Das dunkle Haus: Mickey Bolitar ermittelt - Harlan Coben - E-Book

Das dunkle Haus: Mickey Bolitar ermittelt E-Book

Harlan Coben

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Beschreibung

Wer das Böse jagt ...

Mickey will endlich die Wahrheit über den Tod seines Vaters herausfinden. Doch da ereignet sich schon die nächste Katastrophe: Auf Mitschülerin Rachel wird geschossen! Sofort stellen Mickey und seine Freunde Ema und Löffel Nachforschungen an – und finden sich inmitten eines höchst mysteriösen Falls wieder, in dem sie nicht einmal der Polizei trauen können. Und je tiefer sie der Sache auf den Grund gehen, desto tödlicher wird die Gefahr ...

Dieser Band ist bereits unter dem Titel "Seconds Away" erschienen.

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Seitenzahl: 405

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DER AUTOR

Sandra Mapp c/o Dutton Adult, Penguin US

Harlan Coben wurde 1962 in New Jersey geboren. Als erster Autor wurde er mit den drei wichtigsten amerikanischen Krimipreisen ausgezeichnet: dem Edgar, dem Shamus und dem Anthony Award. Seine Bücher wurden in über 40 Sprachen übersetzt und stehen weltweit auf den Bestsellerlisten. Mit Mickey Bolitar hat er einen sympathischen Helden für seine Thriller für Jugendliche zum Leben erweckt.

Von dem Autor ist außerdem bei cbt erschienen:

Der schwarze Schmetterling (Mickey Bolitar ermittelt, Bd. 1)

Das geheimnisvolle Grab (Mickey Bolitar ermittelt, Bd. 3)

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Harlan Coben

Das dunkle Haus

Mickey Bolitar ermittelt

Band 2

Aus dem Amerikanischen

von Anja Galić

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

© 2012 by Harlan Coben

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

»SECONDS AWAY« bei SPEAK, an imprint of

Penguin Young Readers Group, New York

© 2015 | 2017 für die deutschsprachige

Ausgabe cbt Verlag in der

Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Bereits erschienen unter dem Titel »Seconds Away«.

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Übersetzung: Anja Galić

Lektorat: Carola Henke

Umschlaggestaltung: semper smile, München

unter Verwendung eines Motivs von © Mark Fearon /

Arcangel Images, Shutterstock (Suriya KK, Thatsaniya

Thawongklang, Bildagentur Zoonar GmbH,

Nejron Photo, tanshy, igorstevanovic, LeksusTuss)

jb · Herstellung: ang

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-20508-9V003

www.cbt-buecher.de

Für meinen Patensohn

Henry Armstrong

1

Es gibt Momente im Leben, die alles verändern.

Und damit meine ich nicht solche Dinge, wie, sagen wir, die leckerste Müslimischung der Welt zu entdecken oder es in einen Leistungskurs zu schaffen oder sich zu verlieben oder irgendwohin zu ziehen, wo man die nächsten zwanzig Jahre verbringen wird. Nein, ich meine die totale Veränderung. In der einen Sekunde ist deine Welt noch so, wie du sie schon immer gekannt hast, und in der nächsten – zack! – ist sie eine völlig andere. Alle Regeln, alles, was man für die eine wahre Wirklichkeit gehalten hat, wird komplett auf den Kopf gestellt.

So als würde aus oben unten werden. Aus links rechts.

Aus Tod Leben.

Während ich das Foto anstarrte, wurde mir klar, dass es immer nur Sekunden sind, die uns von alles verändernden Ereignissen trennen. Was ich mit eigenen Augen vor mir sah, ergab keinen Sinn, also blinzelte ich ein paarmal und richtete dann erneut den Blick auf das Bild – als könnte es sich in der Zwischenzeit verändert haben. Was natürlich nicht der Fall war.

Es war eine alte Schwarz-Weiß-Aufnahme. Ich rechnete schnell im Kopf nach und kam zu dem Schluss, dass sie vor fast siebzig Jahren aufgenommen worden sein musste.

»Das kann nicht sein«, sagte ich.

Nicht dass jetzt irgendjemand auf die Idee kommt, ich würde Selbstgespräche führen und hätte nicht mehr alle Tassen im Schrank (zu der Erkenntnis wird man noch früh genug kommen). Ich sagte es nicht zu mir selbst, sondern zu der Hexe, die in ihrem weißen Kleid ein paar Meter von mir entfernt stand und schwieg. Ihre langen grauen Haare wirkten so, als wären sie immer in Bewegung, selbst wenn sich kein Härchen rührte, und ihre runzlige Haut erinnerte an ein Blatt Papier, das zu oft zusammen- und wieder auseinandergefaltet worden war.

Auch wer diese Hexe nicht kennen sollte – irgendeine Hexe kennt jeder. Wir reden hier von der unheimlichen alten Frau, die in dem unheimlichen alten Haus am Ende der Straße wohnt. Jede Stadt hat ihre eigene Hexe. Auf dem Schulhof hört man Geschichten über sie und die schrecklichen Dinge, die sie mit denen anstellt, die sie in ihre Finger kriegt. Als kleines Kind hält man sich also tunlichst von ihr fern. Als größeres Kind – in meinem Fall als Zehntklässler –, tja, da hält man sich auch tunlichst von ihr fern, weil einem das Haus immer noch eine Heidenangst einjagt, obwohl man weiß, dass alles, was man sich darüber erzählt, Unsinn ist und man für solche Schauermärchen eigentlich zu alt ist.

Trotzdem war ich hier, sozusagen mitten in der Höhle der Löwin, respektive Hexe und starrte das Foto an, von dem ich wusste, dass es nicht das sein konnte, wonach es aussah.

»Wer ist der Typ?«, fragte ich die Hexe.

»Der Schlächter von Lodz«, flüsterte sie und ihre Stimme war so knarzig wie die Holzdielen, auf denen wir standen.

Der Mann auf dem Foto trug eine Uniform der Waffen-SS aus dem Zweiten Weltkrieg. Kurz gesagt: Er war ein sadistischer Nazi, der laut der Hexe etliche Leben auf dem Gewissen hatte, einschließlich das ihres Vaters.

»Und von wann stammt diese Aufnahme?«, fragte ich.

Die Hexe dachte nach. »Genau weiß ich es nicht. Vermutlich aus dem Jahr 1942 oder 43.«

Ich schaute mir wieder den Mann auf dem Foto an. In meinem Kopf drehte sich alles. Nichts ergab einen Sinn. Ich rief mir die Fakten ins Gedächtnis, von denen ich mit Sicherheit wusste, dass sie den Tatsachen entsprachen: Mein Name ist Mickey Bolitar. Sehr gut, weiter so. Ich bin der Sohn von Brad Bolitar (verstorben) und seiner Frau Kitty (derzeit auf Entzug in einer Suchtklinik) und befinde mich im Moment in der Obhut meines Onkels Myron Bolitar (den ich als notwendiges Übel akzeptiere). Ich bin »der Neue« auf der Kasselton Highschool, der noch dabei ist, seinen Platz zu finden, und – nimmt man dieses Foto als Grundlage – entweder unter Wahnvorstellungen leidet oder komplett geistesgestört ist.

»Was ist los, Mickey?«, fragte mich die Hexe.

