Middlemarch: Aus dem Leben der Provinz – Dritter Band - George Eliot - E-Book

Middlemarch: Aus dem Leben der Provinz – Dritter Band E-Book

George Eliot

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Beschreibung

Der dritte Band von George Eliots spannendem Familiendrama.England im 19. Jahrhundert. Der junge Arzt Tertius Lydgate kommt voller fortschrittlicher Ideen nach Middlemarch und möchte seine Fähigkeiten im örtlichen Krankenhaus einsetzen. Er verliebt sich in Rosamond, die schöne Tochter des Bürgermeisters, und heiratet sie. Doch die Ehe droht ihn schon bald in den finanziellen Ruin zu treiben. Auch Rosamonds Bruder Fred steht vor einer schweren Entscheidung. Seine Jugendliebe Mary Garth weigert sich, ihn zu heiraten, sollte er nicht bald eine geldbringende Karriere anstreben. Vom Schicksal in unsichere finanzielle Verhältnisse gezwungen, muss Fred seine Entscheidungen und Wünsche hinterfragen.-

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George Eliot

Middlemarch: Aus dem Leben der Provinz – Dritter Band

Übersezt von Emil Lehmann

Saga

Middlemarch: Aus dem Leben der Provinz – Dritter Band

 

Übersezt von Emil Lehmann

 

Titel der Originalausgabe: Middlemarch, A Study of Provincial Life

 

Originalsprache: Englisch

 

Coverbild/Illustration: Shutterstock

Copyright © 1874, 2021 SAGA Egmont

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN: 9788728172025

 

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.

 

www.sagaegmont.com

Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.

Fünftes Buch: Das Codicill

Erstes Kapitel

Dorothea verließ das Haus selten ohne ihren Gatten; nur gelegentlich fuhr sie, wie es jede drei Meilen von einer Stadt entfernt wohnende wohlhabende Frau von Zeit zu Zeit zu thun pflegt, allein zur Stadt, um Einkäufe zu machen oder Bedürftige zu besuchen.

Zwei Tage nach jener Scene in der Eibenbaumallee beschloß sie eine solche Fahrt in die Stadt zu benutzen, um womöglich Lydgate zu sprechen und ihn zu fragen, ob ihr Gatte wirklich durch neue Symptome, die er ihr verheimlicht habe, beunruhigt worden sei und ob er darauf bestanden habe, die volle Wahrheit über seinen Zustand zu erfahren. Sie empfand es fast wie eine Schuld, daß sie sich über diese Punkte bei einem Andern unterrichten wollte; aber die Furcht vor jener Unwissenheit, die sie ungerecht oder hart machen könnte, ließ sie alle Skrupel überwinden.

Dafür daß sich in dem Gemüthe ihres Gatten eine Krisis vollzogen habe, hatte sie die sichersten Anzeichen; schon am Tage nach jener Scene hatte er eine neue Methode in der Anordnung seiner Notizen zu befolgen angefangen und hatte Dorothea in einer ganz neuen Weise bei der Ausführung seines Planes beschäftigt. Die arme Dorothea mußte sich mit unendlicher Geduld waffnen.

Es war ungefähr vier Uhr Nachmittags, als sie nach Lydgate's Hause in Lowick-Gate fuhr und in ihrer Besorgniß, ihn nicht zu treffen, wünschte, sie möchte ihm vorher geschrieben haben. In der That war er nicht zu Hause.

»Ist Frau Lydgate zu Hause?« fragte Dorothea, welche, so viel sie wußte, Rosamunde nie gesehen hatte, sich jetzt aber erinnerte, daß Lydgate verheirathet sei. Ja, Frau Lydgate war zu Hause.

»Ich möchte aussteigen und Frau Lydgate sprechen, wenn sie mich gütigst empfangen will. Wollen Sie sie fragen, ob Frau Casaubon sie auf einige Minuten sprechen könne?«

Als der Diener ins Haus gegangen war, um die Bestellung auszurichten, hörte Dorothea durch das offene Fenster Musik, einige Töne einer männlichen Stimme mit darauf folgender passagenreicher Clavierbegleitung. Aber die Begleitung brach plötzlich ab und der Diener kam mit der Antwort zurück, daß Frau Lydgate sich sehr freuen würde, Frau Casaubon zu sehen.

Als sich die Thür des Salons öffnete und Dorothea eintrat, boten die beiden Frauen einen Contrast dar, wie er in der Provinz zu einer Zeit, wo sich die verschiedenen Gesellschaftsklassen noch wenig mit einander vermischt hatten, nichts Seltenes war. Eine kundigere Feder würde genauer zu sagen wissen, was für ein Stoff es war, den Dorothea heute wie täglich in jenen milden Herbsttagen trug: ein dünner weißer weicher Wollenstoff, der dem Gefühl und dem Auge gleich wohlthuend war. Es schien immer frisch gewaschen zu sein und nach frischen Hecken zu duften und hatte die Form eines Ueberwurfs mit nachlässig herabhängenden weiten Aermeln.

Und dennoch würde ihr Costüm, wenn sie als Imogen oder Tochter Cato's vor einen erwartungsvollen Zuschauerkreis getreten wäre, ganz passend erschienen sein; Grazie und Würde umflossen ihre Glieder und ihren Hals, und der große Hut, den die Frauen damals zu tragen verurtheilt waren, schien über ihren treuen Augen und ihrem einfach gescheitelten Haar kein sonderbarerer Kopfputz als der goldene Reif, den wir einen Heiligenschein nennen.

Im gegenwärtigen Fall hätten die beiden Zuschauer keine dramatische Heldin mit größerem Interesse erwarten können als Frau Casaubon. Für Rosamunde war sie eine jener, von der Middlemarcher Sterblichkeit unberührten Provinzialgottheiten, deren Erscheinung und Benehmen ihr bis auf die leisesten Züge des Studiums werth erschienen. Ueberdies empfand Rosamunde es nicht ohne Genugthuung, daß Frau Casaubon Gelegenheit haben würde, sie zu studiren. Was hilft es uns, distinguirt zu sein, wenn wir nicht von den competentesten Richtern gesehen werden? Und seit Rosamunde bei Sir Godwin Lydgate die schönsten Complimente geerntet hatte, war sie über den Eindruck, den sie auf Leute aus der guten Gesellschaft machen müsse, völlig beruhigt.

Dorothea reichte Lydgate's anmuthiger junger Frau mit ihrer gewohnten einfachen Freundlichkeit die Hand und sah sie bewundernd an; sie wußte, daß noch ein Herr im Zimmer sei; er stand aber so weit seitwärts entfernt, daß er ihr nur wie eine Figur in Mannskleidern erschien. Der Herr war zu sehr mit der Gegenwart der einen Frau beschäftigt, um über den Contrast der beiden Frauen, welcher für einen ruhigen Beobachter gewiß frappant gewesen wäre, nachzudenken.

Beide waren von schlanker Gestalt und ihre Augen standen auf einer Linie; aber man vergegenwärtige sich Rosamunde mit ihrer kindlichen Blondheit, mit ihrer wundervollen Krone von Haarflechten, in einem blaßblauen Kleide nach dem neuesten Schnitt, das so vortrefflich saß, daß keine Schneiderin es ohne Aufregung würde haben ansehen können, mit einem großen gestickten Kragen, den alle Beschauer, wie zu hoffen stand, nach seinem Werth zu schätzen wissen würden, mit ihren kleinen reich mit Ringen besetzten Händen und jener bewußten Selbstbeherrschung des Wesens, welche den kostspieligen Ersatz für natürliche Einfachheit bildet.

»Ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie sich von mir haben unterbrechen lassen,« sagte Dorothea. »Ich möchte Herrn Lydgate sehr gern, womöglich bevor ich wieder nach Hause fahre, sprechen, und ich hoffte, Sie würden mir möglicher Weise sagen können, wo ich ihn treffen kann, oder mir erlauben, hier etwas zu verweilen, wenn Sie ihn bald zurückerwarten.«

»Er ist im neuen Hospital,« erwiderte Rosamunde, »ich weiß nicht gewiß, wie bald er nach Hause kommen wird, aber ich kann nach ihm schicken.«

»Wollen Sie mir erlauben, hinzugehen und ihn zu holen?« fragte Will Ladislaw aus dem Hintergrunde hervortretend. Er hatte schon ehe Dorothea ins Zimmer trat, seinen Hut wieder in die Hand genommen.

