde des Königshofes Ihrer Majestät selbst stammten, mit einem, wie’s schien, erleichterten Schnauben quittierten. Thomas Walsingham drehte sich um, durchbohrte den Kutscher mit einem pfeilspitzen Blick und schleuderte ein erneutes »Haben wir uns verstanden?» herüber. Bevor er sich nun endgültig rüber zum Wirtshaus begab. Auf seinen Schattenriss vor dem hell erleuchteten Flur allerdings wartete man vergebens. Die Tür wurde nicht geöffnet, Walsingham zog es – merkwürdig genug – vor, nicht einzutreten. Vielmehr muss er sich in den alten Bretterverschlag gleich neben dem Seitengebäude gedrückt haben.

Mit und ohne Walsinghams Befehl kehrte in und zwischen den Pferdeställen zügig Ruhe ein. Der Knecht arbeitete eh nur bis zur Dämmerung, so lange das Tageslicht eben ausreichte. Selbst jetzt, wenige Tage vor der Sonnwende, bedeutete das, dass die Pferde der Wirtshausgäste etliche Nachtstunden lang sich selbst überlassen waren, sich in aller Gemütsruhe den Futterraufen widmeten und mit mühlenlangsam malmenden Kiefern nach des Tages Müh und Last vor sich hin dösten. Die wohlige Mischung aus Tierwärme, süßem Duft frisch geschnittenen Frühlingsgrases und schläfriger Zufriedenheit legte sich in der kühlen Regennacht wie ein wollweiches Polster über den Stall.

Während gleich nebenan im Wirtshaus das hell erleuchtete Leben dröhnende Wogen schlug.

3

Davon, was sich draußen bei den Ställen abspielte oder nicht abspielte, wusste Kyd nichts, sollte er erst sehr viel später erfahren. In jenen Stunden war er nämlich mit ganz anderen Observationen befasst. Zusammen mit Helen.

Keine Ahnung, ob Sie Helen kennen. Kennen Sie Helen? Na ja, ist ja schon ’n Weilchen her. – Richtig, genau die! Schauspielerin aus unserer »Lord Chamberlain’s Men«-Truppe. Ich hatte sie bei irgendeinem Casting wie die berühmte Stecknadel im buntesten aller denkbaren Heuhaufen herausgeklaubt aus einer unüberschaubaren Menge von Zirkusleuten, ausgebüxten Klosterschülerinnen, blutjungen Huren und missratenen Kaufmannstöchtern. Herausgeklaubt und vom Fleck weg engagiert. In ihren besten Jahren hat sie’s ein paar Mal bis zur Hermia gebracht.

Kyd und Helen hatten Stellung in einer Kammer oben unterm Dach bezogen. Wussten sie doch exakt im Zimmer darunter Marlowe mit drei, vier alles andere als Vertrauen erweckenden Kadetten des Kronrats in emsige Händel verstrickt.

»Und? Was Neues?«, flüsterte Helen.

»Ruhe mal!«, brummte Kyd, ohne seinen Schädel aus dem Kaminloch zu ziehen. Die Luft darin sollte nicht umsonst beißend bis in seine letzten Lungenverästelungen vorgedrungen sein, ihm den Atem verschlagen, die Tränen in die Augen getrieben haben.

Die Herren des Kronrats hatten sich nicht lumpen lassen und für ihr konspiratives Treffen die für die Verhältnisse dieses Provinzetablissements ausnehmend komfortabel ausgestaltete »Suite« gewählt. Ein jedenfalls nicht ganz so kleines Zimmer, das sich sogar heizen ließ. Was in dieser ungemütlich nasskalten Mainacht ein Segen sein musste. Aber …

… Gott oder wem sei’s gedankt, mit Blick auf die Atemwege des Kollegen Kyd …

… das Kaminfeuer war offenbar bis auf zwei, drei grade eben noch glimmende Scheite runtergebrannt.

Andernfalls hätten Helen und Kyd dort oben ihre Observationsbemühungen gleich in der Pfeife rauchen können.

Kyd konnte also nach Öffnen der Kaminklappe seinen Scheitel in den Kamin stecken, so weit sein Hals es eben zuließ. Und hatte den Restqualm in der Nase und das Gebrabbel von unten im Ohr. Er musste sich zwar vorkommen wie ein Stück Räucherspeck, konnte aber – mit einem Nastuch bewehrt und bei bis aufs Überlebenslimit reduzierter Atemfrequenz – die Vorgänge ein Stockwerk tiefer bestens belauschen.

Oder hätte es doch gekonnt, wenn die Kollegin nicht alle Naselang dazwischengequatscht hätte.

»Na ja«, grinste Helen, »wird schon nichts Weltbewegendes sein.«

»Dafür legst du aber verdammt noch mal die geilste Neugier an den Tag, die die Welt gesehn hat.«

»Sujets von weltumspannender Tragweite, dreifach versiegelte Geheimnisse – haha – im Namen unsrer Virgin Queen Elisabeth the First!«, trällerte sie, bevor sie endgültig in schallendes Gelächter verfiel.