»Was los ist?«, wiederholte ich. »Sie wollen mich auf den Arm nehmen, oder?«

»Wie kommst du darauf?«

»Das«, ich zeigte auf das Foto, »ist der Schlächter von Lodz?«

»Ja.«

»Und Sie glauben, dass er Ende des Zweiten Weltkriegs gestorben ist?«

»So wurde es mir zumindest gesagt«, antwortete sie. »Wieso, Mickey? Weißt du irgendetwas über ihn?«

Ich dachte an den Moment zurück, in dem ich die Hexe das erste Mal gesehen hatte. Ich war auf dem Weg zu meiner neuen Schule gewesen, als sie plötzlich aus der Tür ihres abbruchreifen Hauses trat und mich so erschreckte, dass ich beinahe geschrien hätte. Damals hatte sie mit ihrem knochigen Finger auf mich gedeutet und fünf Wörter gesagt, die mich wie eine Maschinengewehrsalve in die Brust getroffen hatten:

Mickey (keine Ahnung, woher sie meinen Namen gekannt hatte) – dein Vater ist nicht tot.

Nur aus diesem einen Grund hatte ich mich überhaupt erst auf dieses irrwitzige Abenteuer eingelassen, das mich jetzt … zu diesem Foto geführt hatte.

Ich blickte von dem Bild auf. »Warum haben Sie das zu mir gesagt?«

»Habe ich was zu dir gesagt?«

»Dass mein Vater nicht tot ist. Warum haben Sie das gesagt?«

Sie schwieg.

»Ich war nämlich dabei.« Meine Stimme zitterte. »Ich habe ihn mit eigenen Augen sterben sehen. Wie kommen Sie also dazu, so etwas zu sagen?«

»Erzähl es mir …«, sagte sie. »Erzähl mir, woran du dich erinnerst.«

»Ist das Ihr Ernst?«

Die alte Frau schob den Ärmel ihres Kleids hoch und zeigte mir die Tätowierung, die sie als Auschwitz-Überlebende kennzeichnete.

»Ich habe dir erzählt, wie mein Vater starb«, sagte sie. »Jetzt bist du dran. Erzähl mir, wie es passiert ist.«

Mir lief es kalt den Rücken hinunter. Ich schaute mich in dem dunklen Raum um. Auf einem alten Plattenspieler drehte sich eine Vinylscheibe mit dem Song »Time Stands Still« von HorsePower. Meine Mom war ein Fan dieser Band gewesen. Und als sie noch berühmt war, hatte sie sogar Partys mit ihnen gefeiert, bevor ich dann zur Welt kam und alle ihre Träume zunichtemachte. Auf dem Kaminsims der Hexe stand das verfluchte Bild dieser fünf Hippies aus den Sechzigern, die gebatikte T-Shirts mit diesem Schmetterling auf der Brust trugen.

»Erzähl es mir«, forderte die Hexe mich noch einmal auf.

Ich schloss die Augen und atmete tief durch. Es war alles andere als einfach, zu diesem Moment zurückzukehren – und doch schien ich es jede Nacht aufs Neue zu tun.

»Wir fuhren gerade nach San Diego, nur mein Dad und ich. Das Radio lief. Wir lachten.« Das ist mir von ihm am besten in Erinnerung geblieben. Sein Lachen.

»Okay«, sagte sie. »Was geschah dann?«

»Ein Geländewagen, der uns entgegenkam, ist irgendwie von seiner Fahrbahn abgekommen und frontal in uns hineingekracht. Einfach so.« Ich hielt einen Moment inne. Es war beinahe so, als würde ich das alles noch mal erleben – das entsetzliche metallische Kreischen, wie ich in den Sicherheitsgurt katapultiert wurde und dann die plötzliche Dunkelheit. »Der Wagen überschlug sich, und als ich aufwachte, klemmte ich fest und ein paar Feuerwehrmänner versuchten, mich zu befreien.«

»Und dein Vater?«

Ich sah sie an. »Sie kannten meinen Vater, oder? Mein Onkel hat mir erzählt, dass er als Kind hier in diesem Haus war.«

Sie überging die Frage. »Dein Vater«, wiederholte sie. »Was ist bei dem Unfall mit ihm passiert?«

»Sie wissen, was passiert ist.«

»Sag es mir.«

Ich sah ihn vor meinem inneren Auge. »Dad lag auf dem Rücken. Seine Augen waren geschlossen. Um seinen Kopf hatte sich eine Blutlache gebildet.«

Mein Herz setzte ein paar Schläge aus.

Die Hexe legte ihre knochige Hand auf meinen Arm. »Ist schon okay, Mickey.«

»Nein«, gab ich wütend zurück und zog meinen Arm weg. »Es ist nicht okay. Es ist noch nicht einmal annähernd okay. Da war nämlich ein Rettungssanitäter, der sich um meinen Dad gekümmert hat. Er hatte rotblonde Haare und grüne Augen, und irgendwann sah er auf und schaute mich an, und als sich unsere Blicke trafen, schüttelte er den Kopf. Nur einmal. Und da wusste ich es. Es war vorbei. Mein Vater war tot. Das Letzte, was ich sah, war, wie der rotblonde Sanitäter mit den grünen Augen meinen Dad auf einer Rolltrage wegschob.«

Die Hexe sagte nichts.

»Und das hier …«, mir brach fast die Stimme und Tränen strömten über mein Gesicht, während ich das alte Schwarz-Weiß-Foto hochhielt, »das ist kein Foto von irgendeinem alten Nazi. Das ist ein Foto von dem Rettungssanitäter.«

Das Gesicht der Hexe, das bereits weiß wie ein Laken war, schien noch blasser zu werden. »Das verstehe ich nicht.«

»Ich auch nicht. Aber Ihr Schlächter von Lodz ist der Sanitäter, der meinen Vater auf der Trage davonschob.«

Ihre Antwort überraschte mich. »Ich bin müde, Mickey. Du musst jetzt gehen.«

»Soll das ein Scherz sein? Wer ist der Kerl? Warum hat er meinen Vater mitgenommen?«

Sie hob eine zitternde Hand an ihren Mund. »Manchmal wollen wir etwas so sehr, dass wir unsere Wunschvorstellung mit der Realität verwechseln. Verstehst du, was ich meine?«

»Ich wünsche mir nicht, dass das ein Foto von dem Sanitäter ist. Es ist so.«

Sie schüttelte so heftig den Kopf, dass ihre hüftlangen Haare hin- und herschwangen. »Es gibt nichts Unzuverlässigeres als die Erinnerung. Das wirst du mit dem Älterwerden noch lernen.«

»Wollen Sie damit sagen, dass ich mich irre?«

»Wenn der Schlächter noch leben würde, wäre er mittlerweile fast neunzig. Ziemlich alt für einen Rettungssanitäter.«

»Hey, ich habe nicht gesagt, dass er neunzig war. Er war genauso alt wie dieser Typ auf dem Foto.«

Die Hexe sah mich bloß stumm an. Mir wurde klar, wie sich das für sie anhören musste – wie das kranke Gefasel eines Irren. Der Song war zu Ende und ein anderer begann. Sie trat einen Schritt zurück. Ihr zerschlissenes weißes Kleid schleifte über den alten Holzboden und ihr auf mich gerichteter Blick wurde schärfer.

»Was?«, sagte ich.

»Es ist Zeit für dich zu gehen. Und es ist besser, wenn wir uns eine Weile nicht wiedersehen.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Du bist einem Irrglauben aufgesessen«, sagte sie.

Tränen brannten in meinen Augen. »Glauben Sie wirklich, ich könnte jemals dieses Gesicht vergessen? Die Art, wie er mich ansah, bevor er mit meinem Vater verschwand?«

Ihre Stimme klang jetzt hart wie Stahl. »Geh, Mickey.«

»Nein, ich werde nicht gehen …«

»Geh!«

2

Eine Stunde später saß ich bei mir im Garten – oder genauer gesagt, im Garten meines Onkels – und brachte Ema auf den neusten Stand. Sie trug wie immer von Kopf bis Fuß Schwarz, einen Totenkopfring am Zeigefinger und mehr Ohrringe, als ich zählen konnte.