Sie erröthete vor Ueberraschung, reichte ihm aber die Hand mit einem freudigen Lächeln und sagte:

»Ich wußte nicht, daß Sie es seien; ich hatte keine Idee davon, daß ich Sie hier sehen würde.«

»Darf ich nach dem Hospital gehen und Herrn Lydgate sagen, daß Sie ihn zu sprechen wünschen?« fragte Will.

»Man würde ihn noch rascher erreichen, wenn man den Wagen nach ihm schickte,« erwiderte Dorothea; »wollen Sie die Güte haben, dem Kutscher den Auftrag zu geben?«

Will wollte eben nach der Thür gehen, als Dorothea, vor deren Geist im Fluge eine Fülle von Erinnerungen vorübergezogen war, sich rasch umwandte und sagte: »Ich danke Ihnen; ich will doch lieber selbst hinfahren. Ich möchte keine Zeit verlieren. Ich will nach dem Hospital fahren und Herrn Lydgate dort sprechen. Bitte entschuldigen Sie, Frau Lydgate, ich sage Ihnen meinen besten Dank.«

Sie war ersichtlich von einem plötzlich in ihr aufgestiegenen Gedanken preoccupirt, und sie verließ das Zimmer, ohne recht zu wissen, was um sie her vorging, ohne recht zu wissen, daß Will ihr die Thür öffnete und ihr den Arm bot, sie an den Wagen zu führen. Sie ließ sich führen, sagte aber nichts. Will, der etwas verstimmt und verdrießlich war; wußte auch seinerseits nichts zu sagen. Er war ihr schweigend beim Einsteigen in den Wagen behülflich; sie sagten sich Adieu und Dorothea fuhr davon.

Während der fünf Minuten langen Fahrt nach dem Hospital hatte sie Zeit zu einigen für sie ganz neuen Reflektionen. Ihr Entschluß, selbst nach dem Hospital zu fahren, und ihre Preoccupation beim Verlassen des Zimmers entsprangen aus dem plötzlich in ihr wach gewordenen Gefühl, daß sie sich einer Art von Täuschung schuldig machen würde, wenn sie freiwillig noch irgend welchen fernern Verkehr mit Will unterhielte, von welchem sie ihrem Gatten nichts würde sagen können, dem sie ja schon ihr Aufsuchen Lydgate's zu verheimlichen hatte.

Dieses Gefühl war das einzige, was sie klar empfunden hatte; aber außerdem hatte sich noch ein vages Unbehagen in ihr geregt. Jetzt, wo sie allein im Wagen saß, vernahm sie mit ihrem innern Ohr wieder die Töne der männlichen Stimme und die Clavierbegleitung, die sie vorhin nicht sehr beachtet hatte, und sie betraf sich darauf, daß es ihr etwas befremdlich vorkam, daß Will Ladislaw seine Zeit bei Frau Lydgate in Abwesenheit ihres Mannes zubringe. Dann aber mußte sie sich wieder erinnern, daß er manche Stunden unter ähnlichen Umständen bei ihr zugebracht habe, was konnte also daran unpassend sein? Aber Will war ein Verwandter Casaubon's und einer, gegen welchen sich freundlich zu erweisen sie verpflichtet war. Und doch hatte es nicht an Anzeichen gefehlt, denen sie vielleicht hätte entnehmen sollen, daß Casaubon die Besuche seines Vetters während seiner Abwesenheit nicht gern sehe.

»Vielleicht habe ich es in vielen Dingen versehen,« dachte die arme Dorothea bei sich und mußte ihre Thränen, die ihr an den Wangen herabrollten, rasch trocknen. Sie fühlte sich in ihrer Verwirrung unglücklich, und Will's Bild, das ihr bisher so klar vorgeschwebt hatte, erschien ihr unheimlich getrübt.

Aber in diesem Augenblick hielt der Wagen vor dem Hospital. Bald darauf ging sie mit Lydgate um die vor dem Hospital befindlichen Grasplätze und ihre Gefühle waren wieder ganz von dem starken Verlangen beherrscht, welches sie diese Zusammenkunft hatte suchen lassen.

 

Inzwischen fühlte sich Will Ladislaw verstimmt und wußte auch sehr gut warum. Die Gelegenheiten, Dorothea zu sehen, waren sehr selten für ihn und bei der ersten sich seit langer Zeit wieder darbietenden Gelegenheit hatte er sich zum ersten Male ihr gegenüber in einer unvortheilhaften Lage befunden. Nicht nur daß sie nicht wie bisher immer, vorwiegend mit ihm beschäftigt gewesen war, sondern sie hatte ihn unter Umständen gesehen, die ihn nicht vorwiegend mit ihr beschäftigt erscheinen ließen!

Er fühlte sich unter den Middlemarchern, die in ihrem Leben keine Rolle spielten, in eine neue Ferne von ihr gerückt. Aber das war nicht seine Schuld. Natürlich hatte er, seit er eine Wohnung in der Stadt bezogen hatte, so viele Bekanntschaften wie möglich gemacht, da seine Stellung es ihm wünschenswerth erscheinen ließ, alle Dinge und alle Menschen zu kennen. Lydgate war in der That einer nähern Bekanntschaft würdiger als irgend Jemand in der Gegend und er hatte zufällig eine Frau, welche musikalisch war und auch sonst wohl besucht zu werden verdiente. Das war die ganze Geschichte der Situation, in welcher Diana ihren Anbeter überrascht hatte, und diese Art der Begegnung hatte etwas Kränkendes für ihn.

Will war sich bewußt, daß nur Dorothea ihn an Middlemarch fessele, und doch drohte jetzt seine dortige Stellung ihn durch jene Schranken gewohnter Anschauungen von ihr zu trennen, welche für die Fortdauer eines gegenseitigen Interesses verhängnißvoller sind, als die weite Entfernung zwischen Rom und England. Vorurtheilen gegen gesellschaftliche und bürgerliche Stellung war leicht genug zu trotzen, wenn sie in der Gestalt eines tyrannischen Briefes von Herrn Casaubon auftraten; aber Vorurtheile sind wie wohlriechende Körper zugleich solide und unfaßbar; solide wie die ägyptischen Pyramiden und unfaßbar wie das zwanzigste Echo eines Echo's oder wie die Erinnerung an Hyacinthen, die uns einmal in der Dunkelheit geduftet haben. Und Will war so organisirt, daß er feine Fühlfäden für das Walten unfaßbarer Einflüsse hatte; ein Mann von derberen Organen würde vielleicht nicht gefühlt haben, daß Dorothea zum ersten Mal ein völliges Sichgehenlassen mit ihm als unschicklich empfunden und daß ihr beiderseitiges Schweigen, als er sie an den Wagen führte, etwas Frostiges gehabt habe. Vielleicht hatte Casaubon in seinem eifersüchtigen Haß Dorotheen vorgestellt, daß Will gesellschaftlich unter sie herabgestiegen sei. Der verwünschte Casaubon!

Will trat wieder in den Salon, griff nach seinem Hut, ging mit verstimmter Miene auf Frau Lydgate, die sich an ihren Arbeitstisch gesetzt hatte, zu und sagte:

»Wenn man bei der Beschäftigung mit Musik oder Poesie einmal gestört ist, kommt man nicht wieder in Zug; darf ich ein andermal wiederkommen und das ›lungi dal caro bene‹ mit Ihnen zu Ende durchnehmen?«

«Es wird mich sehr freuen, wenn Sie mich weiter unterweisen wollen,« erwiderte Rosamunde. »Aber Sie werden doch gewiß zugeben, daß die Unterbrechung sehr schön war. Ich beneide Sie wirklich um Ihre Bekanntschaft mit Frau Casaubon. Ist sie sehr gescheidt? Sie sieht so aus.«

»Darüber habe ich wahrhaftig nie nachgedacht,« antwortete Will verdrießlich.