Ihr Mitstreiter – in seiner wenig komfortablen Haltung mit Rotz und Wasser heulenden Augen, luftlechzenden Lungen und qualmverätztem Kehlkopf – ging allmählich jeder Fassung verlustig und zischte: »Sapperlot! Ruhe, hab ich gesagt!«

»Da habt Ihr die Rechnung«, drang es von unten herauf – unverkennbar Marlowes Stimme –, »habt Ihr die Rechnung ohne den Wirt gemacht, Frizer.«

Der nicht faul, riss, wie Kyd hören konnte, die Zimmertür auf und brüllte in den Flur: »Frau Wirtin, hier will einer seine Zeche nicht …«

»Frau Wirtin, da will einer seine Zeche nicht begleichen!«, nahm die offenbar etwas abseits im Flur stehende Housemaid den Faden auf und fungierte mit alkoholbeflügelter Stimme als Sprachrohr treppabwärts.

Und sofort war von ganz unten aus der Gaststube Witwe Bull zu vernehmen, die Besitzerin, mit der, wie jeder wusste, schon unter ganz normalen Bedingungen nicht zu scherzen war. »Sag ihm, er soll ’n Augenblick noch mal ’n Gedanken drauf verwenden, der lumpige Schuft, ob das sein heiliger Ernst ist! Sag ihm, ich komm gleich.«

Ich kann mir unschwer ausmalen, wie Widow Bull da unten breitbeinig stand, sich die schwitzigen Hände an der Schürze abgewischt hat, um sie dann in die Hüften zu stemmen und vor sich hin zu mosern, das sei ja wohl unfassbar. Unfassbar sei das. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass das so ’n Moment war, der ihre linke Augenbraue aus der guten Ordnung brachte. Das Zucken ihres buschigen, feuerroten Haarwulstes überm linken Auge, ja, muss genau in der Zeit damals gewesen sein, dass das unübersehbar wurde. Hat sie offenbar selbst irritiert, jedenfalls hat sie mit ihrem wurstigen Zeigefinger immer wieder da rumgedrückt, um die Braue, die sich verselbstständigt hatte, in die Schranken zu weisen. Gab Tage, da reichte ein kurzes Antippen, und gab Tage, da musste sie den Finger richtig energisch auf die Oberkante ihrer Augenhöhle drücken und hatte trotzdem ihre liebe Müh, die espenlaubfidele Hautpartie zur Ruhe zu bringen.

Aber Augenbrauenzucken hin, Zeigefingerpressur her, ihren Gefühlsausbrüchen taten so Nebenkriegsscharmützel keinen Abbruch. Überhaupt nicht. Dafür, dass sie sich durch so was nicht vom Eigentlichen abbringen ließ, dafür stand schon ihre Statur. Ich meine, Sie hätten bloß ihr Kreuz sehen sollen: breit wie ein Kerl! Und als Gegengewicht ein kolossaler Vorbau, der mit jedem Tag ihres fortschreitenden Alters anzubauen schien.

Längst hatte Frizer die Zimmertür wieder zugezogen und fläzte sich auf einen über die Bohlen schrappenden Stuhl. Marlowe war, wie sich’s für Kyd droben in seinem kohlrabenschwarzen Krähennest darstellte, hinterhergestiefelt und hatte Frizer am Revers gepackt; jedenfalls mussten sich ihre Nasenspitzen fast berühren, denn man konnte keins der offensichtlich wenig freundlichen Worte verstehn, die sie sich um die Ohren pfeifen ließen. Plötzlich jedoch schien Marlowe sich eines Besseren besonnen und Frizers Kragen fahren gelassen zu haben. Das durchdringende Knarren verriet, dass er sich aufs Bett geworfen hatte. Die Vorstellung, wie Marlowe seinen schlankranken Körper da unten in den Kissen räkelte mit der ihm eigenen Selbstsicherheit, die durch nichts, aber auch durch gar nichts einzutrüben war, versetzte Kyds Leib eine Art elektrisches Britzeln.

Jetzt nicht einfach runter zu können und beim Zerwühlen der Laken mitzuhelfen, verdammt, das muss für den armen Kyd an Folter gegrenzt haben!

»Mit Vergnügen und mit Schmiss, Frizer«, ätzte Marlowe mit breitem Grinsen, das durch jedes der wohlgesetzten Nadelstichworte sickerte, »mit Vergnügen mach ich Euch ’nen Strich durch die Rechnung! Euch und diesem vermaledeiten Kronrat samt Geheimdienst. Und an vorderster Stelle – das könnt Ihr ihm getrost bestellen – an vorderster Stelle diesem Dreikäsehoch namens Walsingham! Rühmt sich, mein persönlicher Freund zu sein! Pah!«

Und um seinen Abscheu zu unterstreichen, zog er so viel Schleim hoch, wie seine Atemwege hergaben und spuckte das Ding klatschend auf die Wand, wo es, der Schwerkraft folgend, lange Fäden ziehen mochte.

»Mir wird speiübel«, rülpste Marlowe, »kotzschlecht beim bloßen Gedanken an Euern Walsingham, den ausgekochten Ränkeschmied, den.«

Frizer schnauzte, das lasse er nicht auf seinem Master sitzen. Schon gar nicht, wenn es so einer in die Welt trompete, ein windiger Vogel mit wurmstichigem Namen, ein gewisser – Frizer verzog die Lippen zu einem hässlich asymmetrischen Gebilde – ein gewisser Christopher Marlowe.