Ema war so ungefähr das krasse Gegenteil einer Frohnatur, man könnte ihre Grundstimmung also durchaus übellaunig und mürrisch nennen, aber jetzt starrte sie mich an, als würde mir plötzlich ein dritter Arm wachsen.

»Und du bist einfach gegangen?«, fragte sie.

»Was hätte ich denn machen sollen? Die Informationen aus ihr herausprügeln? Aus einer alten, gebrechlichen Frau?«

»Keine Ahnung. Aber wie konntest du einfach gehen?«

»Sie ist die Treppe hochgestiegen, da konnte ich ihr ja wohl schlecht folgen, oder? Ich meine, stell dir mal vor, sie hätte angefangen, sich auszuziehen oder so was.«

Ema gab Würgegeräusche von sich.

»Na also.«

Ema war noch keine fünfzehn, hatte aber schon jede Menge Tattoos. Sie war um die eins sechzig groß und ziemlich korpulent, wie man heutzutage wohl politisch korrekt sagen muss. Als wir uns vor gerade mal einer Woche kennengelernt hatten, saß sie in der Mittagspause allein am Außenseitertisch in der Cafeteria und behauptete, dass es ihr so lieber sei.

Jetzt betrachtete sie das alte Schwarz-Weiß-Foto. »Mickey?«

»Hm?«

»Du glaubst doch nicht wirklich, dass das derselbe Typ ist?«

»Ich weiß, das klingt verrückt, aber …« Ich verstummte.

Das mit Ema war schon sehr speziell. Ihre äußere Schale, also die, die sie so ziemlich der ganzen Welt zeigte, war abweisend und unterkühlt. Ema war nicht das, was man landläufig als schön bezeichnen würde, aber wenn sie mich wie jetzt mit ihren großen braunen Augen konzentriert und besorgt anschaute, dann hatte sie beinahe etwas Engelsgleiches an sich.

»Red weiter«, sagte sie.

»Der Unfall damals«, begann ich, »das war der schlimmste Moment in meinem Leben hoch zehn. Mein Vater …« Die Erinnerungen überwältigten mich. Ich war ein Einzelkind. Wir hatten fast mein ganzes Leben lang im Ausland gelebt und waren glücklich durch die finstersten Ecken der Welt gereist. Ich hatte meine Eltern immer für unbeschwerte Nomaden gehalten, internationale Bohemiens, die für verschiedene Hilfsorganisationen arbeiteten. Mir war nicht klar gewesen, wie viel mehr tatsächlich dahintersteckte.

»Hey. Ist schon okay«, sagte Ema.

Es war nicht einfach für mich, noch mehr preiszugeben. Wenn man so viel unterwegs ist, schließt man nicht so schnell Freundschaften. Und genau das war einer der Gründe gewesen, warum ich mir einen festen Wohnsitz gewünscht hatte und auf eine richtige Schule gehen wollte. Mein Vater hatte daraufhin seinen Job aufgegeben und war mit uns nach Kalifornien gezogen, wo er, tja, gestorben war. Es liegt also auf der Hand, dass das, was nach unserer Rückkehr in die Vereinigten Staaten passierte – der Tod meines Vaters, der Absturz meiner Mutter in die Drogensucht –, meine Schuld war. Man konnte es drehen und wenden, wie man wollte, ich ganz allein trug die Verantwortung dafür.

»Wenn du nicht darüber reden willst …«

»Doch, will ich«, unterbrach ich Ema.

Und da war er wieder – dieser Blick aus ihren großen Augen, der so aufmerksam, verständnisvoll und gütig war.

»Der Unfall«, begann ich erneut, »hat alles zerstört. Mein Vater ist dabei umgekommen und meine Mom ist daran zerbrochen.«

Ich sparte es mir, darauf einzugehen, was er mit mir gemacht hatte – dass ich nie darüber hinwegkommen würde. Das tat hier nichts zur Sache. Es ging darum, herauszufinden, wie das Ganze mit dem Rettungssanitäter und dem Mann auf dem Foto zusammenhing.

»Wenn man so eine einschneidende Erfahrung macht«, fuhr ich nachdenklich fort, »wenn etwas so plötzlich passiert und dein ganzes Leben zerstört … dann erinnert man sich an alles, was damit zu tun hat. An jede Einzelheit. Klingt das irgendwie nachvollziehbar?«

»Klar.«

»Also dieser Sanitäter, ja? Der war der Erste, der mir zu verstehen gab, dass mein Vater tot war. Ich weiß ganz genau, wie dieser Kerl ausgesehen hat. So etwas vergisst man nicht. Das ist einfach ausgeschlossen.«

Wir saßen eine Weile schweigend da und ich schaute zu dem Basketballkorb auf. Onkel Myron hatte einen neuen besorgt, als feststand, dass ich zu ihm ziehen würde. Basketballspielen hatte für uns beide etwas Tröstliches – das langsame Dribbeln, der Sprungwurf, das Surren, wenn der Ball durchs Netz saust. Basketball ist das Einzige, was ich mit dem Onkel, bei dem ich gezwungenermaßen leben muss und dem ich nicht wirklich verzeihen kann, gemeinsam habe.

Ich kann ihm nicht verzeihen. Und ich glaube, mir selbst kann ich genauso wenig verzeihen.

Vielleicht war das noch etwas, das Onkel Myron und ich gemeinsam hatten.

»Reiß mir nicht gleich den Kopf ab, okay?«, sagte Ema.

»Okay.«

»Ich glaube dir absolut, dass du sein Gesicht nicht vergessen hast, und ich weiß auch, dass das, was letzte Woche passiert ist, völlig verrückt ist und erst noch verdaut werden muss. Aber können wir das alles vielleicht eine Sekunde lang mal ganz vernünftig betrachten?«

»Nein«, sagte ich.

»Wie bitte?«

»Ich weiß, was dabei herauskommt, wenn wir die Sache vernünftig betrachten – dass ich ein Fall für die Gummizelle bin.«

Ema lächelte. »Tja, so gesehen, stimmt. Aber lass uns trotzdem noch mal Punkt für Punkt alles durchgehen, nur um sicherzugehen, dass wir auch wirklich nichts übersehen haben, okay?«

Ich nickte widerwillig.

»Punkt eins«, sie hob den Daumen, dessen Nagel burgunderrot lackiert war, »als du letzte Woche auf dem Weg zur Schule an dem unheimlichen Haus der Hexe vorbeigegangen bist, erzählt sie dir, dein Vater wäre noch am Leben, obwohl du sie nicht gekannt und noch nie zuvor gesehen hast.«

»Richtig.«

»Ganz schön gruselig, oder? Ich meine, woher wusste sie, wer du bist oder dass dein Vater tot beziehungsweise nicht tot ist? Welcher Teufel hat sie geritten, so etwas zu behaupten?

»Ich habe keine Ahnung«, sagte ich.

»Ich auch nicht. Okay, kommen wir zu Punkt zwei.« Ema hob den Zeigefinger, den mit dem Totenkopfring und dem kanariengelb lackierten Nagel. »Eine Woche später, nachdem wir einmal durch die Hölle und wieder zurück gegangen sind, erzählt dir die Hexe, sie sei in Wirklichkeit Lizzy Sobek, die berühmte Holocaust-Heldin, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs niemand mehr gesehen hat. Dann zeigt sie dir ein Foto von diesem alten Nazi, der ihren Vater umgebracht hat. Und du glaubst, es ist derselbe Typ, der deinen Vater auf einer Rolltrage davongeschoben hat.« Ema breitete die Arme aus. »So könnte man das alles doch zusammenfassen, oder?«

»Jep.«

»Gut, das bringt uns schon mal ein bisschen weiter.«

»Tatsächlich?«

Sie wedelte ungeduldig mit der Hand. »Überspringen wir mal kurz die Tatsache, dass der Typ in den letzten siebzig Jahren aus irgendeinem Grund keinen Tag älter geworden ist.«

»Okay.«

»Kommen wir also zum nächsten Punkt: Du hast den Rettungssanitäter immer mit rotblonden Haaren und grünen Augen beschrieben.«

»Richtig.«

»Das ist dir von ihm am eindringlichsten in Erinnerung geblieben, ja? Die grünen Augen. Ich glaube, du hast sogar mal erwähnt, dass die Pupillen einen bernsteinfarbenen Kranz hatten.«

»Ja, und?«

»Ähm, Mickey?« Ema neigte leicht den Kopf. Ihre Stimme hatte einen sanften Ton angenommen. »Das Foto ist eine Schwarz-Weiß-Aufnahme.«

Ich sagte nichts.