»Genau dieselbe Antwort gab mir Tertius, als ich ihn zuerst fragte, ob sie schön sei. Woran denkt Ihr Herren denn eigentlich, wenn Ihr mit Frau Casaubon zusammen seid?«

»An sie,« entgegnete Will, der nicht übel aufgelegt war, die reizende Frau Lydgate ein wenig zu ärgern. »Wenn man einer vollkommenen Frau gegenüber steht, denkt man nie an ihre Eigenschaften; man ist sich nur ihrer Gegenwart bewußt.«

»Von nun an werde ich eifersüchtig sein, wenn Tertius nach Lowick geht,« sagte Rosamunde, indem sie ihre Grübchen zeigte und die Worte anmuthig leicht hinhauchte. »Ich muß ja fürchten, daß er, wenn er von daher zurückkommt, sich gar nichts mehr aus mir macht.«

»Eine solche Wirkung scheinen doch die Besuche in Lowick bisher nicht auf Lydgate geübt zu haben. Frau Casaubon ist zu verschieden von anderen Frauen, als daß man diese mit ihr vergleichen könnte.«

»Sie sind ein ergebener Anbeter, wie ich sehe. Sie sehen sie wohl oft?«

»Nein,« entgegnete Will fast mürrisch. »Anbetung ist in der Regel mehr eine Sache der Theorie als der praktischen Uebung. Aber ich liege dieser Praxis eben jetzt im Uebermaß ob – ich muß mich wirklich losreißen.«

»Bitte kommen Sie einen dieser Abende wieder. Lydgate wird uns sehr gern musiciren hören, und ich habe nicht soviel Freude daran, wenn er nicht dabei ist.«

 

Als Lydgate wieder nach Hause kam, sagte Rosamunde, die vor ihm stand und seinen Rockkragen mit beiden Händen gefaßt hielt, zu ihm: »Ladislaw musicirte gerade mit mir, als Frau Casaubon ins Zimmer trat. Die Sache schien ihn zu verstimmen. Glaubst Du, daß es ihm unangenehm war, von ihr in unserem Hause getroffen zu werden? Du hast doch wahrhaftig eine bessere Stellung als er – wenn er auch noch so nahe verwandt mit den Casaubon's ist.«

»Nein, nein, es muß einen andern Grund gehabt haben, wenn er wirklich verstimmt war; Will ist eine Art Zigeuner; er macht sich nichts aus Aeußerlichkeiten!«

»Abgesehen von seiner Musik ist er nicht immer sehr angenehm. Hast Du ihn gern?«

»Ja, ich halte ihn für einen guten Kerl; ein bischen oberflächlich und abenteuerlich, aber liebenswürdig.«

»Weißt Du, ich glaube, er betet Frau Casaubon an.«

»Der arme Teufel,« sagte Lydgate lächelnd und kniff seine Frau in die Ohren.

Rosamunden schien es, daß sie anfange den Lauf der Welt genauer kennen zu lernen, namentlich seit sie entdeckt hatte, – was, als sie noch unverheirathet war, ihr nur wie ein tragisches Spiel im Kostüm vergangener Tage vorgekommen war –, daß Frauen selbst nach ihrer Verheirathung Eroberungen machen und Männer unterjochen können.

In jenen Tagen lasen junge Damen, selbst wenn sie bei Frau Lemon erzogen waren, selten etwas von französischer Literatur, was von neuerem Datum als Racine's Tragödien gewesen wäre, und es gab noch nicht wie heutzutage prachtvolle Illustrationen anstößiger Dinge. Aber die Eitelkeit bedarf, wenn sie das ganze Dichten und Trachten eines Weibes erfüllt, nur leichter Winke, namentlich wenn sich diese Winke auf die Möglichkeit unendlicher Eroberungen beziehen, um darauf weiter zu bauen. Wie entzückend vom Thron der Ehe herab mit einem Prinzen zur Seite, – der selbst in Banden liegt –, Sklaven sich am Fuße dieses Thrones niederwerfen zu sehen, die hoffnungslos hinaufschauen und, ihre Ruhe und vielleicht auch ihren Appetit verlieren!

Aber Rosamunden's Roman drehte sich für jetzt noch hauptsächlich um ihren Prinzen, und es genügte ihr, sich seiner Unterwerfung zu freuen. Als er ›der arme Teufel!‹ sagte, fragte sie neugierig scherzend:

»Warum denn das?«

»Warum? Was wird denn aus einem Mann, wenn er sich einfallen läßt, eine von Euch Meerjungfern anzubeten? Er vernachlässigt seine Arbeiten und bekommt große Rechnungen zu bezahlen.«

»Du vernachlässigst doch wahrhaftig Deine Arbeiten nicht. Du bist ja den ganzen Tag im Hospital oder besuchst arme Patienten, oder denkst über gelehrte Streitfragen nach, und wenn Du dann nach Hause kommst, bist Du nicht von Deinem Mikroskop und Deinen Flaschen wegzubringen. Gestehe es nur, diese Dinge sind Dir lieber als ich.«

»Hast Du denn nicht den Ehrgeiz zu wünschen, daß Dein Mann etwas besseres sei als ein Middlemarcher Doctor?« fragte Lydgate, indem er seine Hände auf Rosamunden's Schultern hinabgleiten ließ und sie mit zärtlich ernsten Blicken ansah. »Du sollst mir meine Lieblingsstelle aus einem alten Dichter auswendig lernen:

Warum regt sich in uns der Stolz, da uns

Die Welt sobald vergißt? Was Bessres giebt's,

Als würdig schreiben und zu schreiben so,

Daß es die Welt dann mit Entzücken liest?

Wonach ich strebe, Rosy, ist: ›würdig zu schreiben‹ und zu vollenden, was ich begonnen habe. Und um das zu können, muß ein Mann arbeiten, mein Liebchen.«

»Natürlich, ich möchte gern, daß Du Entdeckungen machtest. Niemand kann inniger wünschen, daß Du Dir an einem bessern Ort als Middlemarch eine ausgezeichnete Stellung erringen möchtest. Du kannst nicht sagen, daß ich je versucht habe, Dich am Arbeiten zu verhindern. Aber wir können doch nicht leben wie die Einsiedler. Du bist doch nicht unzufrieden mit mir, Tertius?«

»O nein, liebes Kind, nein. Ich bin nur allzu zufrieden.«

»Aber was wollte Frau Casaubon denn von Dir?«

»Sie wollte sich nur nach der Gesundheit ihres Mannes bei mir erkundigen. Aber sie wird sich, glaube ich, sehr freigebig gegen unser neues Hospital erweisen. Ich glaube, sie will uns zweihundert Pfund jährlich geben.«

Zweites Kapitel

Als Dorothea mit Lydgate die mit Lorbeerbäumen bepflanzten Grasplätze des neuen Hospitals umschritt und von ihm erfahren hatte; daß keine andern Symptome einer Veränderung in dem Gesundheitszustande ihres Mannes vorhanden seien als eben die ängstliche Besorgniß, die Wahrheit über sein Leiden zu erfahren, schwieg sie einige Augenblicke und fragte sich, ob sie irgend etwas gesagt oder gethan habe, was diese neue Aengstlichkeit habe hervorrufen können.

Lydgate, der sich die Gelegenheit, einen Lieblingsplan zu fördern, nicht gern entgehen ließ, faßte sich ein Herz und sagte:

»Ich weiß nicht, ob Ihre oder Herrn Casaubon's Aufmerksamkeit schon auf die Bedürfnisse unsers neuen Hospitals gelenkt worden ist. Gewisse Umstände lassen mich bei dieser Angelegenheit persönlich interessirt erscheinen; aber das ist nicht meine Schuld; das kommt daher, daß die übrigen Aerzte hier sich dem Hospital feindlich gegenüberstellen. Ich glaube, Sie interessiren sich im Allgemeinen für derartige Dinge, denn ich erinnere mich, daß, als ich zum ersten Mal vor Ihrer Verheirathung das Vergnügen hatte, Sie auf Tipton-Hof zu sehen, Sie einige Fragen in Betreff des Einflusses schlechter Wohnungen auf den Gesundheitszustand der Armen an mich richteten.«

»Allerdings,« erwiderte Dorothea, deren Gesicht sich bei diesen Worten aufheiterte. »Ich werde Ihnen wahrhaft dankbar sein, wenn Sie mir sagen wollen, wie ich dazu behülflich sein kann, die allgemeine Noth ein wenig zu lindern. Ich habe alle diese Dinge seit meiner Verheirathung ganz aus dem Gesicht verloren. Ich meine,« fügte sie, nachdem sie einen kleinen Augenblick gezaudert hatte, hinzu, »daß sich die Leute in unserm Dorfe in einem leidlich behaglichen Zustand befinden und daß mein Gemüth zu sehr in Anspruch genommen war, als daß ich meine Nachforschungen weiter hätte ausdehnen können. Aber hier, an einem Orte wie Middlemarch muß es sehr viel zu thun geben.«

«Hier ist noch Alles zu thun,« erwiderte Lydgate mit energischer Kürze, »und dieses Hospital ist eine vortreffliche Anstalt, die wir lediglich den Bemühungen und zum großen Theil dem Gelde des Herrn Bulstrode verdanken. Aber ein einzelner Mann kann nicht alles für ein solches Unternehmen thun. Natürlich sah er sich nach Hülfe um. Und jetzt haben gewisse Leute, welche das Unternehmen gern mißlingen sehen möchten, eine kleinliche und niedrige Opposition gegen dasselbe organisirt,«

»Was kann diese Leute dazu bewegen?« fragte Dorothea im Tone naiven Erstaunens.