Ich weiß nicht, sind Sie im Bilde, mit welchen Figuren wir es hier zu tun haben? Besagter »Dreikäsehoch« und Ränkeschmied, bei dem Frizer um Dienst stand, war kein anderer als Sir Thomas Walsingham, seines Zeichens führendes Mitglied im Kronrat unserer Virgin Queen Elisabeth I., zuständig für den Secret-Service. Stasi-Mafiosi der übelsten Sorte, wenn Sie mich fragen. Ingram Frizer jedenfalls, sein katzbuckelndes Faktotum, sein so emsiger Koffer- wie Wasserträger, flankierte ihn auf Schritt und Tritt. An jenem Abend aber, beim Treffen mit unserm allseits geschätzten Marlowe, war Frizer, wie mir Kyd ein paar Tage später rapportierte, ausnahmsweise mal ohne seinen Patron und Gebieter in Erscheinung getreten. Dafür allerdings seinerseits begleitet von zwei Handlangern.

»Heh«, zischelte Helen neben Kyds Schulter, »was war das für ein Geräusch, Thomas?«

»Was weiß ich, hat sich angehört, als wenn dieses Frizer-Sackgesicht unserm guten Marlowe einen Humpen Bier ins Gesicht gekippt hätte.«

Doch schon hörten sie Marlowe in tosendes Gelächter ausbrechen. Er war sich seiner Sache offensichtlich sehr sicher. Gefährlich sicher! »Morgen, vorm Court of Star Chamber, bei meiner Verhandlung lass ich euch alle auffliegen«, plapperte er völlig ungerührt, auch wenn man jetzt deutlich durchhörte, dass seine Zunge ihre Arbeit denn doch reichlich alkoholbeschwert verrichtete. »Über jeden Einzelnen von euch, bis rauf zu den höchsten Chargen, hab ich durchaus unangenehme Details auszupacken.«

Kyd stockte der Atem. Er hörte, wie einer der beiden Gesellen, die er am frühen Nachmittag mit Frizer und Marlowe hatte ins erste Stockwerk stiefeln sehn, seine Zeitung zur Seite warf.

Kann nur die Financial Times gewesen sein. Ich meine, ich weiß ja nicht, wie’s Ihrem Langzeitgedächtnis ergeht; meins, gut, lässt mich womöglich hin und wieder auch mal im Stich; aber kann man dem guten Stück nicht unbedingt einen Vorwurf draus machen. Nach all den Jahren und Jahrhunderten, da hat’s natürlich nicht mehr jedes Detail auf dem Schirm. Geb ich zu. Außerdem geht’s hier oben eben doch anders zu als drunten im Jammertal; hier kommen die Kleinigkeiten quer durch die Epochen schon mal ein bisschen durcheinander. Das Gedächtnis des Himmels ist zwar unermesslich, aber nicht in jedem Augenblick gut aufgeräumt, nicht wahr? Ist es nicht so? Ist doch so. Auf jeden Fall, da bin ich mir absolut sicher, ziemlich sicher: »Financial Times«. Ich weiß nicht, wissen Sie, wie sich deren Papier anfühlt? Und anhört, wenn’s auseinander- oder zusammengefaltet wird? Einfach anders als andere Zeitungen. Als würden Geldscheine mitknistern. Und dann Frizers zweiter Hanswurst, der mit dem Gameboy! Das Biest muss die ganze Zeit am Piepsen gewesen sein, muss gekatzenjammert haben bis rauf zu Kyds und Helens Beobachtungsposten.

Plötzlich sprang Frizer auf, ohne drauf zu achten, dass er beim Durchdrücken der Kniekehlen den Stuhl umstieß, und Kyd hörte ihn irgendwas stählern Klingendes aus dem Gürtel ziehen. Ein dumpfer Stoß, Marlowe, ja, unverkennbar: Marlowe stöhnte kurz auf. Kyd hielt es nicht mehr auf seinem Hochsitz, er riss den Kopf aus dem qualmstinkenden Loch und rannte – egal, was Helen da hinter ihm herstammelte – die Stiege zum ersten Stock runter.

»Shit«, hörte Kyd die Housemaid kreischen, bevor ein ohrenbetäubendes Geschepper ankündigte, wovon er sich, soeben um die Ecke biegend, denn auch selbst überzeugen konnte: Die arme Frau – Kyd konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass es nicht nur der Schock war, der ihr in die entgleisten Gesichtszüge geschrieben stand, sondern auch der Fusel, dem sie vor kurzem zugesprochen haben mochte –, die arme Frau hatte ihr ganzes, mit Geschirr und Bierhumpen beladenes Tablett zu Boden gehn lassen, stand bis zu den Knöcheln im Scherbenmorast und schickte ein »Misericordia pro nobis« gen Himmel.

Dann, als wäre sie eben aus einem bizarren Traum hochgeschreckt, nahm sie die Hände, die sie überm Kopf zusammengeschlagen hatte, wieder runter, wischte sie mit derselben flüchtigen Geste wie ihre Chefin am groben Linnen ihrer Schürze ab, um sich dann ächzend – sie war schließlich nicht mehr die Jüngste – auf die Knie zu begeben und emsig die Scherben einzusammeln und zu einem amorphen Gebirge auf dem Tablett aufzutürmen.

Kyds Augen wurden magnetisch angezogen von diesem Bild verzweifelter, dennoch sedierter Betriebsamkeit, so dass er nur grade eben noch am Rand des Blickfelds mitbekam, wie Frizer nach hinten weg in den finstren Flur huschte. Während sich seine zwei Kumpane nun auch aufrappelten. Der erste kämpfte gegen den bleiernen Schlaf, der ihm in Gliedern und Lidern steckte.