»Du kannst darauf keine Farben erkennen. Woher willst du also wissen, dass seine Augen grün sind? Du kannst es nicht wissen, hab ich recht?«

»Schätze nein«, hörte ich mich sagen.

»Okay, dann lass es mich mal so formulieren«, fuhr Ema fort. »Was ist wahrscheinlicher? Dass der Schlächter von Lodz eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Rettungssanitäter hat und deine Fantasie mit dir durchgegangen ist? Oder dass ein neunzigjähriger Nazi jetzt als junger Sanitäter in Kalifornien arbeitet?«

Sie hatte natürlich nicht unrecht. Mir war klar, dass ich ziemlich durcheinander war. Kein Wunder. In der vergangenen Woche war ich brutal zusammengeschlagen und beinahe umgebracht worden. Ich hatte gesehen, wie einem Mann eine Kugel in den Kopf gejagt wurde, und hilflos danebenstehen müssen, als Ema ein Messer an die Kehle gehalten wurde.

Und da war der wirklich verblüffende Part noch nicht miteingerechnet.

Ema stand auf und strich sich die Jeans glatt. »Ich muss los.«

»Wohin?«

»Wir sehen uns morgen.«

Das machte sie ständig, dass sie einfach so verschwand. »Ich begleite dich.«

Ema stemmte die Hände in die Seiten und musterte mich stirnrunzelnd.

»Es ist schon spät. Ich will nicht, dass dir unterwegs irgendwas passiert.«

»Willst du mich verarschen? Für wen hältst du mich? Ich bin keine vier mehr.«

Aber darum ging es nicht. Aus irgendeinem Grund wollte Ema nicht, dass ich sah, wo sie wohnte, und bis jetzt hatte sie es immer geschafft, sich spurlos aus dem Staub zu machen. Wir hatten uns schnell angefreundet, ja, vielleicht war keiner von uns jemals zuvor so eng mit jemandem befreundet gewesen, aber wir hatten trotzdem jeder unsere Geheimnisse.

Als Ema schon fast an der Einfahrt war, blieb sie noch einmal stehen und drehte sich um. »Mickey?«

»Was?«

»Wegen dem Foto …«

»Ja?«

Sie ließ sich Zeit, bevor sie sagte: »Ich glaube nicht, dass du verrückt bist.«

Ich wartete darauf, dass sie noch etwas hinzufügte. Was sie nicht tat.

»Was dann?«, fragte ich. »Wenn ich nicht verrückt bin, was bin ich dann? Ein Idiot, der die Hoffnung nicht aufgeben kann?«

Ema dachte darüber nach. »Gut möglich. Aber die Sache hat noch eine andere Seite.«

»Und die wäre?«

»Vielleicht bin ich auch verrückt«, sagte sie, »aber ich glaube dir.«

Ich stand jetzt ebenfalls auf und ging auf sie zu. Dadurch, dass ich eins fünfundneunzig groß bin, überragte ich sie um gut einen Kopf. Wir gaben zweifellos ein seltsames Paar ab.

Sie blickte zu mir auf. »Ich habe keine Ahnung, wie das alles möglich sein kann, und ja, mir sind alle Gegenargumente bewusst. Aber ich glaube dir.«

Ich war so dankbar, dass ich am liebsten losgeheult hätte.

»Die Frage ist, was machen wir jetzt?«, sagte Ema.

Ich zog eine Braue hoch. »Wir?«

»Klar.«

»Diesmal nicht, Ema. Ich hab dich in letzter Zeit oft genug in Gefahr gebracht.«

Sie runzelte die Stirn. »Du weißt genau, dass ich es hasse, wenn du mir so kommst.«

»Ich muss das alleine regeln.«

»Nein, Mickey. Egal, worum es hier geht, egal, was das für eine Sache ist, die zwischen dir und der Hexe läuft, ich hänge mit drin.«

Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte, also beließ ich es bei einem »Wir schlafen eine Nacht drüber und reden morgen weiter, okay?«.

Ema blieb einen Moment lang unschlüssig stehen und sagte schließlich: »Weißt du, was komisch ist?«

»Was?«

»Alles hat damit angefangen, dass eine verrückte alte Frau dir erzählt hat, dein Vater würde noch leben. Aber mittlerweile, keine Ahnung, mittlerweile bin ich mir nicht mehr so sicher, ob sie wirklich verrückt ist.«

Damit drehte Ema sich endgültig um und verschwand in der Nacht. Ich hob den Basketball auf und gab mich meiner ganz eigenen – ja, ja, ich weiß, dass ich mich wie ein Zen-Priester anhöre – Meditationsform hin. Nach allem, was passiert war, sehnte ich mich nach ein bisschen Frieden und Ruhe.

Aber das war mir nicht vergönnt.

Damals dachte ich noch, schlimmer könnte es nicht mehr kommen. Ich hatte ja keine Ahnung.

3

Ich wollte gerade einen Sprungwurf machen, als ich den Wagen von Onkel Myron in der Einfahrt hörte.

Myron Bolitar war in dieser Stadt so etwas wie eine Sportlegende. Er hielt im Basketball jeden Punkterekord, hatte auf dem College zwei NCAA-Final-Four-Titel gewonnen und es in der ersten Auswahlrunde in das Team der Boston Celtics geschafft. Aber dann beendete eine plötzliche Knieverletzung seine NBA-Karriere, bevor sie richtig begonnen hatte.

Mein Vater – Myrons jüngerer Bruder – hatte oft davon gesprochen, wie entsetzlich mein Onkel darunter gelitten hatte. Er hatte Myron geliebt und wie einen Helden verehrt, bis meine Mutter mit mir schwanger wurde. Myron hatte nicht viel für meine Mutter übrig, und das ist noch milde ausgedrückt. Ich vermute, er hielt mit seiner Meinung auch nicht hinterm Berg. Das führte zu einem heftigen Streit zwischen den beiden Brüdern, der damit endete, dass Myron meinem Vater ins Gesicht schlug.

Sie haben sich danach nie wieder gesehen oder miteinander gesprochen.

Jetzt war es dafür natürlich zu spät.

Ich weiß, dass Myron sehr darunter leidet und dass er das, was geschehen ist, durch mich gern wiedergutmachen würde. Allerdings kapierte er nicht, dass es nicht an mir war, ihm zu verzeihen. In meinen Augen war er derjenige, der meine Eltern einen Weg einschlagen ließ, der letztlich zum Tod meines Vaters und der Drogenabhängigkeit meiner Mutter führte.

»Hey«, begrüßte Myron mich.

»Hey.«

»Hast du schon was gegessen?«, fragte er.

Ich nickte und warf den Ball Richtung Korb. Myron fing den Rebound auf und gab ihn an mich zurück. Der Basketballplatz bedeutete uns beiden eine Menge und war dadurch neutrales Territorium für uns, eine Waffenstillstandszone, unsere persönliche Schweiz. Auch der nächste Korb, den ich versuchte, ging daneben, und ich zuckte zusammen, was Myron nicht entging.

»In zwei Wochen sind die Testspiele, oder?«, fragte er.