»Zuerst und vor Allem die Unpopularität des Herrn Bulstrode. Die halbe Stadt würde es sich etwas kosten lassen, seine Pläne zu vereiteln. In dieser albernen Welt haben die meisten Leute keinen Begriff davon, daß etwas gut sein könne, wenn es nicht von ihren guten Freunden ausgeht. Ich habe Herrn Bulstrode, ehe ich hieher kam, gar nicht gekannt. Ich beurtheile ihn ganz unparteiisch, und ich sehe, daß er einige Ideen hat, – denen er auch schon Gestalt gegeben hat –, welche ich im öffentlichen Interesse verwenden kann. Wenn eine genügende Anzahl gebildeter Männer in der Ueberzeugung arbeiten wollte, daß ihre Beobachtungen zur Reform der Medizin in Theorie und Praxis beitragen könnten, so würden wir bald eine Veränderung zum Bessern eintreten sehen. Das ist mein Standpunkt. Ich bin der Ansicht, daß ich, wenn ich mich weigern wollte, mit Herrn Bulstrode zu arbeiten, einer Gelegenheit, meinen Beruf allgemein nutzbarer zu machen, aus dem Wege gehen würde.«

»Ich stimme ganz mit Ihnen überein,« sagte Dorothea, deren ganze Sympathie die von Lydgate angedeutete Situation erweckt hatte. »Aber was haben denn die Leute gegen Bulstrode? Ich weiß, daß mein Onkel mit ihm befreundet ist.«

»Die Leute mögen seine religiöse Richtung nicht,« entgegnete Lydgate, ohne ein Wort der Erklärung hinzuzufügen.

»Nur um so mehr Grund, eine solche Opposition zu verachten,« sagte Dorothea, indem sie die Middlemarcher Angelegenheit im Lichte der großen kirchlichen Verfolgungen vergangener Zeiten betrachtete.

»Um ganz gerecht zu sein, sie werfen ihm auch noch andere Dinge vor: er ist herrschsüchtig und nicht sehr umgänglich und in seinen Beziehungen zur Geschäftswelt scheint er zu Beschwerden Veranlassung zu geben, über welche ich nichts Näheres weiß. Aber was hat das Alles mit der Frage zu thun, ob es nicht eine vortreffliche Sache sein würde, hier ein Hospital zu haben, das besser wäre als irgend eines, das bisher in der Grafschaft existirt hat? Das nächste Motiv der Opposition liegt jedoch darin, daß Bulstrode die ärztliche Leitung des Hospitals in meine Hände gelegt hat. Natürlich ist mir das sehr lieb. Es giebt mir Gelegenheit, etwas Gutes zu thun, und ich bin mir bewußt, daß ich die Pflicht habe, Bulstrode's Wahl zu rechtfertigen. Meine Anstellung aber hat die Folge gehabt, daß die sämmtlichen Aerzte in Middlemarch sich gegen das neue Hospital förmlich verschworen haben und nicht nur sich weigern, selbst daran thätig zu sein, sondern die ganze Angelegenheit schlecht machen und eine thätige Theilnahme des Publikums zu verhindern suchen.«

»Wie entsetzlich kleinlich!« rief Dorothea entrüstet aus. »Ich glaube, man muß immer darauf gefaßt sein, sich seinen Weg zu erkämpfen; ohne Kampf läßt sich fast nichts erreichen. Und die Unwissenheit der Leute hier ist unglaublich groß. Ich mache auf kein weiteres Verdienst Anspruch, als daß ich mir einige Gelegenheiten zur Erlangung von Kenntnissen und Erfahrung zu Nutze gemacht habe, die nicht Jedermann zu Gebote stehen; aber es giebt keine Kränkung, die Einem schwerer verziehen würde als die, ein junger neuer Ankömmling in einer Stadt zu sein und zufällig etwas mehr zu wissen als die alten Bewohner. Und doch müßte ich ein gemeiner Achselträger sein, wollte ich mich, trotz der Ueberzeugung, eine bessere Methode der ärztlichen Behandlung einführen und gewisse Beobachtungen und Untersuchungen, welche der ärztlichen Praxis vielleicht dauernd zu Gute kommen werden, anstellen zu können, durch Rücksichten persönlichen Behagens darin irre machen lassen. Und mein Weg ist mir nur um so klarer vorgezeichnet, als ich kein Gehalt beziehe, welches meine Beharrlichkeit in einem zweideutigen Licht könnte erscheinen lassen.«

»Es freut mich, daß Sie mir das mitgetheilt haben, Herr Lydgate,« sagte Dorothea in einem herzlichen Ton. »Ich glaube gewiß, daß ich Ihr Unternehmen ein wenig werde unterstützen können. Ich habe eine bestimmte Summe zu meiner Verfügung und weiß nicht, was ich damit anfangen soll. Das ist mir oft ein unbehaglicher Gedanke. Ich werde gewiß zweihundert Pfund jährlich für einen so großen Zweck wie diesen erübrigen können. Wie glücklich müssen Sie sich fühlen, Kenntnisse zu besitzen, von denen Sie überzeugt sind, daß sie Gutes stiften werden. Ich wollte, ich könnte jeden Morgen mit einem gleichen Bewußtsein erwachen. Es scheint mir immer, daß so viele Mühe in der Welt aufgewendet wird, deren Nutzen man nicht einzusehen vermag!«

Der Ton, in welchem Dorothea diese letzten Worte sprach, hatte etwas Melancholisches. Sie fügte aber alsbald heiterer hinzu: »Bitte, besuchen Sie uns in Lowick und erzählen Sie uns mehr von dieser Angelegenheit. Ich will mit Casaubon darüber sprechen. Jetzt muß ich aber rasch wieder nach Hause.«

Sie erwähnte die Sache noch an demselben Abende gegen Casaubon und sagte ihm, daß sie zweihundert Pfund jährlich unterzeichnen möchte. Ihr war die freie Verfügung über eine Summe von siebenhundert Pfund jährlich als Ersatz für ihr eigenes Vermögen bei ihrer Heirath gesichert. Casaubon beschränkte sich, ohne weitere Einwendungen zu machen, auf die beiläufige Bemerkung, daß die Summe in Rücksicht auf andere gute Zwecke vielleicht unverhältnißmäßig groß erscheine; als aber Dorothea in ihrer Unwissenheit dieses Bedenken als unbegründet zurückwies, gab er sich zufrieden. Er selbst war nicht karg und gab bereitwillig. Wenn er sich durch Geldangelegenheiten je lebhaft berührt fühlte, so war seine Triebfeder dabei eine andere, als die Liebe zu Geld und Gut.

Dorothea erzählte ihm, daß sie Lydgate gesprochen habe, und berichtete das Wesentliche ihrer Unterhaltung über das Hospital. Casaubon that keine weiteren Fragen, war aber überzeugt, daß sie habe wissen wollen, was zwischen ihm und Lydgate vorgegangen sei. »Sie weiß, daß ich es weiß,« rannte ihm seine nie ruhende innere Stimme zu; aber dieses unausgesprochene neue Wissen war nur eine neue Schranke für ihr gegenseitiges Vertrauen. Er mißtraute ihrer Neigung – und was gäbe es, das uns einsamer machte als Mißtrauen?

Drittes Kapitel

Die Opposition gegen das neue Fieberhospital, deren Lydgate gegen Dorothea Erwähnung gethan hatte, ließ sich gleich andern Oppositionen aus sehr verschiedenen Gesichtspunkten betrachten. Lydgate betrachtete sie als eine Mischung von Eifersucht und bornirten Vorurtheilen. Bulstrode sah in dieser Opposition nicht nur ärztliche Eifersucht, sondern die Absicht, ihm hindernd in den Weg zu treten, welche hauptsächlich aus dem Haß gegen jene lebendige Religion entspringe, die wirksam zu vertreten er als Laie stets bestrebt gewesen sei – einem Haß, welchem es auch außerhalb der Sphäre der Religion in den Verschlingungen menschlicher, Handlungen nicht an Vorwänden fehle. Diese Auffassungen der Opposition hätte man als offizielle bezeichnen können.