Na, wenn bei dem die Promille man nicht auch schon im Prozentbereich lagen! Ausreichend zugelangt hatte er ja!

Der Bursche taumelte, so schnell ihn die schwammigen Füße trugen, seinem Master hinterher. Die zerknautschte Zeitung in der Ecke des Raums verriet, dass sie ihm wohl weniger als Lektüre, denn als Kopfkissen gedient hatte, bevor er sie hektisch von sich geschmissen hatte, als Frizers Aktion ihn aufschreckte. Sein Kollege …

… garantiert den wimmernden Gameboy mit blinkendem Display in der Hand …

… hob in einem Anflug von Zuvorkommenheit …

… oder unterm Eindruck einer Attacke des schlechten Gewissens, egal, kommt aufs Gleiche raus …

… eine der Bierkrugruinen auf und stellte sie der Housemaid auf das Tablett mit der alpinen Trümmerlandschaft. Die gute Seele aber hielt ihr Servierbrett vor Verblüffung so schief, dass der zerbrochene Krug im Handumdrehn ins Rutschen kam und, die bereits aufgeklaubten Scherben mit sich reißend, eine Lawine aus Porzellan- und Keramikschotter auf die Bodenbohlen niedergehn ließ. Worauf die Alte sich ein weiteres Mal mit unermüdlicher Hingabe dem Scherbenhaufen widmete, während Frizers zweiter Bundesgenosse …

… der Bierhumpenversteher …

… im Eiltempo das Weite suchte, offensichtlich bemüht, seine Kollegen einzuholen.

Kyd stand immer noch wie angewurzelt im Flur, als Witwe Bull die Stiege hinaufächzte, getragen von der ungemütlichen Erkenntnis, dass die zugespitzten Ereignisse dort oben ihren höchstpersönlichen Einsatz, zumindest aber ihre Anwesenheit verlangten.

»Was ist das für ’n Radau hier oben?!«, moserte sie lauthals wie zum Hohn der Tatsache, dass sie damit selbst nicht gerade wenig zu dieser Lärmkulisse beitrug. »Und wo, bei allen schwarzen Engeln der Unterwelt, wo ist der Lumpensack, der hier die Zeche prellen will?«

»Niemand«, ging Kyd dazwischen, »niemand will hier die Zeche prellen. Blödsinn. Hier geht’s weiß Gott um ganz was andres!«

Worauf Eleanor Bull kurz davorstand, einen epileptischen Anfall aus ihrem Hysterie-Werkzeugkoffer zu ziehen. »Wie was? Wurde doch grad eben lauthals durchs Treppenhaus gerufen. Also!«

Wissen Sie, es gibt ja so Nasen, und die olle Bull hatte eine solche, die einem einfach Respekt einflößen. Schon im Standby-Modus. Aber jetzt, in diesem Augenblick, da bin ich mir sicher, jetzt müssen die Flügel ihrer kolossalen Nase, die sich da kartoffelknorrig unter dem ausufernden Haarschopf hervorhob, gebebt haben, dass einem wahrhaftig angst und bange werden konnte. Auch das Haargestrüpp auf ihrem Schädel wirkte immer dann, wenn nicht alles rund und nach Plan lief, noch roter als sonst, schien gradezu nach der Feuerwehr zu schreien und muss angesichts der Turbulenzen damals, zack, unter den Haarbändern hervorgeschnellt sein, mit deren Hilfe sie allmorgendlich mühselig, doch erfolglos versuchte, ihrer Strähnen und Wirbel Herr zu werden. Und auf ihrer buckligen Stirn haben die tief eingekerbten Längsfalten – da geb ich Ihnen Brief und Siegel drauf – einen irrwitzigen Derwischtanz aufgeführt, Hand in Hand mit den senkrechten Furchen, die überm Nasenbein Richtung Haaransatz aufstiegen. Alles an ihr wird den Eindruck erweckt haben, als müsse es davor bewahrt werden, aus dem Ruder zu laufen und sämtliche Regeln der Contenance mit Füßen zu treten. Worum sie sich übrigens – mal abgesehn von ihrer hyperaktiven Augenbraue – nicht im Mindesten zu scheren pflegte.

Einmal in Fahrt gekommen, polterte Widow Bull los, ohne noch irgendwelche Verwandten zu kennen: »Versuch er nicht, … wie war doch gleich der Name? Kyd? … versuch er nicht, hier ein allzu berechtigtes Donnerwetter abzuwenden. Das nämlich kommt, kommt auf jeden Fall. So sicher, wie der Blitz in St Paul’s Cathedral fährt. Erst zu vier Kerlen ’nen ganzen Tag hier rumhocken, fürstlich speisen und pokulieren, und dann nicht zahlen wollen! Ich werd euch den Geldbeutel schon lockern, und wenn ich Walsingham selbst herbeizitieren muss!«

Die Housemaid hatte inzwischen das Scherbengericht wieder leidlich auf ihrem Tablett aufgeschichtet, richtete sich auf und warf endlich einen zweiten Blick in jenes unheilvolle Zimmer. »Das ist ja, darf doch nicht«, schrillte sie, von jetzt auf gleich um weitere Jahre gealtert, »darf doch nicht wahr sein, ist ja … Kann nicht mehr zahlen, der Bursche. Weder zahlen noch prellen! Toter Mann kann sich nicht in die Tasche packen.«

»Tot?« – Auch Witwe Bull schickte sich an, die letzten Schritte zur Schwelle des Zimmers zu absolvieren, während Kyd immer noch schockgefroren in der Flurnische verharrte, in der er eben zum Stehen gekommen war. »Tot?«, kreischte die Witwe noch mal und fuhr ihre Bedienstete an: »Old Maid, du sollst dir bei der Arbeit keinen auf die Lampe gießen, wie oft soll ich das noch sagen!«

In diesem Augenblick schoss Helen um die Ecke und jaulte: »Wer ist tot, soll tot sein?«

Crime time is nice time.