Er sprach vom Probetraining für die Aufnahme in die Basketballmannschaft der Kasselton Highschool. Ich muss gestehen, dass ich hoffte, seinen Rekord zu brechen.

Ich schüttelte den Kopf. »Sie sind vorgezogen worden.«

»Auf wann?«

»Montag.«

»Das ist bald. Bist du aufgeregt?«

Klar war ich aufgeregt. Total. Aber ich zuckte bloß mit den Achseln und machte meinen nächsten Wurf.

»Du bist erst in der Zehnten«, sagte Myron. »Zehntklässler werden fast nie in die offizielle Schulmannschaft aufgenommen.«

»Hast du nicht als Zehntklässler angefangen?«

»Touché.« Myron warf mir noch einen Pass zu und wechselte das Thema. »Immer noch ein bisschen angeschlagen von gestern Abend?«, wollte er wissen.

»Ja.«

»Und sonst?«

»Was meinst du?«

»Vielleicht sollten wir dich besser zu einem Arzt bringen?«

Ich schüttelte den Kopf. »Geht schon.«

»Willst du über das, was passiert ist, sprechen?«

Wollte ich nicht.

»Ich habe den Eindruck, dass du dich und andere in Gefahr bringst«, sagte Onkel Myron. »Liege ich damit richtig?«

Ich überlegte, was ich darauf antworten sollte, ohne die Wahrheit preisgeben zu müssen. Myron kannte ein paar Fakten. Die Polizei kannte ein paar Fakten. Aber ich konnte ihnen nicht alles sagen. Außerdem hätten sie es wahrscheinlich sowieso nicht geglaubt. Ich konnte es ja selbst nicht glauben, verdammt.

»Ein Held zu sein, zieht immer Konsequenzen nach sich, Mickey«, fuhr Onkel Myron leise fort. »Selbst wenn du davon überzeugt bist, das Richtige zu tun. Ich musste das auf die harte Tour lernen.«

Wir sahen uns an. Myron wollte noch etwas hinzufügen, als sein Handy klingelte. Er schaute aufs Display und erstarrte kurz.

»Sorry«, sagte er an mich gewandt, »aber da muss ich drangehen.«

Er entfernte sich ein paar Schritte, bis er außer Hörweite war, und nahm erst dann das Gespräch an.

Du bringst dich und andere in Gefahr …

Dass ich mich selbst in Gefahr brachte, war ganz allein meine Sache – aber was war mit meinen Freunden? Was war mit den »anderen«? Ich schlenderte in die entgegengesetzte Richtung und zog mein eigenes Handy heraus.

Wir waren zu viert in diesen zwielichtigen Nachtclub gegangen, um Ashley zu retten: Ema und ich, klar – und Löffel und Rachel. Löffel war wie Ema und ich ein Außenseiter. Rachel das genaue Gegenteil.

Ich musste mich dringend erkundigen, wie es ihnen ging.

Von Löffel, dem ich zuerst schrieb, erhielt ich folgende automatische Rückantwort: Leider kann ich Ihre Nachricht derzeit nicht persönlich entgegennehmen. Aufgrund jüngster Ereignisse stehe ich unter Hausarrest, bis ich 34 bin.

Und weil Löffel nun mal so war, wie er war, hatte er noch einen Nachsatz hinzugefügt: Übrigens starb Abraham Lincolns Mutter im Alter von 34 Jahren an einer Milchvergiftung.

Ich musste lächeln. Löffel hatte sich den Transporter seines Vaters »geliehen«, um uns zu helfen. Da er von uns allen die besorgtesten und liebevollsten Eltern hatte, nahm ich an, dass er auch den größten Ärger bekommen hatte. Zum Glück war Löffel jemand, der sich immer zu helfen wusste. Um ihn musste man sich wahrscheinlich keine Sorgen machen.

Danach schrieb ich dem vierten und zuletzt hinzugekommenen Mitglied unserer kleinen Gang – Rachel Caldwell. Wie soll man sie beschreiben …? Um es auf den einfachsten Nenner zu bringen: Rachel war das heißeste Mädchen der Schule. Sie war allerdings noch sehr viel mehr als nur superheiß, also bitte ich darum, mich nicht voreilig als sexistisches Schwein abzustempeln. Ihr Mut und der Einfallsreichtum, den sie an diesem Ort des Grauens bewiesen hatte, waren schlicht überwältigend.

Trotzdem muss ich, um an dieser Stelle wirklich komplett ehrlich zu sein, zugeben, dass das Erste, was mir – und fast jedem anderen in der Schule – bei ihrem Anblick in den Sinn kam, die Tatsache war, dass sie einfach unfassbar heiß war.

Wieso Rachel sich mit dem unbeliebten Neuling (mir), mit dem sich selbst als Goth-Emo bezeichnenden »fetten Mädchen« (Ema) und dem Schulhausmeistersohn und Nerd (Löffel) verbündet hatte, war mir nach wie vor ein absolutes Rätsel.

Ich grübelte angestrengt darüber nach, was ich Rachel schreiben sollte. Leider muss ich gestehen, dass ich in ihrer Gegenwart immer nervös und leicht dumpfbackig wurde und schwitzige Hände bekam. Mir ist klar, dass ich mich nicht so hätte anstellen sollen. Normalerweise war ich eigentlich ganz vernünftig und stand über den Dingen. Na ja, vielleicht auch nicht. Nachdem ich gründlich darüber nachgedacht hatte, was ich ihr schreiben sollte, entschied ich mich jedenfalls für diesen ausgeklügelten und charmanten Opener: Alles klar?

Wie unschwer zu erkennen ist, habe ich es mit Frauen wirklich drauf.

Ich wartete auf Rachels Antwort. Vergeblich. Als Onkel Myron sein Telefonat beendet hatte und wieder zurückkam, wirkte er, als wäre er tief in Gedanken versunken.

»Alles klar?«, bediente ich mich meiner gerade eben bei Rachel unter Beweis gestellten Wortgewandtheit.

»Alles bestens«, antwortete Myron.

»Wer war es denn?«

Die Stimme meines Onkels klang belegt. »Ein guter Freund, von dem ich lange nichts mehr gehört habe.«

»Und was wollte er?«

Myron starrte stumm in die Ferne.

»Hallo?« Ich wedelte mit der Hand vor seinem Gesicht.

»Er hat mich um einen Gefallen gebeten. Einen seltsamen Gefallen.« Myron warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Ich muss mich beeilen. In einer Stunde müsste ich wieder zurück sein.«

Aber mir blieb nicht viel Zeit, mir über Onkel Myrons merkwürdiges Verhalten den Kopf zu zerbrechen, denn genau in diesem Moment verkündete mein Handy den Eingang einer SMS. Ich schaute aufs Display und mein Pulsschlag verdoppelte sich. Nachdem ich meinem Onkel den Rücken zugewandt hatte, öffnete ich Rachels SMS. Sie lautete: Ist gerade schlecht bei mir. Kann ich dich später anrufen?

Ich tippte mit fliegenden Fingern Auf jeden Fall zurück und fragte mich dann, ob das vielleicht zu begierig klang oder ob ich nicht noch ein bisschen hätte warten sollen, wenigstens acht Sekunden lang, damit es nicht so aussah, als hätte ich nichts anders zu tun, als auf ihre Nachricht zu warten.

Ganz schön erbärmlich, oder?

Onkel Myron eilte zu seinem Wagen und ich ging in die Küche und machte mir einen kleinen Snack. Dabei stellte ich mir vor, wie Rachel bei sich zu Hause gesessen und mir die SMS geschrieben hatte. Ich war erst einmal bei ihr gewesen. Gestern. Sie lebte in einem riesigen, von einem videoüberwachten Sicherheitstor beschützten Anwesen, das einem das Gefühl vermittelte, dass es eine ziemlich einsame Angelegenheit war, dort zu wohnen.