Aber Oppositionen verfügen über ein unbegrenztes Gebiet von Einwendungen, welche durch keine Schranke des Wissens aufgehalten werden, sondern sich alle Zeit auf dem unendlich weiten Felde der Unwissenheit ergehen können. Die Behauptungen der Middlemarcher Opposition in Betreff des neuen Hospitals und seiner Verwaltung waren zum großen Theil der Widerhall dessen, was Andere gesagt hatten, denn der Himmel hat dafür gesorgt, daß nicht Jedermann eigene Ansichten hat; aber innerhalb dieser Opposition gab es doch eine Verschiedenheit der Aeußerungen, in welcher sich jede gesellschaftliche Schattirung abspiegelte, von der feinen Mäßigung Doctor Minchin's bis zu der derben Entschiedenheit der Frau Dollop, der Wirthin des ›Bierkrug.‹

Frau Dollop überzeugte sich unter dem Eindruck ihrer eigenen Versicherungen immer mehr, daß Dr. Lydgate die Leute im Hospital sterben lasse, wenn nicht um sie zu vergiften, doch um sie seciren zu können, ohne sagen zu müssen: »Mit Ihrer Erlaubniß,« denn es sei notorisch, daß er Frau Goby habe seciren wollen, eine der respectabelsten Frauen in Parley Street, die schon vor ihrer Verheirathung eignes Vermögen gehabt habe – und das sei doch eine traurige Sache für einen Doctor, der, wenn er irgend etwas nütze sei, wissen sollte was den Leuten fehle, ehe sie todt seien, und nicht nöthig haben müßte, ihnen nach dem Tode in den Leib zu gucken. Wenn das nicht seine Richtigkeit habe, erklärte Frau Dollop, so möchte sie wohl wissen, was dann noch richtig sei.

Aber ihre Zuhörer waren davon durchdrungen, daß ihre Ansicht ein Bollwerk sei und daß, wenn dieses Bollwerk über den Haufen geworfen würde, dem Leichenzerschneiden Thür und Thor geöffnet sein würde, wie man es bei Burke und Hare mit ihren Pechpflastern erlebt habe – von einer solchen Wirthschaft wolle man in Middlemarch nichts wissen!

Und glaube Niemand, daß die in dem ›Bierkrug‹ sich kundgebende öffentliche Meinung für den Stand der Aerzte bedeutungslos gewesen wäre. Dieses altbewährte Wirthshaus war der Versammlungsort einer großen ›Gesellschaft zur Beförderung des gegenseitigen Wohles‹, welche vor einigen Monaten darüber abgestimmt hatte, ob nicht ihr langjähriger Arzt Doctor Gambit entlassen werden solle zu Gunsten des Doctor Lydgate, der die außerordentlichsten Kuren mache und Leute, welche von andern Aerzten schon total aufgegeben seien, noch durchbringe. Aber die Abstimmung war gegen Lydgate ausgefallen und, zwar hatte dabei das Votum zweier Mitglieder den Ausschlag gegeben, welche aus besondern Gründen dafür hielten, daß diese Fähigkeit, Leute, die schon dem Tode verfallen seien, wieder zum Leben zu erwecken, eine sehr zweifelhafte Empfehlung sei und dem Walten der Vorsehung vorgreife. Im Laufe des Jahres hatte sich jedoch die öffentliche Meinung geändert, wie die Uebereinstimmung der Ansichten bei Frau Dollop deutlich zeigte.

Vor länger als einem Jahre, bevor noch irgend etwas über Lydgate's Geschicklichkeit bekannt geworden, waren die Urtheile über dieselbe natürlich getheilt, je nachdem der Sinn für Wahrscheinlichkeit (der seinen Sitz vielleicht in der Herzgrube oder in der Zirbeldrüse hat) den Leuten beiwohnte, und äußerten sich verschieden, waren aber darum nicht weniger schätzbar als Führer bei dem gänzlichen Mangel aller Beweise. Patienten, welche an chronischen Krankheiten litten, oder solche, deren Lebenskraft schon lange erschöpft war, wie der alte Featherstone, hatten plötzlich Lust bekommen, es einmal mit Lydgate zu versuchen. Viele andere, die ihre Doctorrechnungen nicht gern bezahlen mochten, fanden es angenehm, eine neue Rechnung mit einem neuen Doctor zu eröffnen und, ohne sich zu geniren, zu ihm zu schicken, wenn die Kinder schlechter Laune waren, Gelegenheiten, bei welchen die alten Aerzte oft verdrießlich wurden.

Und alle Leute, die so Lust bekamen, Lydgate anzunehmen, hielten es für wahrscheinlich, daß er geschickt sei. Einige waren der Meinung, daß er mehr als Andere vermöge, ›wenn Einem etwas an der Leber fehle‹, – wenigstens könne es nicht schaden, sich ein Paar Flaschen von ihm verschreiben zu lassen, da man ja, wenn diese nichts helfen sollten, noch immer wieder zu den ›purificirenden Pillen‹ zurückkehren könne, welche Einen munter erhielten, wenn sie auch den gelben Teint nicht beseitigten.

Aber das waren Leute von geringerer Bedeutung. Gute Middlemarcher Familien dachten natürlich nicht daran, ohne triftige Gründe einen andern Arzt anzunehmen, und nicht Alle, die Peacock's Patienten gewesen waren, hielten sich für verpflichtet, einen neuen Ankömmling als Arzt anzunehmen, nur weil er Peacock's Nachfolger sei, indem sie gegen ihn einwandten, ›daß er Peacock schwerlich gleichen werde‹.

Aber nicht lange, nachdem Lydgate sich in der Stadt niedergelassen hatte, wurden Einzelheiten genug über ihn berichtet, um viel bestimmtere Erwartungen in Betreff seiner hervorzurufen und verschiedene über ihn herrschende Ansichten zu förmlichen Parteiungen zu verdichten – Einzelheiten, von denen einige zu jener Klasse von Angaben gehörten, welche einen großen Eindruck auf die Menschen hervorbringt, obgleich oder weil sie ihre eigentliche Bedeutung gar nicht verstehen, ähnlich einer statistischen Zusammenstellung von Zahlen ohne jeden Maßstab zur Vergleichung, aber mit einem großen Ausrufungszeichen am Ende.

Mit welchem Schauder würde es einige Kreise in Middlemarch erfüllt haben, wenn man ihnen die Anzahl von Kubikfuß Sauerstoff, welche ein erwachsener Mensch jährlich verschluckt, genannt hätte! »Sauerstoff! Wer weiß, was das eigentlich ist? – Kann es Einen da wundern, daß die Cholera in Danzig ist? Und doch giebt es Leute, welche behaupten, daß Quarantaine nichts nütze!«

Eine der rasch verbreiteten Thatsachen in Betreff Lydgate's war die, daß er keine Arzeneien selbst bereite. Das war beleidigend sowohl für die consultirenden Aerzte, in deren auszeichnende Eigenthümlichkeit er sich damit einen Eingriff erlaubte, als für die dispensirenden Praktiker, denen er im Range gleichstand. Und noch kurz vorher hätten sie darauf rechnen können, das Gesetz auf ihrer Seite gegen einen Mann zu sehen, der, ohne sich einen in London promovirten ›Dr. med‹. nennen zu können, es wagte, außer für selbstbereitete Medizinen, für seine Dienste Bezahlung zu verlangen.