Kyd nahm sich ein Herz …

Was, wie? Echt? Im Mai ’93 erst? Wo’s Marlowe ans Fell ging, sollen die unsern Kyd noch in den Folterkellern in Bridewell zwischengehabt haben? Ja, aber wer, wer hat mir denn dann die ganze Nummer, die sich da am 30. Mai in dieser Pinte in Deptford zugetragen hat, erzählt? Wollen Sie mir das vielleicht mal sagen? Nee nee, solang die Herrn mir das Gegenteil nicht mit Dokumenten und Quellen beweisen, geh ich davon aus, dass sich die verdammten Kerkermeister und Folterknechte unsern Kyd schon im März, April geschnappt hatten, um ihn – hübsch zugerichtet – paar Wochen später wieder laufen zu lassen, nachdem er ihnen geflüstert hatte, was sie hören wollten. Und also hat er das Marlowe-Drama unterm Dach der Widow Bull brühwarm mitgekriegt. – Ja ja, halt ich auch für’n Gerücht. Alles Quatsch. Der war zwar echt geknickt, um nicht zu sagen: ’n gebrochener Mann, aber dass er im Sommer drauf schon die Augen zugemacht haben soll – blanker Unsinn! Sommer ’94, das glaub, wer will. Niemals! Der ist auf jeden Fall die nächsten paar Jahre noch mit dabei gewesen, bevor er endgültig platt war. – Ich sag doch: Das kann nicht sein! Ich mein, sicher, der Vogel hatte sich mächtig vergeigt, hatte mit seiner Quatscherei fast unser ganzes Projekt aufs Schafott getragen. Aber wir haben ihn trotzdem nicht rausgeschmissen. Im Gegenteil: haben ihn aufgefangen, als er einen Depri nach dem andern schob. Jedenfalls: Kyd ist und bleibt mit von der Partie. Basta.

Kyd nahm sich ein Herz und beugte sich so weit aus seinem Zufluchtsort in diesem unseligen Flur, dass er durch die offen stehende Tür aufs Bett sehen konnte. »Christopher – Chris! – Weg da!« Er schob die bleiern dastehende Wirtin unsanft zur Seite und war mit drei Schritten bei Marlowe, der mit dem Gesicht ins Kissen gepresst, reglos dalag. »So helft mir doch!«, schrie er die untätigen Ölgötzen um sich herum an. Aber die – keine Regung! Keiner. Nicht die kleinste. Also drehte Kyd Marlowe kurzerhand allein auf den Rücken, um … und prompt kam der leblose Leib ins Rutschen.

Da war Helen endlich auch zur Stelle, griff Marlowe und Kyd unter die Arme und raunzte die fassungslose Housemaid an: »Haltet nicht Maulaffen feil, packt mit an!«

Wäre eh zu spät gekommen. Marlowe, nicht sonderlich lebendig, war schon im Rutschen begriffen und stürzte ab wie ’ne infizierte Festplatte.

Die alte Hausbedienstete verharrte ebenso in Regungslosigkeit wie ihre Chefin, die sich krampfhaft am Türpfosten festhielt. Kyd und Helen schafften es trotzdem. Mit vereinten Kräften gelang es ihnen, den eigenartig schweren Marlowe wieder aufs Bett zu hieven. Kyd versagte die Stimme – während die Housemaid die wohlgeformten, aber alles andere als stabil über die Lippen gebrachten Worte »Da tut sich nichts mehr, mausetot; Blut mit Bier, schäumt schön« auswarf.

Hinter Kyds Stirn baute sich einer von Marlowes ergreifendsten Versen auf: »Bräch doch mein Blut hervor, statt Tränen!« Noch während er diese Worte vor sich hin stammelte, stießen Kyds Tränenkanäle sämtliche Schleusentore auf.

Na ja gut, kommt Ihnen vielleicht ein bisschen merkwürdig vor, aber es war eben eine Zeit, in der Männertränen durchaus gern gesehn waren. Einerseits rauer, die Zeiten, als heutzutage; andererseits, ich sag mal: anfällig für Gefühle. Und, klar, für Gefühlsduselei. Was ich an dieser Stelle für mich selbst jedoch ausdrücklich ausschließen möchte.