Auf dem Küchentisch lag die West Essex Tribune. Dass die großartige Schauspielerin Angelica Wyatt derzeit in unserer kleinen Stadt weilte, hatte es nun schon zum dritten Mal in Folge auf die Titelseite geschafft. Angeblich drehte sie einen Film hier. Das war seit Tagen das Thema Nummer eins an der Kasselton High. Vor allem bei den Jungs in meiner Schule, von denen einige immer noch das nicht ganz jugendfreie Poster, das Angelica in einem nassen Bikini zeigte, im Zimmer hängen hatten. Und der Schlagzeile nach zu urteilen, wurden jetzt auch:

JUGENDLICHE AUS DER STADT UND UMGEBUNG

ALS STATISTEN GESUCHT!

Ich hatte Wichtigeres mit meiner Zeit anzufangen, also schob ich die Zeitung beiseite, zog das Foto des Schlächters von Lodz aus der Tasche, legte es auf den Tisch und starrte angestrengt darauf. Dann schloss ich die Augen und prägte mir das Bild ein wie einen Sonnenfleck. Anschließend zwang ich mich, in Gedanken auf diesen verfluchten Highway in Kalifornien zurückzukehren und den Unfall noch einmal zu durchleben … wie ich eingeklemmt im Wagen saß, meinen sterbenden Vater sah und dann in die grünen Augen mit dem bernsteinfarbenen Kranz um die Pupille schaute, deren Blick mir jede Hoffnung raubte.

Vor meinem inneren Auge fixierte ich das Gesicht des Rettungssanitäters, fertigte davon einen imaginären Abzug an und glich ihn mit dem ab, den ich gerade vom Schlächter von Lodz gemacht hatte.

Es war derselbe Mann.

Und genau hier lag das Problem: Das war unmöglich. Entweder hatte der Schlächter einen Sohn, der ihm zum Verwechseln ähnlich sah, oder einen Enkel. Oder ich war dabei, den Verstand zu verlieren.

Es half nichts. Ich musste der Hexe noch einen Besuch abstatten und darauf bestehen, diesmal eine Antwort zu bekommen.

Dafür brauchte ich jedoch eine Strategie, die gründlich durchdacht sein wollte, sodass ich auf alle Eventualitäten vorbereitet war. Zuvor gab es allerdings noch etwas anderes, um das ich mich kümmern musste.

Ein altes Sprichwort lautet: »Nichts in dieser Welt ist sicher, außer dem Tod und den Steuern.«

Wer immer das gesagt hat, hat eine Sache vergessen: Hausaufgaben.

Kurz spielte ich mit dem Gedanken, Myron zu bitten, mir eine Entschuldigung zu schreiben:

Sehr geehrte Mrs Friedman,

aus folgenden Gründen hat Mickey es bedauerlicherweise nicht geschafft, seinen Aufsatz über die Französische Revolution rechtzeitig fertigzustellen: Er hat einer Schülerin das Leben gerettet und mit angesehen, wie ein Mann erschossen wurde, ist aufs Übelste verprügelt und stundenlang von den Bullen verhört worden und hat ein Foto von einem als alter Nazi verkleideten kalifornischen Rettungssanitäter gesehen, in dem er den Mann erkannte, der ihn über den Tod seines Vaters in Kenntnis setzte.

Ich bitte Sie daher um Verständnis, dass Mickey den Aufsatz erst nächste Woche abgeben kann.

Tja. Ob ich damit durchkommen würde? Wahrscheinlich nicht. Außerdem konnte ich das Wort bedauerlicherweise nicht ausstehen. Ein schlichtes leider hätte es doch auch getan, oder etwa nicht?

Oh Mann, ich brauchte dringend Schlaf.

Mein Zimmer war früher – und viel zu lange – Onkel Myrons Zimmer gewesen. Es lag im Kellergeschoss und der Einrichtungsstil hätte als »Retro-Chic« durchgehen können, wenn er nicht so uncool gewesen wäre. Die Möblierung bestand unter anderem aus einem Kunstleder-Sitzsack, einer Lavalampe und ein paar über zwanzig Jahre alten Basketball-Pokalen.

Meine Partnerin für den Aufsatz über die Französische Revolution war keine Geringere als Rachel Caldwell. Ich kannte sie noch nicht lange, aber sie schien mir zu dem Typ Schülerin zu gehören, die ihre Hausarbeiten immer rechtzeitig abgeben. Wir alle kennen diese Mädchen. Am Tag der Prüfung kommen sie ins Klassenzimmer, schwören, dass sie durchfallen werden, beenden den Test dann in Rekordzeit, geben eine perfekte Arbeit ab und verbringen den Rest der Stunde damit, Ringlochverstärker in ihren Arbeitshefter zu kleben.

Bedauerlicherweise würde sie auf keinen Fall zulassen, dass wir den Aufsatz zu spät abgaben.

Fünfzehn Minuten später klingelte mein Handy. Es war Rachel.

»Hallo?«, meldete ich mich.

»Hi.«

»Hi.«

Jep. Wie schon gesagt, ich hatte es einfach drauf mit Frauen. Ich beschloss mit dem weiterzumachen, was in null Komma nichts zu meinem patentierten Eisbrecher geworden war: »Alles klar?«

»Glaub schon«, antwortete sie.

Sie klang irgendwie merkwürdig.

»War alles ganz schön heftig gestern Abend, was?«, fragte ich.

»Mickey?«

»Ja?«

»Glaubst du, dass …?«

»Was?«

»Keine Ahnung. Ist es wirklich vorbei, Mickey? Es fühlt sich nämlich nicht so an.«

Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Mir ging es genauso – als würde das Schlimmste noch bevorstehen. Ich hätte gern etwas Beruhigendes gesagt, wollte aber auch nicht lügen.

»Ich weiß es nicht«, erwiderte ich schließlich wahrheitsgemäß. »Eigentlich sollte es vorbei sein.«

Stille.

Ich: »Morgen müssen wir unseren Aufsatz über die Französische Revolution abgeben.«

Sie: »Stimmt.«

Wieder Stille. Ich stellte mir vor, wie sie allein in der leeren Villa saß, und das behagte mir nicht.

»Sollen wir uns dransetzen?«, fragte ich.

»Bitte?«

»Sollen wir versuchen, den Aufsatz fertig zu bekommen? Ich weiß, es ist schon spät, aber ich könnte zu dir kommen oder wir besprechen alles am Telefon …«

Plötzlich drang ein seltsames Geräusch an mein Ohr.

Durchaus möglich, dass Rachel bei der Vorstellung, ich könnte zu ihr kommen, nach Luft geschnappt hatte. Sicher war ich mir aber nicht. Dann hörte ich wieder irgendein undefinierbares Geräusch.

»Rachel?«, fragte ich.

»Ich muss Schluss machen, Mickey.«

»Was?«

»Ich kann jetzt nicht reden.« Ihre Stimme klang seltsam energisch. »Es gibt da etwas, um das ich mich kümmern muss.«

»Was denn?«

»Wir sehen uns morgen in der Schule.« Sie legte auf.

Aber Rachel irrte sich. Weil am nächsten Tag nichts mehr so sein würde, wie es war.

4

Es begann damit,dass es laut an der Tür klopfte.

Ich hatte gerade von meiner Mutter und meinem Vater geträumt, und wir hatten etwas getan, das im wahren Leben nie stattgefunden hatte – wir hatten uns ein Tennismatch meiner Mutter, der legendären Kitty Bolitar, angesehen.

Bevor sie mit siebzehn schwanger geworden war, hatte sie die Jugendrangliste des US-amerikanischen Tennis angeführt. Meinetwegen hatte sie mit dem Sport aufgehört und seitdem nie wieder einen Tennisschläger in die Hand genommen.