Aber Lydgate war zu weltunkundig gewesen, um vorauszusehen, daß sein neues Verfahren bei den Laien noch schlechtere Aufnahme finden werde, und als ihn Herr Mawmsey, ein bedeutender Gewürzkrämer auf dem Hauptmarktplatze, obgleich er nicht zu seinen Patienten gehörte, in einer verbindlichen Weise über die Sache befragt hatte, war er unvorsichtig genug gewesen, demselben eine voreilige populäre Erklärung seiner Gründe zu geben, indem er Herrn Mawmsey darauf hinwies, wie es eine beständige Beleidigung für das Publikum sei und nur einen nachtheiligen Einfluß auf den Character der praktischen Aerzte üben könne, wenn die einzige Art, sich für ihre Arbeit bezahlt zu machen, für sie darin bestehe, lange Rechnungen für Pflaster, Pillen und Mixturen auszuschreiben.s

»Auf diese Weise können sauer arbeitende Aerzte dazu kommen, fast ebenso verderblich zu wirken wie Quacksalber,« sagte Lydgate etwas gedankenlos. »Um ihr Brot zu verdienen, müssen sie des Königs Vasallen mit Arzneien überfüttern, und das ist eine böse Art von Hochverrath, Herr Mawmsey, sie untergräbt die Constitution in verhängnißvoller Weise.«

Herr Mawmsey war nicht nur Armenverwalter, – die Veranlassung seiner Zusammenkunft mit Lydgate war eine Frage in Betreff der Einkassirung der Armengelder –, sondern war auch asthmatisch und hatte eine starke, noch in der Zunahme begriffene Familie. So war er nicht nur nach seiner eigenen Meinung, sondern auch vom medizinischen Gesichtspunkte aus betrachtet ein gewichtiger Mann, dieser seltene Gewürzkrämer, dessen Haar so frisirt war, daß es in eine flammenartige Spitze auslief, und dessen zu der herzlichen ermunternden Gattung gehörende Detailergebenheit sich in scherzenden Complimenten erging und sich in wohl überlegter Enthaltsamkeit hütete, seine ganze geistige Bedeutung seinen Kunden gegenüber zur Geltung zu bringen. Herrn Mawmsey's freundlich scherzende Weise bei seinen Fragen hatte Lydgate veranlaßt, in seinen Antworten einen leichten Ton anzuschlagen. Aber – mögen die Weisen sich warnen lassen vor einer zu großen Bereitwilligkeit zu Erklärungen; sie vermehrt die Quelle der Mißverständnisse und macht das Exempel für schlechte Rechner nur noch verwickelter.

Lydgate setzte bei seinen letzten Worten seinen Fuß lächelnd in den Steigbügel, und Herr Mawmsey lachte lauter, als er es gethan haben würde, wenn er gewußt hätte, wer die ›Vasallen des Königs‹ seien, und rief dem Fortreitenden sein »Empfehle mich Ihnen, empfehle mich Ihnen!« mit einer Miene nach, als ob ihm Alles völlig klar sei.

In Wahrheit aber hatte Lydgate eine große Verwirrung in seinen Ansichten angerichtet. Seit Jahren hatte er ärztliche Rechnungen mit sehr genau aufgemachten Posten bezahlt, so daß er sicher war, für jede halbe Krone und jede achtzehn Pence etwas Greifbares erhalten zu haben. Er hatte das mit Genugthuung gethan, indem er es als die Erfüllung einer der ihm als Gatten und Vater obliegenden Pflichten ansah und eine ungewöhnlich lange Rechnung als eine erwähnenswerthe Auszeichnung betrachtete.

Ueberdies hatte er, abgesehen von den soliden Wohlthaten der Arzneien für ›ihn selbst nebst Familie‹, das Vergnügen genossen, sich ein sehr bestimmtes Urtheil über die unmittelbaren Wirkungen dieser Arzneien zu bilden, so daß er mit seinen umsichtigen Angaben Herrn Gambit an die Hand gehen konnte – einem praktischen Arzte, der seiner gesellschaftlichen Stellung nach ein wenig unter Wrench und Teller stand und besonders als Accoucheur geschätzt war, einem Manne, von dessen Begabung in jeder andern Beziehung Herr Mawmsey äußerst gering dachte, von dem er aber als Arzt leise zu sagen pflegte, daß er ihn über sie alle stelle.

Das waren Gründe von größerem Gewicht als das oberflächliche Gerede eines Neulings, welches noch seichter erschien, als Herr Mawmsey es in dem über dem Laden liegenden Wohnzimmer seiner Gattin wiederholte, einer Frau, die man als fruchtbare Mutter sehr hoch stellen mußte und die regelmäßig von Herrn Gambit besucht wurde, die aber gelegentlich auch an Anfällen litt, welche eine Behandlung durch Dr. Minchin erforderlich machten.

»Will dieser Herr Lydgate damit sagen, daß es nichts nützt, Medizin zu nehmen?« fragte Frau Mawmsey in einem ihr eigenen schleppenden Ton. »Ich möchte ihn wohl fragen, wie ich mich zur Marktzeit aufrecht erhalten sollte, wenn ich nicht schon vier Wochen vorher stärkende Medizin nähme. Denk doch nur, liebes Kind, was ich alles für die Kunden, die uns besuchen, beschaffen muß!« – bei diesen Worten wandte sich Frau Mawmsey an eine intime Freundin, welche bei ihr saß –, »eine große Kalbfleischpastete, eine gefüllte Keule, ein Roastbeef-Schinken, Zungen et cetera et cetera! Am besten thut mir aber die rosa Medizin, nicht die braune. Ich begreife nicht, Mawmsey, wie Du bei Deiner Erfahrung das geduldig hast mit anhören können. Ich hätte ihm gleich gesagt, daß ich ein bischen mehr von der Sache wisse.«

»Nein, nein, nein,« erwiderte Herr Mawmsey. »Ich wollte ihm meine Meinung nicht sagen. Alles anhören und selbst urtheilen ist mein Wahlspruch. Er hat aber nicht gewußt, mit wem er sprach. Ich bin nicht der Mann, mich von ihm um den kleinen Finger wickeln zu lassen. Die Leute nehmen sich oft heraus, mir Dinge zu sagen, für die sie ebenso gut sagen könnten: ›Mawmsey, Sie sind ein Narr‹. Aber ich lächle dazu; ich bin nachsichtig gegen die schwachen Seiten aller Menschen. Wenn Arznei mir, selbst nebst Familie‹ Schaden gethan hätte, so würde ich das wohl nachgerade herausgefunden haben.«

Am nächsten Tage wurde Herrn Gambit mitgetheilt, Lydgate gehe umher und sage den Leuten, Medizin nütze nichts.

»Hat er das wirklich gesagt?« fragte er, indem er die Augbrauen mit einem behutsamen Ausdruck der Ueberraschung in die Höhe zog. Herr Gambit war ein wohlbeleibter mit Husten behafteter Mann, der einen großen Ring auf dem vierten Finger trug. »Wie will er denn seine Patienten curiren?«

»Das sage ich auch,« erwiderte Frau Mawmsey, welche ihren Worten durch scharfe Betonung der persönlichen Fürwörter einen besondern Nachdruck zu verleihen pflegte. »Meint er, daß die Leute ihm bezahlen werden, nur damit er kommt und bei ihnen sitzt und wieder weggeht?«

Herr Gambit hatte oft genug lange bei Frau Mawmsey gesessen und ihr dabei viel von seinen körperlichen Gewohnheiten und andern Dingen erzählt, aber natürlich konnte ihre Bemerkung nicht auf ihn gemünzt sein sollen, da er für seine Frau Mawmsey geschenkte Zeit und seine persönlichen Mittheilungen nie etwas berechnet hatte. So antwortete er in scherzendem Tone:

»Nun, Lydgate ist ein hübscher junger Mann, wissen Sie.«

»Aber Keiner, den ich zum Arzt nehmen möchte,« entgegnete Frau Mawmsey. « Andere können ja thun, was sie Lust haben!«

So konnte Herr Gambit das Haus des ersten Gewürzkrämers ohne Besorgniß vor einer ihm drohenden Nebenbuhlerschaft, nicht aber ohne die Ueberzeugung verlassen, daß Lydgate einer jener Heuchler sei, welche Andere dadurch zu discreditiren suchen, daß sie mit ihrer eigenen Rechtschaffenheit prahlen, und daß es sich für einige Leute wohl der Mühe lohnen möchte, ihn den Leuten in seiner wahren Gestalt zu zeigen.

Herr Gambit hatte jedoch eine gute Praxis, in welche sich freilich die Gerüche des Kleinhandels vielfach eindrängten, wodurch die Vermuthung, daß er statt baaren Geldes mit Waaren bezahlt werde, nahe gelegt wurde. Und er hielt es nicht der Mühe werth, Lydgate bloßzustellen, bis er wissen werde, wie das am wirksamsten geschehen könne. Er hatte sich keiner sehr vorzüglichen Erziehung zu erfreuen gehabt und hatte viel von einer geringschätzigen Behandlung seiner Berufsgenossen zu leiden gehabt; es that aber darum seiner Geschicklichkeit als Accoucheur keinen Eintrag, daß er von der ›Luftrehre‹ sprach.