Die Wirtin fühlte sich durch den Marlowe-Vers augenscheinlich bemüßigt, ihrerseits noch einen höchst wesentlichen Sermon abzusondern: »Läuft das Blut ja nur so raus! Das gute Bett, der gehört raus da, runter da, soll er in Gottes Namen auf den Boden bluten. Aber doch nicht ins Bett, will sich doch nie wieder einer reinlegen!«

»Mein Gott, wisst Ihr nicht, wem Ihr da … «

»Chris! Chris«, heulte es aus Kyd heraus, während Helen ihren Satz unbeirrt fortsetzte: »… wisst Ihr nicht, wem Ihr da mit diesem speckigen Bett die letzte Ruhestätte stellt: Christopher Marlowe!«

»Und wenn’s King Henry höchstpersönlich selbst wär, der nach ’nem halben Jahrhundert zurückkehrt, um sich hier noch einmal zum letzten Schlaf zu betten«, setzte Witwe Bull an, um schließlich über ihre eigene Zunge zu stolpern: »Was sagt Ihr? Marlowe? Dieser Dichter? Das ist nicht Euer Ernst.«

Kyd wimmerte ein weiteres »Chris«, und die Zimmerfrau murmelte in ihre strähnig herabhängenden Locken: »Und der übelst stinkende Deibel ist mitsamt seinen Spießgesellen auf und davon.«

»Stirb, Leben, flieh, Seele, Zunge, fluche, und stirb!«, purzelte Kyd ein weiterer Vers über die Lippen, wovon Helen sich zu einer Kurzlaudatio verleiten ließ: »Alles, was recht ist, dichten konnte er! Göttlich, einfach göttlich.«

»An vorderster Stelle in der Gunst der Königin selbst und des gemeinen Volkes gleichermaßen«, pflichtete Kyd ihr bei. »Und Ihr«, blaffte er die Wirtin an, »Ihr beflennt die geweihte Blutlache auf dieser Pritsche!«

»Ja, Satan, wollt ihr denn gar nicht wissen, wo dieser Halunke hin ist, der hier so flink die Klinge geführt hat?«, schüttelte die Housemaid ihren grauweißen Spitzkopf und enthob ihre Chefin so der Notwendigkeit, eine wenigstens halbgare Erwiderung auf Kyds Anwurf zu ersinnen. Alles verstummte. Nur die Alte mit dem Tablett in der Hand lallte eine Art Antwort auf ihre eigene Frage: »Porca miseria! Ich brauch nur was zu trinken, dann fällt mir’s gewisslich wieder ein.«

»Frau Wirtin, jetzt gebt der guten Frau, wonach sie verlangt«, war Helen zur Stelle.

»Und wer bezahlt mir das? Bin ich nicht schon um die Zeche von den vier Turbelhähnen hier gebracht; wovon nur noch einer da ist, und der hat ausgeschnauft! Viermal Dinner, viermal Supper, und zu Saufen nicht zu knapp.«

»Gebt uns ein halbes Dutzend Kannen Bier und lasst euch aufhängen!« Jetzt war es Helen, die ein Marlowe-Zitat an die Luft setzte.

4

»Ich hab deinem dreimal verfluchten …« – Ohrfeige – »… Vater gesagt, er soll die Klepper …« – Ohrfeige – »… soll die Klepper angespannt lassen! …« – Ohrfeige – »… Und der, dämlich wie ’n Haufen Rattengekröse, was macht der?« – Ohrfeige.

»Er hat bloß«, der Knirps stand zitternd in der Tür und hielt sich mit beiden Händen das aufgequollene Gesicht, »hat bloß ans Wohl der Pferde Unserer Majestät The Maiden Queen gedacht und … «

Ohrfeige – »Der hat nichts zu denken. Und nimm die Hände runter, sonst setzt’s noch eine Portion Maulschellen extra! Du bleibst also dabei, dass dein hochgescheiter Herr Papa jetzt zu allem Überfluss am Biertisch hockt?«

»Ist wohl so, muss wohl.«

»Und weiß ganz genau, der Hundsfott, dass ich ihn da vor aller Öffentlichkeit nicht rauszerren kann. Also … also musst du jetzt ran!«

»Sehr wohl, der Herr, sehr wohl.«

Ohrfeige – »Quatsch nicht. Lass die Hufe traben!«

»Ich werf mir nur eben die Jacke übern Schlafanzug.«

Ohrfeige – »Das Einzige, was du wirfst, sind deine Füße, und zwar hopplahopp!«

»Aber Herr Walsingham, ich darf nur raus mit … «

Die nächste Ohrfeige traf den elfjährigen Sohn des Pferdeknechts mitten auf den Mund. Er brachte kein Wort mehr über die aufgeplatzten Lippen, traute sich nicht mal mehr, die herabgeronnenen Tränen von der Oberlippe zu lecken, stolperte, so schnell ihn seine kurzen Beine trugen, die Stiege runter in den Stall und machte sich an Zaumzeug und Zuggurten, an Kammdeckeln und Deichselketten zu schaffen. Die Spitzkummete waren fast schwerer als er selbst, und um sie über die Köpfe der Gäule zu legen, musste er auf ein schwankendes Konstrukt aus zwei übereinandergestellten Stallschemeln steigen. Aber die zu brennend roten Wülsten aufgeworfene Haut seines Gesichts gab ihm unmissverständlich zu verstehen, was er alles zu bewerkstelligen imstande war.