Seltsam, oder?

In dem Traum bestreitet Mom irgendein superwichtiges Turnier. Die Zuschauertribünen sind gerammelt voll. Ich sitze neben meinem Dad, aber er starrt so verliebt zu meiner Mutter hinunter, dass er mich gar nicht wahrzunehmen scheint.

Meine Eltern waren unfassbar glücklich miteinander gewesen, was für Paare mit Kindern eher eine Seltenheit ist. Natürlich gehen die meisten Eltern auch mal zusammen essen oder ins Kino, aber sie scheinen sich nicht mehr richtig anzuschauen. Sie befinden sich lediglich zur selben Zeit im selben Raum, und vielleicht hat das sogar manchmal etwas Tröstliches, ich weiß es nicht.

Bei meinen Eltern war es jedenfalls anders. Sie hatten nur Augen füreinander, als würde sonst niemand anderes auf der Welt existieren, als hätten sie sich gerade erst ineinander verliebt, als würden sie jeden Augenblick mit wehendem Haar und zu schmalziger Hintergrundmusik über eine Gänseblümchenwiese aufeinander zulaufen und sich in die Arme fallen.

So etwas ist unfassbar peinlich. Und ich als ihr Sohn muss es schließlich wissen.

Ich habe immer geglaubt, eines Tages auch so eine Liebe zu finden. Aber jetzt will ich das gar nicht mehr. Es ist nicht gesund. Es macht einen viel zu abhängig. Man ist glücklich, solange der andere glücklich ist. Man lächelt, wenn der andere lächelt. Doch das eigene Lächeln erlischt, sobald man den anderen nicht mehr lächeln sieht.

Und wenn der andere stirbt, stirbt ein Teil von einem mit.

Genau so ist es meiner Mutter ergangen.

In meinem Traum fegt Mom ihre Gegnerin mit einer mörderischen Vorhand vom Platz.

Die Menge tobt.

Eine Stimme sagt: »Spiel, Satz und Sieg … Kitty Bolitar!«

Meine Mom wirft ihren Schläger in die Luft. Die Zuschauer springen von ihren Plätzen auf. Mein Dad klatscht und hat Tränen in den Augen. Ich versuche ebenfalls, aufzustehen und zu klatschen, aber ich … kann nicht. Es ist, als wäre ich auf meinem Sitz festgeklebt. Ich schaue zu meinem Vater auf. Er lächelt mich an, aber plötzlich beginnt er davonzuschweben.

»Dad?«

Wieder versuche ich, aufzustehen, aber ich schaffe es nicht. Er schwebt Richtung Himmel. Meine Mutter folgt ihm. Sie winken mir zu und bedeuten mir, mich ihnen anzuschließen. Mom ruft mir etwas zu.

»Beeil dich, Mickey!«

Aber ich kann mich immer noch nicht bewegen.

»Wartet auf mich!«, schreie ich.

Doch sie schweben weiter davon. Ich stemme beide Hände auf die Armlehnen und versuche, mich hochzudrücken. Zwecklos. Ich kann meine Eltern immer noch sehen, aber sie sind jetzt schon so weit weg.

Ausgeschlossen, sie noch einzuholen. Trotzdem atme ich tief durch und versuche ein letztes Mal aufzustehen.

Und da wird mir auf einmal klar, dass mich jemand in den Sitz drückt.

Auf meiner Schulter liegt eine Hand, die mich unerbittlich festhält.

»Loslassen!«

Aber die Hand packt noch fester zu. Ich schaue auf, und da sehe ich ihn über mir stehen: den rotblonden Rettungssanitäter mit den grünen Augen und diesem jede Hoffnung zerschmetternden Ausdruck auf dem Gesicht.

Ich höre ein Klopfen.

Der Sanitäter verschwindet. Genau wie meine Eltern.

Plötzlich befand ich mich wieder in meinem Zimmer im Kellergeschoss. Mein Herz raste. Ich schnappte wie ein Ertrinkender nach Luft und versuchte, mich zu beruhigen. Wieder hörte ich das laute Klopfen und begriff, dass jemand vor der Haustür stand.

Warum machte Myron nicht auf?

Ich wälzte mich aus dem Bett und lief die Treppe hinauf.

Das Klopfen wurde ungeduldiger.

»Komme«, rief ich.

Wo steckte Myron?

Ich erreichte die Eingangstür. Ich weiß, ich hätte fragen sollen, wer da ist, aber ich machte einfach auf. Zwei uniformierte Polizisten standen vor mir.

Unwillkürlich trat ich einen Schritt zurück.

»Mickey? Mickey Bolitar?«

»Ja.«

»Ich bin Officer McDonald. Das ist mein Kollege Officer Ball.

»Ist etwas passiert?«, fragte ich.

»Es gab eine Schießerei. Wir müssen dich bitten, mit uns zu kommen.«

5

Einen Moment lang verschlug es mir die Sprache. Als ich mich wieder gefasst hatte, sagte ich: »Geht es um meinen Onkel?«

»Verzeihung?«, erwiderte der Officer, der Ball hieß.

»Myron Bolitar. Mein Onkel. Ist er in die Schießerei verwickelt gewesen?«

Ball sah McDonald an. Dann wandte er sich wieder mir zu und sagte: »Nein.«

»Wer dann?«

»Darüber dürfen wir dir leider keine Auskunft geben, mein Junge.«

»Ich muss erst mit meinem Onkel sprechen.«

»Wie bitte?«

Ich raste die Treppe hoch, worauf die beiden Officer ins Haus traten.

»Myron?«, rief ich.

Keine Antwort.

Ich stürmte in sein Zimmer. Myrons Bett war leer. Ein Blick auf die Uhr auf seinem Nachttisch sagte mir, dass es sieben war. Er musste früh aufgestanden und weggefahren sein, ohne mir Bescheid zu geben, was absolut untypisch für ihn war.

Ich lief die Treppe wieder hinunter.

»Wie sieht es aus, mein Junge?«, fragte Ball. »Bist du so weit?«

»Liegt irgendetwas gegen mich vor?«

»Wie alt bist du?«

»Fast sechzehn.«

»Wir müssen dich wirklich bitten, mit uns zu kommen.«

Ich war unschlüssig und wusste nicht, was ich tun sollte, aber mal im Ernst – hatte ich denn eine Wahl?

»In Ordnung. Ich zieh mir nur noch schnell was über«, sagte ich.

Als ich in mein Zimmer kam, sah ich, dass mein Handy blinkte. Ich hatte zwei SMS bekommen. Die erste war von Ema. Sie hatte sie um 4.17 Uhr gesendet. Schlief dieses Mädchen überhaupt jemals? Ema schrieb: wir müssen den rettungssanitäter finden, der deinen dad weggebracht hat. ich hab da auch schon eine idee.

Oh Mann, ich wollte nichts lieber, als erfahren, was das für eine Idee war, aber das würde warten müssen.

Die zweite SMS war von Myron: Musste früh los und wollte dich nicht wecken. Wünsche dir einen guten Tag.

Fantastisch. Ich versuchte es auf Myrons Handy, aber es sprang sofort die Mailbox an. »Die Cops sind hier«, sagte ich nach dem Piep. »Sie wollen mich …« Ich hielt inne. Wohin wollten sie mich eigentlich mitnehmen? »Sie wollen mich mit aufs Revier nehmen, glaube ich, weigern sich aber, mir zu sagen, worum es genau geht. Ruf an, wenn du die Nachricht bekommen hast, okay?«

Ich legte auf.

»Wir müssen uns wirklich beeilen, mein Junge«, rief Ball die Treppe hinunter.