Andere praktische Aerzte standen aus einer höhern Stufe. Herr Toller theilte sich mit wenigen Andern in die vornehmste Praxis der Stadt und gehörte zu einer alten Middlemarcher Familie; es gab Toller's im Richterstande und in jedem andern Beruf, der über dem Kleinhandel stand. Ungleich unserm reizbaren Freunde Wrench hatte er die glücklichste Art, die Dinge zu nehmen, von denen man hätte voraussetzen können, daß sie ihm unangenehm sein würden, und war ein wohlerzogener, behaglich scherzender Mann, der ein hübsches Haus machte, eine kleine Jagdparthie, wenn er dazu kommen konnte, sehr gern hatte und ebenso befreundet mit Herrn Hawley wie verfeindet mit Herrn Bulstrode war.

Es mochte sonderbar erscheinen, daß er bei diesem gefälligen Naturell in seinem Berufe der heroischen Behandlung: Aderlässen, spanischen Fliegen und Hungerkuren ergeben war, ohne freilich seinen Patienten mit gutem Beispiele voranzugehen; aber die Nichtübereinstimmung seines persönlichen Verhaltens mit seinem ärztlichen Verfahren förderte nur die gute Meinung seiner Patienten, welche zu bemerken pflegten, daß Herr Toller in seinem Behaben träge, daß aber seine Behandlung so energisch sei, wie man es nur wünschen könne. Kein Arzt, sagten sie, nehme es ernster mit seinem Beruf, er sei zwar etwas lässig im Kommen, aber wenn er komme, thue er auch etwas. Er war in seinem Kreise sehr beliebt, und wenn er eine Andeutung zu Jemandes Nachtheil machte, so wirkte das nur um so nachhaltiger, als er seine Aeußerungen in einem leichten ironischen Tone hinzuwerfen pflegte.

Natürlich bekam er es satt, immer zu lächeln und ›Ah‹ zu sagen, wenn man ihm erzählte, daß der Nachfolger des Herrn Peacock keine Arzneien dispensire, und als Herr Hackbutt der Sache eines Tages bei einem Diner Erwähnung that, sagte Herr Toller lächelnd:

»Da wird also Dibbitts seine abgestandenen Arzneien los werden. Ich habe den kleinen Dibbitts gern und freue mich über seine Chance.«

»Ich verstehe, was Sie sagen wollen, Toller,« erwiderte Herr Hackbutt, »und ich bin ganz Ihrer Meinung. Ich werde die erste Gelegenheit wahrnehmen, mich in diesem Sinne auszusprechen. Ein Arzt muß für die Qualität der Arzneien, die seine Patienten einnehmen, verantwortlich sein. Darin liegt die Rechtfertigung des Systems der ärztlichen Rechnungen, welches bisher bei uns gegolten hat, und es giebt nichts Anstößigeres als diese Ostentation mit Reformen, die keine wirkliche Verbesserung zu Wege bringen.«

»Ostentation, Hackbutt?« bemerkte Herr Toller ironisch. »Das verstehe ich nicht. Es kann Einer nicht wohl Ostentation mit etwas treiben, woran kein Mensch glaubt. Von Reform ist bei der Sache gar keine Rede. Es fragt sich nur, ob der Profit, der an den Arzneien gemacht wird, dem Arzt vom Droguisten oder vom Patienten bezahlt werden und ob eine Extrabezahlung für sogenannte ärztliche Bemühungen stattfinden soll.«

»Ach natürlich; das ist wieder so eine von den neuen Bezeichnungen für alten Humbug,« sagte Herr Hawley, indem er Herrn Wrench die Weinflasche zuschob.

Herr Wrench, der gewöhnlich sehr enthaltsam war, trank oft in Mittagsgesellschaften ziemlich viel und wurde in Folge dessen nur um so reizbarer.

»Man kann leicht etwas Humbug nennen, Hawley,« sagte er. »Aber was ich bekämpfe, ist die Art, wie Aerzte ihr eigenes Nest besudeln und ein Geschrei im Lande erheben, als ob ein praktischer Arzt, der Arzneien dispensirt, kein Gentleman sein könnte. Ich gebe die Beschuldigung mit Hohn zurück und sage, daß es der eines Gentleman unwürdigste Streich, dessen ein Mann sich schuldig machen kann, ist, wenn er sich unter seine Standesgenossen mit Neuerungen eindrängt, die eine Schmähung ihres altehrwürdigen Verfahrens sind. Das ist meine Ansicht, und ich bin bereit, sie gegen Jeden, der mir widerspricht, aufrecht zu erhalten.«

Herrn Wrench's Stimme hatte einen sehr scharfen Ton bekommen.

»Ich bedaure, Ihnen nicht beistimmen zu können, Wrench,« sagte Herr Hawley, indem er die Hände in die Hosentaschen steckte.

»Lieber Freund,« fiel Herr Toller im Interesse des Friedens ein und sah dabei Herrn Wrench an, »die consultirenden Aerzte werden durch die Sache noch empfindlicher berührt als wir. Wenn es sich um ärztliche Würde handelt, so haben Minchin und Sprague die zu wahren.«

»Gewährt die medizinische Jurisprudenz keinen Schutz gegen diese Uebergriffe?« fragte Herr Hackbutt in dem uneigennützigen Wunsche, zur Aufklärung beizutragen.

»Was sagt das Gesetz, eh, Hawley?«

»Es ist nichts dabei zu machen,« antwortete Herr Hawley. »Ich habe für Sprague nachgesehen. Wenn Sie etwas dagegen versuchen wollten, würden Sie an der Entscheidung eines verfluchten Richters scheitern.«

»Pah! wir brauchen kein Gesetz,« sagte Herr Toller. »Soweit es sich um die Praxis handelt, ist der Versuch, nicht zu dispensiren, eine Albernheit. Kein Patient wird es mögen, am wenigsten Peacock's Patienten, welche an Ausleerungen gewöhnt waren. Schieben Sie mir, bitte, den Wein her.«

Herrn Toller's Voraussagung bewahrheitete sich theilweise. Wenn schon Herr und Frau Mawmsey, die nicht daran dachten, Lydgate zum Arzt zu nehmen, sich bei der Voraussetzung, daß er gegen Arzneien sei, unbehaglich fühlten, so war es nicht zu verwundern, daß diejenigen, die sich von ihm behandeln ließen, einigermaßen ängstlich darauf achteten, ob er gegen den Fall, ›alle die Mittel anwende, die er anwenden könne‹. Selbst der gute Herr Powderell, der in seiner milden Beurtheilungsweise geneigt war, Lydgate für das, was ihm als die gewissenhafte Verfolgung einer Reform erschien, nur um so mehr zu achten, fand sich, als seine Frau die Rose bekam, in seinem Gemüthe von Zweifeln bestürmt und konnte es nicht unterlassen, gegen Lydgate zu erwähnen, daß Herr Peacock bei einer ähnlichen Gelegenheit Pillen verschrieben habe, über deren Natur er nichts anderes sagen könne, als daß sie die merkwürdige Wirkung gehabt haben, Frau Powderell von einer Krankheit, die sie während eines sehr heißen August befallen habe, vor Michaelis wieder herzustellen.

Endlich fand er aus dem Conflicte zwischen seinem Wunsche, Lydgate nicht zu verletzen, und seiner ängstlichen Besorgniß, daß kein ›Mittel‹ versäumt werden möge, einen Ausweg, indem er seine Frau veranlaßte, im Geheimen ›Widgeon's purificirende Pillen‹ zu nehmen – ein sehr geschätztes Middlemarcher Mittel, welches jeder Krankheit an der Quelle dadurch Einhalt that, daß es sofort auf das Blut wirkte. Von dem Gebrauch dieses Mittels durfte Lydgate nichts erfahren und Herr Powderell selbst hatte kein unbedingtes Vertrauen zu demselben und hoffte nur, daß seine Anwendung sich vielleicht segensreich erweisen werde.

Aber in diesem zweifelhaften Stadium seiner Carriere kam Lydgate zu Hülfe, was wir Sterblichen voreilig ›Glück‹ nennen. Es ist wohl noch nie ein neuer Arzt in eine Stadt gekommen, ohne Kuren zu machen, die Einen oder den Andern überraschen, – Kuren, welche man Atteste des Glücks nennen könnte und welche gerade soviel Glauben verdienen wie geschriebene oder gedruckte Atteste. Verschiedene Patienten wurden unter Lydgate's Behandlung, Einige sogar von gefährlichen Krankheiten geheilt, und man bemerkte, daß der neue Doctor mit seinem neuen Verfahren wenigstens das Verdienst habe, die Leute vom Rande des Grabes zurückzubringen.