5

Helens »halbes Dutzend Kannen Bier «-Zitat ging völlig unter im Gerumpel der jetzt scharenweise aus der Gaststube treppaufwärts strömenden Leute, denen die Aussicht auf eine turbulente Aufwertung des Kneipenabends ganze Schwärme funkelnder Sterne in die Pupillen gezaubert hatte. Eine ausgesprochen schillernde Gesellschaft, die sich eben anschickte, Treppenhaus und Flur zu bevölkern. Ein Sammelsurium aus den üblichen Trunkenbolden mit entsprechend abgehalfterter, um die Schultern schlackernder Kledage, aus etwas besser gekleideten, allerdings ein strenges Reiseschweiß-Odeur verströmenden Fahrensleuten, die drüben in den Stallungen ihre Rösser über die Nacht brachten, aus aufgekratzten Weibsbildern mit Reibeisenstimme und aus einer Handvoll versprengter Deptforder Bürgersleute, die weiß der liebe Himmel was für Händel hierhin verschlagen haben mochten.

Mitten in diesem Trubel wanderte ein randvoll mit Billigschnaps gefüllter Becher durch die Reihen der heiter krakeelenden Meute, und irgendein Wagenknecht, oder welcher Profession der Mann auch immer gewesen sein mag, hielt seinen Becher hoch und grölte aus vollem Hals: »Güldner Saft für den Rufer in der Wüsten!«

Ich weiß nicht: Kennen Sie das? Also mitten in der Nacht. Sie wachen mitten in der Nacht auf, weil Sie dieser seltsame Traum auf Abwege geführt hat. Obwohl oder grade weil er so verdammt realitätsnah daherkam. Einfach nicht zu unterscheiden von der Wirklichkeit, schon gar nicht mit geschlossenen Augen. Und Sie haben natürlich Angst, die Traumwelt könnte Sie verleiten zu handeln: einfach laufen zu lassen. Immerhin eröffnete Ihnen der Traum den erlösenden Blick stracks ins weiße, erwartungsfrohe Porzellan. So, als stünden Sie breitbeinig davor. Genau davor. Oder – ein paar Jahrhunderte zurück – als säßen sie auf der kippligen, aber dennoch empfangsbereiten Mitternachtsvase. Man muss, verdammt noch mal, auf der Hut sein. Vor allem vor Selbsttäuschungen aller Art. – Also was ist, kennen Sie das?

»Güldner Saft für den Rufer in der Wüsten!«, schallte es ein weiteres Mal durchs Treppenhaus.

»Obacht, Leute, dass ihr mir nicht auch noch die Stiege vollschlabbert.« Die Wirtin reckte ihre matronendicken Arme über Köpfe und Schultern hinweg dem Schnapskelch entgegen und gab ihn schließlich an ihre Bedienstete weiter, nicht ohne die salbungsvollen Worte anzufügen: »Hier, my Lady! Auf ex! Und dann sing! Sing, wie Gott dich in seiner grenzenlosen Güte zu singen gelehrt hat.«

Strahlend kippte ihr altes Mädchen für alles das dargereichte Destillat und lallte zwischen genüsslichem Schlürfen in den Rachenputzerpokal hinein: »Mit frisch geölter Stimme geht’s gleich viel besser: Hier, hier, da – hat den Dolch noch in der Hand gehabt, seh noch, wie er ’n abwischt am Saum von seinem Wams, wie er ’n zurück in’ Gürtel schiebt, und dann ist er hier raus, da, rausgefitscht. Aus dem Staube aus der Stube aus den Augen aus dem Sinn.« Sprach’s und schlenzte mit so weit als irgend möglich ausgefahrener Zunge eine weitere flinke Runde durch den Becher, um nur ja keinen Tropfen zu verschenken.

»Und wohin nun ist dieser Satanshenker geflohen?«, fragte Helen und streckte der Housemaid die unwissend offenen Handflächen entgegen.

»Na weg. Draußen raus. Zum Flurfenster da rausgeflattert. Und seine Spießgesellen gleich mit ihm. Raus in die finstre, finstre, in die regentriefende Nacht.«

»Und dafür mein guter Brandy! Für nichts als diesen schwachsinnigen Wetterbericht«, jammerte Witwe Bull.

Was natürlich keiner mehr zur Kenntnis nahm. Die ganze Meute stob mit wüstem Halali die Stiege runter. Ihr »Hinterher! Haltet den Mörder! Wir kriegen dich, Mordio, du Vieh!« aber verhallte abrupt, als die Haustür hinter dem letzten von diesen rasenden Rächern der Enterbten ins Schloss fiel.

Helen und Kyd verharrten immer noch in lähmender Erschütterung. Während die Housemaid offensichtlich eine zur Seite gewirbelte Scherbe entdeckt hatte, die ihren Bemühungen bislang entgangen war. Sie setzte ein weiteres Mal ihre alten, geschundenen Knochen in Bewegung, ging ächzend in die Knie und angelte mit langen Fingern die halb unter der Flurkommode hervorlugende Bierhumpenscherbe ans Licht, ans schummrige Kerzenlicht. Das Trümmertablett aber balancierte sie derweil mit gradezu furiosem Gleichgewichtssinn – zumal in Anbetracht der Tatsache, dass sie ja grade eben erst eine gehörige Spritportion nachgetankt hatte.

Trinkfest, die Dame, ausgesprochen trinkfest. Jedenfalls platzierte sie also auch diese letzte Beute oben auf ihrem spitzen Splitter-Piz. Wie ’ne Art Gipfelkreuz. – Kyd. Hat Kyd voller Hochachtung für das alte Tantchen erzählt. – Sorry, aber das ist doch keine Verbesserung, sondern eine Ergänzung! Nichts läge mir ferner, als Ihre Gerichtsberichterstatterin, oder wie man die nennen soll, zu korrigieren, wo sie’s nicht verdient hat. Ich steure hier nur bei, was Kyd uns in einer stillen Stunde erzählt hat. Aber bitte, ich kann’s auch lassen. Obwohl, Sie wollten doch, dass ich … okay, ja, nur wenn’s unbedingt nötig ist kommentieren. Kann ich machen. Sicher.