Ich zog mich an und ging wieder hoch. Zwei Minuten später saß ich auf der Rückbank eines Streifenwagens und wir fuhren aus der Einfahrt.

»Wohin bringen Sie mich?«, fragte ich.

McDonald saß am Steuer, Ball auf dem Beifahrersitz. Keiner von beiden gab mir eine Antwort.

»Ich habe gefragt …«

»Geduld, mein Junge, Geduld.«

Das behagte mir nicht.

»Auf wen wurde denn geschossen?«, erkundigte ich mich.

McDonald drehte sich zu mir um und sah mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Woher weißt du, dass auf jemanden geschossen wurde?«

Sein Ton gefiel mir nicht.

»Äh, Sie selbst haben es mir gesagt«, antwortete ich. »Als ich Ihnen die Tür aufgemacht habe.«

»Ich sagte, es ginge um eine Schießerei. Ich habe nicht gesagt, dass auf jemanden geschossen wurde.«

Mir lag eine geistreiche Bemerkung auf der Zunge – irgendetwas in der Art, dass ich über hellseherische Fähigkeiten verfügen musste –, aber allmählich bekam ich es mit der Angst zu tun. Also hielt ich die Klappe. Wir bogen um die Ecke und das Polizeirevier von Kasselton kam in Sicht. Vor zwei Tagen war ich schon einmal dort gewesen, und jetzt fiel mir auch wieder ein, dass Chief Taylor, der Polizeichef, Myron hasste und infolgedessen auch mich hasste.

Aber der Streifenwagen rauschte am Revier vorbei.

»Wohin fahren wir?«, wollte ich wissen.

»Du hast uns jetzt genug mit deinen Fragen gelöchert. Wart’s einfach ab.«

6

Fünfzehn Minuten später saß ich im Polizeirevier von Newark in einem – wie ich vermutete – Verhörraum. Eine kleine Frau kam herein und setzte sich mir gegenüber. Sie trug einen geschmackvollen Hosenanzug und hatte die Haare hochgesteckt. Ich schätzte sie auf ungefähr dreißig.

Sie streckte mir ihre Hand hin und ich schüttelte sie. »Anne Marie Dunleavy, guten Tag. Ich bin Ermittlungsbeamtin der Bundesstaatsanwaltschaft im Bereich Tötungsdelikte«, stellte sie sich vor.

Tötungsdelikte?

»Ähm, ich bin Mickey Bolitar«, sagte ich.

»Danke, dass Sie sich bereit erklärt haben, zu uns zu kommen und uns ein paar Fragen zu beantworten.«

Sie zog einen Stift aus der Tasche und klickte mit dramatischer Geste die Mine heraus. Hinter ihr ging die Tür auf. Als ich aufschaute, rutschte mir das Herz in die Hose. Chief Taylor kam in den Raum gestapft, als hätte der Fußboden ihn beleidigt. Er hatte seine Polizeiuniform an, und obwohl wir uns im Inneren eines Gebäudes befanden und die Lichtverhältnisse eher gedämpft waren, trug er eine verspiegelte Pilotenbrille.

Ich wartete darauf, dass er mir einen seiner sarkastischen Sprüche an den Kopf werfen würde, aber stattdessen verschränkte er die Arme und lehnte sich an die Wand, ohne einen Ton von sich zu geben. Ich richtete meinen Blick wieder auf Dunleavy.

»Sie wissen, dass ich minderjährig bin?«, sagte ich.

»Ja, das ist uns bekannt. Warum?«

»Dürfen Sie mich überhaupt befragen, ohne dass mein gesetzlicher Vormund anwesend ist?«

Sie ließ ein kurzes Lächeln aufblitzen, in dem jedoch keinerlei Herzlichkeit lag. »Sie schauen zu viel Fernsehen. Wären Sie ein Verdächtiger, läge der Fall anders. Aber unter den gegebenen Umständen möchten wir Ihnen lediglich einige Fragen stellen. Sind Sie damit einverstanden?«

Ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte, entschied mich dann aber für: »Ich glaube schon.«

»Wer ist Ihr Erziehungsberechtigter?«

»Meine Mutter.«

Onkel Myron hätte den Part gern übernommen, aber unser Deal lautete, dass ich nur bereit war, bei ihm zu wohnen, solange meine Mutter, trotz der Tatsache, dass sie gerade einen Entzug machte, meine gesetzliche Erziehungsberechtigte blieb.

»Wenn Sie darauf bestehen, können wir sie selbstverständlich benachrichtigen und mit der Befragung warten, bis sie hier ist.«

»Nein, nein, das ist schon okay«, versicherte ich hastig. Ein Besuch im Polizeirevier wäre das Letzte, was Mom in ihrem ohnehin schon labilen psychischen Zustand im Moment gebrauchen könnte.

»Wissen Sie, warum Sie hier sind?«, fragte sie.

Beinahe hätte ich geantwortet, dass es wohl irgendetwas mit einer »Schießerei« zu tun hätte, aber diese Mutmaßung hatte mir vorhin im Streifenwagen nicht unbedingt Pluspunkte eingebracht.

»Nein.«

»Sie haben nicht die leiseste Ahnung?«

»Na ja, die Officer, die mich abgeholt haben, sagten etwas von einer Schießerei.«

»So ist es. Genau genommen wurde auf zwei Menschen geschossen.«

»Auf wen?«

»Gibt es irgendetwas, das Sie uns darüber sagen können?«

»Worüber?«

»Über die Schießerei.«

»Ich weiß ja noch nicht einmal, auf wen geschossen wurde.«

Ms Dunleavy musterte mich skeptisch. »Nicht?«

»Nein.«

»Sie haben wirklich keine Ahnung?«

Chief Taylor sagte immer noch nichts. Das gefiel mir nicht. Ich sah zu ihm rüber und konnte mich selbst aus dieser Entfernung in den verspiegelten Gläsern seiner Sonnenbrille sehen.

»Natürlich habe ich keine Ahnung«, antwortete ich. »Woher denn?«

Sie wechselte das Thema. »Würden Sie uns bitte sagen, wo Sie gestern Abend gewesen sind?«

Die Richtung, in die dieses Gespräch steuerte, behagte mir immer weniger, und ich riskierte einen zweiten Blick zu Chief Taylor. Er hielt weiter die Arme verschränkt.

»Ich war zu Hause.«

»Wenn Sie zu Hause sagen …«

»Dort, wo die beiden Officer mich abgeholt haben.«

»Sie leben derzeit bei Ihrem Onkel, ist das richtig? Myron Bolitar?«

Als der Name meines Onkels fiel, zuckte Chief Taylor leicht zusammen.

»Ja, das ist richtig.«

Ms Dunleavy nickte und machte sich eine Notiz. »In Ordnung. Dann erzählen Sie uns doch bitte im Detail, was sie gestern Abend gemacht haben.«

»Ich habe meine Hausaufgaben erledigt, ein bisschen ferngeschaut und danach gelesen.«

»War Ihr Onkel zu Hause?«

»Nein.«

»Wo war er?«

»Das hat er mir nicht gesagt.«

»Und wann ist er nach Hause gekommen?«

»Das weiß ich nicht. Ich bin irgendwann eingeschlafen.«

»Wann genau?«

»Wann ich eingeschlafen bin?«

»Ja.«

»So gegen elf.«

Ms Dunleavy machte sich erneut eine Notiz. »Und zu diesem Zeitpunkt ist Ihr Onkel noch nicht wieder zu Hause gewesen?«

»Ich glaube nicht, bin mir aber nicht sicher. Mein Zimmer liegt im Kellergeschoss und die Tür war zu.«

»Schaut er nicht nach Ihnen, wenn er nach Hause kommt?«

»Normalerweise schon, doch.«

»Aber letzte Nacht nicht.«

»Wie gesagt, sicher bin ich mir nicht. Vielleicht hab ich