Der Unsinn, der bei solchen Gelegenheiten zu Tage gefördert wurde, war Lydgate um so fataler, als derselbe ihm gerade die Art von Nimbus verlieh, welche sich ein unfähiger und gewissenloser Mensch gewünscht haben würde und welche sich selbst bereitet zu haben, um damit zu ignorantem Aufpuffen seiner Verdienste zu ermuntern, die im Geheimen arbeitende Antipathie der andern Aerzte ihm Schuld geben würde. Aber selbst seine stolze Offenheit der Sprache fand ihre Schranke an der Wahrnehmung, daß es ebenso vergeblich sei, gegen die Auslegungen der Ignoranten zu kämpfen, wie den Nebel zu peitschen, und ›das Glück‹ beharrte dabei, ihn durch solche Auslegungen zu fördern.

Frau Larcher, die eben mit mitleidigem Interesse von gewissen beunruhigenden Symptomen bei ihrer Scheuerfrau Notiz genommen hatte, bat Dr. Minchin, als er sie besuchte, sich die Frau sogleich einmal anzusehen und ihr einen Schein für das Hospital auszustellen, worauf er nach vorgenommener Untersuchung einen Schein ausstellte, in welchem er das Leiden als Geschwür bezeichnete und die Ueberbringerin Nancy Nash als außer dem Hospital zu behandelnde Patientin empfahl.

Nancy, die ehe sie nach dem Hospital ging, in ihrer Wohnung vorsprach, ließ den Corsettenmacher und seine Frau, bei welchen sie eine Dachstube bewohnte, Dr. Minchin's Schein lesen und wurde auf diese Weise zu einem Gegenstande mitleidiger Unterhaltung in den benachbarten Läden in der Kirchhofstwiete, wo man von ihr als mit einem Geschwür behaftet sprach, welches zuerst so groß und hart wie ein Entenei sein sollte, im Lauf des Tages aber zu der Größe einer Faust anwuchs.

Die Meisten kamen darin überein, daß das Geschwür werde ausgeschnitten werden müssen; aber Einer wußte, daß Oel und ein Anderer, daß ›squitchineal‹, in hinreichender Quantität genommen, im Stande sei, jedes Geschwür im Körper zu erweichen und schwinden zu machen – das Oel durch allmäliges Aufsaugen, das ›squitchineal‹ durch Wegfressen.

Inzwischen traf es, sich, daß, als Nancy sich im Hospital präsentirte, Lydgate gerade du jour war. Nachdem er sie befragt und untersucht hatte, sagte er leise zu dem Hausarzt des Hospitals: »Es ist kein Geschwür, sondern ein Krampf« Er verschrieb ihr ein Zugpflaster und Stahltropfen, hieß sie nach Hause gehen und sich ruhig halten und gab ihr ein Billet an Frau Larcher, die sie als ihre beste Kunde bezeichnete, in welchem er ihr bezeugte, daß sie guter Nahrung bedürfe.

Aber allmälig wurde es mit Nancy in ihrem Dachstübchen bedenklich schlimmer, nachdem zwar das vermeintliche Geschwür dem Zugpflaster gewichen war, aber nur um in einer andern Gegend des Körpers mit heftigeren Schmerzen wieder zu erscheinen. Die Frau des Corsettenmachers holte Lydgate, der denn auch vierzehn Tage lang Nancy in ihrer Wohnung besuchte, bis sie unter seiner Behandlung ganz wieder hergestellt war und wieder an die Arbeit gehen konnte.

Aber Nancy's Leiden wurde fort und fort als ein Geschwür geschildert, nicht nur in der Kirchhofstwiete und andern Straßen, sondern auch von Frau Larcher; denn als sie dem Doctor Minchin von Lydgate's merkwürdiger Kur erzählte, mochte er natürlich nicht sagen: »Es war gar kein Geschwür und ich habe mich geirrt, als ich es so bezeichnete,« sondern sagte: »Wirklich, ah; ich sah gleich, daß es ein nicht bedenklicher Fall für eine chirurgische Behandlung sei.«

Es war ihm jedoch sehr unangenehm gewesen, als er sich im Hospital nach der zwei Tage vorher von ihm empfohlenen Frau erkundigt hatte, von dem Hausarzt, – einem jungen Manne, dem es gar nicht unlieb war, Minchin ungestraft ärgern zu können –, genau zu erfahren, was sich zugetragen habe; er sprach sich gegen vertraute Freunde dahin aus, daß es unschicklich für einen praktischen Arzt sei, der Diagnose eines consultirenden Arztes zu widersprechen, und stimmte bei einer spätern Gelegenheit mit Wrench darin überein, daß Lydgate von einer unangenehmen Rücksichtslosigkeit gegen ärztliche Etiquette sei.

Lydgate fand in dem Fall keine Veranlassung, sich auf seine bessere Einsicht etwas einzubilden und Minchin deshalb besonders gering zu schätzen, da eine solche Berichtigung falscher Urtheile oft unter Männern von gleicher Befähigung vorkomme. Aber das Gerücht bemächtigte sich dieses wunderbaren Falls eines Geschwürs, das man nicht klar von einem Krebs unterschied und das man für um so gefährlicher hielt, als es zu der Gattung der im Körper umherwandernden Geschwüre gehört habe; bis ein großer Theil der Vorurtheile gegen Lydgate's Methode in Betreff der Arzneien durch den Beweis seiner merkwürdigen Geschicklichkeit in der Behandlung von Nancy Nash, – die er von einem harten und hartnäckigen Geschwür, das ihr aber und abermals die furchtbarsten Schmerzen verursacht, von dem er sie aber doch endlich befreit habe –, überwunden war.

Was konnte Lydgate thun? Es schickt sich doch nicht, einer Dame, wenn sie uns ihre Bewunderung über unsere Geschicklichkeit ausdrückt, zu sagen, daß sie ganz und gar auf falscher Fährte und etwas närrisch in ihrer Bewunderung sei. Und wenn er es sich hätte beikommen lassen, auf Erörterungen über die Natur der Krankheiten näher einzugehen, so würde er sich dadurch nur eines neuen Verstoßes gegen die ärztliche Konvenienz schuldig gemacht haben. So mußte er sich unter den Erfolg beugen, den ihm jenes Lob der Ignoranten verhieß, welche für wirklich schätzbare Eigenschaften kein Verständniß hatten.

In dem Fall eines dem Publikum bekannteren Patienten, des Herrn Borthrop Trumbull, war sich Lydgate bewußt, sich als einen nicht ganz gewöhnlichen Arzt bewährt zu haben, obgleich er auch aus diesem Fall nur einen zweideutigen Gewinn zog. Der beredte Auctionator war von einer Lungenentzündung befallen und schickte, nachdem er früher ein Patient des Herrn Peacock gewesen war, zu Lydgate, den er protegiren zu wollen erklärt hatte. Herr Trumbull war ein robuster Mann und daher ein geeignetes Subject, um an ihm die Richtigkeit der Theorie des Abwartens zu erproben, bei welcher man eine interessante Krankheit so viel wie möglich sich selbst überläßt, den Verlauf derselben in ihren verschiedenen Stadien beobachtet und dadurch vielleicht der künftigen Behandlung solcher Fälle einen Dienst erweist. Und nach der Art, wie Trumbull seine Empfindungen schilderte, durfte Lydgate vermuthen, daß er sich gern von seinem Arzte ins Vertrauen gezogen und als an seiner eigenen Kur betheiligt betrachtet sehen würde.

Der Auctionator ließ sich, ohne sehr davon überrascht zu sein sagen, daß er eine Constitution habe, welche man, – natürlich immer unter sorgfältiger Beobachtung –, sich selbst überlassen könne, so daß er das schöne Paradigma einer in allen ihren Entwicklungsphasen sich klar darstellenden Krankheit liefern würde, und daß er die seltene Geisteskraft besitze, freiwillig die Probe einer rationellen Behandlung an sich anstellen zu lassen und so die Störung der Functionen seiner Lunge zu einer Wohlthat für die Menschheit zu machen.

Herr Trumbull erklärte sich sofort bereit und ging ganz auf die Ansicht ein, daß eine Krankheit seines Körpers eine nicht gewöhnliche Gelegenheit zur Bereicherung der medicinischen Wissenschaft sei.