»Durch die Fenster durch die Tür aus den Augen aus dem Sinn«, blubberte sie wieder vor sich hin, »nur der Verseschmied, der bleibt. Mein gottseliger Helfer in der Not seinerzeit. Der ist zu Ende. Ausgeträumt den Vorsommernachtsalbtraum. Der bleibt. Und ich. Mit trockner Kehle. Und unsre verehrte Zapferin. Kann ihre Kaschemme schließlich nicht alleinlassen, nicht dass ihr einer das frisch angeschlagne Fass leer saufen tut.« Um dann, wo sie schon einmal dabei war, Richtung Wirtin hinzuzufügen: »Gute, verehrte Frau Generalfeldmarschall, habt mir ’n spiritreiches Getränkelein ausgeschenkt und hergeschenkt. Der Allmächtige hoch droben wird auf ewig Euer Lohner sein.«

»Dank auch, Dank auch«, gab diese mit beißendem Spott in der Stimme zurück, während sie demonstrativ das Licht im Mordzimmer löschte und Kyd und Helen damit bedeutete, dass eine Totenwache hier oben unerwünscht sei und sie sich in die Gaststube zu begeben hätten, »besten Dank, doch zu viel der Ehre. Und nun lass sie sich nicht weiter aufhalten von versoffnen Dichterfürsten und staubtrocknen Schluckern in regennasser Nacht! Becher, Kübel, Teller stapelweise warten auf euch!«

»Ich weiß, das heilige Abwaschsakrament, weiß ich. Introibo ad altare Dei. Komm ja schon«, nickte die gute Seele, fuhr mit langer Zunge noch einmal durch den Brandybecher und ging tablettschaukelnd der Wege, die ihr gewiesen waren. »Hoc et nunc et hic et hicks. Und seht: Der Fusel ist zu Blut geworden. Hocuspocusvitzlipitzli. Das nämlich ist das Blut Christopheri, des Sprüchekloppers, Versehäkelfritzen, Reimfressers von Lisbeths Gnaden. Und welcher Sänger unter Englands selt’ner Sonne nimmt meiner nun sich an?«

Im Schlepptau dieser ergreifenden Predigt folgten, eine in virtuose Disharmonie gestimmte Prozession abgebend, Widow Bull, Helen und Kyd. Kaum dass sie die rauen, doch rettenden Gestade der Gaststube in Sicht hatten, wurde die Haustür mit einem lauten Knall aufgestoßen und die ganze Mischpoke heißblütiger Verfolger stürmte aus der Nacht wieder herein und marschierte schnurstracks durch Richtung Stiege.

Eine Meute frustrierter Jagdhunde.

Die Housemaid legte eilends den Rückwärtsgang ein, in der Hoffnung, sich in der Nische auf halber Treppe in Sicherheit bringen zu können. Das jedoch erwies sich in der gebotenen Eile als ein allzu turbulentes Manöver, in dessen Vollzug sie natürlich mit ihrem Tablett aneckte, was ihr einen akrobatischen Meisterakt abverlangte, um das Scherbengemüse nicht erneut zu Boden gehen zu lassen.

Plötzlich, die ersten Stufen schon erreicht, blieb die Spitze des Zuges abrupt stehen, nicht ohne die nachfolgenden Eiferer auflaufen zu lassen. Dem schlaksigen Gestell, das die Phalanx der Horde anführte, schien aufgefallen zu sein, dass er die Wirtin, die er doch recht eigentlich im Visier hatte, bereits hinter sich gelassen hatte. Er drehte sich also um und richtete das Wort an die mittlerweile ziemlich blass gewordene Witwe Bull, man bräuchte Lampen, Laternen, Fackeln, alle Instrumente dieser Art, die das Haus zu bieten habe. Draußen sei es stockdunkel.

Ihr wird in den langen Jahren als Wirtin dieses Gasthauses ja so einiges widerfahren sein, aber das hier, dieser satanische Zinnober hier?! Der muss selbst für ihre Verhältnisse jedem Fass den Boden ausgeschlagen haben.

Gut, ich meine, da hätten Sie wahrscheinlich auch ziemlich blass ausgesehen. Kam ja nun wirklich ein bisschen dicke: Zechprellerei, nachmitternächtliche Messerstecherei und jetzt das kollektive Austicken der gesamten Gästeschar. Und das alles auf einmal. – Nein, das hab ich ja bereits ganz zu Anfang gesagt. An diesem ganzen Aufzug war ich nicht im Geringsten beteiligt, hab weder das Drehbuch unterschrieben noch war ich an der Inszenierung beteiligt. Ich war ja nicht mal vor Ort. Und telekommunikationsmäßig ging ja damals noch nicht allzu viel. Mir wurde das Drama nur im Nachhinein zugetragen. Aber auch das hab ich Ihnen ja schon gesagt. Redet man denn hier gegen eine Wand oder was?!

Na, jedenfalls ging der guten alten Bull’schen das ganze Theater gehörig über die Hutschnur. Und das ist ja wohl nur zu verständlich.